Rabeneltern

Rabeneltern

Personen:

Seine Hochwürden Karolan von Henjasburg, Vorsteher des Borontempels in Herzogenfurt, Vater Boromadas,
Alrike von Henjasburg, Landvögtin von Schweinsfold, Mutter Boromadas
Boromilia von Henjasburg, Novizin im Rabentempel zu Gratenfels, Schwester Boromadas
Servusian von Lilienhain, Leibdiener der Vögtin

Lucrann von Rabenstein, Diener des Raben und Baron von Rabenstein
Shanija von Rabenstein, Baronin von Rabenstein
Boromada von Henjasburg, Knappin des Rabensteiners
Aldessia von Leihenhof, Vögtin auf Rabenstein



Eine Briefspielgeschichte von DanSch und Iseweine.


Inhalt: Im Praios 1043 BF besucht die Familie der Schweinsfolder Vögtin in einer delikaten Angelegenheit den Herrn von Rabenstein, den Knappenvater ihrer Tochter Boromada. (Dokument hängt an).


Ankunft in Rabenstein

Ratternd und polternd zog die schwarze Kutsche, angeführt von kräftigen Pferden, durch die Landschaft der Nordmarken, über ihre Straßen, Wege und Trampelpfade. Neun ganze Tage war die Reisegruppe aus der Baronie Schweinsfold unterwegs, um dem Baron von Rabenstein, Lucrann von Rabenstein, einen Besuch abzustatten. Möge man meinen das ein Besuch oft einen erfreulichen Grund voraussetzte, war dieser alles andere als erfreulich. In der Kutsche saß die Familie des noch recht junge Haus ´von Henjasburg´, das die Junkerei Herzogenfurt als Lehen innehatte.
Diese durch und durch borongläubigen Adligen hatten ihre Erbtochter, Boromada von Henjasburg, vor vielen Jahren dem Herrscher von Rabenstein in die Knappenschaft gegeben. Doch nun wurde diese Entscheidung in ein schlechtes Licht gerückt, als ein Brief im Rahjamond 1042 BF, der Mutter der Knappin überreicht wurde. Junkerin Alrike von Henjasburg, auch Landesvögtin von Schweinsfold, war alles andere als begeistert darüber, dass Ihre Tochter und Erbin, unter der Obhut Boromadas Schwertvaters offensichtlich von Tsa gesegnet wurde. Zwar bot die Familie des Erzeugers, das Haus Wassertal, einen Ehebund an, doch aus einem ersten Impuls heraus lehnte sie diesen empört ab. Nicht ihre Tochter hatte zu entscheiden, sondern sie, der Kopf der Familie. Gleichzeitig war die Enttäuschung über die Nachlässigkeit des Barons groß. Aber auch Alrike war klar, das die Verbindung nach Rabenstein eine Wichtige war. Eine wichtige für die neue Baronin von Schweinsfold, ihrer Nichte Selinde. Kompliziert wurde diese Angelegenheit, als die Erste Hofdame der Baronin, Gezelda von Ulmentor, eigenmächtig versuchte eine Lösung für dieses ´Problem´ zu finden und einen Gefolgsmann des Barons Rajodan von Keyssering einbezog. Dieser Edle, Vitold von Baldurstolz, war allerdings keine gute Partie und zog ungeschickterweise den Baron Roklan von Leihenhof hinzu. Dieser hatte die geheimen Verhandlungen mit angehört, doch hatte er ein annehmbares Angebot unterbreitet. Auch wenn sich Alrike bis heute nicht im Klaren war, was die Beweggründe des Barons waren, nahm sie dieses, mit einigen Zugeständnissen zu Gunsten Galebquells und des eisensteiner Ritters, an. Und so vereinbarte sie die Verlobung ihrer Tochter mit einem galebqueller Edlen, Koradin von Unkenau, auf das dieser vor der Geburt des Kindes den Traviabund eingehen könnte. Der Ritter wurde für sein Schweigen mit einer reichen Edlen aus Schweinsfold belohnt, den dieser hatte im Eisenstein ein eher kümmerliches Lehen. Zu viele Zeugen und zu viele Eingeständnisse, für die Unfähigkeit eines Schwertvaters, über seinen Schützling zu wachen. Und so hoffte die Junkerin, das der Besuch im Rabenstein nicht noch mehr Schaden anrichten würde.

Das laute Krächzen eines Raben holte Boromilia aus ihren kurzen Schlaf. Noch immer ruckelte es im inneren der Kutsche, das mit bequemen und samtenen, gepolsterten Sitzbänke ausgekleidet war. Der Blick der sechzehnjährigen Boronnovizin fiel auf ihre Mutter. Die griesgrämige Junkerin saß gedankenversunken ihr gegenüber und streichelte sanft das schwarze Gefieder eines Kolkraben, der ihr ruhig im Schoß saß. Neben ihr saß ihr Vater Karolan im schwarzen Ornat eines Hüters des Raben. Der hagere Mann stammte aus Weiden und folgte vor 25 Götterläufen einer Vision des Schweigsamen in die Nordmarken, um den Tempel des Boron in Herzogenfurt zu weihen. Seitdem hatte er selten den Tempel verlassen, doch anscheinend war die Angelegenheit dieser Reise auch für ihn von Wichtigkeit. Nun saß er da mit geschlossenen Augen und meditierte, so wie fast die ganze Reise über. Der letzte Mitreisende hatte neben ihr Platz genommen. Der junge Mann war der einzige der nicht zur Familie gehörte. Servusian vom Lilienhain war im selben Alter wie die Novizin und gehörte der lokalen Familie der Gärtner vom Stadtpark Herzogenfurts an.
Erst vor wenigen Wochen hatte ihre Mutter ihn als ihren Leibdiener in den Dienst genommen und es schien, dass der gutaussehende Lilienhainer sich von der schroffen Art der Junkerin nicht beeindrucken ließ. Doch nun schlief auch er, das lange Reisen war er nicht gewohnt. Boromilia strich sich kurz über ihre kurzgeschorenen, blonden Haarstoppeln und streckte ihren Nacken. Seit sie ihr Noviziat im Rabentempel zu Gratenfels begonnen hatte, sah sie ihre Familie nur selten. Ihre älteste Schwester Boromada kannte sie kaum und konnte sich nur an ihr herzliches Lachen erinnern. Warum ihr Vater sie aus Gratenfels abholen ließ und sie nun mit nach Rabenstein musste, war ihr immer noch ein Rätsel. Viel hatten ihre Eltern nicht mit ihr geteilt, nur dass es um Boromada ging und einen misslichen Zustand für die Familie. Zumindest war sie nicht die einzige, die im Dunkeln tappte, denn Servusian schien auch nicht mehr zu wissen als sie selbst. Kaum wollte sie wieder ihre Augen schließen, hielt die Kutsche an. Die Stimme des Kutschers unterbrach die kurze Stille. “Euer Wohlgeboren, wir sind in Rabenstein!”. Alrike von Henjasburg schaute aus dem Fenster.

Die Kutsche hatte sich den letzten halben Tag mühsam bergan gearbeitet und war den Serpentinen an den Hängen des Sarakath empor gefolgt, während draußen die Bäume niedriger und verkrümmter wurden und die Grasmatten und freien Steinflächen immer häufiger. Der mittägliche Sonnenglast brannte schwer auf dem schwarzen Verdeck und bewies des Götterfürsten Macht, selbst hier, in der Einöde aus Fels, Wald und Firn. Der Tag neigte sich bereits dem Ende zu, als die Kutsche die letzten Höhenmeter erklomm. Die Schatten krochen aus den Tälern und Klüften, eroberten die dem Praiosmal abgewandten Berghänge und tauchten das graue Gestein in alle Schattierungen zwischen Asche und finsterster Kohle.
Der Himmel verblasste von blau über grau, während sich efferdwärts goldene und schwarlachfarbene Streifen über das Alveranszelt zogen und die Spitzen der Berge in einem tiefen Blutrot färbten.
Nach einer weitere Biegung schließlich lockte das Ende ihrer mühseligen Reise. Auf einem Bergsporn, weit über der Schlucht der Sirralein, ruhte als schwarzer Schatten vor dem dunkel gewordenen, pflaumenblauen Himmel die Burg Rabenstein.

Burg Rabenstein

Ein tiefer Halsgraben, über den eine noch heruntergelassene Zugbrücke führte, trennte die Burg vom Weg. Das große, zweiflüglige Burgtor stand noch offen. Dumpf klangen die Hufe der Kutschpferde, als sie, nach einem Ruf der Wachen und der zufriedenstellenden Auskunft des Kutschers, über die dicken Eichenbohlen schritten, und ihre Last hinter einem Fallgatter durch das Tonnengewölbe des Torhauses zogen. Ein interessierter Beobachter hätte auf dessen Decke das Fresko des Wappens des Baronshauses ausmachen können, zusammen mit deren Motto: “Memento mori”.

Auf dem gepflasterten Innenhof kam die Kutsche zum stehen.
Zwei gut gerüstete Wachen im schwarz-silbernen Wappenrock Rabensteins und ein gleichfalls livrierter Diener näherten sich dem Gefährt. In Sichtweite, aber nicht direkt hinter den Bütteln, hatten sich einige Dienstleute eingefunden, während zwei weitere Büttel das Prozedere eher gelassen vom Tor aus betrachteten.

Alrike von Henjasburg öffnete die Kutschentür und trat als erste hinaus. Komplett in einer schwarzen Junkertracht gekleidet, ließ sie als erstes den großen Raben aus ihren Armen in die Lüfte fliegen. Mürrisch schaute sie sich um und atmete tief durch. Servusian, ihr Leibdiener, folgte ihr und schaute sich ebenfalls, aber neugierig um. Als letztes stiegen Boromilia und ihr Vater Karolan aus, die in ihren dunklen Roben eindeutig als Diener des Totengottes zu erkennen waren und eine ruhige, aber melancholische Stimmung ausstrahlten. Der junge Leibdiener wartete kurz, wandte sich aber dann an den livrierten Diener. “Boron zum Gruße. Mein Name ist Servusian vom Lilienhain und ich stehe im Dienste des Hauses Henjasburg.” Mit einer ausladenden Geste deutete er auf seine Dienstherrin. “Die Landesvögtin von Schweinsfold und Junkerin von Herzogenfurt, Alrike von Henjasburg, nehmst Gemahl, seiner Hochwürden Karolan von Henjasburg, Hüter des Raben zu Herzogenfurt und Tochter Boromilia von Henjasburg, Novizin im Rabentempel zu Gratenfels!” Mit offenen und freundlichen Gesicht stand Servusian deutlich im Kontrast zu seinen Wegbegleitern, was auch für seine helle Kleidung galt. Mit einem vorsichtigen Nicken, erwartete er die Reaktion des rabensteiner Dieners.
Der verneigte sich hoheitsvoll. “Lares Zarbel mein Name.
Wenn die hohen Herrschaften mir folgen wollen, so führe ich Euch zu Euren Gemächern, auf dass Ihr Euch erfrischen mögt.”
Still, mit geneigtem Kopf, wartete der Diener, bis die Herrschaften ausgestiegen waren.

“Sehr erfreut, Herr Zarbel. Nach euch, wir folgen.”, sagte Alrike knapp. Ohne auf ein Zeichen zu warten ging Servusian zum Gepäck und nahm so viele Taschen wie er tragen konnte. Inbrünstig hoffte er, das auch andere Diener helfen würden. Der Gedanke in dieser Burg hin und her zu laufen füllte ihn mit Unbehagen aus. Karolan und Boromilia stelten sich wortkarg hinter Alrike und wagten nur flüchtig einen Blick über den Innenhof.
Der Hof war mit dunklem, vom Alter und unzähligen Füßen glänzend polierten Kopfsteinpflaster ausgelegt. Die Wehrmauer, auf der Innenseite weiß gekalkt, mit einem schiefergedeckten Dach, umschloss einen Felssporn, auf dem sich von rechts nach links Gebäude dicht an dicht reihten.

Die Ankunft

Mitten im Burghof wachte ein Bergfried mit quadratischem Grundriss, den Eingang in im zweiten Stockwerk, begehbar über eine leichte Holztreppe, die am Turm lehnte, aber nur am Eingang mit diesem verbunden war. Um diesen und den Hof gruppierten sich der Palas, ein Wirtschaftsgebäude, das von zwei runden, schiefergedeckten Türmen gesäumte Torhaus und die Stallungen.

Rechter Hand neben dem von zwei massiven Türmen gesäumten Torgebäude lag das Zeughaus (Verwahrung Vorräte, Lagerung von Kriegs- und sonstigem Gerät, im EG Remise (Wagen: Reisekutsche, Schlitten, fünf andere Karren und Wagen, darunter eine 4er Ferrara).
Daneben schloss sich ein kleiner Baumgarten hinter einer hohen Mauer an, die Zeughaus und Palas verband.
Auf der Hofseite des zweistöckigen Palas blinkten stolz Fenster aus Butzenglas, untypisch für eine Burg am Ende der Welt.
Die Mauern waren weiß gekalkt, die zweiflügeligen Fensterläden mit abwechselnden Schrägbalken in weiß und schwarz verziert.
Eine fünf Stufen umfassende Treppe führt zum große, zweiflügeligen Eingansportal aus altersschwarzer, mit Metallbändern verstärkter Eiche.

An den Palas schloss ich ein ebenfalls zweistöckiges Wirtschaftsgebäude an, mit der Rückseite an die Burgmauer gebaut, gleichfalls aus Stein gemauert und mit schwarzen Schindeln bedeckt und älter als der Palas selbst.
Vielleicht ein ehemaliges Wohngebäude der Herrschaft, aus Zeiten, ehe der Palas erbaut wurde. An den Winkel zwischen Wirtschaftsgebäude und Burgmauer schmiegte sich ein Backhaus, das eine aufsteigende Rauchfahne und der Duft nach frischem Brot verriet.
Im praioswärtigsten Winkel der Burg, hinter dem Wirtschaftsgebäude, ragte ein großer, runder Turm, teil der Burgbefestigung, empor.
Vor dem Wirtschaftshaus, halb verdeckt durch den quadratischen Bergfried, befand sich der gemauerte Brunnen.
Weiter entlang der Burgmauer befanden sich die Stallungen, zweistöckiger Fachwerkbau mit gemauertem Steinsockel und einem Flaschenzug unter dem Dachgiebel, der dazu diente, größere Lasten durch eine zweiflügelige Pforte unter das Schindeldach zu befördern.
Mit einigem Abstand folgte die Schmiede, die wiederum ganz aus Stein gebaut war und deren durch eine Mauer abgetrenntes Vordach in Richtung des Torhauses einen beachtlichen Brennholzvorrat vor den Widrigkeiten des Wetters behütete.

Der uralte Diener, der sich stolz und gerade aufrecht hielt, als habe er einen Besenstiel verschluckt, führte die Gruppe die Treppe hinauf in den Palas. Das Portal führte in einen großen, zwei Stockwerke hohen Empfangsraum, an dessen Wänden sich rechts und links eine geschwungene nach oben. Die Wände waren mit Fresken von Ranken und Wappenschilden, die vermutlich verbundene Familien und alte Formen des Baroniewappens darstellten, verziert. und in einigen Nischen entlang der Treppe standen alte Rüstungen.
Lares wählte die rechter Treppe und führte die Gruppe empor und über einen langen Gang fast durch die gesamte Trauffront des Gemäuers, ehe er auf zwei Türen zu seiner Rechten wies und die erste davon öffnete. “Beide Räume sind die euren für euren Aufenthalt, werte Herrschaften. Sie sollten mit allem ausgestattet sein, was ihr benötigt. So ihr noch Wünsche habt, lasst es mich wissen. Ebenfalls besitzt die Rabenstein einen großen Baderaum im Erdgeschoss des Wirtschaftsgebäudes, den ihr nach euren Wünschen nutzen mögt. Ich werde euch zum Abendessen wieder hier abholen … wenn die Herrschaften noch etwas benötigen?” ließ er den Satz zur Hälfte in der Luft hängen.

Die Gästeräume waren mit einem großen Himmelbett, Tisch, Stühlen, mehreren Truhen, einem Waschtisch und einer angeschlossenen, deutlich kleineren Dienerkammer fast identisch ausgestattet. In einem offenen Kamin brannte ein kleines Feuer, mehr eine Geste an diesem Sommertag als wirklich notwendig, doch ließen die mehr denn halbschrittbreiten Mauern wenig Wärme in das alte Gemäuer dringen. Die tiefen Fensternischen waren mit einer gemauerten Fensterbank, auf der dicke Kissen lagen, indes recht manierlich ausgestattet.
Auf dem weißen Putz um die Fenster und an den oberen Kanten der Wände zogen sich Fresken, die am Fenster Blumenranken, an den Wänden aber ein Fries aus Raben, Federn und Totenschädeln zeigten.

Die kleine Reisegesellschaft hatte sich schnell einquartiert, Alrike und Karolan zusammen in dem ersten Zimmer, Servusian in der Kammer der Diener und die junge Boromilia in den zweiten Gastraum. Die Junkerin trat an das Fenster. Es dauerte nicht lange und ihr großer Rabe Malfado landete auf dem Fenstersims. Das Tier legte den Kopf in den Nacken und krächzte, ein Laut, der von einem Schwarm seiner Artgenossen weit oben, vom Berfried aus, beantwortet wurde. Zärtlich strich sie ihm durchs Gefieder, doch ihr Gesichtsausdruck blieb voller Sorge. Wie das Gespräch mit dem Baron von Rabenstein wohl verlaufen würde? Wilde Geschichten hatte sie bereits über Lucrann gehört, aber sie hatte Hoffnung, dass die Anwesenheit seiner Gemahlin seinen Jähzorn im Zaum halten würde. Über die Baronin wußte sie wenig, nur das sie eine zugängliche Frau … und Magierin war. Hier mußte sie vorsichtig sein. Dann wurde sie in ihren Gedanken unterbrochen, den es klopfte an der Tür.

Wieder war es der uralte Diener, der an der Tür klopfte.
“Seine Hochgeboren bittet euch zu sich.” Mit einer höflichen, aber nicht zu tiefen Verbeugung hielt er einen Kerzenleuchter mit drei brennenden Kerzen, ein kleiner Kreis aus Licht und Wärme inmitten der Dunkelheit, welche die Burg inzwischen umfangen hatte.
Es dauerte nicht lange und die schweinsfolder Gäste waren zusammen, um den alten Diener zu folgen. Die Junkerin und ihr Mann, der Boroni, liefen voran, gefolgt von ihrere Tochter der Novizin, so dass der Leibdiener den Abschluß machte.
Der alte Diener führte die Gruppe zurück ins Erdgeschoss und dann über einen dunklen, langen Gang linkerhand des Eingangs. Vor einer dicken, holzbeschlagenen Tür blieb der Domestik stehen, klopfte und kündigte mit deutlicher Stimme “Die Gäste” an.
Auf ein knappes ‘Herein’ öffnete er die Tür und führte die Gruppe hindurch.

Der Herr des Hauses

Im Kamin der großen, ganz in dunklen Farben gehaltenen Bibliothek brannte ein anheimelndes, munter prasselndes Feuer. Lichtreflexe huschten über die beiden großen, vom Boden bis zur Decke des hohen Raumes reichenden Regale, auf denen sich wohl sechzig Folianten und Schriftrollen ein Stelldichein gaben, während der Rest des Raumes im Zwielicht versank. Vor dem Feuer lagen zwei gewaltige, schwarze Bärenfelle; ein großer Teil des restlichen Raumes wurde von einem dichten, schwarzbraunen Teppich eingenommen. Die restlichen Wände bedeckten kostbare, ebenfalls in dunklen Farben gehaltene Wandteppiche, die vornehmlich Jagdszenen und Tiermotive, insbesondere Rabe, Schlange und - seltsamerweise - Eidechse, zeigten. Aus einem fast mannshohen, schwarzgerahmten Gemälde blickte eine junge, schwarzhaarige Frau in der Robe einer Borongeweihten finster auf die Anwesenden herab. Die dicken Glasfenster zum Hof waren mit schweren Vorhängen verschlossen. Möbliert war der Raum mit einem Lesepult, einem flachen Tisch und einem Dutzend hochlehniger, schwerer Ledersessel, die sich um den Tisch und vor dem Kamin gruppierten.

Zwei große, fünfarmige Kandelaber standen zu beiden Seiten des Kamins. Sie waren mit dicken Bienenwachskerzen bestückt, die mit ruhiger Flamme brannten und einen sachten Duft nach Sommer, Honig und blühenden Wiesen verbreiteten.
Beim Eintreten des Gastes hatte sich ein dunkel gekleideter Mann erhoben und wandte sich den Eintretenden zu. "Wohlgeboren, willkommen auf der Rabenstein." Der Baron war ein schlanker, mittelgroßer Mann Ende Fünfzig, Anfang 60. Er hatte sehr helle Haut, schwarzes, schulterlanges Haar und ein - zumindest in diesem ungewissen Licht - schwarzes Auge. Über dem linken saß eine Augenklappe, darüber zierte eine weiße Strähne sein Haar, durch das sich bereits silberne Strähnen zogen. Sein schmaler Oberlippenbart hingegen war noch von ungetrübtem Rabenschwarz.
Der Herr der Burg trug lederne, weiche Stiefel, eine einfache Hose aus glattem Wollstoff, ein lediglich am Kragen mit Spitze verziertes Hemd aus feinem, schwarzen Linnen und darüber eine Weste aus fein gewobener Wolle, besetzt mit geschorenem garetischem Samt. Seine Hände steckten in ledernen Handschuhen und in der Linken hielt er einen schwarzen Gehstock mit silbernem, glatten Knauf.
Der Freiherr bedeutete dem Diener, heranzutreten, woraufhin dieser den Willkommenstrunk, einen tiefroten Wein, in silbernen Pokalen servierte. Mit einer Handbewegung bot der Rabensteiner seinem Besuch einen die Kelche an.

“Seid mir Willkommen auf der Rabenstein.” begrüßte er sie, nachdem er sie einige Lidschläge lang mit kaltem, abschätzendem Blick gemustert hatte. “Boron zum Gruße”, sagte, überraschenderweise, der Geweihte des Totengottes als erster. Karolan von Henjasburg war ein blasser Mittvierziger, der seinen Kopf kahlgeschoren trug und sein knochiges Gesicht mit einem gepflegten, doch leicht ergrauten, braunen Bart umrahmte. Die grünen Augen lagen unter Schatten und sein Blick sprach von Tiefgründigkeit. Seine Stimme war überraschend tief, etwas, das man dem schlanken Mann nicht zugetraut hätte. Die schwarze Robe, die er trug, war aus feinem Tuch mit silbernen Raben und Boronsradstickerein an Kragen und Ärmeln versehen. Seine Gemahlin, die Junkerin von Herzogenfurt und Landesvögtin von Schweinsfold, ließ nicht auf sich warten. “Wir danken euch für die Gastfreundschaft, euer Hochgeboren.”, antwortete Alrike knapp. Die Vierzigerin war ebenfalls komplett in Schwarz gekleidet. Dunkle, wildlederne Halbstiefel, enge Hosen, ein schwarzes, seidenes Junkerwams und um den Hals trug sie eine silberne Amtskette. Auch sie war blass, ihre blauen Augen versteckten sich unter Schlupflidern und im Zusammenspiel mit ihrer leicht gebogenen Nase hatte sie etwas Raubvogelartiges. Der blonde Kurzhaarschnitt und die mürrischen Züge um den Mund ließen sie hart und unzufrieden wirken. Dennoch griff sie nach einem der Kelche. Die beiden Jüngeren, die Boron-Novizin und der Leibdiener, hielten sich im Hintergrund. “Seid so frei und wartet bitte im Gang bis ich euch rufe.” Servusian, der gutaussehende Jüngling, schaute ein wenig überrascht, nickte aber dann verständig und ging aus dem Raum hinaus, gefolgt von der Novizin. Nachdem die Türe geschlossen wurde, prostete Alrike dem Baron zu.
“Seid unter dem Schutz der Travia unter meinem Dach.” bot der geweihte Baron seinen
Gästen das göttergefällige Willkommen, ein Friedensversprechen für diese kurze Zeit, so alt wie der Glaube an die Gütige selbst.
Er trank einen Schluck der schweren, roten Flüssigkeit und betrachtete die beiden mit kaltem Blick, ehe er hinzufügte.
“Wir müssen reden.”

Familiengeschichten

“Das müssen wir.” Die Junkerin stellte den Kelch ab und blickte den Baron scharf an. “Euer Hochgeboren, bitte habt das erste Wort.” Sollte er Stellung nehmen zu dieser Angelegenheit. Dennoch musste sie einmal tief die Luft holen, das Gefühl von Wut und Enttäuschung bahnte sich an. Der Rabensteiner wies mit einer Hand auf die bequem aussehnden Sessel, die sich vor dem Kamin gruppierten, und nahm Platz, ohne sich zu vergewissern, dass seine Gäste seiner Aufforderung folgten.
“Eure Tochter hat sich auf der Jagd zu Nilsitz mit einem Knappen eingelassen. Sie hätte Lager und Paginnen hüten sollen, doch war die Feier für sie eine zu große Verlockung.”

Ich bin enttäuscht von ihr, besagte klar und deutlich der Subtext.

“Der junge Mann ist geständig, doch nur von niedrigem Adel. Keine gute Partie.
Was tun wir mit ihr?”
Die Vögtin folgte der Einladung und setzte sich hin. Karolan unterdessen blieb weiterhin stehen.

Ohne eine Miene zu verziehen redete Alrike weiter. “Wir waren und sind überrascht, über dieses Verhalten unserer Tochter. Als sie Herzogenfurt verlassen hatte, um die Knappschaft in Rabenstein anzufangen, hatte sie nie derlei Interesse an Feiern gezeigt, noch je ihre Aufgaben vernachlässigt. Da Euch die Verantwortung über Wohlbehalt und Tugend übertragen wurde, um sie als Schwertvater zu leiten und zu bilden, ja als Vorbild zu dienen, lasse ich euch den Vortritt einen Vorschlag zu machen.” Die versteckten Anschuldigungen waren offensichtlich … und gewollt. Nur das Reiben von Zeigefinger auf ihren Daumen der Rechten wiesen daraufhin, dass die Vögtin innerlich aufgebracht war.
Der alte Baron hob eine Augenbraue, als er seinen Blick kurz und geplant über den anderen Priester schweifen, der sich aller Höflichkeit und Angemessenheit widersetzte.

“Gewiss ist das Vorkommnis bedauerlich. Ich muss gestehen, dass ich Willensstärke und Standesbewusstsein Eurer Tochter überschätzte und ihr mehr unterstellte, als sie fähig war.”
Er ließ den Wein in seinem Kelch kreisen und beobachtete einige ruhige, gelassene Atemzüge lang den Geweihten und die Junkerin, an die der das Reden ganz offensichtlich übertragen hatte.
Genießerisch trank er einen Schluck des dunklen, schweren Tropfens und stellte den Kelch mit einer gemessenen Bewegung wieder ab.
“So ist sie nicht mehr zur Ausbildung als Knappin befähigt. Ein Ritter benötigt moralische Grundsätze und Selbstbeherrschung, die sie nicht auszuüben willig war.”

Er stützte die Fingerspitzen seiner wie immer in feinen, schwarzen Handschuhen steckenden Hände aneinander.

“Zur Zeit übt sie nochmals die Grundlagen der Pferdepflege.” Was bedeutete, dass sie ihre Tage mit der Mistforke im Stall verbrachte, genug Zeit, um über ihre Dummheit nachzudenken.
“Wünscht Ihr sie zu verheiraten - oder soll sie ihre Tage als Magd beschließen?”
Leicht verengten sich die Augen der Junkerin (und geheimen Hexe). Wie sehr wünschte sie diesem arroganten Baron einen Fluch zu überbringen - doch war sie anders als viele ihrer Artgenossenin. Kontrolle war einer ihrer ersten Tugenden, die sie meisterte.
“Wir haben auch mehr erwartet, ist der Ruf des Hauses Rabenstein tadellos und bekannt dafür, jede Herausforderung zu meistern. Aber eines lernt man daraus: Makellosigkeit gibt es nur im Angesicht der Götter.” Sie nahm nochmals einen Schluck und setzte den Kelch wieder ab. “Da ihr offensichtlich keinen Vorschlag habt, werde ich meiner eigenen Überlegung folgen müssen. Um euch weitere Enttäuschungen und untragbaren Fehleinschätzungen auszusetzen, werden wir Boromada wieder mit nach Herzogenfurt nehmen. Eine passende Partie hat sich finden lassen. Das Haus Unkenau ist einer Verbindung aufgeschlossen. Das Angebot eines Eisensteiner Edlen habe ich allerdings abgelehnt.” Herausfordernd schaute sie den Baron an.
“So ihr wünscht, Euer Wohgeboren, dass ich Eure Tochter verheirate, werde ich dies mit Freuden tun.” Die dunkle, tiefe Stimme des Rabensteiners war gelassen und ruhig - und dennoch schwang eine Schärfe wie von einer feinen, bestens geschliffenen Klinge in ihr mit, eine unmissverständliche Warnung, nicht zu weit zu gehen.

“Gleich euch bin ich nicht glücklich, welches Licht eure Tochter auf den Ruf meines Hauses geworfen hat.”
Der Blick des Einäugigen nahm die Herausforderung der Frau gelassen und in sich ruhend auf.
“Doch selbstverständlich entlasse ich sie aus meinen Diensten, so Ihr dies begehrt.”

“Nicht glücklich … meine Tochter … “, murmelte sie vor sich hin und biss sich dann auf die Zunge. Alrike straffte sich wieder. “Ich denke, das es für beide Parteien gut ist, das Boromada in einem anderen Haus unterkommt. Nun, ich bin nicht hier eine Fehde vom Zaun zu brechen, sondern die zarten Bande zwischen Rabenstein und Schweinsfold zu stärken.” Sie machte eine kurze Pause. “Ihr wißt, das meine verstorbene Mutter, Baronin Selinde von Herzogenfurt-Schweinsfold, auf Frieden aus war, insbesondere mit eurem Haus. Der neuen Baronin, meiner Nichte, hat das selbe anliegen. Ich soll euch ihre besten Grüße ausrichten. Baronin Selinde die Zweite bietet an, in dieser Gelegenheit als Dank für eure Mühen, einen eurer Kinder oder Mündel aufzunehmen. Das Haus Schweinsfold steht für Wehrhaftigkeit, Tugend und Ehrbarkeit. ”, beendete sie diesen Satz, der förmlich ausgesprochen wurde.

“Das mag so sein.” Der Einäugige Baron nickte und beließ seine Hände locker auf dem Tisch, eine Geste, die von innerer Gelassenheit und Kontrolle der Situation erzählte.

“Richtet Eurer Baronin meine guten Wünsche aus. Keinen Hader hege ich mit Ihrem Haus.”
Und damit nicht mit euch, aufgebrachte Dame.

“Dann nehmt Eure Tochter mit euch.” Er betrachtete die beiden mit einem kurzen, scharfen Blick.
“Benötigt ihr eine standesgemäße Partie für sie?”

Nun beruhigte Alrike sich. “Ich werde es ihrer Hochgeboren ausrichten. Schweinsfold ist sehr daran gelegen die Freundschaft mit Rabenstein zu vertiefen.” Nun legte entspannte sie und lockerte ihre Hände. “Wie ich schon erwähnte, habe ich eine gute Partie für Boromada gefunden. Baron Roklan von Leihenhof hat diesbezüglich vermittelt.” Dann wanderte ihr Blick zu ihrem Gemahl. “Ich würde mich gerne zurück ziehen, den seiner Hochwürden Karolan, möchte etwas unter vier Augen mit euch besprechen.” Sagte sie knapp und wartete auf des Barons Antwort.
Der Rabensteiner nickte. “Wir sehen uns später beim Abendessen.” entließ er die Vögtin aus seiner Bibliothek. Draußen wartete bereits, schweigend wie ein Schatten in der Ecke, der Diener, um sich ihrer anzunehmen.

Schweigen ist Gold

Er erhob sich und verschränkte die Arme, abwartend und still, das Wort seinem Bruder im Glauben überreichend.

Kurz schaute Karolan von Henjasburg den Baron schweigend an. “Euer Gnaden. Diener des Raben, Lucrann von Rabenstein.”, eröffnete er mit tiefer Stimme. “Ich bin heute nicht hier als Vater von Boromada, sondern als Hüter des Raben, zu dessen ich von dem Schweigsamen berufen wurde. Meine Aufgabe ist es nicht nur eine heilige Stätte Borons zu hüten, in seinem Namen seinen Willen zu erkennen, sondern auch ein Auge auf seine Raben, seine Diener zu haben. Ihren Flug zu begleiten und sie daran zu erinnern, sich nicht im Weltlichen zu verlieren. Sollte es etwas geben, das eure Seele beschwert, etwas das euch die Pfaden des Ewigen zu gehen beschweren sollte, bin ich da, um euch zu zuhören. Nur eine befreite Seele kann klar seinen Flug in Borons Namen erkennen.” Regungslos, doch mit echter Fürsorge im Blick, wartete er ab, ob Lucrann etwas zu sagen hatte.
Der stützte seine in schwarzen, sehr feinen Lederhandschuhen steckenden Fingerspitzen gegeneinander und lauschte seinem Bruder im Glauben mit ausdrucksloser Miene.

Schließlich wies er wortlos mit einer knappen Geste auf den Sessel ihm gegenüber.
Und Karolan setzte sich. Auch er legte nun seine Fingerspitzen zusammen, doch waren seine Hände bar jeglicher Handschuhe und nur ein silberner Ring mit einem Raben zierte sein Ringfinger. Er schaute Lucrann nicht an und ließ sein Blick in die Ferne schweifen. Der Hüter hörte zu.
“Gebt mir Euer Wort, nichts von dem, was hier gesprochen wird, anderen zugänglich zu machen.”

Im Gegensatz zu seinem Bruder im Glauben fixierte der Rabensteiner den so jäh in seinen Horst geflatterten Geweihten mit gelassenem, doch äußerst aufmerksamen Blick. Fast ein wenig wie eine Schlange, die nur scheinbar träge und ruhig dalag und wartete.
Karolans Blick wanderte zurück zu Lucrann. “Eure Worte sind nur für den Schweigsamen. Ich bin nur der irdische Hüter Borons. So habt ihr mein Wort, Diener des Raben.”

Der Rabensteiner nickte nur als Antwort.

“Ich diene der Kirche des Raben schon sehr lange Zeit.” Dunkel war seine ruhige Stimme, ein Echo der Schatten, die sich in den Ecken des großen Raumes eingerichtet hatten und aufmerksam und schweigend lauschten.
“Ich habe von manchen ihrer Geheimnisse erfahren - und bin dem einen oder anderen begegnet.”
Die Schatten in den Ecken verharrten, still, und gaben keine Antwort.
“Und ich zweifele.”

Karolan hatte seinen Blick wieder in die Ferne gerichtet. “An was genau zweifelt ihr?” Seine Stimme hatte eine unbeschreibliche Tiefgründigkeit, wohlklingend, vertraut und doch … fern. Der alte Baron antwortete eine geraume Zeit mit Schweigen.
“Was ist das Wesen der Gnade, Ehrwürden?” Brach er sie schließlich weniger, als dass seine dunkle Stimme sich in sie flocht, ebenso ruhig, ebenso sanft - und ebenso zeitlos.

Ohne zu Zögern antwortete der Hüter. Es schien das er selbst sich mit dieser Frage beschäftigt hatte. “Gnade ist der Anker in der zwölfgöttlichen Ordnung. Der Hinweis darauf, das Gute in einem zu bewahren und sich nicht in die chaotischen Verhältnisse von Dämonen zu begeben. Des Menschen Rettung der eigenen Seele.”

“Und wer hat diese Gnade verdient, Euer Ehrwürden?”

“Ein jeder muß sein Gewissen prüfen, bevor er sich diese Frage beantworten kann. Ein jeder Gott gibt seinen Gläubigen Hinweise mit auf dem Weg, wie Gnade in seinen Augen aussehen könnte. Doch schlussendlich gehören alle zur selben Ordnung und zusammen sollten sie Leitfaden sein.”, sagte der Hüter.
Der alte Baron betrachtete seinen Gast und nickte.

“Haltet Ihr es für angemessen, zu töten, um ein Geheimnis zu bewahren?”

Karolans Blick wandert nach unten, fast so, als wolle er in die Tiefe der Schatten blicken wollen.
“Es liegt an der Natur dessen, doch sollte euch die Richtline Borons helfen. Der Todesbringer braucht keinen irdischen Diener, um jemanden zu töten um ein Geheimnis zu bewahren. Liegt es in seinem Willen, so würde er selbst den Tod oder das Vergessen erwirken.”

“Eine zu einfache Antwort, Ehrwürden.” beschied der Einäugige seinen Gast.
“Nach Eurer Argumentation benötigt der Unergründliche also keine Diener.”
Einfache Antworten waren schön. Doch leider nahezu immer falsch.

“Das habt ihr falsch verstanden. Boron braucht seine Diener auf Dere. Doch benötigt er keine Mörder. Boron entscheidet über den Tod, nicht seine Diener.” Er machte eine kurze Pause. “Eine Frage die sich auch nicht mit einer einfachen Antwort beantworten läßt. Wie ich sagte, ein jeder muss seine Gewissen prüfen und ob er im Einklang mit der Ordnung ist. Doch muß ich gestehen, Boron hat mich noch nie vor die Entscheidung gestellt, ein Leben zu nehmen, um ein Geheimnis zu bewahren.” Sein Blick wanderte wieder nach oben.
“Ich habe mich damals mit einer Hochgeweihten der Peraine beraten. Und ihr nachgegeben. Der größte Fehler, den ich jemals beging.”

“Wollt ihr darüber reden?”
Der Rabensteiner zuckte die Achseln.
“Das Weib ist flüchtig und sät seine Saat. Es ist zu spät.”

“Sie ist eine Gefallene oder hat sie euch getäuscht?”
“Sie ist eine Hohepriesterin der Marbo und im Besitz der Primärliturgie der Geiermutter.”

Nun zeigte sich das erste mal eine Regung im Gesicht des Hüters. Es war ein Moment der Überraschung und des Schreckens. Vorsichtig schaute er nun Lucrann an. “Wir stehen in einer Zeit der Umwälzung. Die zwölfgöttliche Ordnung wird geprüft. Doch ist es auch unsere Chance Stärke zu beweisen, Euer Gnaden.” Nun kehrte er wieder zu seinem Firunsgesicht zurück. “Bishdariel hat mich auserwählt, seine Träume und Visionen zu empfangen, zu deuten und zu hüten. Und das was ihr gerade mit mir geteilt habt, habe ich vor langer Zeit erträumt. Doch,” jetzt blickte er wieder in die Ferne, ”geht es im Moment um Euch. Ihr zweifelt daran, dieser Frau Gnade erwiesen zu haben?”

“Ich war zu nachgiebig. Zum Schaden derer, die ich zu schützen habe.”

Er faltete die Hände, eine knappe Bewegung nur, die aber die Schatten in den Ecken, genährt durch das Licht der fünfarmigen Leuchter und der Flammen im Kamin, in Unruhe brachte und zu großen, tiefen Seen aus vollständiger Dunkelheit gerinnen ließ. Mit einem Mal wurde es deutlich kälter im Raum, und Karolan schien es, als würde die Kraft der Kerzen für einen Atemzug lang geringer und ihr Licht schwächer.

“Was macht euch so sicher, das es ein Fehler war? Ist es vielleicht an der Zeit, eure Aufgabe neu zu betrachten? Ich glaube der Rat der Schwester im Glauben entsprach ganz den Aspekten der Zwölfe. Da es diese Primärliturgie gibt und sie nun dieser Geweihten offenbart wurde, kann man davon ausgehen, das es auch im Wille Borons war, hier das Vergessen und Schweigen zu brechen.” Karolans Stimme fand wieder zu seinem gewohnten Selbstbewußtsein. “Marbo, die Tochter des Raben. Sie wird immer zu seinem Gefolge gehören. Doch wie im irdischen, rebelliert eine Tochter gegen den Vater. Es liegt an beiden, mit Weisheit und Geduld, sich zu finden. Es könnte eure Aufgabe sein, die Kulten aneinander verstehen zu helfen und Klarheit schaffen. Klarheit darüber, das alle zum selben Pantheon gehören, der selben Ordnung. Ganz wie bei Firun und Ifirn, Efferd und Swafnir, Hesinde und Nandus oder Rondra und Kor.” Nachdenklich zog er eine Augenbraue hoch.

Der alte Baron betrachtete Karolan einige ruhige, gelassene Atemzüge lang schweigend.
“Was macht euch so sicher, dass es Borons Wille war, dass dieses Weib nun sein Unwesen treibt?”

“Ihr hättet sie oder jemand anderes daran gehindert. Es ist offensichtlich, dass ihr ein Auserwählter Borons seit. Hättet ihr gegen seinen Willen gehandelt, so würde er euch als Frevler zu erkennen geben oder seine Kraft entziehen.”

Der Rabensteiner schüttelte langsam den Kopf. “Eine schöne These, aber lückenhaft. Die Geiermutter ist Konkurrenz, keine Tochter. Ich empfing kurz zuvor eine Vision, in welcher Geierin und Rabe kämpften.”

Nun atmete er tief durch. “Wie ich schon sagte. Vater und Tochter. Rabe und Geier. Ich sagte nicht das es momentan so ist. Doch am Ende zählt, das beide erkennen, das sie unteilbar zusammen gehören, wie Vater und Tochter. Sollte es aber anders sein, so gilt das natürlich heraus zu finden. Auch das wäre eine Aufgabe. Ich glaube noch immer nicht, das ihr einen Fehler begangen habt. Sollte sich eure Vermutung verhärten, dann war es an der Zeit einen faulenden Sporn, ein Unwissen, loszuwerden. Doch dafür sollte man sich sicher sein und seine Lehre daraus ziehen. Ich bin davon überzeugt, dass Boron sonst eingegriffen hätte.”

“Nun, er hat mich zu ihr geschickt.” Eine ruhige und vollkommen überzeugte Feststellung.

“Dann können beider meiner Vermutungen richtig sein. Aber eines ist sicher: Ihr wart dort, ihr seid auserwählt. Und diese Angelegenheit ist nicht vorbei. Ein Zweifel steht euch im Weg und hält euch bei eurem Flug auf. Es liegt an euch, weiter zu ergründen, was es zu bedeuten hat. Ist es zu verstehen, das es zur Ordnung gehört oder ist es zu verstehen, das es gegen die Ordnung ist? Erst wenn die Gewissheit da ist, kann entschieden werden, was zu tun ist.” Nun faltete der Hüter die Hände.

“Es war der Zweifel daran, der Bitte einer Schwester im Glauben nachgegeben zu haben. Ihr habt Recht, Euer Ehrwürden - ich werde solches nicht mehr tun.”
Karolan wartet kurz, bis er weiter sprach. ”Ihr zweifelt, weil ihr nicht bestimmen könnt, ob es richtig war oder nicht. Wenn die Schwester aber euch an die zwölfgöttliche Ordnung erinnert hat und euch vor einen Schritt ins Leere bewahrt hat, wäre daran nichts Verwerfliches. Und ich glaube ich verstehe nun, was das Problem ist.” Nun ging der Blick des Mentors wieder in die Ferne.
“Auch ich bin von Boron auf einen eigenen Flug geschickt worden. Ein Flug der mich hier zu euch führte. Es begann mit einem Traum, den ebenfalls meine Gemahlin hatte.” Seine dunklen Augen zuckten ein wenig hin und her, ganz so, als würde er in seinen Gedanken lesen. “Ihr müßt wissen, auch sie ist mit der Gabe des Träumens gesegnet, fast so, wie eine Dienerin Bishdariels. Wir träumten von zwei Raben, einen älteren und einem Jüngeren, die zusammen flogen, kämpften und sich unterstützen. Uns war beiden klar, dass damit das Haus Rabenstein und das junge Haus Henjasburg damit gemeint war. Und bevor ihr sagt, das diese Deutung sehr dünn ist … seit gewiss, es gab mehr das ich gesehen habe, doch werde ich das heute für mich behalten.” Nun suchte er wieder den Blick des Barons. “Ich sehe euch oft in meinen Träumen. Deswegen bin ich hier.” Wieder kehrte eine fürsorglichen Wärme in seine Stimme. “Es ist Zeit von den weltliche Aufgaben loszulassen und sich ganz Boron zu widmen.”

Etwas zuckte im Gesicht des alten Barons. “Könnt ihr denn kämpfen, Euer Hochwürden?”

“Ich meinte Euch, eure Gnaden. Aber um eure Frage zu beantworten … sollte es dazu kommen, weiß ich eine Waffe zu führen.”
“Gegen was habt ihr dies bereits getan?”

Der Hüter dachte kurz nach. “In meiner Familie war es üblich, schon früh an der Waffe ausgebildet zu werden. Ich komme aus Weiden und der Ork war eine stetige Bedrohung. Ansonsten mußte ich einmal den Tempel verteidigen, Diener des Namenlosen hatten versucht ihn zu schänden, das ist aber über zwanzig Götterläufe her.”

“Sonst nichts?” kam die knappe, doch durchaus interessierte Gegenfrage. “Nein. Es war nie nötig. Auch meine Aufgabe im Tempel und die Traumdeutung haben bis jetzt keine Waffe vorgesehen.”, war seine kurze Antwort.
“So habt ihr Glück.” Der alte Baron lehnte sich zurück und verschränkte gelassen die Arme.

“Was wisst ihr über mich, Hochwürden Karolan?”

“Ihr seid schon lange ein Auserwählter Borons, auch wenn eure Weihe er von jungen Jahren ist. Als weltlicher Herrscher habt ihr einen kompromisslosen Ruf, der euch nicht immer Freunde bereitet.”
“Und sonst?”

Wenn dem Bruder im Glauben wirklich geträumt hatte .. dann war dies Frage von großem Interesse. Von äußerst großem.

“Ich sehe euch als Ritter Borons. In meinen Träumen seid ihr oft im Kampf. Auch den mit einem Geier habe ich gesehen. Und ihr straucheltet.” Er ließ die Worte kurz wirken. “Ich sah aber auch einen jungen Raben an eurer Seite, der euch beistand. Dieser Rabe stammt von einem Turm an einem Fluß.”
“Es wird immer jemanden geben, der meine Aufgabe nach mir erfüllt. Meine Zeit ist endlich.”

Eine sehr gelassene Feststellung.

“Das Straucheln seht ihr bezüglich der Marbodienerin?”
Er nickte. “Und recht habt ihr. Doch die Zeit, das ihr in Borons Hallen einkehrt, ist noch nicht gekommen. Zuviel deutet darauf hin. Der Rabe aus dem Turm steht für das Haus meiner Gemahlin. Doch bin ich mir sicher, das damit nicht Boromada gemeint war.”

“Boromada wäre keine taugliche Geweihte.” stimmte der Rabensteiner zu.
“Doch welches Mitglied der Familie dann?”
“Wie ich vorher andeutete, habe ich mehr gesehen. Und einiges ist noch sehr undeutlich. Doch ohne diesen jungen Raben, steht ein Fall bevor. Wie ihr vielleicht mitbekommen habt, ist eine Novizin in unsere Begleitung. Meine Tochter Boromilia.” Lucrann fiel der unterschwellige, traurige Ton in seiner Stimme auf.
“Keine Knappin, eine Novizin.” stellte der alte Freiherr leise fest.

“Und ihr wollt sie mir ausliefern?”

Ein leichtes Schlucken nahm der Baron war, doch waren die Worte des Hüters weiterhin ohne großes Gefühl. “Ich muss zugeben, das ich mich geirrt hatte, doch wenn es um weltliche Dinge geht, überlasse ich so etwas meiner Gemahlin. Doch es war nie weltlich. Keine Knappin für einen Baron, sondern eine Novizin für einen Geweihten. Boromilia war und ist es immer gewesen. Boron hat euch mit eurer Weihe voll und ganz seinem Pfad verschrieben. Der erfahrene Raben soll den Jüngeren leiten und der Jüngere den Älteren helfen seine Richtung nicht zu verlieren. Den das was kommt, wird er nicht allein durchstehen können.” Nun öffnete er wieder seine Hände. “Boromilia war schon früh mit der Gabe Bishdariels gesegnet und ist jetzt schon ihrem Mentor in Gratenfels voraus. Die Überlegung war, sie nach Punin zu schicken, doch ihr Platz ist bei euch, euer Gnaden.”
“Ihr traut mir viel zu, Hochwürden.”

Der alte Baron hatte sich nicht bewegt, und dennoch schien der Schatten hinter ihm an der Wand ins Riesenhafte zu wachsen.

Gewiss nur ein feines Spiel des Lichts … ganz sicher nicht mehr.

“Nicht ich. Boron, euer Gnaden.” war die knappe Antwort.
“Ihr wisst um die Umstände meiner Weihe?” Eine nur scheinbar zusammenhanglose Gegenfrage.

“Möchtet ihr sie mir erzählen?”
“Es ist keine Frage des Wollens, nicht wahr?”

“Ich kann nur erahnen, was die Träume Bishdariels mir offenbarte, doch ist es nicht wichtig zu wissen, über das Wie. Boron hat gewählt. Boron mir den Weg Boromilias gezeigt. Doch wenn ihr mir darüber erzählen möchtet, fühlt euch frei. Falls ihr aber nicht könnt, so schweigt.”

Der Rabensteiner schüttelte leicht den Kopf. Es würde den anderen Geweihten betreffen. Doch würde dieser vermutlich irgendwann - und von irgendwem - die Geschichte berichtet bekommen. Auch wenn die Zahl derer in Punin, die davon wussten, sich an einer halben Hand abzählen ließ.

“Mein Weihepriester war Mengbillaner.”

Karolan schloss kurz die Augen.
“Und ihr vertretet welche Ausrichtung?”, kam die schnelle Frage.

Lucrann hob kurz eine Hand, seine Linke, eine Bewegung, die als nachlässiges Wedeln hätte durchgehen können. Bei der Bewegung blitzte der silberne Siegelring seines Hauses auf, der eine schwarze Gemme trug, in die ein aufsteigender Rabe, Zeichen Bishdariels, eingraviert war. Ein Rabe ohne Krone.

“Ihr seht meine Robe.”
Die, schlicht und mit Silberstickereien, dem Puniner Ritus angehörte.

Was vieles, doch keine Antwort war.
Karolan nickte stumm.

“Ich diene dem Raben.”

“Die einzige Antwort die wichtig ist.” Der Hüter schwieg für einen weiteren Moment. “Boromilia wird sich in eurer Obhut begeben. Wollt ihr sie jetzt oder später kennenlernen?”
Karolan erhob sich.
Der alte Baron hob eine Augenbraue angesichts der Unhöflichkeit seines Gastes. Sich vor dem Gastgeber zu erheben war ein Fauxpas, der einem Adligen nicht hätte passieren sollen.

“Stellt sie mir zum Abendessen vor.” beschied er, noch immer entspannt sitzend, schließlich seinen Gast. Der Mentor griff in seine Robe und holte etwas Silbernes aus einer Tasche. Dann setzte er sich wieder.
“Wie ihr wünscht, euer Gnaden. Doch bevor wir unser Gespräch beenden, möchte ich euch dies geben.”

Er hielt ihm eine silberne Kette hin, mit dem Symbol Bishdariels darauf. “Tragt dies bei euch, es möge helfen, Kommendes besser zu verstehen.” Wieder hatte Karolan einen wissenden, und doch besorgten Blick. “Gibt es noch etwas, was ihr sagen wolltet, Lucrann?”
Nachdenklich und mit einer kaum merklichen Traurigkeit schüttelte der alte Isenhager den Kopf, während er den kleinen Rabenanhänger entgegennahm und ihn eine Weile, silbern gegen das Schwarz seines Handschuhes, betrachtete.
Wenn der Herzogenfurter noch Fragen hatte, würde er sie stellen. Doch auch er hatte nur gesehen, was er benötigte.

Er verwahrte das Amulett in einer Tasche, griff nach seinem Gehstock und erhob sich steifbeinig.
“Kommt. Das Abendessen ist bereit.”


Das Abendessen

Einige Schritte weiter auf dem dunklen, mit glänzend polierten Steinplatten ausgelegten Gang führte der Weg. Die Laterne in der Hand des Dieners war die einzige Lichtquelle, und ihr Licht bildete einen kleinen See aus Licht in der tiefen Dunkelheit.
Der Speisesaal war ein großer, hoher Raum mit einer langen Tafel, die für zwei Dutzend Menschen leicht Platz geboten hätte. Es war genug Platz, um weitere Tafeln U-förmig anzubauen - doch offensichtlich wurde in Rabenstein eher selten der verbreiteten Sitte gehuldigt, dass die Burgbesatzung gemeinsam speiste.
Der Raum war mannshoch mit dunklem Holz getäfelt, besaß einen großen Kamin an der Stirnseite und zwei massive, aus Eisen gefertigte Kronleuchter.

Und war mit den wenigen Gästen, der Baronin, zwei Paginnen und vier Dienern fast vollkommen leer.

Die Junkerin hatte sich für den Abend für ein schwarz, seidenes Hemd entschieden, das mit einem breiten Gürtel mit silberner Schnalle unterbrochen wurde und die Taille betonte. Wie immer trug sie eine enge Hose dazu, denn es gab nichts, was sie mehr verabscheute als ein Kleid. Die Verkündung, das ihre Zweitgeborene nun auf Rabenstein bleiben würde, hatte sie überrascht, sie aber auch innerlich beruhigt. Zumindest sollte das den Frieden zwischen den Häusern halten können. Doch was war nun mit Boromada zu tun? Sie hoffte, dass sich ihre Tochter in ihre Entscheidung fügen würde.
Der Baron führte seine Gemahlin, eine Mittvierzigerin mit hochgestecktem, dunkelblondem Haar, angetan mit einem langen, silberbestickten, dunkelgrünen Kleid, an ihren Platz zu seiner Rechten an der Stirn des langen Tisches. Zu seiner Linken saß als sein Gast die Junkerin, zu der Rechten der Baronin war das Gedeck für Karolan aufgelegt, an der Seite der Eltern je eines für ihre Töchter.

Hinter den Stühlen der Gäste standen schweigend zwei alte Diener, bereit, sie nach ihren Wünschen zu bedienen.
Die beiden Paginnen des Barons hatten hinter den Stühlen des Baronspaares ihre Aufstellung genommen, während weitere Küchenbedienstete den Hausherren und ihren Gästen einen leichten, hellen Weißwein einschenkten und die Vorspeise - kleine Blätterteigtörtchen mit gehackten Pilzen, Kräutern und Käse - servierten.
“Möge Travia, für ihre zwölfgöttlichen Geschwister, den Segen über unser Mahl spenden.” sprach der Einäugige einen sehr steifen und auf das Notwendigste verkürzten Tischsegen. “Lasst es euch schmecken.”

Mit diesen mit einem herzlichen Lächeln hinzugefügten Worten setzte sich die Baronin zeitgleich mit ihrem Gemahl und nahm ihren Weinkelch zur Hand, zum Zeichen, dass die Tafel eröffnet sei.

Neugierig musterte sie den anderen Boroni und lächelte Karolan vorsichtig zu.
“Ich freue mich, dass Ihr bei uns zu Gast seid, Euer Hochwürden.”
Der hagere Karolan nickte zur Antwort und hob ebenfalls den Kelch. Die Junkerin lächelte der Baronin zu. “Wir sind dankbar für die Gastfreundschaft! Auf euer Wohl!” Auch sie hob nun den Kelch und machte mit einem weiten Ausholen klar, das Beide damit gemeint waren. Die Schwestern allerdings, Boromada und Boromilia, hoben den Kelch schweigend und tauschten untereinander scheue Blicke aus. Während die Knappin des Barons eindeutig mehr Züge des Vaters geerbt hatte, kam Boromilia doch eher nach ihrer Mutter. Hatte Boromada die braunen Haare und die melancholischen grünen Augen Karolans, so hatte Boromilia die blonden Haare, die forschen blauen Augen Alrikes. Seit Jahren hatten die Mädchen sich nicht gesehen, das letztemal waren sie beide noch Kinder und nun junge Frauen. Die Boronnovizin wagte nun einen Blick zu dem Baron. Das war er also nun. Einige Geschichten hatte sie von dem Rabensteiner gehört. Das er aber nun ihr neuer Mentor werden würde, konnte sie immer noch nicht fassen ... und werten. Kurz vor dem Abendessen hatte ihr Vater die Neuigkeit verkündet, das sie ihr Noviziat in Gratenfels nicht weiterführen würde, sondern nun hier, in Rabenstein. Alrike währenddessen würdigte ihrer Tochter Boromada keinen Blick. Das Mahl ging größtenteils schweigend vonstatten, lediglich die Baronin versuchte sich an einem höflichen Gespräch mit der Vögtin.
“Sagt, wie ist das Leben in Schweinsfold? Was sind eure Herausforderungen dort - und eure Freuden?”

Ein ums andere Mal schweiften ihre Blicke über die beiden Henjasburger Töchter, als suche sie eine Ähnlichkeit, die schwer zu finden war - oder als grübele sie. Doch in Worte fasste sie dies vorerst noch nicht.

“Ein ertragreiches Land, hauptsächlich Felder, wenige Wälder. Leider haben wir keine so schönen Berge wie ihr hier.” sagte sie knapp, doch dann Lächelte sie. “Der Lilienpark in Herzogenfurt. Ein schöner Ort und von der Liebholden gesegnet. Es zieht viele Bänkelsänger und Verliebte an diesen Ort. Ihr solltet ihn euch bei Gelegenheit anschauen.”, schlug die Vögtin vor. Dann weitete sich ihre Augen. “Ach, da fällt mir ein, das uns erst kürzlich eine Rezeptur aus Rabensteiner Küche serviert wurde. Unsere Küchenmeisterin steht im Kontakt mit eurem.”

Shanija lächelte. “Das hat er erzählt - und uns einige der Herzogenfurter Würste kredenzt.” Sie schwieg einige Augenblicke und musterte das Gesicht der Anderen. “Sie sind lecker. Und was hat eure Küchenmeisterin euch vorgesetzt?”
“Es war eine vorzügliche Suppe. Ungewöhnlich war der dunkle Ton, doch überraschend würziger Geschmack.”, erwiderte sie der Baronin Frage. Nach einem kurzem Schweigen blickte sie kurz zu Boromilia, dann wieder zu Shanija. “Ich bedanke mich bei euch, Baronin, dass ihr meine Tochter Boromada aufgenommen habt. Sie wird Rabenstein sicherlich missen. Doch Boromilia wird ihren Platz einnehmen und sich wie zu Hause fühlen.” Ein wenig der Herzlichkeit wich aus ihrer Stimme. Die erschrockenen und verwunderten Blicke beider Mädchen verrieten, dass die Aussage der Mutter eine Neuigkeit war.

“Er hat viele Rezepte aus Kuslik mitgebracht - und aus dem Seelander in Gareth.” freute sich die Baronin.
“Ich will alles tun, dass sich Boromilia bei uns wohl fühlt, das verspreche ich euch.”
Ob beabsichtigt oder nicht, das erstickte Schnauben Boromadas war kaum zu überhören.
Auch die Boronnovizin schaute zwischen ihrem Vater und dem Baron fragend hin und her.
Offensichtlich hatte noch niemand die beiden jungen Damen informiert.

“Du, Boromada, wirst Deinen Vater wieder nach Herzogenfurt begleiten.” Der Rabensteiner wandte sich kurz an seine ehemalige Knappin, und bedachte sie mit undeutbarem Blick. Dann wandte er sich an die zweite Henjasburger Tochter. “Und Du, Boromilia, wirst als Novizin in meine Dienste treten.”
Nur für das geschulte Auge eines Kenners, war es offensichtlich, das die junge Novizin eine Spur blasser wurde, die eh schon mit einer Porzellan-Blässe glänzte. Dennoch zeigte sie keinerlei Regung in ihrem Gesicht. Ihre blauen Augen trafen auf die des Barons und erst jetzt bemerkte er eine Tiefgründigkeit, wie man sie nur bei erfahrenen Geweihten vorfand. Boromilia nickte kurz. Nichts deutete darauf hin, ob ihr diese Entscheidung gefiel oder nicht. Ganz im Gegenteil zu ihrer Schwester. Diese sog tief die Luft ein und ihr Gesicht nahm einen wütenden Zug an. “Und wo werde ich … ich kann doch nicht …”, presste sie heraus. Ihre Mutter jedoch richtet ihren Blick wieder an die Baronin. “Es wird bald eine Hochzeit geben, der Edle von Niederwiesen hat einer Verlobung zugestimmt und wird ein liebevoller Vater sein. So wie sie eine häusliche und traviagefällige Ehefrau sein wird.”, die letzten Worte waren schneidend und kalt gesprochen. Mit Entsetzen im Gesicht sprang die junge Knappin von ihrem Stuhl auf. “WAS? Niemals!” kam es erstickt über Boromadas Lippen. Ihr Blick wanderte gehetzt auf alle Anwesenden. Dann rannte sie hinaus. Ein zorniges Funkeln schlich sich in Alrikes Blick und schon wollte sie wütend auf die Tischplatte schlagen, doch dann hielt sie inne. Dies war nicht ihr Haus.

Der Rabensteiner blickte kurz auf und gab einem der Diener einen Wink mit dem Kopf, woraufhin der sich ohne ein Wort nach draußen begab, um die aufgebrachte Knappin zurückzuschaffen.
Der alte Baron ging nicht weiter auf den Vorfall ein, doch wenige Augenblicke später brachte eine der Wachen die äußerst finster blickende Boromada zurück, die mit durchgedrücktem Rücken und funkelnden Augen einen Schritt vor dem grinsenden Büttel wieder in den Speisesaal stolzierte, stocksteif stehen blieb und zwischen zusammengebissenen Zähnen ein “Ich bitte um Verzeihung.” herauspresste.

Der Rabensteiner strafte sie einige Atemzüge mit Nichtachtung, ehe er knapp auf ihren Stuhl wies, wo sich die bald ehemalige Knappin mit einem finsteren Blick und ohne ein weiteres Wort wieder niederließ. Aber auf eine direkte Konfrontation schien sie es dennoch nicht ankommen lassen zu wollen.
Niemand am Tisch schien eine weitere Konversation zu suchen. Alrike würdigte ihre Erstgeborenen keines weiteren Blickes, Karolan sagte kein Wort, doch wanderte sein Blick ab und an zu seiner Tochter Boromilia. Diese wiederum hatte ihren Blick weiter auf ihr Essen gelegt, ganz so, als würde sie sich selbst dazu zwingen, niemand andere anzuschauen. Das Krächzen eines Raben unterbrach die Stille. Auf dem Fenstersims saß ein prächtiger Kolkrabe mit tiefschwarz-schimmernden Federkleid. Alrike schaute auf und ihr Blick wanderte zu dem Baron. Fast schien es ihm, als ob sie ihm eine Entschuldigung signalisieren würde. Dann machte sie eine beiläufige Handbewegung und der Rabe flog wieder davon. Der Baron nickte kaum merklich, als er dem großen Raben nachblickte.
Der Rest des Mahles geschah in bedachtvollem Schweigen.

Räblein und Raben

Bis auf den Fackelschein, war es finster auf Burg Rabenstein. Boromilia spürte das Alter dieses Gemäuers, es schien, dass es ihr Geschichten erzählen wollte, auch wenn es hier absolut still war. Das Mauerwerk, der Steinboden, die Kühle. Schwer lag es in den Schatten, doch leblos erschien es ihr nicht. Ein flüchtiger Blick aus einen der Fenster zeigten ihr die ersten Blautöne die sich aus dem Schwarz herausschälten. Die Morgendämmerung war angebrochen. Die Boronsstunde.
Vor einer alten, dunklen Figur eines Raben standen der Baron von Rabenstein und ihr Vater Karolan. Beide waren sie in einem schlichten, doch hochwertigen schwarzen Gewand gekleidet und hatten ihre Augen geschlossen. Die junge Novizin erwischte sich dabei, noch immer sich umzuschauen, anstatt sich dem Gebet an den Herrn des Todes und Schlafes anzuschließen. In der letzten und doch sehr kurzen Nacht konnte sie nicht in den Schlaf finden. Immer wieder fragte sie sich, warum ausgerechnet sie nun hier die Stelle Boromadas einnehmen mußte, besser gesagt, warum sie ihr Noviziat bei Lucrann von Rabenstein beenden sollte. Waren die Raben in Gratenfels nicht mit ihr zufrieden? Folgte ihr Vater einem Hinweis des dunklen Gottes? Oder hatte der Baron nach ihr verlangt? Eine Antwort konnte sie sich nicht geben.

Ein schweres Ausatmen des Hüters kündigte vom Ende des Gebets. Alle öffneten ihre Augen wieder. Der Baron schritt voran und führte die beiden, Vater und Tochter, wieder zum Speisesaal. Der Tisch war gedeckt, doch wartete die Novizin, bis sich die beiden Geweihten hingesetzt hatten. Dann spürte sie den Blick Lucranns auf sich.
Der Baron betrachtete die Novizin vom Scheitel bis zu den Sohlen. Er nickte knapp.
“Nun bist Du hier. Fragen?”

Fast war ihr, als ob er ihre Gedanken lesen konnte. Dennoch entschied sie, die Entscheidung nicht in Frage zu stellen. “Bin ich euer erstes Räblein?” , fragte sie und schenkte den Baron wieder einen ihrer tiefgründigen Blicke.
Der Rabensteiner hob eine Augenbraue. Das Mädchen versuchte sich in Hintergründigkeit - was amüsant hätte sein können, wenn es nicht eine gewisse Anmaßung in sich getragen hätte. “Ja.” gab er denn nur knapp zur Auskunft. Er hatte nicht vorgehabt, sich neben einer Handvoll Knappen nun auch noch eine Novizin aufzusammeln. Doch schien ihn dieses Jungvolk erbarmungslos zu verfolgen, so dass er das Beste daraus machte.
“Du bist fleißig und verstehst zu arbeiten?” setzte er hinterher.
“Die Aufgaben die mir im Tempel zu Gratenfels gegeben wurden, bin ich mit aufrichtigem Herzen gefolgt. Sei es vom einfachen Dienst die heiligen Hallen vom Laster der Vergänglichkeit frei zu halten, bis auf die Anwendungen bei einer Balsamierung. Das letztere gehörte zu meiner letzteren Aufgaben, in dem ich sehr gelobt wurde. Die sterblichen Überreste zu konservieren fällt mir leicht von der Hand.”, sagte Boromilia. Ob es die Antwort war, die der Baron erwartet hatte, stellte sie sich selbst in frage. Sie kannte den Mann nicht und es wird ein wenig Zeit brauchen ihn einzuschätzen. Noch immer war sie leicht verunsichert, was sie von ihm halten sollte. Auch ihr waren die Geschichten von verschwundenen Knappen in seiner Nähe zu Ohren gekommen. Den Tod fürchtete sie nicht, doch Ungewissheit war etwas, das sie nicht einschätzen konnte. Nun, sie war keine Knappin. Doch würde er anders mit einer Novizin umgehen?

Der Baron taxierte das Mädchen eine Weile schweigend.

“Ich werde sehen, was Du kannst.” erwiderte er schließlich. Und ihr den nötigen Rest beibringen. Dass sie hier schwerlich zu der Gelegenheit käme, Leichen zu präparieren, würde sie noch feststellen - doch gute Fertigkeiten bei Putz- und Aufräumdiensten aller Art würden ihr in der Zukunft noch sehr zupass kommen.
Sie nickte und senkte den Blick. Nun war es an Karolan, wieder den Blick des Barons aufzufangen. “Was wird euer nächster Weg sein, euer Gnaden?”, fragte dieser.
“Ich werde in einiger Zeit wieder nach Punin reisen - doch das wird wohl erst in zwei bis drei Monden sein. Mit etwas Glück werde ich mich vorher meinem Gut und meiner neuen Novizin widmen können.” Und den beiden Paginnen und sämtlichen Mitadligen, die in dieser Zeit über seinen Weg stolpern würden - ob freiwillig oder unfreiwillig.

“Was sind Eure Pläne für die nächste Zeit, Hochwürden?”

Karolan nahm ein Schluck aus einem der Kelche. “Ich werde mich wieder um den Tempel in Herzogenfurt kümmern. Ich betreue dort einige verlorene Seelen. In letzter Zeit hat mir der Herr einige mehr zugewiesen.” Dann setzte er den Kelch wieder ab. “Die Baronin von Schweinsfold wird im Travia heiraten. Ich habe vernommen, dass auch ihr geladen seit. Werdet ihr kommen?”
“Ja.”

Mehr Worte waren nach Ansicht des Rabensteiners dazu nicht notwendig.
“Welcher Art sind eure Verlorenen in Herzogenfurt?”
Geplänkel oder interessiert? Die ruhige Miene des alten Baron gab davon nichts preis, als er nach seinem Weinkelch griff und ruhig einen Schluck des roten Saftes kostete. “Oft ist der Geist verklärt und es fällt schwer ins Zurück zu finden.” dann wanderte Karolans Blick zu seiner Tochter. “Boromila hat schon vor ihrem Noviziat bewiesen, das Boron ihr die Gabe in die Wiege gelegt hat, besonders Verlorene und Aufgebrachte wieder auf einen ruhigen Pfad zu bringen.” War da, im sonst nüchternen Blick, ein Hauch von Stolz zu erkennen? Der alte Baron nickte unverbindlich. Nicht seiner - ein Seelenheiler war er nicht und würde er niemals sein. “Wir werden sehen.” beschloss er das Gespräch.


Rabenmütter

Ein gemeinsames Morgenmahl vor der Abreise gab es nicht. Wie Alrike wusste, waren die Boronis schon früh zusammen gekommen und waren nun unter sich. Zu ihrer Überraschung jedoch, war sie zum Speisen mit der Baronin Shanija geladen worden. Während sie ihrer Tochter Boromada die Aufgabe erteilte, sich reisefertig zu machen, begab sie sich nun zu der Landesmutter Rabensteins.
Die Baronin empfing sie in ihrer Zimmerflucht, die, linkerhand im ersten Stock des Haupthauses gelegen, über den Hof hinausblickten.

Das Zimmer, in dem Shanija Alrike begrüßte, hatte große Butzenglasfenster, die es hell machten, davor heute zurückgezogenen grüne Seidenvorhänge und einen kleinen, runden Tisch mit vier weißen Stühlen, die mit grünem, mit Goldfäden bestickten Samt gepolstert waren.

Ein weiterer Arbeitstisch war mit Schreibzeug und Pergamenten belegt, während neben einem offenen Kamin in achtvollem Abstand ein verschließbarer Bücherschrank erstaunlich viel Platz einnahm.

“Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Zeit auf Rabenstein.” Lächelte die Baronin ihrem Gast entgegen und wies auf einen der Stühle, vor dem bereits eine dampfende Teekanne, Tassen und ein Teller mit Gebäck standen. “Bitte setzt euch doch.”
´Angenehme Zeit.´ wiederholte Alrike die Worte im Geiste. Die Angelegenheit, der Ort war alles andere als angenehm. Dennoch ließ sie sich nichts anmerken und lächelte der Baronin entgegen. ´Immerhin hat sie Geschmack´, dachte sie bei sich, als sie den Raum betrachtete. Dann setzte sich die Vögtin hin. “Eine Frau des Wissens. Meine Mutter, die verstorbene Baronin von Schweinsfold, hätte sich sicherlich mit euch verstanden, euer Hochgeboren.”
Shanija lächelte und goss der Vögtin eine Tasse selbst gemischten Kräutertee ein. Der Duft nach einer blühenden Wiese erfüllte den Raum.
“Und wie sieht es mit Euch aus, Wohlgeboren? Was sind eure Interessen

Alrike musterte die Baronin kurz und rief sich gleich in Gedanken, dass sie es mit einer Magierin zu tun hatte und der Gemahlin eines Boroni. Auch sie war geschult, mit dem Wesen andere Menschen umzugehen und Shanija war da nicht anders. Der Tee, die freundliche Art. Ja, da fällt es leicht sich einem zu öffnen. “Ihr meint neben der Politik? Ich habe nicht viel Zeit mich um etwas anders zu kümmern. Doch wollt ihr ein unpolitisches Thema wissen, so müßte ich sagen: das Immanspiel.” Nun legte sie ihren misstrauischen Blick ein wenig ab. Shanija lächelte. “Und was ist eure bevorzugte Mannschaft?” Vom Immanspiel hatte sie wenig Ahnung, eine große Bibliothek oder ein Ball hatten sie stets mehr angezogen. “Und sagt, wie seid ihr auf das Immanspiel verfallen? Habt ihr Verwandte oder Freunde, die Förderer einer Mannschaft sind?”
Ihre Augen leuchteten neugierig auf bei diesem doch exotischen und eigenwilligen Wissensgebiet.

Nun rang die Baronin der Vögtin ein kurzes Lachen ab. “Die Udenauer Uhus. Ich bin mir sicher, ihr habt von ihnen noch nicht gehört. Es ist ja seit 1020 recht ruhig um das Imman geworden. Meine Mutter war eine Förderin des Spiels. Wir hatten sogar ein kleines Spielfeld in Herzogenfurt. Und als junges Mädchen gehörte ich sogar zu unsere lokalen Mannschaft.“ Noch immer schmunzelte sie und ihr Blick wanderte kurz ihren Gedanken nach. “Frönt ihr einer besonderen Interesse, Hochgeboren?
“Verglichen mit den Euren ist es langweilig. Ich widme mich der Heilkunst - und erforsche die heimische Tierwelt.” Insbesondere inwendig, doch das sprach die Baronin nicht aus und beließ es bei einem verschmitzten Lächeln.

“Doch langweilig wird es hier nicht. Wenn ausnahmsweise niemand der Menschen meiner Hilfe bedarf, so gibt es die Tiere, insbesondere die Rösser im Gestüt meines Gemahls, die immer wieder einmal ihre Malaisen haben.”
“Gut für euch. Wie gesagt, meine persönlichen Interessen müssen hinten anstehen.” Nun nahm sie wieder einen ernsteren Blick an. “Sagt, Baronin, wie weit seit ihr in der Aufsicht der Knappen eures Gemahls involviert?”

“Ich bringe ihnen die Grundlagen der Heilkunst bei, Pflanzenkunde, ein bißchen Magiekunde, etwas Brettspiel und Literatur - und gelegentlich erledigen sie Kleinigkeiten für mich. Warum fragt ihr?
“Ich muß nicht erwähnen, das meine Tochter in eine prekäre Situation geraten ist. Ich muß gestehen, das ich sie als zu jung einschätzte, um sie über Dinge, rahjanische wie auch tsagefällige, aufzuklären, als sie die Obhut unseres Hauses verließ. Ich nehme an, dass ihr eine ähnliche Einschätzung hattet, sonst hättet ihr sicherlich diese Aufgabe übernommen.” Alrike hatte wieder diesen grimmigen Ausdruck, auch wenn ihr angedeutetes Lächeln dagegen ankämpfte.
“Ich erkläre dies den Pagen, sobald sie das Knappenalter erreichen. Ich denke nicht, dass Eure Tochter zu wenig wusste. Ich vermute, dass das jugendliche Feuer stark in ihr brannte.” Shanija schüttelte den Kopf. Zu gut hatte sie die verkniffene Miene der anderen Frau bemerkt.

“Ich statte die Kinder nicht mit Rahjalieb aus, das sie nach eigenem Gutdünken verwenden können. Sie können mich fragen, wenn sie es dringend notwendig wünschen - doch sollten sie lernen, ihren Trieben Zügel anzulegen und ihnen nicht nachzugeben. Sie sind von Stand und haben Verpflichtungen zu erfüllen - dies müssen sie lernen.

Alrike nickte zustimmend. Ja, hier war kein weiterkommen. Anscheinend sah sich hier niemand verpflichtet Verantwortung zu übernehmen. Doch böse war sie der Baronin nicht. Sicherlich hatte sie nicht viel zu sagen, bei solch ein Mann an ihrer Seite. Eine verlorene Weiblichkeit - so etwas würde es in Schweinsfold nicht geben. Die Vögtin schüttelte ihre Anspannung wieder ab. Lang genug hatte sie sich geärgert, doch nun war die Zeit gekommen wieder nach Hause zu gehen und zusehen, dass keine weitere Steine ihr in der Zukunftsplanung ihres Hauses gelegt wurde.

“Ich denke es ist an der Zeit aufzubrechen. Sobald ich nach Hause komme, gilt es Hochzeiten zu planen. Die Baronin hat sich den jungen Herren Elvan von Altenberg erkoren, um neuer Landesvater Schweinsfolds zu werden. Wir erwarten mit Feude euer Ankunft zu den Feierlichkeiten.” Nun war das Lächeln kein angedeutetes mehr.
“Ich freue mich schon sehr darauf. Habt herzlichen Dank für die Einladung!” strahlte die Baronin, die, so vermutete Alrike, gar so häufig nicht die Mauern dieser düsteren Burg verließ. “Sagt, wisst ihr, wie sich die Baronin und der Herr Elvan kennengelert haben? Es ist doch nicht so häufig, dass sich eine Baronin mit einem Niederadligen vermählt - auch wenn es hin und wieder vorkommt. Ich freue mich sehr für die beiden!”

Und für ihre Freundin Maura, die mit dieser Hochzeit einen Schritt weiter auf der Leiter der Rangliste emporsteigen konnte - der fleißigen, gelehrten Frau gönnte sie dies von Herzen. “Die Familie Altenberg hatte eine Brautschau in Herzogenfurt veranstaltet. Dort hat sie den jungen Altenberger auserkoren.” Alrike lächelte höflich und stand dann auf. “Danke für eure Zeit, Hochgeboren. Die Götter mit euch!”
Damit ging die Landesvögtin von Schweinsfold.