Begegnungen an der Trollpforte: Unterschied zwischen den Versionen

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Anfang RAH 1046 BF bricht in der <b>[[Baronie Galebquell]]</b> ein Saatgut-Konvoi begleitet von Rittern, Recken und auch einem [[Gudekar von Weissenquell|Magier]] auf, darunter auch der Rondrageweihter Rorik Donnerschall und sein „Interims-Knappe“ [[Mihoal Adlerkralle von Rechklamm]].<br>
 
Anfang RAH 1046 BF bricht in der <b>[[Baronie Galebquell]]</b> ein Saatgut-Konvoi begleitet von Rittern, Recken und auch einem [[Gudekar von Weissenquell|Magier]] auf, darunter auch der Rondrageweihter Rorik Donnerschall und sein „Interims-Knappe“ [[Mihoal Adlerkralle von Rechklamm]].<br>
 
Der Konvoi zieht über Gareth (Anfang PRA 1047 BF) nach Gallys (26.-28. PRA 1047 BF). Von dort geht es zur Trollpforte, wo die in diesem Hörbuch beschriebenen Ereignisse bzw. Visionen stattfinden. Der Konvoi erreicht die Baronie Tälerort im Rondra 1047 BF.<p>
 
Der Konvoi zieht über Gareth (Anfang PRA 1047 BF) nach Gallys (26.-28. PRA 1047 BF). Von dort geht es zur Trollpforte, wo die in diesem Hörbuch beschriebenen Ereignisse bzw. Visionen stattfinden. Der Konvoi erreicht die Baronie Tälerort im Rondra 1047 BF.<p>
Mihoal nahm auf Anraten von Grimo Steinklaue, dem Schwertbruder (Vorsteher) des Rondratempels [[Rondratempel Orgils Grab|«Orgils Grab»]], an diesem Konvoi teil. Er wollte der Frage nachgehen, zu welcher Lebensform die Herrin Rondra ihn rief. Soll er sich der Leuin weihen lassen? Die Begleitung des Konvois sollte eine Queste werden, um seine Fragen zu klären. Darum gab ihn sein Schwertvater [[Gelon Adlerkralle von Adlerstein]] für die Zeit dieses Konvois frei und in die Obhut von Rorik Donnerschall.
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Mihoal nahm auf Anraten von Grimo Steinklaue, dem Schwertbruder (Vorsteher) des Rondratempels [[Rondratempel Orgils Grab|«Orgils Grab»]], an diesem Konvoi teil. Er wollte der Frage nachgehen, zu welcher Lebensform die Herrin Rondra ihn rief. Soll er sich der Leuin weihen lassen? Die Begleitung des Konvois sollte eine Queste werden, um seine Fragen zu klären. Darum gab ihn sein Schwertvater [[Gelon Adlerkralle von Adlerstein]] für die Zeit dieses Konvois frei und in die Obhut von Rorik Donnerschall.<p>
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<h3>Zufall, Schicksal oder Bestimmung</h3>
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Aus: <b>Der Zug der Hoffnung</b> – Saatgutkonvoi nach Tälerort
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<i>Eine Deutung erfahren die im obigen Hörspiel beschriebenen Visionen in einem Gespräch zwischen der Anconiterin </i><b>[[Merle Dreifelder von Weissenquell]]</b><i> und dem Knappen </i><b>[[Mihoal Adlerkralle von Rechklamm]]</b><i> am Hofe des Barons von Tälerort auf der Burg Trutzenhain</i>.<p>
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<b>Nach dem Essen</b><br>
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<i>Zufall, Schicksal oder Bestimmung</i><p>
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Später gab Merle sich einen inneren Ruck und nutzte eine Gelegenheit, wo der Rondrageweihte Rorik Donnerschall in einem anderen Gespräch abgelenkt war, um dessen temporären Knappen mit einem freundlichen Lächeln anzusprechen: “Junger Herr von Rechklamm, ist es nicht bemerkenswert, dass nun - nach der langen Zeit der Vorbereitungen und der weiten Reise - tatsächlich der Tag da ist, wo wir in Trutzenhain angekommen sind?” Sie nahm einen Schluck Wein und betrachtete die schlichte, doch würdige große Halle des Herrenhauses, beobachtete kurz Baron <b>[[Wunnemar Thankmar von Galebfurten|Wunnemar]]</b>, der sich wacker hielt, auch wenn die Erschöpfung ihm deutlich anzusehen war. “Es fühlt sich fast ein bisschen unwirklich an, hier zu sein, finde ich.” <p>
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“Frau Merle”, grüßte der Ardaritenknappe die Anconiterin knapp mit einem freundlichen Nicken. Dabei ging ein Ruck durch seinen Körper, er stand noch gerader als sonst schon, und die Hacken seiner Reiterstiefel schlugen kurz zusammen, sodass ein Klacken zu hören war. Mihoal fühlte sich geehrt, dass die junge Frau ihn ansprach. Er schätzte die traviafromme Heilerin, die sich nie aufplusterte oder über andere erhob. Sie war die ganze lange Reise mitgekommen, ohne ihre Leistung besonders herauszustellen. Sie war einfach da. Wenn sich Mitreisende verletzt hatten, wie beispielsweise <b>[[Koarmin Adlerkralle von Rechklamm|Mihoals kleine Schwester]]</b>, hatte Merle Dreifelder sich ohne zu zögern um sie gekümmert. “Ja, es war eine lange Reise”, bestätigte er einen Teil ihrer ausgesprochenen Gedanken, “und schlussendlich sind wir hier angelangt. Es ist fast schade, dass die Reise nun schon zuende ist.” Der Knappe dachte daran, dass er früher sehr oft mit seinem <b>[[Gelon Adlerkralle von Adlerstein|Schwertvater Gelon]]</b>, der seinerzeit Tressler der Vallusanischen Ardaritenfestung gewesen war, gereist war, um Vorräte, Ausrüstung und Waffen zu besorgen. <p>
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Merle musste ein bisschen grinsen, als Mihoal vor ihr die Hacken knallte, als wäre sie eine Gardehauptfrau oder Heerführerin, doch zwang sie sich schnell wieder zu einer ernsthaften Miene. “Ich kann mir gut vorstellen, dass es in Zukunft noch weitere Hilfskonvois hierher geben wird”, sagte sie nachdenklich. “Und vielleicht werdet Ihr diese dann auch begleiten können; engagierte Leute sind ja stets gebraucht und gesucht.” Sie musterte den hübschen jungen Mann mit einem sanften Lächeln. “Doch vermutlich müsst Ihr in der nächsten Zeit zunächst auf Eure Schwertleite hinarbeiten?” <p>
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“Der Orden bestimmt”, gab der Knappe zur Antwort, “ob ich in der Zukunft noch einmal einen solchen Konvoi begleiten darf. Es war eine Ausnahme, weil es eine Art ‘Geistliche Reise’ für mich war zur Reflexion. Das war eine Anregung von Hochwürden <b>[[Grimo Steinklaue]]</b> aus dem Tempel am Grab des Heiligen Orgil.” Mihoal überlegte, ob das überhaupt von Interesse für die Anconiterin war. “Nun, ja, die Schwertleite. Sie ist in der Tat beinahe überzählig. Ich bin bereits einundzwanzig. Und da sollte die Schwertleite nun bald anstehen, denke ich.” <p>
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Überrascht hob Merle die Brauen. Ein bisschen jünger hätte sie den Knappen vom Aussehen her dann doch geschätzt. Mit sichtlicher Anteilnahme legte sie ihm leicht die Hand auf den Oberarm. “Setzt Euch deswegen nicht allzu sehr unter Druck, junger Herr! Ob es nun ein Jahr mehr oder weniger bis zu Eurer Schwertleite dauert, das sagt nichts über Eure Befähigung aus - vor allem nicht in den Augen der Sturmherrin, da bin ich mir ganz sicher. Bei meiner Freundin”, sie warf einen kurzen Blick zu <b>[[Meta Croy|Meta]]</b>, “da hatte es ja auch recht lang gewährt, bis sie Ritterin wurde. Aber am Ende interessiert das niemanden mehr und jetzt genießt Meta das volle Vertrauen seiner Hochgeboren Wunnemar als seine Dienstritterin.” <p>
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Mihoal nickte. Er war ja bei <b>[[El Camino Diosa|Metas Schwertleite]]</b> dabei gewesen. Damals hatte er durchaus gedacht, dass die ‘ewige Knappin’ schon sehr alt gewesen sei. Daher war Meta jetzt wirklich kein positives Beispiel. Aber er ließ sich diese Gedanken nicht anmerken, bewahrte sein ‘Kartenspieler-Gesicht’. <p>
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Als Merles Gedanken zu der ersten großen Reise abschweiften, zu der sie im letzten Götterlauf gemeinsam mit Meta aufgebrochen war, fiel ihr etwas ein, das sie den Ardaritenknappen schon länger hatte fragen wollen: “Sagt, Mihoal, Ihr seid doch mit dem jungen <b>[[Eoinbaiste_Adlerkralle_von_Rechklamm|Tsa-Novizen Eoinbaiste]]</b> verwandt, den wir letztes Jahr befreien konnten, nicht wahr? Euer Bruder? Wisst Ihr, wie es ihm jetzt geht; ob er wohlauf ist?” <p>
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“Ja”, bestätigte Mihoal, “Eoinbaiste ist mein Bruder. Die Zeit als Geisel dieses Paktierers namens Pruch hat ihm doch sehr zugesetzt. Er erholt sich davon im Tsatempel in Eisenstein. Dort wird er seelsorgerisch betreut. <b>[[Rike_von_Eisenstein|‘Glöckchen’]]</b>  kümmert sich um ihn. Das ist eine Tsageweihte. Und auch eine <b>[[Rondragard von Baldurstolz|Heilerin, Gera]]</b>, hilft mit guten Kräutern, die zur Genesung dienen.” Merle konnte ihm die Sorge um seinen jüngeren Bruder doch sehr anmerken. <p>
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“Dann ist Euer Bruder in den besten Händen”, nickte Merle mit mitfühlendem Blick. “Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Eoinbaiste vollständig genesen wird, an Körper und Seele. Doch weiß ich, dass so etwas nicht von heute auf morgen geht…”, nachdenklich starrte sie ins Leere und schien für einen Moment in düsteren Gedanken zu versinken. “Auch meine <b>[[Gwenn_von_Weissenquell|Schwägerin Gwenn]]</b> hat durch diese Paktierer ein schlimmes Martyrium durchlitten… und ich habe, wenn ich ehrlich bin, noch immer Angst, dass sie vielleicht nie wieder dieselbe wird wie vorher… und dennoch, es ist ein unendlich wertvolles Geschenk der Götter, dass wir unsere Lieben überhaupt wieder in die Arme schließen konnten. Mit der Gnade der gebenden Mutter Peraine können sie nun heilen und in eine hoffnungsvolle Zukunft blicken.” Forschend schaute die Anconiterin Mihoal in die schönen grünen Augen. “Verzeiht mir die Frage, wenn diese zu persönlich ist, doch Ihr wirktet, seit wir die Ostmark erreichten, sehr gedankenvoll und in Euch gekehrt.” Sie verspürte den Impuls, nach seiner Hand zu greifen, doch wollte sie dem ernsten jungen Mann nicht zu nahe treten. “Ist es allein die Sorge um Euren Bruder, die Euch das Herz schwer macht oder noch etwas anderes?”, fragte sie daher nur mit sanfter, leiser Stimme, mit der sie ihm zu signalisieren suchte, dass sie für ihn da wäre, sollte er sich eine Last von der Seele reden müssen. <p>
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Der junge Rechklamm erwiderte den Blick. Kurz war er unsicher. Sollte er der Anconiterin erzählen, was ihn bewegte. Er kannte Merle nur von der gemeinsamen Reise. In dieser Zeit hatte sie ihn durchaus beeindruckt, dass sie sich wie die vielen Ritter des Orgilsbundes und die anderen Begleiter des Konvois den Strapazen aussetzte, aber zu keiner Zeit zu hadern schien oder sich beklagte über die Anstrengungen der Reise. <p>
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Eigentlich war ja Rorik Donnerschall sein Seelsorger. Und er hatte auch schon mit ihm über das Erlebte gesprochen. Doch vielleicht war es nicht verkehrt, die Geschichte auch einem zweiten Menschen zu erzählen. Und Merle schien ihm so unbeteiligt und neutral zu sein, mochte sie doch wahrscheinlich kaum jemanden von den beteiligten Personen zu kennen, vermutete Mihoal. <p>
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“Es ist”, begann er langsam und noch zögerlich, “an der Trollpforte etwas Ungewöhnliches geschehen. Und ich vermag all das nicht zu verstehen oder einzuordnen.” <p>
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Merle schaute dem Knappen ernst und anteilnehmend in die Augen. “Etwas ‘Ungewöhnliches’?” fragte sie behutsam nach. Ihrer leicht verwirrten Miene war anzusehen, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, was Mihoal damit meinen könnte. <p>
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“Seine Gnaden Rorik Donnerschall hat mit mir das Heiligtum <b>[[ave:Sancta Boronia|Sancta Boronia]]</b> aufgesucht”, erklärte Mihoal. “Wir haben dort für die Gefallenen der großen und kleinen Schlachten der letzten Dekaden und für die gefallenen Freunde und Familienmitglieder gebetet. Das Heiligtum liegt in einem ungewöhnlichen Nebel, der den Ort, soweit ich weiß, schützt vor dämonischen Übergriffen aus den Schwarzen Landen. Normalerweise erinnert man sich wohl nicht an das, was im Nebel geschieht. So war es bei mir auch auf dem Hinweg zum Heiligtum. Auf dem Rückweg hatte ich seltsame Träume. Und an die erinnere ich mich noch sehr genau.” Nun wirkte der Knappe deutlich unruhiger und gar nicht mehr so ernst und gelassen, wie er sonst so tat. Die Gedanken an das Erlebte schienen ihn noch immer sehr mitzunehmen. Er blickte zwischendurch immer wieder zu Boden und konnte dem Blick der Anconiterin nicht standhalten. Außerdem rieb er sich unbewusst seine Innenhandflächen am Wappenrock. <p>
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Merle hatte aufmerksam zugehört und nickte verstehend. Nach kurzem Zögern entschied sie sich nun doch, die Hände des Jungen zu ergreifen, um sie sanft und beruhigend zwischen ihren eigenen Handflächen zu reiben. “Seltsame Träume?” fragte sie leise, fast lautlos flüsternd nach. “Was habt Ihr denn geträumt?” <p>
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Der sonst so unnahbar wirkende Knappe ließ zu, dass Merle seine Hände griff. Vielleicht war es die Erinnerung daran, dass <b>[[Miril von Rechklamm|seine Mutter Miril]]</b>  das früher auch getan hatte, als er noch ein kleiner Junge war. Ansonsten gab es eigentlich nur wenige Menschen, bei denen er soviel Nähe zuließ. Doch der nach außen so streng und ernst wirkende junge Mann mochte durchaus einen weichen Kern haben. “Im ersten Traum war ich kurz vor der Ogerschlacht auf der Ogermauer. Dort habe ich Ahnen und Verwandte getroffen, wie meine <b>[[Noitburg von Rechklamm|nordmärkische Großmutter Noitburg]]</b>, meinen <b>[[Ió|Großonkel Ió]]</b> und meinen bornländischen Großvater Kilian. Der hatte seine <b>[[Koarmin von Rickenbach|Knappin Koarmin]]</b> dabei – ja, nach ihr ist meine jüngste Schwester benannt. Die Knappin kam auf mich zu und hat mir seltsames gesagt.” Mihoal schluckte, als er darüber nachdachte. Doch hatten sich ihre Worte auf eigentümliche Weise in seinem Gedächtnis eingebrannt. <p>
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“Die Ogerschlacht…”, murmelte Merle mit staunend geweiteten braunen Augen. “Mit diesen, ähm… Dingen kenne ich mich wirklich nicht aus, doch kann ich mir vorstellen, dass an einem Ort, wo so viel passiert ist, so viel Schreckliches, wo Menschen gelitten haben und gestorben sind… dass da tatsächlich ein… Nachhall zurückbleibt”, sie biss sich auf die Unterlippe, um nach besseren Worten zu suchen, “eine Art ‘Echo’ der vergangenen Ereignisse. Dann waren das vielleicht Wahrträume und Bishdariel hat Euch einen Blick in die Vergangenheit gewährt.” Die Anconiterin drückte ermunternd Mihoals Hände und schaute ihm ruhig in die Augen. “Was war es, das die Knappin zu Euch sprach? Ich könnte mir vorstellen, dass es eine sehr wichtige Botschaft war.” <p>
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Mihoal nickte bestätigend. “Ich habe eine außergewöhnlich starke Verbindung zu der Knappin meines Großvaters gespürt. Ich glaube, ich hatte Anteil an der Verbindung, die sie mit meinem Vater hatte…” Der junge Rechklamm räusperte sich, verlegen über die Gedanken, die ihm gerade kamen. “Koarmin sagte: <p>
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<i> ‘Rondra ist mit dir. <br>
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Du wirst für die Leuin leben - und für die Leuin sterben. <br>
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Weihe dein Leben der Sturmherrin! <br>
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Suche die Herausforderung nicht in der Ferne. <br>
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Sie liegt ganz nah. Dort wo du lebst. <br>
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Dort wo ich geboren worden bin. <br>
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Dort wo du geboren worden bist. <br>
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Verhindere, dass der Güldene seinen Weg findet! <br>
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Du wirst deine Liebsten retten. <br>
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Und du wirst mit deinen Liebsten sterben.’ </i>“<p>
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Mihoal hatte diese Worte aufgesagt, als ob er sie seither immer wieder wiederholt hätte im Geiste. <p>
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Merle schwieg für scheinbar endlos lange Momente, dann atmete sie tief ein und aus. "Das... das klingt... beängstigend", brachte sie schließlich mit rauher, belegter Stimme heraus. "Ich verstehe, dass diese... Prophezeihung?", sie runzelte gedankenverloren die Stirn, "Euch schwer auf der Seele lastet, junger Herr. Es muss hart sein, mit so einer Offenbarung zu leben. Und dennoch... Ihr wisst nicht, auf welchen Zeitpunkt sich die Worte beziehen. Es kann sein, dass dieser Kampf, von dem Koarmin sprach, Euch erst in dreißig, vierzig oder fünfzig Götterläufen bevorsteht. Oder nie." Eindringlich, fast beschwörend, starrte Merle dem jungen Knappen in die Augen; sie hielt noch immer seine Hände und wärmte diese in ihren. "Wisst Ihr, ich glaube, dass die Zukunft noch nicht geschrieben ist. Wir alle sind unseres eigenen Schicksals Schmied, das sagt zumindest Ihre Gnaden Imelda immer. Und auch Euer Schicksal, Mihoal, ist nicht vorherbestimmt, wenn Ihr Eure Zukunft selbst in die Hand nehmt. Da bin ich mir ganz sicher! Deshalb, bitte, seht dem Kommenden mit Hoffnung und Zuversicht entgegen." <p>
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“Frau Merle”, Mihoal löste seine Hände von denen der Anconiterin. Sein Gesicht strahlte wieder den Ernst aus, der für ihn so typisch war. “Ich bin auf diese Reise gegangen, weil ich herausfinden wollte, wohin mein Weg gehen soll. Ich habe mich gefragt, ob die Sturmherrin mich ruft, mich ihr zu weihen. Grimo Steinklaue, der Tempelvorsteher vom Orgils Grab, hat mir geraten, mit diesem Konvoi zu ziehen, um innere Klarheit zu meinen Fragen zu finden. Und jetzt diese … ‘Prophezeiung’. Das kann doch kein Zufall sein?” Er schüttelte leicht und langsam den Kopf. “Es gab noch einen zweiten Traum. Und eine zweite ‘Prophezeiung’.” <p>
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“Ein zweiter Traum?” flüsterte sie verwundert. Fast schien sie Angst davor zu haben, was Mihoal als nächstes offenbaren würde. “Auch von der Knappin Eures Großvaters… Koarmin?” <p>
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“Ja, sie kam auch in diesem Traum wieder vor”, bestätigte Mihoal. “Doch während im ersten Traum die Folgen von Krieg und Gewalt nur erahnbar waren, weil sich alle nur auf die bevorstehende Schlacht vorbereiteten, war der Schrecken im zweiten Traum deutlich sichtbar und spürbar. Ich war im von den Ogern zerstörten <b>[[ave:Ysilia|Ysilia]]</b> gelandet. Überall zwischen den Trümmern lagen noch die von den Ogern ermordeten - oder was von ihnen übrig war. Dann gab es auf dem Platz vor dem Traviatempel eine seltsame Begebenheit mit <b>[[ave: Gaius_Cordovan_Eslam_Galotta|Galotta]]</b> höchstpersönlich. Am Ende überbrachte mir Koarmin schließlich wieder eine Botschaft. Sie sprach von der ‘<i>Gefahr, die direkt vor den Toren der <b>[[Scheuburg]]</b>  dräut</i>’. Und dann gab es erneut eine ‘Prophezeiung’ für mich: <p>
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<i> ‘Aber <b>[[Aislin_Traumgesicht|Aislins]]</b> Kinder werden uns retten. <br>
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Sie werden erneut ihr Leben für uns lassen. <br>
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Geh deinen Weg Mihoal. <br>
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Lasse dich der Sturmherrin weihen. <br>
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Sie wird dich leiten.’ </i> <p>
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Das klingt doch durchaus so, dass die Zukunft doch nicht ganz unbestimmt ist, oder? Frau Merle?“ <p>
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Unsicher wog Merle den Kopf hin und her und kniff grübelnd die Augen zusammen. “Was heißt das, ‘Aislins Kinder’? Und wisst Ihr, was ‘erneut ihr Leben lassen’ bedeuten könnte? Warum denn ‘erneut’?” <p>
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Der Ardaritenknappe seufzte. “Ja, das ist tatsächlich etwas … na, sagen wir mal: merkwürdig. Ich habe für solches Geschwätz und solche Erzählungen früher nie viel gegeben.” Merle konnte ihm deutlich anmerken, wie unwohl er sich mit diesen Aussagen fühlte. “Wisst Ihr, Frau Merle, die Menschen im Isenhag sind sehr abergläubisch und sie erzählen sich zahlreiche Märchen und Legenden. Eine davon ist das Märchen von der <b>[[Aislin_Traumgesicht|Fee Aislin Traumgesicht]]</b>. Manchmal wird sie auch als Elfe beschrieben, die den großen Helden, den <b>[[ave:Geron_der_Einhändige|Heiligen Geron, dem Einhändigen]]</b>, entweder auf seiner Reise nach <b>[[ave:Simyala|Simyala]]</b> begleitet – das ist eine sagenumwobene, alte, untergegangene Elfenstadt – oder er hat sie dort getroffen. Dort sollen sie den <b>[[ave:Basiliskenkönig|Basiliskenkönig]]</b> überwunden haben. Und dann hätten sie sich ineinander verliebt. Auf jeden Fall sollen sie gemeinsam auf dem Rückweg durch den Isenhag gereist sein und in den <b>[[Ingrakuppen]]</b> einen uralten Drachen besiegt haben, aber Aislin sei bei dem Kampf so schwer verwundet worden, dass sie ihren Verletzungen erlag. Geron habe sie nahebei in einem Wald begraben, den man heute den ‘<b><i>[[Die_Aal_Bosch|Aal Bösch]]</i></b>’ nennt. Danach hat er sich auf einen nahen Berg gesetzt und bitterlich geweint. Aus seinen Tränen, die am Fuße des Hügels zusammenflossen, sei der <b>[[Prolog_-_Geronsweiher_und_Hyndanburg|Geronsweiher]]</b> zu Füßen der heutigen <b>[[Burg Hyndanburg|Hyndansburg]]</b> geworden. <p>
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Naja, und in der Legende heißt es, wenn Aislin nicht gestorben und begraben worden wäre, hätte sie ihrem geliebten Geron sieben Kinder geschenkt. Die Seelen dieser ungeborenen Kinder sollten aber immer jeweils, wenn das Madamal voll am Nachthimmel steht, in Form von Schwänen über den ‘Aal Bösch’ bis hin zur Hyndansburg fliegen. Das sind die ‘Kinder Aislins’. Und immer, wenn im Isenhag eine Adelsfamilie sieben Kinder hat, erzählen die Menschen, die Seelen von ‘Aislins Kindern’ würden in diesen Kindern ‘wiedergeboren’. Manche dieser Familien sind in den zurückliegenden Jahrhunderten durch schreckliche Unglücke ums Leben gekommen. Die Leute erzählen, das sei ‘Aislins Fluch’ und das Schicksal der ‘Kinder Aislins’. <p>
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Vor ein paar Jahren, nachdem meine jüngste Schwester Koarmin geboren wurde, fingen die Leute an zu erzählen, wir seien die sieben Kinder der Fee. Was für ein Unsinn. Nicht wahr? Das jedenfalls habe ich immer gedacht.” Merle konnte spüren, dass ihn das doch sehr anfasste und beschäftigte. <p>
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Mit einigen tiefen Atemzügen versuchte Merle ihre Gedanken zu ordnen, dann begann sie Mihoal mit warmer, leiser Stimme zuzureden: “Ich möchte wirklich nicht behaupten, dass an solcherlei Geschichten nichts Wahres dran ist. Im Gegenteil, ich bin überzeugt, dass sie oft einen wahren Kern besitzen… <b>[[Die_Sage_vom_Lützeltaler_Jost|Der Quellsee]]</b> und das <b>[[LH12-Für_Boron|weiße Reh in Lützeltal]]</b>. Der <b>[[Stadt_Herzogenfurt|Lilienpark in Herzogenfurt]]</b>. <b>[[Gudekar_von_Weissenquell|Gudekar]]</b> hat den leibhaftigen <b>[[Muschelfürst|Muschelfürsten]]</b> mit seinem Neckern und Nixen besucht.” Ihre Hand betastete den kunstfertig gearbeiteten Kettenanhänger aus Perlmutt und Aquamarin am Ausschnitt ihres Kleides. “Wir Sterblichen wären töricht, diese Dinge nicht ernst zu nehmen. Und dennoch… Ich weigere mich zu glauben, dass es Euch und Euren Geschwistern vorherbestimmt ist, Euer Leben zu opfern. Ja, Ihr seid mutig und tapfer, Eure Brüder und Schwestern sicherlich ebenso – ihr wärt bestimmt zu jedem Opfer bereit für die Rettung Eurer Heimat, für die Sache der Zwölf, den Kampf gegen die Finsternis – doch ist es Euch und Eurer Familie nicht zuzumuten, einem unabwendbaren, unbarmherzigen Schicksal entgegenzutreten, ohne eine Wahl zu haben! Ganz ehrlich, Mihoal: Wollt Ihr ein Kind Aislins sein? Wollt Ihr, dass auf Euch und Euren Geschwistern diese Last, dieser Fluch liegt? Wollt Ihr mit Euren Liebsten sterben?“ Sichtlich aufgeregt blickte Merle zu der jungen Pagin Koarmin, Mihoals kleiner Schwester, einem hübschen, noch kindlich wirkenden Mädchen, dann schüttelte sie entschieden den Kopf. “Mihoal, Ihr und Eure Geschwister seid noch so jung, habt das ganze Leben noch vor Euch! Bitte, geht die Zukunft frohen Mutes an, mit Hoffnung und Göttervertrauen. Lasst Euch nicht von einer Vision das Herz schwer machen, die vielleicht nie eintritt, die bloß eine mögliche Zukunft aufzeigt, eine von vielen. Ja, schlagt den Weg der Herrin Rondra ein, wenn das Euer Weg ist. Aber geht ihn, weil es Eure Entscheidung ist, Euer freier Wille. Ihr selbst seid es, junger Herr, der sein eigenes Schicksal gestaltet.” Sie lächelte ihn liebevoll an und hob leicht die Schultern. “Das wäre zumindest mein unqualifizierter Rat.” <p>
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Der Ardaritenknappe schaute die Anconiterin nachdenklich an. Er schien einen Moment nachzudenken, bevor er antwortete. Aislins Kinder? Was ja schon immer merkwürdig gewesen war, dass er und seine sechs Geschwister allesamt mondsüchtig waren und jeden Monat bei Vollmond schlafwandelten. Sie hatten eine ganz besondere Verbindung untereinander, auch über die Distanzen hinweg. Aber machte das sie automatisch zu ‘Aislins Kindern’? “Vielleicht habt Ihr Recht, Frau Merle. Wenn alles schon feststünde, bräuchten wir uns nicht mehr mühen. Doch meint Ihr nicht, ob es so etwas wie eine Bestimmung gibt? Dass die Götter uns eingeplant haben im großen Ringen der Mächte?” <p>
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“Hm, ich denke schon, dass die Götter Pläne haben”, überlegte Merle mit andächtig gesenkter Stimme, “doch dass diese weit größer, komplizierter und verflochtener sind als alles, was wir Menschen auf Dere uns überhaupt irgendwie vorstellen oder begreifen können. Also vielleicht bringt es auch nichts, dies zu versuchen. Und ich glaube nicht, dass die Götter von uns erwarten, uns blind und ohne Widerstand von den Wellen des Schicksals überrollen zu lassen.” Sie nippte an ihrem Kelch und schaute den Ardaritenknappen sinnend über den Becherrand hinweg an. “Was für einen Sinn hätte unser Dasein, wenn wir bloß willenlose Spielfiguren auf einem Garadan-Brett wären?” Merle schüttelte entschieden den Kopf. “Nein, ich glaube, dass die Götter wollen, dass wir ihren Geboten folgen, natürlich wollen sie das, sonst hätten sie uns ihre Gebote nicht gegeben - aber sie wünschen auch, dass wir dies aus freien Stücken tun, dass wir selbst entscheiden, was der richtige Weg ist. Dass wir kämpfen, uns anstrengen, nicht aufgeben, wenn der Weg schwer und mühsam wird. Wir haben immer eine Wahl, da bin ich mir ganz sicher. So können wir umkehren und uns ändern, wenn wir fehlen, können die Hand nach denen ausstrecken, die wir für unsere Feinde hielten”, sie blickte sich um und suchte nach Gudekar und Meta, konnte die beiden jedoch im Saal nicht auf die Schnelle entdecken. Erneut schaute sie Mihoal tief und eindringlich in die Augen. “Solange wir auf Dere wandeln, können und sollen wir unser Schicksal selbst gestalten. Deshalb lasst Euch das Gemüt nicht allzu schwer werden, junger Herr. Das ganze Leben, das ganze weite Dererund liegt noch vor Euch.” Wieder legte sie zart die Handfläche auf seinen Arm und lächelte ihn sanft und voller Mitgefühl an. “Blickt der Zukunft mit Hoffnung entgegen. Auch wenn es sich gerade schwer anfühlt.” <p>
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“Hmh”, gab der Knappe leise zur Antwort. Vollständig schien er nicht überzeugt zu sein. “Ich werde darüber nachdenken. Zugegeben: All das überfordert mich. Aber vielleicht werde ich mit der Zeit besser verstehen, was das bedeutet. Ich danke Euch sehr, Frau Merle. Ihr habt mir geholfen.” <p>
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“Das freut mich sehr”, erwiderte sie leise. “Aber wenn Ihr mich fragt… denkt nicht ununterbrochen darüber nach. Sondern gönnt Euch auch einmal etwas Ruhe und Zerstreuung.” Die Anconiterin hob ihren Weinkelch und wies mit einer kreisenden Handbewegung auf die festliche Gesellschaft im Saal. “Versucht Euch trotz allem an den schönen Dingen des Lebens zu erfreuen, ja? Das wäre vielleicht mein Rat an Euch.” Mit einem aufmunternden Zwinkern nickte sie dem Knappen zu. “Seid auch ein bisschen jung - und genießt es.” <p>
  
 
[[Kategorie:Geschichten]]
 
[[Kategorie:Geschichten]]
 
[[Kategorie:Hörbuch]]
 
[[Kategorie:Hörbuch]]

Version vom 3. Oktober 2024, 18:32 Uhr

Zeit: Rondra 1047 BF
Ort: Trollpforte

Personen:


sowie in den Visionen:


und:

  • Jerodin, ein Traviageweihter;
  • Jescha, ein kleines Mädchen;
  • Gallotta, einstiger Hofmagier;
  • Orfant von Ysilia, ein kleiner Junge, etwa 10 Götterläufe alt;



Eine Geschichte von Innozenz, PiNa und Dario, gesprochen von PiNa


Inhalt:

Begegnungen an der Trollpforte

(Audio)

gehört zum Erzähl-Zyklus "Die Geschichte der Kinder Mirils"

Prolog des Plots "Der Zug der Hoffnung" - Ein Saatgutkonvoi nach Tälerort, Rabenmark

Im Nordmärker Greifenspiegel Nr. 22 ruft Grimo Steinklaue zu Saatgut-Spenden für die wieder urbar gemachten Äcker der Rabenmark auf (15. PRA 1046 BF).
In den Nordmarken und im Kosch werden daraufhin Saatgut-Spenden gesammelt.
Anfang RAH 1046 BF bricht in der Baronie Galebquell ein Saatgut-Konvoi begleitet von Rittern, Recken und auch einem Magier auf, darunter auch der Rondrageweihter Rorik Donnerschall und sein „Interims-Knappe“ Mihoal Adlerkralle von Rechklamm.
Der Konvoi zieht über Gareth (Anfang PRA 1047 BF) nach Gallys (26.-28. PRA 1047 BF). Von dort geht es zur Trollpforte, wo die in diesem Hörbuch beschriebenen Ereignisse bzw. Visionen stattfinden. Der Konvoi erreicht die Baronie Tälerort im Rondra 1047 BF.

Mihoal nahm auf Anraten von Grimo Steinklaue, dem Schwertbruder (Vorsteher) des Rondratempels «Orgils Grab», an diesem Konvoi teil. Er wollte der Frage nachgehen, zu welcher Lebensform die Herrin Rondra ihn rief. Soll er sich der Leuin weihen lassen? Die Begleitung des Konvois sollte eine Queste werden, um seine Fragen zu klären. Darum gab ihn sein Schwertvater Gelon Adlerkralle von Adlerstein für die Zeit dieses Konvois frei und in die Obhut von Rorik Donnerschall.

Zufall, Schicksal oder Bestimmung

Aus: Der Zug der Hoffnung – Saatgutkonvoi nach Tälerort

Eine Deutung erfahren die im obigen Hörspiel beschriebenen Visionen in einem Gespräch zwischen der Anconiterin Merle Dreifelder von Weissenquell und dem Knappen Mihoal Adlerkralle von Rechklamm am Hofe des Barons von Tälerort auf der Burg Trutzenhain.

Nach dem Essen
Zufall, Schicksal oder Bestimmung

Später gab Merle sich einen inneren Ruck und nutzte eine Gelegenheit, wo der Rondrageweihte Rorik Donnerschall in einem anderen Gespräch abgelenkt war, um dessen temporären Knappen mit einem freundlichen Lächeln anzusprechen: “Junger Herr von Rechklamm, ist es nicht bemerkenswert, dass nun - nach der langen Zeit der Vorbereitungen und der weiten Reise - tatsächlich der Tag da ist, wo wir in Trutzenhain angekommen sind?” Sie nahm einen Schluck Wein und betrachtete die schlichte, doch würdige große Halle des Herrenhauses, beobachtete kurz Baron Wunnemar, der sich wacker hielt, auch wenn die Erschöpfung ihm deutlich anzusehen war. “Es fühlt sich fast ein bisschen unwirklich an, hier zu sein, finde ich.”

“Frau Merle”, grüßte der Ardaritenknappe die Anconiterin knapp mit einem freundlichen Nicken. Dabei ging ein Ruck durch seinen Körper, er stand noch gerader als sonst schon, und die Hacken seiner Reiterstiefel schlugen kurz zusammen, sodass ein Klacken zu hören war. Mihoal fühlte sich geehrt, dass die junge Frau ihn ansprach. Er schätzte die traviafromme Heilerin, die sich nie aufplusterte oder über andere erhob. Sie war die ganze lange Reise mitgekommen, ohne ihre Leistung besonders herauszustellen. Sie war einfach da. Wenn sich Mitreisende verletzt hatten, wie beispielsweise Mihoals kleine Schwester, hatte Merle Dreifelder sich ohne zu zögern um sie gekümmert. “Ja, es war eine lange Reise”, bestätigte er einen Teil ihrer ausgesprochenen Gedanken, “und schlussendlich sind wir hier angelangt. Es ist fast schade, dass die Reise nun schon zuende ist.” Der Knappe dachte daran, dass er früher sehr oft mit seinem Schwertvater Gelon, der seinerzeit Tressler der Vallusanischen Ardaritenfestung gewesen war, gereist war, um Vorräte, Ausrüstung und Waffen zu besorgen.

Merle musste ein bisschen grinsen, als Mihoal vor ihr die Hacken knallte, als wäre sie eine Gardehauptfrau oder Heerführerin, doch zwang sie sich schnell wieder zu einer ernsthaften Miene. “Ich kann mir gut vorstellen, dass es in Zukunft noch weitere Hilfskonvois hierher geben wird”, sagte sie nachdenklich. “Und vielleicht werdet Ihr diese dann auch begleiten können; engagierte Leute sind ja stets gebraucht und gesucht.” Sie musterte den hübschen jungen Mann mit einem sanften Lächeln. “Doch vermutlich müsst Ihr in der nächsten Zeit zunächst auf Eure Schwertleite hinarbeiten?”

“Der Orden bestimmt”, gab der Knappe zur Antwort, “ob ich in der Zukunft noch einmal einen solchen Konvoi begleiten darf. Es war eine Ausnahme, weil es eine Art ‘Geistliche Reise’ für mich war zur Reflexion. Das war eine Anregung von Hochwürden Grimo Steinklaue aus dem Tempel am Grab des Heiligen Orgil.” Mihoal überlegte, ob das überhaupt von Interesse für die Anconiterin war. “Nun, ja, die Schwertleite. Sie ist in der Tat beinahe überzählig. Ich bin bereits einundzwanzig. Und da sollte die Schwertleite nun bald anstehen, denke ich.”

Überrascht hob Merle die Brauen. Ein bisschen jünger hätte sie den Knappen vom Aussehen her dann doch geschätzt. Mit sichtlicher Anteilnahme legte sie ihm leicht die Hand auf den Oberarm. “Setzt Euch deswegen nicht allzu sehr unter Druck, junger Herr! Ob es nun ein Jahr mehr oder weniger bis zu Eurer Schwertleite dauert, das sagt nichts über Eure Befähigung aus - vor allem nicht in den Augen der Sturmherrin, da bin ich mir ganz sicher. Bei meiner Freundin”, sie warf einen kurzen Blick zu Meta, “da hatte es ja auch recht lang gewährt, bis sie Ritterin wurde. Aber am Ende interessiert das niemanden mehr und jetzt genießt Meta das volle Vertrauen seiner Hochgeboren Wunnemar als seine Dienstritterin.”

Mihoal nickte. Er war ja bei Metas Schwertleite dabei gewesen. Damals hatte er durchaus gedacht, dass die ‘ewige Knappin’ schon sehr alt gewesen sei. Daher war Meta jetzt wirklich kein positives Beispiel. Aber er ließ sich diese Gedanken nicht anmerken, bewahrte sein ‘Kartenspieler-Gesicht’.

Als Merles Gedanken zu der ersten großen Reise abschweiften, zu der sie im letzten Götterlauf gemeinsam mit Meta aufgebrochen war, fiel ihr etwas ein, das sie den Ardaritenknappen schon länger hatte fragen wollen: “Sagt, Mihoal, Ihr seid doch mit dem jungen Tsa-Novizen Eoinbaiste verwandt, den wir letztes Jahr befreien konnten, nicht wahr? Euer Bruder? Wisst Ihr, wie es ihm jetzt geht; ob er wohlauf ist?”

“Ja”, bestätigte Mihoal, “Eoinbaiste ist mein Bruder. Die Zeit als Geisel dieses Paktierers namens Pruch hat ihm doch sehr zugesetzt. Er erholt sich davon im Tsatempel in Eisenstein. Dort wird er seelsorgerisch betreut. ‘Glöckchen’ kümmert sich um ihn. Das ist eine Tsageweihte. Und auch eine Heilerin, Gera, hilft mit guten Kräutern, die zur Genesung dienen.” Merle konnte ihm die Sorge um seinen jüngeren Bruder doch sehr anmerken.

“Dann ist Euer Bruder in den besten Händen”, nickte Merle mit mitfühlendem Blick. “Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Eoinbaiste vollständig genesen wird, an Körper und Seele. Doch weiß ich, dass so etwas nicht von heute auf morgen geht…”, nachdenklich starrte sie ins Leere und schien für einen Moment in düsteren Gedanken zu versinken. “Auch meine Schwägerin Gwenn hat durch diese Paktierer ein schlimmes Martyrium durchlitten… und ich habe, wenn ich ehrlich bin, noch immer Angst, dass sie vielleicht nie wieder dieselbe wird wie vorher… und dennoch, es ist ein unendlich wertvolles Geschenk der Götter, dass wir unsere Lieben überhaupt wieder in die Arme schließen konnten. Mit der Gnade der gebenden Mutter Peraine können sie nun heilen und in eine hoffnungsvolle Zukunft blicken.” Forschend schaute die Anconiterin Mihoal in die schönen grünen Augen. “Verzeiht mir die Frage, wenn diese zu persönlich ist, doch Ihr wirktet, seit wir die Ostmark erreichten, sehr gedankenvoll und in Euch gekehrt.” Sie verspürte den Impuls, nach seiner Hand zu greifen, doch wollte sie dem ernsten jungen Mann nicht zu nahe treten. “Ist es allein die Sorge um Euren Bruder, die Euch das Herz schwer macht oder noch etwas anderes?”, fragte sie daher nur mit sanfter, leiser Stimme, mit der sie ihm zu signalisieren suchte, dass sie für ihn da wäre, sollte er sich eine Last von der Seele reden müssen.

Der junge Rechklamm erwiderte den Blick. Kurz war er unsicher. Sollte er der Anconiterin erzählen, was ihn bewegte. Er kannte Merle nur von der gemeinsamen Reise. In dieser Zeit hatte sie ihn durchaus beeindruckt, dass sie sich wie die vielen Ritter des Orgilsbundes und die anderen Begleiter des Konvois den Strapazen aussetzte, aber zu keiner Zeit zu hadern schien oder sich beklagte über die Anstrengungen der Reise.

Eigentlich war ja Rorik Donnerschall sein Seelsorger. Und er hatte auch schon mit ihm über das Erlebte gesprochen. Doch vielleicht war es nicht verkehrt, die Geschichte auch einem zweiten Menschen zu erzählen. Und Merle schien ihm so unbeteiligt und neutral zu sein, mochte sie doch wahrscheinlich kaum jemanden von den beteiligten Personen zu kennen, vermutete Mihoal.

“Es ist”, begann er langsam und noch zögerlich, “an der Trollpforte etwas Ungewöhnliches geschehen. Und ich vermag all das nicht zu verstehen oder einzuordnen.”

Merle schaute dem Knappen ernst und anteilnehmend in die Augen. “Etwas ‘Ungewöhnliches’?” fragte sie behutsam nach. Ihrer leicht verwirrten Miene war anzusehen, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, was Mihoal damit meinen könnte.

“Seine Gnaden Rorik Donnerschall hat mit mir das Heiligtum Sancta Boronia aufgesucht”, erklärte Mihoal. “Wir haben dort für die Gefallenen der großen und kleinen Schlachten der letzten Dekaden und für die gefallenen Freunde und Familienmitglieder gebetet. Das Heiligtum liegt in einem ungewöhnlichen Nebel, der den Ort, soweit ich weiß, schützt vor dämonischen Übergriffen aus den Schwarzen Landen. Normalerweise erinnert man sich wohl nicht an das, was im Nebel geschieht. So war es bei mir auch auf dem Hinweg zum Heiligtum. Auf dem Rückweg hatte ich seltsame Träume. Und an die erinnere ich mich noch sehr genau.” Nun wirkte der Knappe deutlich unruhiger und gar nicht mehr so ernst und gelassen, wie er sonst so tat. Die Gedanken an das Erlebte schienen ihn noch immer sehr mitzunehmen. Er blickte zwischendurch immer wieder zu Boden und konnte dem Blick der Anconiterin nicht standhalten. Außerdem rieb er sich unbewusst seine Innenhandflächen am Wappenrock.

Merle hatte aufmerksam zugehört und nickte verstehend. Nach kurzem Zögern entschied sie sich nun doch, die Hände des Jungen zu ergreifen, um sie sanft und beruhigend zwischen ihren eigenen Handflächen zu reiben. “Seltsame Träume?” fragte sie leise, fast lautlos flüsternd nach. “Was habt Ihr denn geträumt?”

Der sonst so unnahbar wirkende Knappe ließ zu, dass Merle seine Hände griff. Vielleicht war es die Erinnerung daran, dass seine Mutter Miril das früher auch getan hatte, als er noch ein kleiner Junge war. Ansonsten gab es eigentlich nur wenige Menschen, bei denen er soviel Nähe zuließ. Doch der nach außen so streng und ernst wirkende junge Mann mochte durchaus einen weichen Kern haben. “Im ersten Traum war ich kurz vor der Ogerschlacht auf der Ogermauer. Dort habe ich Ahnen und Verwandte getroffen, wie meine nordmärkische Großmutter Noitburg, meinen Großonkel Ió und meinen bornländischen Großvater Kilian. Der hatte seine Knappin Koarmin dabei – ja, nach ihr ist meine jüngste Schwester benannt. Die Knappin kam auf mich zu und hat mir seltsames gesagt.” Mihoal schluckte, als er darüber nachdachte. Doch hatten sich ihre Worte auf eigentümliche Weise in seinem Gedächtnis eingebrannt.

“Die Ogerschlacht…”, murmelte Merle mit staunend geweiteten braunen Augen. “Mit diesen, ähm… Dingen kenne ich mich wirklich nicht aus, doch kann ich mir vorstellen, dass an einem Ort, wo so viel passiert ist, so viel Schreckliches, wo Menschen gelitten haben und gestorben sind… dass da tatsächlich ein… Nachhall zurückbleibt”, sie biss sich auf die Unterlippe, um nach besseren Worten zu suchen, “eine Art ‘Echo’ der vergangenen Ereignisse. Dann waren das vielleicht Wahrträume und Bishdariel hat Euch einen Blick in die Vergangenheit gewährt.” Die Anconiterin drückte ermunternd Mihoals Hände und schaute ihm ruhig in die Augen. “Was war es, das die Knappin zu Euch sprach? Ich könnte mir vorstellen, dass es eine sehr wichtige Botschaft war.”

Mihoal nickte bestätigend. “Ich habe eine außergewöhnlich starke Verbindung zu der Knappin meines Großvaters gespürt. Ich glaube, ich hatte Anteil an der Verbindung, die sie mit meinem Vater hatte…” Der junge Rechklamm räusperte sich, verlegen über die Gedanken, die ihm gerade kamen. “Koarmin sagte:

‘Rondra ist mit dir.
Du wirst für die Leuin leben - und für die Leuin sterben.
Weihe dein Leben der Sturmherrin!
Suche die Herausforderung nicht in der Ferne.
Sie liegt ganz nah. Dort wo du lebst.
Dort wo ich geboren worden bin.
Dort wo du geboren worden bist.
Verhindere, dass der Güldene seinen Weg findet!
Du wirst deine Liebsten retten.
Und du wirst mit deinen Liebsten sterben.’

Mihoal hatte diese Worte aufgesagt, als ob er sie seither immer wieder wiederholt hätte im Geiste.

Merle schwieg für scheinbar endlos lange Momente, dann atmete sie tief ein und aus. "Das... das klingt... beängstigend", brachte sie schließlich mit rauher, belegter Stimme heraus. "Ich verstehe, dass diese... Prophezeihung?", sie runzelte gedankenverloren die Stirn, "Euch schwer auf der Seele lastet, junger Herr. Es muss hart sein, mit so einer Offenbarung zu leben. Und dennoch... Ihr wisst nicht, auf welchen Zeitpunkt sich die Worte beziehen. Es kann sein, dass dieser Kampf, von dem Koarmin sprach, Euch erst in dreißig, vierzig oder fünfzig Götterläufen bevorsteht. Oder nie." Eindringlich, fast beschwörend, starrte Merle dem jungen Knappen in die Augen; sie hielt noch immer seine Hände und wärmte diese in ihren. "Wisst Ihr, ich glaube, dass die Zukunft noch nicht geschrieben ist. Wir alle sind unseres eigenen Schicksals Schmied, das sagt zumindest Ihre Gnaden Imelda immer. Und auch Euer Schicksal, Mihoal, ist nicht vorherbestimmt, wenn Ihr Eure Zukunft selbst in die Hand nehmt. Da bin ich mir ganz sicher! Deshalb, bitte, seht dem Kommenden mit Hoffnung und Zuversicht entgegen."

“Frau Merle”, Mihoal löste seine Hände von denen der Anconiterin. Sein Gesicht strahlte wieder den Ernst aus, der für ihn so typisch war. “Ich bin auf diese Reise gegangen, weil ich herausfinden wollte, wohin mein Weg gehen soll. Ich habe mich gefragt, ob die Sturmherrin mich ruft, mich ihr zu weihen. Grimo Steinklaue, der Tempelvorsteher vom Orgils Grab, hat mir geraten, mit diesem Konvoi zu ziehen, um innere Klarheit zu meinen Fragen zu finden. Und jetzt diese … ‘Prophezeiung’. Das kann doch kein Zufall sein?” Er schüttelte leicht und langsam den Kopf. “Es gab noch einen zweiten Traum. Und eine zweite ‘Prophezeiung’.”

“Ein zweiter Traum?” flüsterte sie verwundert. Fast schien sie Angst davor zu haben, was Mihoal als nächstes offenbaren würde. “Auch von der Knappin Eures Großvaters… Koarmin?”

“Ja, sie kam auch in diesem Traum wieder vor”, bestätigte Mihoal. “Doch während im ersten Traum die Folgen von Krieg und Gewalt nur erahnbar waren, weil sich alle nur auf die bevorstehende Schlacht vorbereiteten, war der Schrecken im zweiten Traum deutlich sichtbar und spürbar. Ich war im von den Ogern zerstörten Ysilia gelandet. Überall zwischen den Trümmern lagen noch die von den Ogern ermordeten - oder was von ihnen übrig war. Dann gab es auf dem Platz vor dem Traviatempel eine seltsame Begebenheit mit Galotta höchstpersönlich. Am Ende überbrachte mir Koarmin schließlich wieder eine Botschaft. Sie sprach von der ‘Gefahr, die direkt vor den Toren der Scheuburg dräut’. Und dann gab es erneut eine ‘Prophezeiung’ für mich:

‘Aber Aislins Kinder werden uns retten.
Sie werden erneut ihr Leben für uns lassen.
Geh deinen Weg Mihoal.
Lasse dich der Sturmherrin weihen.
Sie wird dich leiten.’

Das klingt doch durchaus so, dass die Zukunft doch nicht ganz unbestimmt ist, oder? Frau Merle?“

Unsicher wog Merle den Kopf hin und her und kniff grübelnd die Augen zusammen. “Was heißt das, ‘Aislins Kinder’? Und wisst Ihr, was ‘erneut ihr Leben lassen’ bedeuten könnte? Warum denn ‘erneut’?”

Der Ardaritenknappe seufzte. “Ja, das ist tatsächlich etwas … na, sagen wir mal: merkwürdig. Ich habe für solches Geschwätz und solche Erzählungen früher nie viel gegeben.” Merle konnte ihm deutlich anmerken, wie unwohl er sich mit diesen Aussagen fühlte. “Wisst Ihr, Frau Merle, die Menschen im Isenhag sind sehr abergläubisch und sie erzählen sich zahlreiche Märchen und Legenden. Eine davon ist das Märchen von der Fee Aislin Traumgesicht. Manchmal wird sie auch als Elfe beschrieben, die den großen Helden, den Heiligen Geron, dem Einhändigen, entweder auf seiner Reise nach Simyala begleitet – das ist eine sagenumwobene, alte, untergegangene Elfenstadt – oder er hat sie dort getroffen. Dort sollen sie den Basiliskenkönig überwunden haben. Und dann hätten sie sich ineinander verliebt. Auf jeden Fall sollen sie gemeinsam auf dem Rückweg durch den Isenhag gereist sein und in den Ingrakuppen einen uralten Drachen besiegt haben, aber Aislin sei bei dem Kampf so schwer verwundet worden, dass sie ihren Verletzungen erlag. Geron habe sie nahebei in einem Wald begraben, den man heute den ‘Aal Bösch’ nennt. Danach hat er sich auf einen nahen Berg gesetzt und bitterlich geweint. Aus seinen Tränen, die am Fuße des Hügels zusammenflossen, sei der Geronsweiher zu Füßen der heutigen Hyndansburg geworden.

Naja, und in der Legende heißt es, wenn Aislin nicht gestorben und begraben worden wäre, hätte sie ihrem geliebten Geron sieben Kinder geschenkt. Die Seelen dieser ungeborenen Kinder sollten aber immer jeweils, wenn das Madamal voll am Nachthimmel steht, in Form von Schwänen über den ‘Aal Bösch’ bis hin zur Hyndansburg fliegen. Das sind die ‘Kinder Aislins’. Und immer, wenn im Isenhag eine Adelsfamilie sieben Kinder hat, erzählen die Menschen, die Seelen von ‘Aislins Kindern’ würden in diesen Kindern ‘wiedergeboren’. Manche dieser Familien sind in den zurückliegenden Jahrhunderten durch schreckliche Unglücke ums Leben gekommen. Die Leute erzählen, das sei ‘Aislins Fluch’ und das Schicksal der ‘Kinder Aislins’.

Vor ein paar Jahren, nachdem meine jüngste Schwester Koarmin geboren wurde, fingen die Leute an zu erzählen, wir seien die sieben Kinder der Fee. Was für ein Unsinn. Nicht wahr? Das jedenfalls habe ich immer gedacht.” Merle konnte spüren, dass ihn das doch sehr anfasste und beschäftigte.

Mit einigen tiefen Atemzügen versuchte Merle ihre Gedanken zu ordnen, dann begann sie Mihoal mit warmer, leiser Stimme zuzureden: “Ich möchte wirklich nicht behaupten, dass an solcherlei Geschichten nichts Wahres dran ist. Im Gegenteil, ich bin überzeugt, dass sie oft einen wahren Kern besitzen… Der Quellsee und das weiße Reh in Lützeltal. Der Lilienpark in Herzogenfurt. Gudekar hat den leibhaftigen Muschelfürsten mit seinem Neckern und Nixen besucht.” Ihre Hand betastete den kunstfertig gearbeiteten Kettenanhänger aus Perlmutt und Aquamarin am Ausschnitt ihres Kleides. “Wir Sterblichen wären töricht, diese Dinge nicht ernst zu nehmen. Und dennoch… Ich weigere mich zu glauben, dass es Euch und Euren Geschwistern vorherbestimmt ist, Euer Leben zu opfern. Ja, Ihr seid mutig und tapfer, Eure Brüder und Schwestern sicherlich ebenso – ihr wärt bestimmt zu jedem Opfer bereit für die Rettung Eurer Heimat, für die Sache der Zwölf, den Kampf gegen die Finsternis – doch ist es Euch und Eurer Familie nicht zuzumuten, einem unabwendbaren, unbarmherzigen Schicksal entgegenzutreten, ohne eine Wahl zu haben! Ganz ehrlich, Mihoal: Wollt Ihr ein Kind Aislins sein? Wollt Ihr, dass auf Euch und Euren Geschwistern diese Last, dieser Fluch liegt? Wollt Ihr mit Euren Liebsten sterben?“ Sichtlich aufgeregt blickte Merle zu der jungen Pagin Koarmin, Mihoals kleiner Schwester, einem hübschen, noch kindlich wirkenden Mädchen, dann schüttelte sie entschieden den Kopf. “Mihoal, Ihr und Eure Geschwister seid noch so jung, habt das ganze Leben noch vor Euch! Bitte, geht die Zukunft frohen Mutes an, mit Hoffnung und Göttervertrauen. Lasst Euch nicht von einer Vision das Herz schwer machen, die vielleicht nie eintritt, die bloß eine mögliche Zukunft aufzeigt, eine von vielen. Ja, schlagt den Weg der Herrin Rondra ein, wenn das Euer Weg ist. Aber geht ihn, weil es Eure Entscheidung ist, Euer freier Wille. Ihr selbst seid es, junger Herr, der sein eigenes Schicksal gestaltet.” Sie lächelte ihn liebevoll an und hob leicht die Schultern. “Das wäre zumindest mein unqualifizierter Rat.”

Der Ardaritenknappe schaute die Anconiterin nachdenklich an. Er schien einen Moment nachzudenken, bevor er antwortete. Aislins Kinder? Was ja schon immer merkwürdig gewesen war, dass er und seine sechs Geschwister allesamt mondsüchtig waren und jeden Monat bei Vollmond schlafwandelten. Sie hatten eine ganz besondere Verbindung untereinander, auch über die Distanzen hinweg. Aber machte das sie automatisch zu ‘Aislins Kindern’? “Vielleicht habt Ihr Recht, Frau Merle. Wenn alles schon feststünde, bräuchten wir uns nicht mehr mühen. Doch meint Ihr nicht, ob es so etwas wie eine Bestimmung gibt? Dass die Götter uns eingeplant haben im großen Ringen der Mächte?”

“Hm, ich denke schon, dass die Götter Pläne haben”, überlegte Merle mit andächtig gesenkter Stimme, “doch dass diese weit größer, komplizierter und verflochtener sind als alles, was wir Menschen auf Dere uns überhaupt irgendwie vorstellen oder begreifen können. Also vielleicht bringt es auch nichts, dies zu versuchen. Und ich glaube nicht, dass die Götter von uns erwarten, uns blind und ohne Widerstand von den Wellen des Schicksals überrollen zu lassen.” Sie nippte an ihrem Kelch und schaute den Ardaritenknappen sinnend über den Becherrand hinweg an. “Was für einen Sinn hätte unser Dasein, wenn wir bloß willenlose Spielfiguren auf einem Garadan-Brett wären?” Merle schüttelte entschieden den Kopf. “Nein, ich glaube, dass die Götter wollen, dass wir ihren Geboten folgen, natürlich wollen sie das, sonst hätten sie uns ihre Gebote nicht gegeben - aber sie wünschen auch, dass wir dies aus freien Stücken tun, dass wir selbst entscheiden, was der richtige Weg ist. Dass wir kämpfen, uns anstrengen, nicht aufgeben, wenn der Weg schwer und mühsam wird. Wir haben immer eine Wahl, da bin ich mir ganz sicher. So können wir umkehren und uns ändern, wenn wir fehlen, können die Hand nach denen ausstrecken, die wir für unsere Feinde hielten”, sie blickte sich um und suchte nach Gudekar und Meta, konnte die beiden jedoch im Saal nicht auf die Schnelle entdecken. Erneut schaute sie Mihoal tief und eindringlich in die Augen. “Solange wir auf Dere wandeln, können und sollen wir unser Schicksal selbst gestalten. Deshalb lasst Euch das Gemüt nicht allzu schwer werden, junger Herr. Das ganze Leben, das ganze weite Dererund liegt noch vor Euch.” Wieder legte sie zart die Handfläche auf seinen Arm und lächelte ihn sanft und voller Mitgefühl an. “Blickt der Zukunft mit Hoffnung entgegen. Auch wenn es sich gerade schwer anfühlt.”

“Hmh”, gab der Knappe leise zur Antwort. Vollständig schien er nicht überzeugt zu sein. “Ich werde darüber nachdenken. Zugegeben: All das überfordert mich. Aber vielleicht werde ich mit der Zeit besser verstehen, was das bedeutet. Ich danke Euch sehr, Frau Merle. Ihr habt mir geholfen.”

“Das freut mich sehr”, erwiderte sie leise. “Aber wenn Ihr mich fragt… denkt nicht ununterbrochen darüber nach. Sondern gönnt Euch auch einmal etwas Ruhe und Zerstreuung.” Die Anconiterin hob ihren Weinkelch und wies mit einer kreisenden Handbewegung auf die festliche Gesellschaft im Saal. “Versucht Euch trotz allem an den schönen Dingen des Lebens zu erfreuen, ja? Das wäre vielleicht mein Rat an Euch.” Mit einem aufmunternden Zwinkern nickte sie dem Knappen zu. “Seid auch ein bisschen jung - und genießt es.”