Von Kristallen, Paktierern und magischen Tafeln

Von Kristallen, Paktierern und magischen Tafeln

Setting

  • wo: Elenvina, Gasthaus ‘Das Nest’, Stammkneipe der Elenvinaer Hornissen. Milian Adlerkralle von Rickenbach, der Wirt des Nests, ist ein geheimer Kontaktmann der Albenhuser Ermittler zur Altherzögin.
  • wann: 7. PRAios 1044 B.F., kurz nach der Krönungsfeier der Albenhuser Gräfin in Elenvina
  • SL: AnFe

Personen

Hintergrund

Gudekar von Weissenquell ist Mitglied der Ermittlergruppe, die nach den Vorfällen auf dem Flussfest 1043 B.F. nach der Weissagung der Flussfeen über das Herz der Nordmarken ermittelt. Inzwischen ist diese Gruppe insgeheim auch vom Muschelfürsten und der Altherzögin Grimberta vom Berg beauftragt, den Zusammenhängen um die Zerstörung des Kristalls nachzugehen, um die verschollenen Splitter wiederzufinden und den Kristall neu zusammenzusetzen.

Doratrava stößt im Ingrimm 1043 ebenfalls im Auftrag Grimbertas zu der Ermittlergruppe. Zu diesem Zeitpunkt hat sich Gudekar jedoch kurzzeitig von der Ermittlergruppe getrennt und verweilt in einer privaten Angelegenheit in Albenhus.

Kurz nach der Krönungsfeier der Gräfin von Albenhus, Elfgyva von Hardenfells, wird Gudekar über den aktuellen Verlauf der Ermittlungen informiert, und erfährt. dass nun auch die Gauklerin, die er bereits auf der Schweinsfolder Hochzeit kennengelernt hatte, Teil der Gruppe ist.

Die beiden treffen sich im Gasthaus ‘Das Nest’ vor den Stadttoren Elenvinas, um Informationen über den Stand der Ermittlungen auszutauschen.

Mit Doratrava und Grimmgasch war auch Rionn nach Elenvina gereist, um der Herzogenmutter Bericht zu erstatten. Als die Gauklerin ihm von dem Treffen mit dem Magier erzählte, weckte es seine ohnehin schon große Neugier. Denn eigentlich wusste er ebenso wie Doratrava noch nicht ausreichend über all jene Fährnisse, die den Zusammenhang mit dem Herz der Nordmarken bildeten. So kündigte er sich an, ebenfalls an dem Gespräch teilnehmen zu wollen.

Das Treffen

Es war ein schwüler Sommerabend, jener Praiostag am siebten Tag des Monats PRAios im Jahr 1044 B.F. Die Hornissen hatten ein Heimspiel gehabt und dieses knapp aber überraschend gewonnen. So war das Nest gut mit Feiernden gefüllt, was dem Magier durchaus gelegen kam, denn so würde weder seine Anwesenheit noch die der Gauklerin besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Gudekar wartete am Tresen auf Doratravas Ankunft und stillte derweil seinen Durst mit einem Becher verdünnten Wein. Als er die junge Schönheit erblickte, gab er dem Wirt ein kurzes Zeichen, woraufhin dieser die Gauklerin in ein kleines, ruhiges Nebenzimmer führte. Dort standen eine Schale mit Früchten, zwei Becher sowie ein Krug mit frischem Wasser sowie einer mit Wein bereit.

Der grün gekleidete Magier hingegen ließ noch einige Augenblicke verstreichen, bevor auch er unauffällig das Nebenzimmer betrat. Er zupfte zum Gruß seinen Hut. “Werte Dame Doratrava! Es ist mir eine Freude, Euch wiederzusehen! Wie ich sehe, hat Euch meine Nachricht erreicht. Ich bin nicht sicher, ob Ihr Euch an mich erinnert. Ich darf mich vorstellen, ich bin Gudecar von Weissenquell, Mitglied der Bruder- und Schwesternschaft zur Förderung der Heilmagie des Heiligen Anconius und Bruder unseres Ordens im Kloster zu Albenhus. Wir sind und letzten Herbst in Herzogenfurt begegnet und haben dort gemeinsam gegen das Ungeheuer gekämpft.” Er blickte ihr in die Augen und wartete auf eine Reaktion.

Da sie zunächst allein gewesen war, hatte Doratrava ihren luftigen, hellen Kapuzenmantel abgelegt und sich bereits gesetzt, als Gudekar eintrat. Aufgrund der Witterung trug sie eine ärmellose, mit ein paar wenigen Rüschen verzierte Bluse von hellgelber Farbe und dazu einen kurzen, einfach geschnittenen Rock in hellem Braun, so dass viel von ihrer weißen Haut zu sehen war. Ihr nicht weniger weißes Haar hatte sie mit einem farblich zur Bluse passenden Band zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Als der Magier eintrat, wandte sie diesem den Kopf zu und erwiderte seinen Blick aus saphirblauen Augen, die im Kerzenlicht funkelten, den Mund zu einem neugierigen Lächeln verzogen. Sie ließ ein, zwei Momente verstreichen, in denen sie die Erscheinung des (zumindest im Vergleich zu ihr) älteren Mannes in sich aufnahm, dann nickte sie ihm grüßend zu. "Seid gegrüßt, Gudekar", gab sie recht formlos zurück. "Ja, ich erinnere mich", fuhr sie fort. Wenn auch nur dunkel, denn der Kampf mit dem Dämon im Herzogenfurter Sumpf war schon ein Dreivierteljahr her, und seither hatte sie viel erlebt. Bei der Jagd nach der dritten Tafel, zu der sie die Herzogenmutter geschickt hatte, war der Name des Magiers zwar gefallen, aber getroffen hatte sie ihn seither nicht. Doch nicht zuletzt die Neugier hatte sie getrieben, die Einladung Gudekars anzunehmen, hatte er ihr doch in Aussicht gestellt, ein paar der Hintergründe der Geschichte mit den Tafeln zu enthüllen, was ihre bisherigen Gefährten bei dieser Queste nur sehr rudimentär getan hatten. "Habt Dank für die Einladung. Ich bin gespannt, was Ihr zu erzählen habt."

Nun stellte der Magier seinen Stab gegen die Wand, nahm den schwarzen Filzhut vom Kopf und legte seinen dünnen Mantel ab, sodass sein kurz geschnittenes, braunes Haar und seine grauen Augen deutlich sichtbar wurden. Er trug eine grüne, reich verzierte Tunika über einem einfachen, langärmigen Hemd und einer dünnen Stoffhose. Er setzte sich Doratrava gegenüber. Dann nahm die beiden Becher und den Wasserkrug und goss in beide Becher etwas ein. Einen Becher reichte er der Gauklerin. “Ihr dürft natürlich auch gern von dem Wein nehmen, aber bei diesem Wetter tut etwas Wasser durchaus gut”, kommentierte er sein Handeln. Mit einem kräftigen Zug leerte er seinen Becher zur Hälfte. “So, ihr seid nun auch zu unserer Ermittlergruppe gestoßen, im Auftrag der guten Grimberta. Das tut mir leid für Euch, möchte ich fast sagen.” Gudekar setzte ein leicht qualvolles Lächeln auf, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen, was ihm jedoch nur leidlich gelang. “Nun ja, nicht allen haben die Ermittlungen Glück gebracht.” Er musste an seinen Schwager Reto denken, aber auch an das zerrüttete Verhältnis zwischen ihm und Tsalinde, letztlich auch an das Scheitern seiner Ehe, das ebenfalls auf die Ereignisse zurückzuführen war. “Doch vielleicht sollten wir am Anfang beginnen. Ich bin Überrascht, dass die Mutter des Herzogs Euch mit auf unsere Mission geschickt hat, ohne Euch im Detail einzuweihen. Durch meine Gefährten ist mir zu Ohren gekommen, dass euch noch einige Fragen zu unserer Mission unter den Nägeln brennen. Ich denke, Ihr solltet wissen, auf welch gefährliches Spiel Ihr Euch hier einlässt. Doch vielleicht erzählt ihr mir zunächst kurz, was Ihr bereits wisst.”

Doch bevor die Gauklerin antworten konnte, klopfte es an der Tür.

Zunächst schaute Gudekar verärgert auf die Tür. Er hatte Milian, den Wirt des Nests, doch ausdrücklich gebeten. Der Wirt würde sicherlich einfach eintreten, wenn er etwas bringen wollte. Also musste es ein unerwarteter Gast sein, der dort klopfte. Aber genau solche Störungen sollten unterbleiben. Zu wichtig, zu brisant könnte der Inhalt der Unterredung werden.

Auch Doratrava blickte im ersten Moment überrascht zur Tür, aber dann fiel ihr etwas ein und sie wandte sich wieder Gudekar zu. “Ach ja, von der Tafelsuche bin ich mit dem Tsa-Geweihten Rionn und dem Zwerg Grimgasch hierher gereist”, erklärte sie dem Magier. “Wir haben der Herzogenmutter berichtet. Als dann Eure Einladung kam, habe ich den beiden davon erzählt. Da hat Rionn gemeint, er würde gerne an unserem Gespräch teilnehmen, da er ebenfalls noch nicht alles wüsste. Ich habe ihm gesagt, er soll einfach heute hier vorbeikommen. Vermutlich ist er das.” Halb fragend, halb entschuldigend sah sie Gudekar an.

Es klopfte erneut. Scheinbar schien derjenige jenseits der Türe nicht außergewöhnlich geduldig.

Gudekar wollte Doratrava fast etwas Unfreundliches antworten, da sie die Vertraulichkeit, um die Gudekar auch sie gebeten hatte, ignoriert hatte. Doch er besann sich eines Besseren und schloss seinen Mund wieder. Rionn, der Tsa-Geweihte, den Gudekar auf dem Empfang auf der Eilenwid kennengelernt hatte, war in Gudekars Augen vertrauenswürdig genug, um ebenfalls an der Unterredung teilzunehmen. “Also schön, wenn er schon mal da ist…”, grummelte der Magier an Doratrava gerichtet. Dann stand er auf und ging zur Tür des kleinen Besprechungsraums. Gudekar öffnete sie und sah den Tsageweihten. Hinter ihm stand Milian, der Wirt, und fuchtelte entschuldigend mit den Armen. “Schon gut”, rief Gudekar dem Hausherren zu, “bringt noch einen Becher für Seine Gnaden!” Erst dann wandte er sich Rionn zu. “Euer Gnaden Rionn, es freut mich, Euch wohlbehalten wiederzusehen! Tretet doch bitte ein und setzt Euch zu uns. Wir wollten gerade bei einem Becher frischen Wassers über alte Zeiten reden.” Der Anconiter verbeugte sich leicht und deutete dann auf einen freien Platz an dem Tisch.

“Ah, Gudekar von Weissenquell. Schön dich wiederzutreffen. Danke für den freundlichen Empfang.” Der Tsa-Geweihte hinter der Türöffnung sah den Anconiter mit einem breitem Lächeln an. Er war in ein schlichtes, regenbogenfarbenes Gewand gekleidet, das vielleicht bei dieser Witterung ein wenig zu warm schien. An den Füßen lugten Sandalen hervor. Über dem Gewand trug er einzig noch ein Medaillon aus Porzellan, das in Bronze eingefasst war. Es hatte die Form eines Eies und zeigte eine Eidechse, die auf dem Porzellan aufgemalt und eingebrannt war. Auf seinem Haupt wuchs zwei Finger langes, blondes Haar, das bereits ergraute, im Gesicht ein Stoppelbart. Im Prinzip sah er genauso aus, wie Gudekar ihn im Ingerimm auf der Eilenwïd gesehen hatte.

Beim Anblick des unverfälscht freundlichen Lächelns des Geweihten entspannte sich Gudekar zusehends. Sein ursprünglicher Groll verflog und ein unsicheres Lächeln machte sich in seinem Gesicht breit. Es war ihm anzusehen, dass er sich in seiner Lage noch immer nicht wirklich wohl fühlte. Als er noch dachte, mit Doratrava alleine zu sein, fühlte er sich sicher, überlegen. Es wäre ein Eins-zu-eins-Gespräch gewesen. Doratrava wusste nicht, was innerhalb der Albenhuser Ermittlergruppe vorgefallen war, und wenn, dann nur aus zweiter Hand. Er hätte seine Sichtweise auf die Dinge hervorbringen können. Aber nun waren sie zu dritt, er musste sich zwei anderen Gefährten gegenüber erklären. Und Rionn hatte seinen Ausbruch beim Empfang der Herzogenmutter auf der Eilenwid persönlich miterlebt. Rionn hatte mit eigenen Ohren den Disput zwischen Tsalinde und ihm mitangehört. Welche Schlüsse mag der Geweihte daraus über ihn gezogen haben? Dennoch strahlte Rionn eine Aura aus, die es Gudekar schwer machte, eine Mauer zwischen sich und dem Geweihten aufzubauen.

Rionn folgte der Einladung und trat in den Raum ein. “Doratrava. Bitte verzeih, dass ich mich verspätet habe. Ich hoffe, ihr beide habt noch nicht begonnen.” Auch der Gauklerin schenkte er ein breites Lächeln. Dann setzte er sich auf den ihm von Gudekar gewiesenen freien Platz und schaute die beiden erwartungsvoll an.

Flink brachte Milian einen weiteren Becher und stellte ihn auf den Tisch. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Besprechungszimmer wieder und schloss die Tür hinter sich.  

“Macht nichts”, erwiderte die Gauklerin leichthin. “Wir haben erst ein paar Sätze gewechselt, und ich wollte gerade anfangen zu erzählen, was ich schon weiß.” Auch sie trank nun aus dem Becher und schielte dabei überlegend zu dem Weinkrug, entschied aber fürs Erste, bei klarem Verstand zu bleiben. Dafür bediente sie sich bei den Früchten. “Soll ich weitermachen?”, fragte sie leicht nuschelnd und blickte die beiden Männer abwartend an, während sie es sich schmecken ließ.

Gudekar, dem Doratravas Blick auf den Weinkrug nicht entgangen war, überlegte kurz, ob es unhöflich war, ihr einfach Wasser einzuschenken und sie nicht zu fragen, was sie wollte. Diesen Fehler wollte er bei Rionn nicht wiederholen. „Was darf ich Euch einschenken, Euer Gnaden, Wein oder lediglich Wasser? Ja, ich bat Doratrava darum, mich zunächst in Kenntnis zu setzen, was ihr bereits über die Mission bekannt ist.“ Dann blickte er von Rionn zu Doratrava und zurück. „Oder soll ich lieber von Anfang an erzählen?“ fragte er unsicher.

“Hm, tatsächlich ist mir das fast lieber”, erwiderte Doratrava spontan. “Wenn du nichts dagegen hast”, fügte sie zu Rionn gewandt hinzu, als wäre ihr gerade noch eingefallen, dass der Geweihte möglicherweise auch eine Meinung dazu hatte.

“Der Anfang ist immer gut”, erwiderte der Geweihte mit einem verschmitzten Lächeln, “er birgt soviel Neues.” Dann schob er Gudekar freudig lächelnd den Becher zu. “Ich bin neugierig, wie wohl der Wein schmecken mag.”

“Ja dann …”, machte Doratrava halb auffordernd, halb neugierig und drehte sich zurück zu Gudekar, wobei sie ihm lächelnd zublinzelte.

Wortlos goss der Anconiter Rionn Wein ein, dann nahm er seinen Becher und den von Doratrava, ging zum Fenster und öffnete es. Nach einem kurzen Blick hinaus schüttete er das restliche Wasser hinaus und schloss das Fenster wieder. Dann goss er auch der Gauklerin und sich selbst Wein ein. Schließlich setzte er sich.

Doratrava hob eine Augenbraue, sagte aber nichts und nahm ihren Becher zurück.

“Nun, gut.” Gudekar räusperte sich und trank einen kleinen Schluck Wein. “Meine Geschichte beginnt beim Flussfest am ersten Efferd des letzten Jahres. Das war der Tag, als die Prophezeihung der Flussleute überall am Großen Fluss zu vernehmen war. In Albenhus fand das jährliche Flussfest statt, vielleicht das schönste Stadtfest in den ganzen Nordmarken.” Er schaute Doratrava an. “Ihr solltet unbedingt dieses Jahr nach Albenhus kommen, Eure Künste würden dort sicherlich großen Anklang finden.”

Keine schlechte Idee, ging es der Gauklerin durch den Sinn, aber sie blieb weiter stumm, um den Magier nicht zu unterbrechen.

Gudekar nahm noch einen Schluck Wein. “Jedenfalls, das Verhalten der Necker während der Prophezeihung war ungewöhnlich, es kam sogar zu Übergriffen, es gab Verletzte. Dies veranlasste Witta von Dürenwald, die Vögtin unserer neuen Gräfin, eine Gruppe von Ermittlern anzuführen, die der Sache auf den Grund gehen sollte. Dieser Gruppe gehörten einige mir bekannte Personen an, Eoban von Albenholz, ein Jugendfreund meines Bruders, und Reto von Darrenbruck, der Schwager meiner Schwester. Die anderen Ermittler waren mir damals nicht bekannt. Diese Gruppe kam bei Ihren Befragungen unter anderem auch in den Traviatempel meiner Schwiegereltern und auch in unser Kloster. So bat mich schließlich unser Abt Meister Egtor, mich den Ermittlungen anzuschließen.”

Von der Prophezeiung hatte Doratrava gerüchteweise gehört, auch schon vor der Geschichte mit der dritten Tafel, aber keine Einzelheiten, schon gar nicht, dass es dabei Verletzte gegeben hatte. Da der Magier innehielt, erhob sie neugierig die Stimme: “Was? Übergriffe? Und was haben die Befragungen denn ergeben?”

“Ich nehme an, es waren vor allem frevelhafte Taten wider die Gütige Mutter Travia und ihre Gebote”, spekulierte Rionn, “nicht wahr?” Er fühlte sich auf eine besondere Weise mit den Anhängern der Peraine- und Travia-Kirche verbunden, konnte aber bedauerlicherweise nicht genau sagen, warum. All das lag im Nebel seiner Vergangenheit, an die er sich nicht zu entsinnen vermochte.

“Frevelhafte Taten?” Gudekar wirkte kurz etwas verwundert. “Nun, zunächst nicht direkt. Aber schnell führten uns die Ermittlungen auf die Spuren des Frevlers  Jast-Brin von Pruch. Denn die Prophezeiung des Flussvolks drehte sich um die Zerstörung des Herzens der Nordmarken.” Gudekar zögerte einen Moment. “Ihr kennt doch den Wortlaut der Prophezeiung, oder?” Als er in das zweifelnde Gesicht Doratravas blickte, nickte er verstehend. “Einen Moment!” Der Magier öffnete seine Umhängetasche und wühlte darin nach einem Notizbüchlein. Als er gefunden hatte, wonach er suchte, blätterte er darin und las dann vor: “Ah, hier ist es ja:

‘Volk der Alten Königin über den Wassern!

Hört uns an!

Dies ist eine Botschaft des Uralten Unsterblichen Königs unter den Wassern.

Hört, was das Volk der Necker spricht:

Der, der eure Brut vergiftet und eure Schwärme stört, hat den Kristall der Gemeinschaft von Wasser, Land, Fels und Licht zerbrochen.

Die Wächterin ist ohne Wacht, bis alle Teile wiedergefunden sind.

Nur zwei sind geblieben - wisst ihr nicht?

Doch was tut ihr?

Seid ihr ahnungslos ob des Bösen, das unter euch geht?

So ist es unsere Pflicht euch zu warnen!

Denn so haben wir einander versprochen:

In Gemeinschaft zu leben, ein jeder dort, wo es ihm gefällt, doch vereint durch den Kristall als gleiche Kinder des Lebens.

Macht eure Augen auf!

Sucht die verlorenen Teile.

Sucht den Vergifter.

Sucht den Zerstörer des Kristalls

Sucht das Zerstörte zu heilen.

Für alle Wesen von Wasser, Land, Fels und Licht.

Sucht!

Nun seid nicht länger unwissend.

Dies ist eine Botschaft des Uralten Unsterblichen Königs unter den Wassern an das Volk der Alten Königin über den Wassern.’”

Gudekar schlug das Notizbuch zu und legte es auf den Tisch. Dann schaute er in die Augen seiner Zuhörer.

Rionn nickte nur beständig und bestätigend, während Gudekar vortrug. Er überlegte derweil, wo er die Prophezeiung zum ersten Mal vernommen hatte. War es auf der Eilenwïd? Oder hatte er schon zuvor davon gehört? Stand diese nicht in den Ausgaben des Greifenspiegels, welche Ciria Herlogan mit nach Albernia gebracht hatte und ihm im Tsa-Tempel in Völs am Waldsee gezeigt hatte?

“Aha”, machte Doratrava zunächst wenig geistreich, als Gudekar geendet hatte. Sie runzelte ein paar Augenblicke lang überlegend die Stirn, aber dann ergoss sich ein wahrer Schwall von Fragen über ihre Tischgefährten: “Und wer genau ist jetzt dieser Jast-Brin von Pruch? Ist das der ‘Zerstörer des Kristalls’, von dem in der Prophezeiung die Rede ist? Wie hat er das geschafft? Warum hat er das getan? Und was hat es mit dem Kristall überhaupt auf sich?” Mit sichtlicher Mühe verstummte die Gauklerin, aber man sah ihr an, dass sie noch viel mehr Fragen auf der Zunge hatte.

Gudekar trank einen Schluck Wein, bevor er antworte. „Lasst mich kurz meine Gedanken sortieren. Was bei Euch nach vielen Fragen klingt, ist am Ende jedoch nur eine, wenn die Antwort richtig formuliert wird.“ Der Magier stand von seinem Stuhl auf und schlenderte ein, zwei Runden um den Tisch herum, bevor er sich, wieder an seinem Platz angelangt, mit den Fäusten auf dem Tisch aufstützte und Doratrava in die Augen schaute, bevor er antwortete.

„Jast-Brin von Pruch ist ein Paktierer des Lolgramoth. Er hat zweifelhaften Ruhm erlangt, als er in Talwacht seine Familie geopfert hat und letztlich zu Brot verbacken hat, um die Saat der Unfriedens auszubreiten. Man kennt ihn auch unter dem Namen ‚Bäckerpruch‘. Letztlich war er es auch, der wohl hinter den Ereignissen in Schweinsfold auf der Hochzeit der…“, Gudekar verkniff es sich spürbar angestrengt, ein Adjektiv zu verwenden, „Baronin steckte.“ Er wartete auf eine Geste der Bestätigung oder Erkenntnis bei Doratrava.

“Aha”, machte Doratrava erneut, während ihr Blick kurzzeitig in die Ferne schweifte. “Talwacht. Da war ich schon mal, vor zwei Götterläufen ungefähr, allerdings nur kurz auf der Durchreise.” Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. “Lol…Lolgramoth? Das ist so ein Erzdämonen-Dings, oder? Und echt, seine Familie verbacken? Das ist ja schrecklich!” Angeekelt verzog die Gauklerin ihr Gesicht. “Wenn der Kerl solch schlimme Sachen macht, und man weiß davon, dass er es war, und er ist noch nicht gefasst worden, dann muss der ja ganz schön mächtig … oder schlau … oder beides sein. Und der hat also einen Kristall zerstört - von dem noch niemand jemals etwas gehört hat. Ich zumindest nicht, aber nun gut, das mag nicht viel heißen. Und jetzt braucht man irgendwie diese Tafeln, die eher ordentliche Steinklötze sind, um den Kristall wieder zusammenzufügen, wenn ich das richtig verstanden habe …” Bestätigung heischend schaute sie erst Gudekar, dann Rionn an, während sie ganz in Gedanken aus ihrem Becher trank, der nun ja Wein enthielt.

“Ja, die Widersacherin der Gütigen Mutter…”, sinnierte Rionn auffallend ernst. “Und der Frevel scheint vom Umfang und Wirkung das ganze Herzogtum Nordmarken zu betreffen.” Er schaute Gudekar und Doratrava nacheinander an. War das etwas von Wut oder Zorn, was in seinen Augen blitzte? Der Gedanke an diesen Paktierer und sein Tun schien ihn innerlich sehr aufwühlen. “Vielleicht ist Umfang und Wirkung so groß, dass nur ein uraltes Wirken der Götter dem entgegengestellt werden kann? Vielleicht ist das `Herz der Nordmarken´ seinerzeit mithilfe der Geweihtenschaft entstanden. Die Visionen, die man über die Tafeln erhält, sprechen dafür. Vielleicht braucht es so etwas Machtvolles, um diesen `Bäckerpruch´ aufzuhalten und das Schlimme, dass er wirkt, zu überwinden…” Auch in der Stimme des Geweihten lag erkennbar eine Erregtheit, die so gar nicht zu seinem sonst so gelassenen und fröhlichem Gemüt zu passen schien.

Doratrava schien durchaus überrascht, den Tsa-Geweihten, den sie als sehr ruhigen, eher bedächtigen, besonnenen Mann kennengelernt hatte, so erregt zu sehen. Nun, “kennengelernt” war vielleicht auch ein wenig viel gesagt, wenn man sich in der Summe erst einige Tage lang gesehen und gesprochen hatte. Fast musste sie dem Ernst des Themas zum Trotz ein wenig schmunzeln, wenn sie daran dachte, welche Seiten von ihr Rionn noch nicht “kennengelernt” hatte. Aber sie verdrängte diese unpassenden Gedanken schnell wieder und sah Gudekar an, auf eine Fortsetzung seines Berichts wartend.

„Das Herz der Nordmarken“, sinnierte der Heilmagier. Die Gefühlsregung des Tsageweihten beachtete er dabei nicht. „Bevor wir zur Bedeutung der Tafeln kommen, sollte ich vielleicht zunächst erläutern, was wir bisher über das Herz der Nordmarken herausgefunden haben. Das war ja auch Eure Frage, Doratrava.”

Diese nickte wortlos.

“Nun, das Herz der Nordmarken ist ein uraltes Artefakt aus der Zeit der Erstbesiedlung der Nordmarken durch die Menschen. Das war noch zur Zeit des Bosparanischen Reiches, es müsste die Zeit der Friedenskaiser gewesen sein. In einem aufwändigen Ritual wurde das Artefakt aus vier Teilen geschaffen, je eines als Symbol für die vier Völker, die zu jener Zeit das Ufer des großen Flusses besiedelten: Ein grüner Kristall für die Menschen, ein weißer für die Zwerge, ein roter für die Elfen und ein blauer Kristall für das Flussvolk, vereinigt durch die vier Herrscher der Völker. Der rote Kristall der Elfen ist inzwischen durch ihr Verschwinden in den Nordmarken verblasst und matt geworden. Die Visionen, die uns die Steintafeln zeigen, sind durch Koboldmagie in dem Stein gebundene Erinnerungen an das Ritual, jeweils aus der Sicht eines der Herrscher der vier Völker. Das Herz ist ein Symbol und ein Artefakt, das den Frieden zwischen den Völkern in den Nordmarken besiegeln und bewahren sollte. Es steht für das Miteinander.“

Schon wieder war Doratrava versucht, einen Sack voll Fragen zu stellen, aber sie beherrschte sich ausnahmsweise, damit der Bericht des Magiers nicht zu sehr zerfaserte.

Gudekar schaute seine beiden Zuhörer an, während er einen Schluck Wein trank, um seine trockene Kehle zu ölen. Oder vielleicht auch, weil die Erinnerungen an die Ereignisse während der Ermittlungen leichter zu ertragen waren, wenn man sie mit etwas Wein verdünnte. “Ja, das Wirken des Bäckerpruchs ist in vielen Gegenden der Nordmarken zu spüren gewesen.” In Gedanken ergänzte Gudekar: ‘Und ich hoffe, dass das Lützeltal nicht sein nächster Wirkungsort sein wird’. Nachdem er in Talwacht sein Wirken offenbart hatte, war er an vielen weiteren Verbrechen beteiligt. Ich mag gar nicht alle Verbrechen aufzählen, die ihm inzwischen zur Last gelegt werden können. Dabei weiß ich nicht einmal, ob ich alle seine Taten kenne. Unter anderem steckte er auch hinter der Zerstörung des Herz der Nordmarken während eines Überfalls auf die Eilenwid am ersten Rondra des letzten Jahres. Ihm ist es dabei nicht nur gelungen, dieses bedeutende Kleinod zu zerstören, er hat sogar zwei der vier Teile entwenden können. Lediglich die Kristalle der Zwerge und der Menschen konnten in Sicherheit gebracht werden.”

Erneut ließ der Magier seinen Blick in die Runde schweifen. Mit Bedauern stellte er fest, dass sein Becher bereits leer war, so goß er sich nach und fragte mit einem wortlosen Blick, ob Rionn und Doratrava ebenfalls noch Wein nachgeschenkt haben wollten. Auch wollte er sich vergewissern, ob die beiden seinen Ausführungen bis hierhin folgen konnten, oder ob es Nachfragen gab.

Der Tsa-Geweihte hatte anfangs voller Freude und Neugier an dem Wein gekostet. Doch seitdem das Gespräch sich um den Travia-Frevler drehte, war ihm wohl die Lust an dem Getränk verloren gegangen. Er hielt den Becher offensichtlich nur noch in der Hand, damit der sich an irgendetwas festhalten konnte, so verkrampft sahen seine Finger aus. Trinken schien er gerade nicht mehr zu wollen.

Doratrava war nicht so schnell mit dem Trinken, ihr Becher war noch nicht leer, daher schüttelte sie den Kopf, als Gudekar den Krug mit einem fragenden Blick auf denselben zubewegte. Aber nun konnte sie sich doch nicht mehr zurückhalten und stellte weitere Fragen: “Also … was passiert denn nun genau, wenn der Kristall nicht wieder zusammengesetzt wird? Und inwiefern werden diese Kobold-Tafeln gebraucht, um ihn wieder zusammenzusetzen? Wobei … es ja noch nichts zusammenzusetzen gibt, solange dieser Bäckerpruch noch zwei der Einzelkristalle hat? Die müsste man ja erst einmal zurückgewinnen, oder? Oder gibt es Ersatz? Kann man was anderes nehmen? Denn nach allem, was du beschreibst, ist mit dem Bäckerpruch wohl nicht gut Kirschen essen.” Doratrava merkte gar nicht, dass sie ins vertrauliche “Du” verfallen war, das ihr eigentlich viel lieber war als diese steife, in ihren Augen oft gekünstelt wirkende Höflichkeit der höheren Schichten. Erwartungsvoll streifte ihr Blick Rionn und konzentrierte sich dann wieder auf Gudekar.

Der Anconiter stand von seinem Platz auf und lief unruhig auf und ab. Er überlegte, wie er am besten antworten sollte, denn die Antwort auf die wesentliche Frage gefiel im selbst nicht. „Tja, das ist der Punkt. Eigentlich wissen wir es selber nicht genau. Es ist zu befürchten, dass es zu immer stärkeren Unfrieden zwischen Völkern der Nordmarken kommen wird, wenn der Kristall zerstört bleibt. Erste Anzeichen dafür sind durchaus schon bemerkbar. Es ist von immenser Wichtigkeit, das Herz zu reparieren oder neu zu erschaffen. Dies hat uns das Flussvolk deutlich gemacht. Doch ob wir dafür die Splitter benötigen, die sich im Besitz des Pruchs befinden, oder ob dafür neue Teile geschaffen werden können, wissen wir nicht. Wir hatten zunächst versucht, die Spur des Unholds aufzunehmen, in der Hoffnung, ihm die gestohlenen Splitter wieder abnehmen zu können. Und mehrmals waren wir dicht auf seiner Spur.“ Etwas leiser murmelte er: „Es ist frustrierend, wie nahe wir ihm schon waren, und jedesmal haben wir Jast-Brin knapp verpasst und es endete in einem Fiasko. Oder die Spur verlief im Nichts.“ Er schüttelte die Gedanken aus seinem Kopf. Dann stützte sich Gudekar auf die Lehne seines Stuhls und berichtete mit fester Stimme weiter.

„Aber selbst, wenn wir alle Teile beisammen hätten, so wüssten wir noch nicht, wie sie zusammenzufügen sind. Doch genau dazu, hoffen wir, sollten die Koboldtafeln die nötigen Hinweise liefern. Jede Tafel zeigt in ihren Visionen den Tag der Erschaffung des Herzens der Nordmarken aus der Sicht eines der vier Völker. Doch sobald alle vier Tafeln im Tsatempel zusammengefügt sind, soll sich ein Gesamtbild ergeben, das die vollständige Vision zeigt. So könnten wir sehen, mit welchem Ritual der Kristall erschaffen wurde und wie wir ihn wiederherstellen können.“ Gudekar schaute Rionn in der Hoffnung an, von ihm eine zustimmende Bestätigung zu erhalten.

“Naja, ob wir die Tafeln im Tsa-Tempel zusammentragen müssen…”, wandte Rionn ein, der mit Grimmgasch der Meinung war, dass die dritte Tafel nicht von ihrem jetzigen heiligen Ort fortbewegt werden sollte, weil er das für einen Frevel hielt. “Aber … egal …”, versuchte er auf die Frage des Anconiters einzugehen, “ich vermute, dass wir, wenn wir eine Verbindung zu allen vier Tafeln herstellen können, uns die Visionen einen klareren Hinweis geben werden, deutlicher werden. Denn jetzt zeigen sie immer nur die Erschaffung jeweils eines der vier Einzelkristallen. Ich hoffe, wenn wir alle vier Tafeln haben, wird uns das Gemeinsame, vielleicht das Zusammenfügen offenbar werden. Aber das ist natürlich nur Spekulation aus meinen Versuchen, die Tafeln zu erforschen.” Er schaute zu Gudekar und merkte, dass er eigentlich nur das wiederholt hatte, was der Magier bereits gesagt hatte.

Der Anconiter hatte zunächst besorgt eine Augenbraue gehoben, als Rionn in Frage stellte, die Tafeln müssten in den Tempel gebracht werden. Er nickte jedoch bestätigend, als der Geweihte seine Worte grundsätzlich bestätigte.

“Hm”, brummte Doratrava überlegend und runzelte die Stirn. “Und woher nochmals wusstet ihr von den Tafeln? Das hat man mir bisher auch nur sehr bruchstückhaft erzählt. Und wo die vierte Tafel ist, scheint ja auch nicht klar zu sein, die hat irgendwie der Sohn vom Luch, also dem Kobold, der die Tafeln wohl erschuf, wenn ich das richtig verstanden habe, verschleppt. Oder so ähnlich.” Die Gauklerin hielt kurz inne, furchte dann aber nochmal die Stirn. “Wenn wir nicht wissen, ob wir die gestohlenen Teile des Kristalls brauchen, muss sich jemand darum kümmern, diese wiederzubeschaffen. Schon allein aus dem Grund, weil der Pruch sonst bestimmt Schindluder damit treibt. Aber zumindest mir hat die Herzogenmutter keinen neuen Auftrag erteilt. Jemandem von euch? Oder jemandem anderes, von dem ihr wisst?” Zwar durchaus besorgt ob der Ernsthaftigkeit des Themas, aber ebenso neugierig schaute sie die beiden Männer an und trank einen weiteren Schluck Wein.

Gudekars Kehle zog sich bei den Erinnerungen, die Doratravas erste Frage hervorbrachte, zusammen. So trank er noch einen großen Schluck Wein und wich der Frage zunächst aus. Es war leichter für ihn, über das zu sprechen, was sie noch nicht wussten als über das Erlebte zu Beginn ihrer Nachforschungen. „Nun kann die Herzogenmutter nur dann neue Aufträge verteilen, wenn sie neue Informationen mitgeteilt bekommt. Aber ich stimme Euch – dir? – zu, die fehlenden Teile müssen Jast-Brin unbedingt abgenommen werden, denn er wird einen Plan haben, wie er die Artefakte zum Schaden der Nordmarken einsetzen kann – genauso wie beim gestohlenen Ring der Schweinsfolder Barone der Fall sein muss. All diese Artefakte müssen wiederbeschafft werden!“ In Gudekars Stimme lag eine Schärfe, die jeden Zweifel an der Dringlichkeit seiner Worte bereits im Keim erstickte. Dann sprach er resigniert weiter. „Leider hat sich unsere Spur zum Pruch bereits im Firun in Liepenstein verloren, nachdem er fast vor unseren Augen seinen Vater ermordet hat, um das Drachenei zu stehlen.“ Noch einmal trank Gudekar aus seinem Becher. „Danach hoffte ich, in Albenhus über einen mir bekannten Alchemisten wieder auf seine Spur stoßen zu können, doch dies war ein toter Stollen. Die nächste, wenn auch sehr dünne Spur brachte der Empfang auf der Eilenwïd, als berichtet wurde, dass eine Person, bei der es sich durchaus um Pruch handeln könnte, auf dem Weg von Unkenau in Richtung Praios gesichtet wurde.“ Mit leiser, wenn auch zynischer Stimme ergänzte er: „Hoffen wir, dass es sich bestätigt und wir seine Spur im Lützeltal wiederfinden.“ Dass er diese Worte nicht ernst meinte, merkte man daran, dass Gudekar in einem Zug den Rest seines Bechers ausleerte und sich sofort nachschenkte, diesmal jedoch ohne den Gästen ebenfalls etwas anzubieten.

Rionn verzog leicht schmollend die Mundwinkel. Immerhin war es seine These, dass es sich bei dem Begleiter des Paktierers Travian von Punin um jenen Pruch habe handeln müssen. Die beiden waren von Albenhus bis Unkenau gemeinsam gereist. Dort verlor sich die Spur des vermeintlichen Pruchs, während Travian ostwärts weiterreiste. Darum hatte Rionn angenommen, dass Pruch südwärts gen Lützeltal weiter gereist sein musste, weil im Norden der Große Fluss den Weg versperrte.

Mit einem Stirnrunzeln schaute der Magier Doratrava an. Er fragte sich, wie ausführlich er ihre Frage beantworten sollte, woher sie den Hinweis auf die Steintafeln hatten. Spielte das eine Rolle? Oder durfte er die Erinnerungen an die Ereignisse in Elenvina vergessen – verdrängen?

“Was? Drachenei?” Auch wenn das vermutlich nichts mit den Tafeln zu tun hatte, weckte doch auch diese Information Doratravas Neugier. “Ach ja, wir können ruhig beim ‘Du’ bleiben, wenn es dir nichts ausmacht”, erinnerte sich die Gauklerin nun wieder der Etikette - oder dessen, was sie darunter verstand auf jeden Fall. Dann blickte sie zu Rionn, um an seiner Miene zu erkennen, ob dieser etwas von einem Drachenei wusste.

Gudekar biss sich auf die Zunge. Warum musste er hier nur das nächste Problem ansprechen? Für die gemeinsame Aufgabe spielte doch der Verlust des Dracheneis zunächst keine direkte Rolle. Was brachte ihn nur dazu, auch Doratrava in diese Sache einzuweihen?

Der Tsa-Geweihte erinnerte sich an das Gespräch auf der Eilenwïd über das Drachenei und die Spekulationen darüber, welche Gefahr davon ausging. “Möglicherweise hat Pruch von Travian etwas erhalten, was ihm helfen könnte, das Drachenei wirksam zu machen”, sinnierte Rionn. “Zumindest wirkte Pruch sehr zufrieden, wahrscheinlich über das, was im der Frevler mitgebracht hatte.” Dann schaute er Doratrava an und merkte, dass auch er jetzt eine Geschichte anriss, die zum einen sehr ausschweifend erklärt werden müsste, aber andererseits vermutlich wenig Konkretes über das hier besprochene Anliegen beitragen würde.

„Von mir aus, bleiben wir beim ‚Du‘. Nennt mich Gudekar.“ Der Anconiter hoffte, so eine Vertrauensbasis aufzubauen, durch die seine Gesprächspartner über gewisse Lücken in seiner Erzählung hinwegsehen würden. „Ihr, Verzeihung, du hast gefragt, wie wir von der Existenz der Steintafeln erfahren hatten. Willst du die ganze Geschichte hören oder nur die Zusammenfassung?“

Doratrava nickte. “Also natürlich würde ich gerne alles hören.” Und selbst entscheiden, was wichtig war und was nicht. Gudekar hatte sie zwar eigens eingeladen mit dem Versprechen, ihre Wissenslücken zu füllen, schien aber an gewissen Stellen Probleme zu haben, bestimmte Dinge zu erzählen. “Zumindest, wenn es nicht die ganze Nacht dauert. Sonst müssen wir das Gespräch vielleicht vertagen, ab der nächtlichen Traviastunde oder so werde ich in der Regel müde.” Sie zwinkerte Gudekar verschmitzt zu.

Dann aber drehte sie sich wieder zu Rionn. “Und wer Travian ist und was es mit dem Drachenei auf sich hat, möchte ich schon auch wissen, jetzt, da du es angesprochen hast. Erstens bin ich neugierig und zweitens erkennt jemand Unbedarftes, wie ich ja vielleicht Zusammenhänge, die euch verborgen geblieben sind.” Sie grinste frech, allerdings war ihre Aussage nur halb scherzhaft gemeint. Sie mochte nur eine einfache Gauklerin und eine mittlerweile nicht mehr ganz so einfache Tänzerin sein, aber sie hatte schon so einiges erlebt und besaß einen gesunden Menschenverstand.

“Ich würde vorschlagen”, erwiderte Rionn und grinste zurück, “dass wir zuerst Gudekars Geschichte von den Steintafeln hören und ich mich dann anschließe mit dem, was ich über Travian und Pruch sagen kann. Einverstanden?”

“Hm … na gut”, gab sich Doratrava spielerisch zögerlich und sah dann wieder erwartungsvoll Gudekar an.

“Nun gut.” Gudekar schluckte. “Ich gab dir mein Wort, deine Fragen zu beantworten. Und wenn du die Geschichte hören willst, dann erzähle ich dir, doch ich bin mir nicht sicher, ob die ganze Geschichte euch mehr Erkenntnisse gibt, als wenn ich nur das Fazit berichte.” Wieder trank Gudekar vom Wein, doch diesmal schien es nicht so, dass er trank um zu vergessen und zu verdrängen, sondern um seine Tatendrang beim Berichten zu stärken und seinen Durst zu löschen. “Nachdem wir nach der Prophezeiung auf dem Flussfest in Albenhus die ersten Hinweise auf Pruch erhalten hatten, reisten wir zunächst nach Flusswacht in Hlutharswacht. Dort konnten wir einige Dokumente einsehen, die nach der Flucht des Paktierers sichergestellt werden konnten. Glaubt mir, wenn ich sage, dass diese Dokumente keine wesentlichen Erkenntnisse brachten, was die Bedeutung des Herzens anbelangt. Wir haben lediglich einige Dinge aus der Vergangenheit des Pruchs erfahren, die uns hoffen ließen, in Elenvina Hinweise oder Spuren zu seiner Motivation und seinem möglichen Aufenthaltsort finden zu können. Außerdem erfuhren wir, dass Pruch eine Liste mit den Namen der Ermittler führte, die ihm in Talwacht auf der Spur waren. Jedenfalls, wir sind dann weitergezogen und haben das Reich des Muschelfürsten betreten.” In Gudekars Gesicht war zu lesen, dass dies nicht gerade angenehme Erinnerungen in ihm hervorrief. “Dort konnten wir mehr über den Angriff auf die Eilenwid und die Zerstörung des Herzens erfahren, konnten wir doch auch mit Ignilde, der letzten Wächterin des Herzens sprechen. Von ihr haben wir das Wissen über den Kristall erhalten, das ich euch vorhin bereits berichtet habe. Schließlich beauftragte uns der Muschelfürst, Pruch zu finden, bevor er uns auf die Eilenwid nach Elenvina brachte. In Elenvina angekommen, begannen umfangreiche Nachforschungen, einerseits zur Vergangenheit des Pruchs, der eine Weile hier gelebt hatte und in der Kriegerakademie ausgebildet wurde. Zum anderen versuchten wir, mehr Informationen über das Herz der Nordmarken zu sammeln und konnten sogar das Fragment, das in der Wehrhalle aufbewahrt wird, ansehen. Wir erfuhren dort, dass dem Herzen eine große travianische Kraft innewohnte und es eine starke Erschütterung der arkanen Kraftlinien gab, als das Herz zerstört wurde.” Nun schien Gudekar an einen Punkt seiner Geschichte gelangt, an dem es ihm schwer fiel weiter zu reden. Sein Blick verfinsterte sich und er verstummte. Doch es war auch zu spüren, dass er bereit sein würde, die Geschichte weiterzuerzählen, wenn es gelänge, ihm genügend Mut zuzureden.

“Das ist ja schon eine wilde Geschichte, die du da erlebt hast, Gudekar”, sagte der Geweihte und nickte anerkennend. “Das wird sicherlich nicht alles so einfach oder schön gewesen sein, vermute ich. Aber du bist ja ein tapferer Magier des würdigen Anconiter-Ordens. Sicher wirst du uns nun noch die finsteren Fährnisse berichten, die nun folgten?” Das war natürlich ein Schuss ins Blaue. Rionn wusste gar nichts. Aber als Seelsorger war er gewohnt, die Gemütslagen seines Gegenüber zu deuten und Anstöße zu geben.

„Finstere Fährnisse“ murmelte Gudekar gedankenverloren vor sich her, die Worte seines Gegenübers wiederholend. Sofort musste er an Reto denken, und an Bruder Tsabert, wie sie beiden entdeckt hatten, entführt und gefangen im  Keller des Gestüts, dem Versteck der Paktierer, misshandelt, gefoltert, mehr tot als lebendig. Gudekar hatte als Heiler schon viele schlimm zugerichtete Personen gesehen, viele gebrochene Seelen umsorgt. Doch was mit Tsabert und Reto geschehen war, darum wollte, konnte er nicht nachdenken. Reto war stets ein starker Ritter gewesen. Und auch nach seiner Entführung versuchte er weiter, diese Stärke zu zeigen. Doch dann, erst einen Mond später, brach es wirklich aus seiner Seele heraus und er hatte sich bis heute noch nicht davon erholt. Noch immer saß er zurückgezogen in Darrenbruck, und Gudekar war es nicht gelungen, ihm zu helfen.

Der Anconiter schaute Rionn an. Was wusste der Geweihte? Was ahnte er? Was konnte er in Gudekars Gesicht lesen? Vielleicht würde es tatsächlich helfen, darüber zu reden, es auszusprechen, was vorgefallen war. Das, was Reto nie wirklich getan hat.

Mit einer gespielten Leichtigkeit, die gar nicht zu seiner vorherigen Gemütslage passte, erzählte der Albenhuser weiter. „Wie nah wir dem Paktierer und seinen Schergen gekommen sein mussten, wie sehr wir in Elenvina in ein Wespennest gestochen haben mussten, merkten wir kurze Zeit später, als unser Gefährte – mein Schwippschwager Reto von Darrenbruck – während unserer Ermittlungen verschwand und wir einen Drohbrief erhielten. Wir sollten die Ermittlungen sofort beenden und bis zum Morgengrauen die Stadt verlassen, sonst würde Reto ein Leid zustoßen, hieß es. Doch davon ließen wir uns nicht abschrecken, wussten wir doch nun, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Mit der Unterstützung einiger Kämpfer der Plötzbogener nahmen wir die Spur der Entführung auf und konnten tatsächlich das Versteck der Paktierer in einem Gestüt vor den Stadttoren ausfindig machen. Während meine Mitstreiter die Schergen des Bösen ablenkten, gelang es mir schließlich, in das Haus einzudringen und im Keller Reto sowie einen ebenfalls  entführten Tsageweihten”, Gudakar blickte zu Rionn, “Bruder Tsabert, zu befreien.” In seiner Stimme klang Stolz mit. Die genauen Umstände der Befreiungsaktion, insbesondere, dass ihm dies nicht allein gelang, sondern ausgerechnet unter Mithilfe von Tsalinde, verschwieg er bei seiner Schilderung. “Schließlich konnten die Frevler in ihrem Nest ausgeräuchert werden, im wahrsten Sinne des Wortes, denn leider haben es meine Helfer geschafft, das Gestüt in Brand zu setzen”, ergänzte Gudekar voller Sarkasmus. “Nur der wahre Strippenzieher, Pruch selbst, war nicht auffindbar. Scheinbar war es ihm gelungen, rechtzeitig zu verschwinden, so er überhaupt persönlich vor Ort war. Aber es wäre nicht das erste und schon gar nicht das letzte Mal gewesen, dass er seinen Häschern knapp entkam. Er scheint uns stets einen Schritt voraus zu sein.” Der Magier blickte verärgert und enttäuscht, legte diesen Gesichtsausdruck jedoch schnell wieder ab. “Jedenfalls war es Bruder Tsabert, der uns nach seiner Befreiung von der Entdeckung des Gemäldes auf dem Stein im Tsatempel im Eisensteinischen erzählte und uns empfahl, uns diese Tafel näher anzusehen. Die Spur zu den beiden anderen Tafeln lieferte dann der Kobold Luch, der die erste Tafel bewachte. Dies jedenfalls ist die Geschichte unserer Entdeckung der Steintafeln.” Der Magier trank einen weiteren Schluck Wein.

Rionn nickte nur. Er ahnte, dass in der ganzen Geschichte noch mehr verborgen sein mochte, oder es im Verlauf noch mehr gab. Immerhin hatte er jenen Streit auf der Eilenwïd noch in Erinnerung. “Aber das passt ja”, bestätigte der Tsa-Geweihte, “ich habe ja einige Zeit in dem Tsa-Tempel verbracht und alles, was mir dort erzählt wurde, bestätigt dies.” Er schaute auffordernd zu Doratrava und hoffte, sie würde nun die nächste Frage stellen

„Habt ihr auch Hunger?“ kam die überraschende Frage des Anconiters.

Doratrava blies sich eine Strähne ihres weißen Haares aus dem Gesicht, welche ihr über die Augen gerutscht war, und lauschte in sich hinein, bevor sie antwortete: “Hm, na ja, wenn es noch länger geht, wie es ja den Anschein hat, könnte ich schon etwas außer Obst vertragen. Aber es ist noch nicht eilig.”

Gudekar konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Wie lange es noch geht, hängt ja auch davon ab , wie viele Fragen ihr noch habt.“

“Viele”, stellte Doratrava grinsend fest.

„Na gut“, Gudekar pustete mit einem „Puh“ die Luft aus seinen Backen. „Ein wenig halte ich es sicher auch noch aus. Warten wir, ob der Wirt von selbst auf die Idee kommt, mal nach uns zu schauen. Was ist deine nächste Frage?“

“Ich meine”, überlegte Rionn, “dass ich beim letzten Mal in diesem Hause etwas gegessen habe. War ganz gut.” Der Tsa-Geweihte lachte. “Vielleicht brauchen wir etwas fürs Gemüt.” Dann schaute er beide nacheinander an. “Wie ging es dann weiter? Wie habt ihr die zweite Tafel gefunden? Da war doch etwas mit einem alten Praios-Tempel oder so?”

Gerade hatte Doratrava sich Gudekars bisherige Erzählung, die doch noch recht lückenhaft war, durch den Kopf gehen lassen, aber bevor sie die erste Frage formulieren konnte, war ihr Rionn zuvor gekommen. Also schwieg sie erst einmal und wartete Gudekars Antwort ab.

Dieser schaute Rionn jedoch eine Weile nur an und fragte dann: „Das sind zwei verschiedene Fragen. Willst du hören, wie es dann weiterging oder wie wir die zweite Tafel fanden?“

“Vielleicht noch weiter zurück: wie kam es dazu, dass ihr zum Muschelfürsten gelangt seid?”, fiel Doratrava nun doch ein.

Nun waren es schon drei Fragen, die im Raum standen. Gudekar rauchte der Kopf. Was spielte es für eine Rolle, wie sie zum Muschelfürsten kamen? Worauf wollte die Gauklerin hinaus? Wollte sie vielleicht selbst in das Reich des Volks unter den Wassern vordringen? Keine gute Idee, fand Gudekar. Der Raum um ihn herum begann sich vor seinen Augen zu drehen. Rionn und Doratrava sahen, dass der Magier plötzlich kreidebleich wurde. Scheinbar war er kurz davor, dass sein Kreislauf zusammenbrach.

Unwillkürlich fasste Doratrava nach Gudekars Arm. “He, alles in Ordnung? Was ist denn los?” Dann wich ihr selbst ein wenig das Blut aus dem Gesicht, was man ihr bei ihrer sowieso weißen Haut nicht ansah, und sie blickte erschreckt in ihren Weinbecher. War der Wein vergiftet?

Auch der Geweihte sah Gudekar besorgt an. Er ahnte es: Es war doch mehr passiert. Mehr - das dem Anconiter auf der Seele lastete. Rionn nahm sich vor, vorsichtiger und behutsamer zu fragen.

„Ich… es ist.. ich denke, es geht gleich wieder. Vielleicht wäre etwas zu essen doch ganz gut.“ Gudekar blickte auf die Früchteschale, doch die Säure in den Früchten wäre nicht gut. Brot! Ein Stück Brot würde helfen. Doch es war keines auf dem Tisch. Deshalb versuchte der Heilmager, selbst wieder die Beherrschung zu gewinnen. „Die schlechte Luft hier drinnen, der leere Bauch, der Wein.“ Er machte eine kurze Pause. „Die Erinnerungen. Es ist nichts ernstes. Was wolltest du über den Besuch beim Muschelfürsten noch wissen?“ „Er schaute zu Rionn. Eines nach dem anderen! „Zu deinen Fragen komme ich noch.“

Rionn nickte und lehnte sich mit einem leichten, freundlichen Lächeln zurück, um anzudeuten, dass er Gudekar nicht drängen wollte.

Erleichterung durchströmte Doratrava, als Gudekar sprach und sich sein Unwohlsein nur als eben dieses herausstellte - ein momentanes Unwohlsein. Dennoch warf sie ihrem Becher einen weiteren misstrauischen Blick zu, bevor sie antwortete: “Na, du hast nur gesagt, ihr habt Informationen über den Pruch gesammelt und dann seid ihr zum Muschelfürsten gegangen. Als seid ihr da zufällig in sein Haus gestolpert oder so. Aber so einfach war es wohl nicht, es muss einen Hinweis gegeben haben … in Pruchs Unterlagen? Oder wie war das?”

“Nein, in Pruchs Unterlagen war, soweit ich mich erinnern kann, keine wirklich fruchtbare Spur zu finden. Aber bereits in Albenhus hatten wir mehrere lose Fäden gesammelt, die wir weiterverfolgen wollten. Nachdem die Spur nach Hlutharsruh keine nennenswerte Erkenntnis gebracht hatte, entschieden wir, der nächsten Spur zu folgen. Wir hatten erfahren, dass das Herz der Nordmarken von einer Nixe namens Ignilde bewacht wurde, als der Überfall auf die Eilenwid erfolgte und der Kristall zerstört wurde. Da lag es ja wohl auf der Hand, Ignilde direkt zu befragen, um Informationen aus erster Hand zu erhalten.  Durch einen Efferdgeweihten hatten wir die Information, dass es in der Burg Thurstein ein Efferdheiligtum in einer Grotte gibt, das ein Tor in die Feenwelt des Volks unter dem Wasser darstellt.Seine Gnaden Efferdan führte uns in diese Grotte, in der er dann eine Vision hatte. Der Muschelfürst sprach durch ihn zu uns. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr, denn plötzlich verschwamm alles. Ich kann mich erst wieder daran erinnern, dasss wir schließlich im Reich des Muschelfürsten waren und mit ihm und der Wächterin Ignilde sprachen.” Ein gewisses Leuchten zeigte sich in Gudekars Augen, als er an die Madamacht dachte, die er in Ignilde gespürt hatte.” Die Informationen, die wir erhielten habe ich euch vorhin bereits berichtet.” Der Magier schaute Doratrava an und es lag Aufrichtigkeit in seinem Blick. “Mehr kann ich dir über unseren Besuch beim Flussvolk nicht berichten. Wenn du Genaueres wissen willst, müsstest du die anderen fragen, vermutlich haben sie mehr Erinnerungen.” Von dem Geschenk, dass er er vom Muschelfürsten erhalten hatte, musste er nicht berichten, dies war eine persönliche Sache, so wie auch die Geschenke an die anderen Teilnehmer der Ermittlungen.

“Na, das war bestimmt ein spannendes Erlebnis, was du nicht mehr vergessen wirst”, kommentierte der Geweihte, der das Leuchten in den Augen des Anconiters wohl wahrgenommen hatte. “Wie ging es dann weiter?”

“Na, wie ich euch vorhin schon erzählt habe, wir wurden vom Muschelfürsten schließlich mit dem Auftrag, Pruch aufzuspüren, nach Elenvina gebracht. Aber glaubt mir, die Reise ins Reich des Muschelfürsten war eine Erfahrung, auf die ich gerne verzichtet hätte, auch wenn es dann dort durchaus interessant war und weiterer Forschungen wert wäre.”

“Hm”, machte Doratrava überlegend, “aber wenn Ignilde die Wächterin des Herzens war oder ist, hat sie dann nichts darüber erzählt, wie es dem Pruch gelingen konnte, das Objekt ihrer Wacht zu finden und zu zerstören?”

Gudekar schaute die Gauklerin überrascht an. “Na, die Frage ist doch, wie konnte Pruch überhaupt erfolgreich einen Angriff auf die Eilenwid durchführen, einschließlich Mordanschlag auf die Herzogenmutter? Wie konnte es ihm später gelingen, einen Hochgeweeihten der Mutter Travia zu entführen? Er ist ein mächtiger Paktierer und hat seine Schergen. Und was den Angriff auf die Eilenwid angeht, da hat ihm eine Verräterin aus der Flussgarde geholfen, seine Geliebte, die er geblendet und verführt hat, so wie er in Herzogenfurt die junge Magierschülerin geblendet und verführt hat. Seine Macht über die Menschen ist groß. Wie aber genau es ihm gelang, den Kristall zu zerstören, kann ich auch nicht sagen. Es wundert mich schon deshalb, wie viel Macht er zu besitzen scheint, als er ja eigentlich ein Krieger und kein Magier ist.” Der Magier sinnierte, welche Macht Pruch wohl hätte, hätte dieser von sich aus arkane Kräfte, wie zum Beispiel der Anconiter selbst sie hatte. Was könnte er mit dieser Macht wohl alles anstellen?

“Also hat Ignilde nichts dazu gesagt?”, ließ Doratrava sich nicht beirren. “Schon klar, dass der Pruch mächtig und gefährlich ist, aber es wäre halt geschickt zu wissen, wie mächtig und in welcher Weise gefährlich … immerhin könnte es ja sein, dass wir mit ihm zu tun bekommen, wenn wir das Herz wieder zusammenfügen wollen …”

Gudekar dachte noch einmal nach. Er war hoch konzentriert. Die Ereignisse von damals waren so verschwommen. Doch dann fiel ihm wieder etwas ein. “Blutmagie, es war Blut im Spiel! Ich erinnere mich an Bilder, die vor unseren Augen erschienen, als wir beim Muschelfürsten waren. Diese zeigten, wie der Kristall durch einen blutgetränkten Dolch getroffen wurde und daraufhin zerbrach. Es waren Leute der Wache, der Flussgarde, die Verrat begingen. Pruch hatte unbemerkt einen der Flussgardisten ermordet und dessen Gestalt angenommen. Außerdem hatte er die Hauptfrau des Trupps, Rialla von Ulenau, für seine Zwecke verführt. Nachdem der Dolch den Kristall zerstört hatte, nahm der Verräter zwei Bruchstücke, den des Wasservolks und den der Elfen. Dann erschien ein  schwarz waberndes Gebilde, vermutlich ein Tor in den Limbus, durch das der Verräter verschwand.”

Gudekar schlug sich plötzlich mit der Handfläche auf die Stirn. “Wie konnten wir das bisher übersehen!” rief er aus. Ihm schien eine Erkenntnis gekommen zu sein. “Die beiden Gänse aus Efferdans Vision! Die beiden Ringe, die sie um ihren Hals trugen und dann verschwanden! Das war eine Prophezeiung über die Ereignisse in Schweinsfold! Wie konnte uns dies die ganze Zeit entgehen? Was haben wir noch alles übersehen?” Der Magier geriet in Panik, in unproduktive Betriebsamkeit. Er stand erneut von seinem Platz auf und lief hektisch hin und her. Wir müssen alle zusammenrufen, die damals mit dabei waren. Wir müssen unsere Erinnerungen erneut zusammentragen und alles, alles, was wir gesehen, gehört haben, neu bewerten. Wer weiß welche Hinweise wir noch haben, die niemals jemand richtig gedeutet hat? Ich danke euch, dass ihr so beharrlich Fragen stellt! Macht weiter! Wer weiß, welche längst verschollenen Erinnerungen ihr mir noch entlockt?”

Der Tsa-Geweihte beobachtete wie Gudekar im Raum hin und her lief. Innerlich freute er sich, denn gerade schien etwas Neues zu entstehen. “Was ist das Neue?”, fragte er deshalb. “Ich meine: Was ist die neue Erkenntnis, die du in den Zusammenhängen entdeckst, die du gerade beschrieben hast? Welche Bedeutung hat die Verwendung von Blutmagie? Was sagt dir das über Efferdans Prophezeiung? Könnte darin noch mehr liegen?”

“Oh, entschuldige, es sind tatsächlich zwei verschiedene Dinge, die mir gerade in den Sinn kamen. Das eine ist das mit der Blutmagie. Ich selbst kenne mich mit solchen Dingen nicht aus. Aber es muss eine Bedeutung haben, dass der Dolch, mit dem der Kristall zerstört wurde blutgetränkt war. Solche Dinge haben immer eine Bedeutung. Und ich bin sicher, mit einem einfachen Dolch hätte man das Herz nicht zerstören können. Dann kam das Bild, wie die beiden Kristallsplitter verschwanden, wieder in meinen Sinn. Und das erinnerte mich daran, wie auf der Schweinsfolder Hochzeit einer der beiden Bundringe verschwand und Vater Winrich entführt wurde. Auch, wenn ich dies selbst nicht direkt sehen konnte, gleichen die Erzählungen darüber dem, was ich in der Vision des Muschelfürsten sah. Und nun ergibt auch eine andere Vision, von der und seine Gnaden Efferdan berichtet hatte, einen Sinn, sie passt zum Angriff auf die Ringhüterprozession. Die beiden Wildgänse stellen den Traviageweihten Winrich und den Novizen Ganterward dar, die Ringe um ihren Hals sind die Ringe des Traviabunds, das Verschwinden den Diebstahl und die Entführung in den Limbus. Hätten wir damals Efferdans Vision richtig gedeutet, wir hätten die Ereignisse auf der Hochzeit der Baronin von Schweinsfold verhindern können. Aber was hatte Pruch mit den Ringen vor? Wofür braucht er sie? Was haben sie mit dem Kristall zu tun? Haben wir Glück, dass er nur einen der beiden Ringe erhalten hat? Oder ist das eher ein Problem, wie ich fürchte, weil aus dem anderen die neuen Ringe geschmiedet wurden? Das ist etwas, das ich noch immer nicht verstehe.”

Wieder furchte Doratrava überlegend die Stirn. “Hm, was war denn in Efferdans Vision - oder Visionen, deinen Worten nach hatte er ja wohl mehr als eine, beziehungsweise eine hatte der Muschelfürst - noch zu sehen? Vielleicht können wir mit dem heutigen Wissensstand ja noch mehr Symbole entschlüsseln? Oder gab es in den Visionen auch Hinweise auf Orte, auf Zeiten? Und dann … wäre es vermutlich auch wichtig zu erfahren, wessen Blut das war, welches an dem Dolch klebte. Wenn das Artefakt so mächtig war, vermute ich mal, dass auch das Blut eines dahergelaufenen Straßenjungen nicht ausgereicht hätte, den Dolch zu befähigen, das Herz zu zerstören. Aber das kriegen wir wohl jetzt nicht mehr raus, oder? Oder könnte Ignilda dazu etwas wissen? Oder der Muschelfürst selbst? - Und dann stellt sich mir noch die Frage, warum der Pruch nur zwei Teile des Kristalls genommen hat und nicht alle. Weil er nur zwei mit in den Limbus nehmen konnte? Oder weil es Absicht war und die anderen Splitter nicht gebraucht werden, für was auch immer?”

“Vielleicht ist es auch einfach das Stören - das Zerstören - von allem, was in den Nordmarken die Ordnung erhält - die göttliche Ordnung”, überlegte auch Rionn laut. “Es scheint jedenfalls die Absicht dieses Frevlers zu sein, diese zu erschüttern. So wie er mit der Zerstörung des Kristalls den jahrhundertealten Frieden gefährdet.” Der Geweihte hielt kurz inne und dann sprach er weiter. “Ja, die Widersacher der Zwölfe verursachen Chaos. Die Gelehrten sagen, dieses Zeitalter sei an sein Ende gelangt und nun lägen die Mächte dieser Welt im Streit darum, wer in der neuen Zeit die Überhand haben wird. Und wir, die Anhänger der Zwölfe, seien mehr denn je dazu aufgerufen, uns für die gute Ordnung einzusetzen und gegen das Übel zu streiten.” Gudekar nickte zustimmend mit dem Kopf.  Eine irritierende Kampfeslust lag in der Stimme des Tsa-Geweihten. “Und die Blutmagie? Gibt uns dies einen Hinweis auf die Urheber? Auf jene, die hinter dem Pruch stehen? Denn woher hat er seine Macht? Das ist nicht ein einfacher Pakt mit der Widersacherin. Oder gibt uns das einen Hinweis darauf, wie die Splitter wieder zusammengefügt werden könnten? Oder wie sie vielleicht neu erschaffen werden könnten? In den Zeiten der Horaskaiser, ja, auch der Friedenskaiser, war Blutmagie doch noch üblicher als heute. Vielleicht gab es etwas, dass komplementär zu dieser Magie stand.”

Gudekar antwortete nicht, sondern nahm schweigend sein Notizbuch in die Hand, öffnete es, blätterte hin und her, las mal hier einen Abschnitt, blätterte weiter, las da einen Abschnitt, nickte ab und an oder kommentierte das gelesene mit einem „Ach, ja!“ oder „Hmmm“ oder „Nein, doch nicht“. Jeden Ansatz, ihn zu unterbrechen, quittierte er mit einem bösen Blick.

Leicht irritiert blickte Doratrava zu dem Geweihten, da sie seinen Ausführungen nicht ganz folgen konnte. Sie schüttelte leicht den Kopf, schaute dann zurück zu Gudekar und stand auf. “Ich schau’ mal, ob ich dem Wirt was zu essen aus dem Kreuz leiern kann. Ich denke, wir werden schon noch eine Weile brauchen.” Damit verließ sie den Raum.

Der Tsa-Geweihte hingegen blieb sitzen und beobachtete Gudekar. Er sagte nichts mehr nachdem der Anconiter ihm mehrfach deutlich gemacht hatte, dass er schweigen möge. Er sah Doratrava nach und nickte. Es könnte dauern, dachte Rionn, da hat Doratrava recht.

Als Doratrava mit einem Lächeln und einer Geste, die den Erfolg ihres Unterfangens anzeigte, an den Tisch zurückkehrte, blickte Gudekar auf. “ Entschuldigt, es ist alles so lange her und es es ist so viel geschehen seit jenen Tagen im Efferd, die Welt ist aus den Fugen geraten. Da sind einige Erinnerungen im Nebel verblasst, doch versuche ich, die Hinweise, die wir damals erhalten haben, die losen Fäden, nun zu einem Gesamtbild zusammenzuweben. Ihr habt mir so viele Fragen gestellt. Auf einige kann ich vielleicht eine Antwort geben. Andere bleiben auch für mich im Dunkeln.”

Milian Adlerkralle trat an den Tisch und stelle einen kleinen Kessel dampfenden, deftigen Eintopfs in die Mitte. Er verteilte drei Schüsseln und Löffel an die Gäste. Eine Magd brachte Brot sowie einen kleinen Krug Branntwein und drei Becherchen, die sie ebenfalls auf den Tisch stellte. “Wenn die Herrschaften sonst noch etwas benötigen, gebt bitte Bescheid!” Dann wies Milian die Magd an, den Weinkrug noch einmal zu füllen. Nachdem der Magus sich bedankt hatte, verließ der Wirt den Besprechungsraum wieder.

Gudekar nahm die Kelle aus dem Kessel und tat jedem etwas von der kräftigen Gemüsesuppe, in der einige Stücke fettigen Specks schwammen, auf die Teller. Dann nahm er einen Löffel voll und schnupperte daran. Vorsichtig kostete er, bedacht darauf, sich an der heißen Brühe nicht die Zunge zu verbrennen. “Köstlich! Wirklich ein wunderbarer Eintopf. Fast so gut wie…” Er hielt inne, musste er doch an Herzogenfurt zurückdenken. Doch dann schüttelte er den Kopf. Ein absurder Gedanke, fast musste er über sich selbst lachen. Genüsslich schluckte er den nächsten Löffel voll herunter. “Gut, lasst mich versuchen, Antworten auf eure Fragen zu finden. Aber esst ruhig dabei”, sprach Gudekar, während er selbst den Eintopf weiter löffelte und zwischendurch von einer Scheibe Brot abbiss. Dass man mit vollem Mund nicht reden sollte, schien er vergessen zu haben.

Der Eintopf roch sehr gut. Rionn freute sich richtig, jetzt so etwas Gutes zu essen zu erhalten. Er war Milian sehr dankbar. Denn bei all diesen schweren Themen hier, die den Geweihten durchaus sehr aufwühlten, brauchte er etwas für sein Gemüt. Und das war der Eintopf sicherlich. Fast meditierend nahm er den ersten Löffel zu sich und schien erst nicht den Worten des Anconiters zu folgen, als dieser ihn ansprach.

“Lasst mich anfangen. Rionn, du sinniertest über die Blutmagie. Ich kenne mich zu wenig mit diesem”, das Wort ‘interessanten’ sprach Gudekar nicht aus, “Thema aus. Allerdings frage ich mich selbst, woher Pruch all diese Fähigkeiten hatte. Er war nur ein Krieger, kein Magier. Wie ist er an die Macht gekommen, durch den Limbus zu reisen und Dämonen zu beschwören. Ich kann soetwas nicht. Wie ist er überhaupt zu einem Gefolgsmann Lolgramoths geworden? Ich vermute, es war während seiner Zeit in Mendena. Aber wie auch immer, ich weiß es nicht.” Der Magier schob sich noch ein paar Löffel Suppe in den Mund.

“Ich weiß auch nicht, wessen Blut bei der Zerstörung verwendet wurde. Das war aus den Bildern, den Visionen, die uns der Muschelfürst bescherte, nicht ersichtlich. Wir haben damals den Akt der Zerstörung, des Diebstahls scheinbar aus den Augen eines der Anwesenden gesehen, ich weiß aber nicht, durch welche Augen. Diese Person wurde jedoch verletzt. Es könnte das Blut dieser Person gewesen sein. Es könnte dann aber auch reiner Zufall gewesen sein, dass das Blut am Dolch geklebt hat. Oder die Verletzung wurde genau deshalb absichtlich herbeigeführt. Ich weiß es nicht. Hier müsste man vielleicht einen der Beteiligten aufsuchen, die oder der damals dabei gewesen ist.” Gudekar flüsterte die nächsten Worte: “Ich bin mir nicht sicher, die Visionen von damals scheinen mir zu verschwommen, aber ich bin mir sicher, Grimberta war persönlich dabei. Vielleicht war es sogar ihr Blut, das am Dolch klebte.” Nun sprach er in normalem Tonfall weiter. “Diese Frau jedenfalls muss es auch gewesen sein, die zwei der Kristalle, den der Menschen und den der Angroschim, nach der Zerstörung vom Boden einsammelte, bevor der Frevler sich dieser bemächtigen und verschwinden konnte.“ Der Magier schaute entschuldigend zu Rionn und Doratrava. Man konnte förmlich sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Wie er versuchte, die vielen Visionen, Aussagen und Erzählungen, die sie damals, vor neun Monden, gesammelt hatten, wieder in sein Gedächtnis zu bringen und zusammenzupuzzeln. Womöglich hatte er sich in den letzten Monden zu sehr mit seinen persönlichen Angelegenheiten beschäftigt, hatte sich zu sehr mit etwas, jemandem anderen beschäftigt, als dass sein Geist in der Lage gewesen wäre, diese vielen Informationen immer und immer wieder zu filtern, zu sortieren, zusammenzufügen. War er zu sehr in eine andere Realität geflohen, in ein anderes, glückliches Leben, um den Schrecknissen, die er erlebt hatte und die ihnen allen noch bevorstehen mochten, auszuweichen? Hatte er seine Mission, seine Aufgabe vernachlässigt? Er war blind gewesen! Dies musste sich ändern. Er würde sich wieder mehr auf seine Aufgabe konzentrieren. Nach der anstehenden Reise. Danach. Ganz bestimmt!

So langsam bekam Doratrava Kopfschmerzen, wenn sie versuchte, die ganzen Informationen zu ordnen und sich gleichzeitig die Suppe schmecken zu lassen. Sie brauchte ein paar Augenblicke, nachdem Gudekar in seinen Ausführungen pausierte, um sich an ihre Fragen zu erinnern. “Also … müssen wir vielleicht Grimberta selbst nochmal fragen? Ob sie uns nochmal eine Audienz gewährt? Und das mit dem Muschelfürst und Ignilda ist auch noch nicht vom Tisch. Bestimmt könnten wir von denen auch noch was erfahren, wenn wir sie gezielt fragten. Aber dort eine Audienz zu bekommen, ist wohl noch schwieriger als bei der Herzogenmutter.” Dennoch sah Doratrava Gudekar hoffnungsvoll an.

Gudekar antwortete ziemlich beiläufig, den eigenen Fauxpas herunterspielend. „Danach zu fragen, wessen Blut am Dolche klebte, hatten wir zu keiner Zeit für bedeutsam gehalten. Aber wenn ihr denkt, dass ihr das wissen wollt, warum fragen wir dann nicht einfach jemanden, der damals dabei war? Wobei ich mir sicher bin, dass wir uns weder bei Grimberta noch beim Muschelfürsten beliebt machen, wenn wir mit jeder kleinen Frage zu ihnen gerannt kommen. Sie haben uns damals gesagt, was sie zu sagen bereit waren und dann sehr schnell an andere verwiesen. Und Ignilde? Vermutlich müsste auch, um mit ihr zu reden, wieder in das Reich des Flussvolkes reisen, etwas, worauf ich gerne verzichten möchte, insbesondere, da der Muschelfürst uns sagte, unser Volk habe den Kristall zerstört, wir müssen es wieder richten. Aber es soll ja noch weitere Anwesende gegeben haben, damals, bei dem Überfall. Und ich denke, den einen oder anderen davon werden wir bald wiedersehen.“ schnell brach sich Gudekar ein Stück Brot ab und steckte es sich in den Mund.

“Vielleicht sammeln wir erst einmal unsere Fragen”, schlug Rionn vor. “Und wenn wir genügend haben, dann lohnt es sich sicher, die Herzogenmutter oder vielleicht gar den Muschelfürsten aufzusuchen. Wegen der Insel in der Tommel haben wir es ja bereits getan.”

Der Magier runzelte die Stirn. Wenn Grimberta die Antwort auf alle Fragen geben könnte, bräuchte sie uns ja wohl kaum ausschicken, um die Rätsel zu lösen. Tsa-Geweihte scheinen so einfältig zu sein!

“Ihr habt nach der Erschaffung und Restaurierung des Kristalls gefragt. Eines der Rätsel, das wir zu lösen suchen, neben dem Auffinden der verlorenen Stücke, ist natürlich, wie wir wieder zusammenfügen können, was zusammen gehört, sobald wir die Kristalle in unseren Händen haben. Tatsächlich zeigte uns der Muschelfürst einige Bilder aus seinen Erinnerungen an die damalige Zeit, die Zeit als die ersten menschlichen Siedler an den großen Fluss kamen und die friedliche Koexistenz von Elfen, Zwergen und Flussmenschen störten. Zunächst schienen die Menschen mit den alten Völkern friedlich zusammenleben zu wollen, doch breiteten sie sich bald wie die Zorganpocken aus. Es kam wohl immer öfter zu Auseinandersetzungen. Und vermutlich wären die Menschen bald von hier vertreiben worden, doch dann tauchte ein weit schlimmerer Feind auf, und die vier Völker die am und im großen Fluss lebten, verbündeten sich. Dieser Bund wurde durch den Kristall besiegelt, in den ein jedes Volk seine Macht einbrachte. Die Elfen erschufen einen Schutz für den Bund, dieser scheint durch das verschwinden der Elfen aus den Nordmarken schwach geworden zu sein. Die Zwerge schufen den Kristall, das Flussvolk sorgte für die Beständigkeit, von den Geweihten der Menschen wurden Gänsefedern, Sonnenlicht und Rosenblätter beigesteuert, als Zeichen der göttlichen Mächte von Travia, Praios und Rahja. Am Ende wurde das Herz der Nordmarken in einer versiegelten Kammer aufbewahrt. Diese Siegel wurden regelmäßig erneuert, doch seit dem die Elfen fort sind, wurden die Siegel schwächer. Für jeweils 96 Jahre wurde das Herz von einem der vier Völker bewacht. Die letzte Wächterin war Ignilde, davor waren es Wächter der Menschen. Das ist das, was wir von den Flussmenschen über die Erschaffung erfahren konnten. Doch die Details des Rituals fehlen. Dies ist es, was uns die Steintafel offenbaren müssen. “

“Aha.” Doratrava hatte erneut den Eindruck, Gudekar würde manchen ihrer Fragen ausweichen, was sie noch immer nicht verstand. Wenn er Geheimnisse hatte, hätte er sie doch gar nicht einladen brauchen. Aber für den Moment beschloss sie, darüber hinwegzusehen und auch nicht auf einer Audienz bei Grimberta oder dem Muschelfürsten herumzureiten. Vielleicht würde sich das irgendwann ja von selbst ergeben. Erstmal versuchte sie es mit einer in ihren Augen harmlosen Frage: “Nur interessehalber: welcher Feind war es denn damals, der zur Erschaffung des Herzens führte?”

„Dämonenpaktierer, natürlich!“ war die knappe Antwort des Magiers. Als er den unzufriedenen Blick der Gauklerin bemerkte, ergänzte er: „Zumindest würde ich die Bilder des Muschelfürsten, die vor unseren Augen erschienen, deuten. Weißt du, er hat weniger geredet, sondern eher mit Bildern seiner Erinnerungen kommuniziert. Da bleibt viel zu deuten. Ich kann deine Unzufriedenheit verstehen. Es hat auch lange gedauert, bis ich die alles verstanden hatte.“

“Denkbar wäre”, spekulierte Rionn, “dass der Feind von damals auch der Feind von heute ist.” Doratrava nickte, dieser Gedanke war ihr auch gekommen. “Daher könnte das besondere Interesse am Herz der Nordmarken rühren.” Der Geweihte hielt den Löffel mit Eintopf vor sein Gesicht, aß aber nicht, sondern sprach weiter. “Denn die guten Mächte von damals haben die Zeiten überdauert. So vielleicht auch die üblen.” Ein wenig drang eine dualistische Vorstellung aus der Vielzahl der Strömungen der Tsa-Kirche durch seine Worte. “Wenn die Schwachstelle des damaligen Paktes der Rückzug der Elfen ist, könnte dort vielleicht eine Notwendigkeit stecken, um wieder Stabilität zu schaffen.” Dann blickte er Gudekar und Doratrava an, merkte dabei, dass er nur noch mehr Unruhe stiftete mit seinen Spekulationen, und nahm hastig den Löffel zu sich, um die Situation zu überspielen.

„Was die Elfen anbelangt, da stimme ich dir zu“, Gudekar nickte dem Geweihten zu. „Aber was den alten Feind anbelangt, da können wir nur spekulieren. Du könntest recht haben, es könnten aber auch Vorboten der ersten Dämonenschlacht sein, auch wenn das irgendwie zeitlich nicht passt, wenn mich meine rudimentären Geschichtskenntnisse nicht täuschen. Auch ich kann da nur spekulieren.“

“Am besten lassen wir das Spekulieren für den Moment, solange es niemanden gibt, der unsere Spekulationen bestätigen oder verwerfen kann”, ließ sich Doratrava zwischen zwei Löffeln Suppe wieder vernehmen. “Vielleicht kommen wir nun doch zu den Einzelheiten der Tafelsuche, was meint ihr?” Sie sah die beiden Männer abwechselnd an.

Rionn nickte Doratrava nur zu, dankbar, dass sie die Situation mit den Spekulationen aufhob, in die er gerade geraten war. Dann lächelte er und aß genussvoll seine Suppe. Verschiedentlich blickte er erwartungsvoll auf, um zu sehen, was Gudekar über die Suche erzählen würde.

Auch Gudekar nutzte die kurze Pause, die der Themenwechsel ermöglichte, um seine Schale leerzulöffeln und den Rest seiner Brotscheibe mit etwas Wein herunterzuspülen. Dann setzte er an. „Gut, wie ich bereits sagte, den Hinweis auf das Bild, das im Eisensteinschen Tsatempel entdeckt wurde, erhielten wir von Bruder  Tsabert, nachdem ich ihn vor den Häschern der Paktierer hier vor den Toren der Stadt gerettet hatte. Ende Travia sind wir von der Hochzeit im Schweinsfoldischen nach Eisenstein geritten, wo ebenfalls ein Traviabund geschlossen wurde. Es ist beruhigend, dass trotz der Umtriebe ihres Widersachers noch immer so viele Paare den Segen der guten Mutter suchen.“ In seiner Stimme lag ein Unterton, der schwer als Ironie oder Scham zu deuten war. „Jedenfalls direkt im Anschluss an diese Zeremonie wurde es uns gestattet, den Tempel, der mitten im Wald verborgen und von koboldischer Magie geschützt liegt, zu besuchen. Nachdem sich Luch davon überzeugt hatte, dass wir keine unlauteren Absichten hatten, durften wir das Bild betrachten. Bei einer Berührung des Bildes wird einem, Dank der Magie des Kobolds ein Teil seiner Erinnerung an die Erschaffung des Herzen der Nordmarken gezeigt, zumindest solange die Macht der Magie, die in dem Stein steckt, den eigenen Geist nicht überwältigt.“

Die Erfahrung mit den Visionen, welche die Steine vermittelten, hatte Doratrava ja selbst gemacht, mit allen dreien, die bisher gefunden worden waren. Und den verborgenen Tsa-Tempel hatte sie schon vor der Geschichte mit dem dritten Stein gekannt, dank Ivrea. Kurz blitzten intime Erinnerungen an die Begegnung mit der rothaarigen Kriegerin in ihren Gedanken auf, doch verschloss sie diese schnell wieder, sonst würde sie sich nicht mehr auf das Gespräch konzentrieren können. “Was passiert denn, wenn der eigene Geist überwältigt wird?”, fragte sie spontan. “Ist das jemandem passiert?”

„Ja, tatsächlich hat die Vision den Herrn von Mersingen damals überwältigt, und er fiel in eine Ohnmacht. Allerdings konnte er sich nach seinem Erwachen noch an die gesehenen Bilder erinnern.“ Der Anconiter rutschte während der Antwort unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

“Und?”, fragte Doratrava weiter, die Nervosität des Anconiters wohl bemerkend.

„Und was?“ kam die Gegenfrage. „Der Mersinger ist später wieder erwacht.“

Doratrava zuckte unschuldig die Schultern. “Mir war so, als wolltest du noch etwas hinzufügen. Aber gut, dann weiter. Wie war das dann mit der zweiten Tafel?”

Gudekar entspannte sich. Er war dankbar, dass Doratrava nicht weiter nachbohrte. So blieb es ihm erspart zu erklären, dass er selbst die Tafeln nicht anzufassen wagte, da diese bei seiner ersten Untersuchung bereits eine solch starke magische Aura offenbarte und er befürchtete, von dieser wieder überwältigt zu werden, so wie es ihm im Reich des Muschelfürsten erging, als er den winzigen Splitter des Herzens der Nordmarken berührte, der von dem Kristall des Flussvolks gerettet werden konnte. Doch nun wechselte das Thema zum nächsten , nein übernächsten Kapitel ihrer Nachforschungen, einem weiteren Kapitel allerdings, das in Gudekar nicht die besten Erinnerungen hervorrief.

„Nach der Untersuchung der ersten Tafel führte uns Luch nach Gratenfels an einen unbekannten Ort, wo die vier Tafeln ursprünglich aufbewahrt wurden, bis dieser Ort von den Orks zerstört wurde. Doch diese Spur war eine Sackgasse. Wir mussten dann die Suche zunächst unterbrechen. Zum einen hatten wir alle weitere Verpflichtungen, so dass die meisten der Ermittler direkt nach Hause zu kehren mussten, zum anderen nahte der Winter, der weitere Nachforschungen erschwerte. Allerdings trafen wir uns zum Lichterfest Anfang Firun in der Baronie Liepenstein, doch dies ist eine andere Geschichte und hat mit den Tafeln des Kobolds nichts zu tun. Die nächste Fährte zu den verbleibenden Tafeln ergab sich erst im Frühjahr, als uns die Altherzogin zu dem Empfang einlud, auf dem Rionn und seine Gefährten geehrt werden sollten für die Ergreifung eines anderen Paktierers. Darüber kann Rionn wohl besser berichten, falls dich das ebenfalls interessiert. Jedenfalls sind wir nach dem Empfang erneut zum Tsatempel gereist, weil einige der Ermittler der besagten anderen Runde ebenfalls Interesse an der Tafel zeigten. Dort gab uns Luch nun den entscheidenden Hinweis, wo die Zweite Tafel zu finden war, die wir schließlich retten und mit Luchs Hilfe ebenfalls in den Tempel bringen konnten.“

Der Tsa-Geweihte nickte. “Soweit ist uns die Geschichte bekannt”, kommentierte er. “Wir haben gesehen, wie die zweite Tafel im Tsa-Tempel angelangte. Aber wie kam es dazu? Ich kenne nur bruchstückhaft eine Geschichte über einen ehemaligen Praios-Tempel.” Er schaute Gudekar erwartungsvoll an.

Gudekar nickte verzweifelt. “Ich habe damit gerechnet, dass ihr auch darüber mehr wissen wollt. Eine Tochter des Kobolds führte uns mit Koboldmagie in den Wald, in dem wir schließlich auf die Ruine stießen. Unsere Albenhuser Ermittlergruppe war zu dieser Zeit verstärkt durch ihre Hochgeboren Ciria Herlogan, die dir ja gut bekannt ist, Rionn,  die Bannstrahlerin Praida von Halberg”, diesen Namen sprach Gudekar verächtlich aus, “und dem Geweihten der Angroschim Grimmgasch. Ich hatte die ganze Zeit in der Umgebung der Ruine ein ungutes Gefühl, und das zu Recht, wie sich bald herausstellte. In dem Tempel hauste der Geist eines uralten Praiosdiener aus der Zeit der Priesterkaiser. Leider bemächtigte sich der Geist unserer Gefährten und versuchte alles, Meister Adelchis und mich durch unsere Gefährten töten zu lassen. Da ich der Bannstrahlerin zutraute, dem Wunsch des Geistes nur zu gerne nachzukommen, hielten Adelchis und ich uns zurück und kümmerten uns zusammen mit Grimmgasch um einen Gefährten, der solche Angst vor dem Geist hatte, dass er kopflos in den Wald lief. Ich hielt mich jedoch die ganze Zeit bereit, mein Leben gegen die Bannstrahlerin zu verteidigen, wenn dies nötig geworden wäre, was es, Travia sei Dank, jedoch nicht wurde. Es gelang der Bannstrahlerin schließlich irgendwie, den Geist zu bannen, und mit Hilfe von Luchs Tochter konnte der Stein schließlich in den Tsatempel gebracht werden. Ich war also bei der Bergung nur indirekt beteiligt und kann zu den Details auch nicht mehr sagen. Vielleicht solltet ihr die Bannstrahlerin fragen.”  

“Die Bannstrahlerin ist aber nicht da”, stellte Doratrava fest, doch mit einem Lächeln auf den Lippen, das anzeigte, dass dies nicht ernst gemeint war. Schließlich hatte auch Doratrava so ihre Vorbehalte, was Bannstrahler anging und deren selbstherrliche Art, festzulegen, was nun göttergefällig war und was nicht.

Die Gauklerin wartete auch gar keine Antwort ab, sondern seufzte. “Ja, Kobolde sind schwierig, wie wir ja bei der Suche nach der dritten Tafel auch wieder erfahren durften. Nie können sie eine direkte Antwort geben, immer muss es ein Rätsel oder sowas sein.”

Doratrava machte eine kurze Pause, dann erhob sie erneut die Stimme. “Habt ihr eigentlich auch herausgefunden, warum überhaupt die zweite Tafel in diesem Praiostempel war?”

Rionn schüttelte leicht den Kopf ob der allgemeinen Aussagen Doratravas über Kobolde. Er sagte aber nichts. Kobolde sind nicht schwierig, dachte der Geweihte. Es fällt uns als Menschen nur schwer, ihrer lebendigen, tsa-gefälligen Art zu folgen.

“Hm, die Kobolde hielten sie dort wohl für sicher und gut versteckt”, war die knappe Antwort des Anconiters. “Aber nun kam die Entdeckung der dritten Tafel, was könnt ihr mir darüber berichten? Ich verstehe immer noch nicht, warum man die Tafel nicht zu den beiden anderen in den Tsatempel gebracht hat, wo sie in meinen Augen am sichersten verwahrt sein würde. Und wir müssen die Tafeln am Ende eh zusammenbringen an einem Ort.” Gudekar drehte den Spieß um. Er hoffte, so aus der Spirale herauszukommen, die immer mehr Aspekte seines Unvermögens offenbarte.

“`Ulmus maximus ad tomeo genuu´”, zitierte Rionn. “Die Ulme am Tommelknie wird schon vor Uhrzeiten benannt. Sie ist ein heiliger Ort der Allweisen Göttin Hesinde. Wir haben bei unseren Nachforschungen in Gratenfels den Hinweis auf diese Ulme erhalten. Ein alter Stein wies uns den Weg. Darauf stand in der Sprache der Bosperaner jener Hinweis. Entweder von Gelehrten geschrieben oder gar aus der Zeit, als Bosperano Umgangssprache war? Auf jeden Fall wurde die Tafel vor langer Zeit dorthin verbracht. Diejenigen, welche die Tafeln verstecken, mögen es offenbar, diese an heiligen Stätten zu verbergen. Die dritte Tafel wurde in den heiligen Baum, in die Ulme hinein gelegt. Im Laufe der Jahrhunderte sind beide miteinander verwachsen, untrennbar. Würden wir die Tafel herauslösen wollen, so müssten wir diesen heiligen Ort schänden. Die Ulme würde zerstört. Und samt Ulme von der Insel im Tommelknie das ganze fortzubringen geht auch nicht. Ulme und Insel zusammen scheinen jenen heiligen Ort zu bilden, dass selbst die Fluten des Tommels Respekt zeigen und die Insel nie hinfort gespült haben…” Der Geweihte merkte erst gar nicht, wie sehr er gerade ins Erzählen geraten war. Auch hatte er keine Rücksicht darauf genommen, dass ihn die beide anderen auch verstanden. Doch jetzt wurde ihm das langsam bewusst und er schaute hilfesuchend Doratrava an.

Gudekar hatte die Worte schon verstanden. Er fragte sich jedoch, ob die Ulme tatsächlich schon vor der Tafel dort war, oder ob der Baum nicht jünger war. Naja, er hatte das angebliche Heiligtum nicht gesehen, aber er zweifelte ein wenig, ob es wirklich so ist, wie es dargestellt wurde. Er hätte die Tafel lieber im Tsatempel gewusst. Und früher oder später würden sie einen Weg finden müssen, an die Tafel zu kommen. Ulme hin oder her. Wenn es ein heiliger Baum der Hesinde ist, dann würde er schon keinen Schaden nehmen beim Entfernen der Tafel. Das würde die weise Göttin verhindern. Schließlich musste auch sie sich über die Bedeutung des Wissens, das in dem Stein gespeichert war, im Klaren sein. Und Gudekar war sicher, der Feind hätte keine Skrupel, diesen Ort zu zerstören, wenn er an die Tafel wollte. Alles, was Gudekar über die Bewachung des Steins gehört hatte, klang für ihn wie eine große in der Nacht leuchtende Wegmarke, die förmlich schrie: “Hier, lieber Pruch, hier findest du ein wichtiges Artefakt, das deine Widersacher unbedingt brauchen, um dein Werk zu verhindern! Hol es dir, du musst nur diesen Baum und seine Bewacher niederbrennen!” Im Zweifel wäre Gudekar lieber der Erste gewesen, der dies tut, bevor es der Paktierer tut.

Aber diese Gedanken behielt er für sich. Da Rionn auffordernd zu Doratrava blickte, wartete der Magier ab, was sie zu sagen hatte.

So ganz genau wusste Doratrava nicht, welche Aussagen Rionn von ihr erwartete, oder Gudekar. “Äh, das fasst es ganz gut zusammen”, meinte sie daher zu Rionn, um dann Gudekar anzublicken. “Erst mussten wir zwar wieder Kobold-Rätsel lösen, bis wir die Tafel dann in dem Baum gefunden haben, aber viel mehr war nicht. Was das Herauslösen der Tafel aus dem Baum angeht oder eben das darin Belassen, da beuge ich mich ganz dem Urteil der Geweihten. Rionn und Grimmgasch waren oder vielmehr sind sich sehr einig, was das angeht.” Sie zuckte die Schultern. “Da man am Ende aber wohl alle Steine an einem Ort haben muss, habe ich keine Ahnung, wie wir das machen sollen. Wir haben uns aber überlegt, dass wir vielleicht erst einmal die letzte Tafel finden sollten, bevor wir eine endgültige Entscheidung treffen. Nicht, dass es mit dieser auch eine Komplikation gibt, was deren Transport angeht. Aber immerhin bleibt das Hesinde-Heiligtum solange nicht unbewacht. Tsalinde - also Tsalinde von Kalterbaum; kennst du die?”, hier schaute Doratrava Gudekar fragend an, aber sprach gleich weiter, ohne eine Antwort abzuwarten, “also Tsalinde hat vom Muschelfürsten so eine Perle bekommen, mit der man zu ihm gelangen kann, wenn auch nur einmal. Diese hat sie benutzt, um ihn zu bitten, auf das Heiligtum aufzupassen, und er hat dann Feen geschickt, die das übernommen haben. - Du hast glaube ich auch noch so eine Perle, wie einer der anderen erwähnt hat.” Nun schaute Doratrava den Anconiter intensiv mit ihren meerblauen Augen an.

Mit einem Mal wurde Gudekar schneeweiß, als der Name der Edlen von Kalterbaum erwähnt wurde. “Ja, ich kenne ihre Wohlgeboren, die Edle von Kalterbaum. Wir haben seit den Ereignissen des Flussfests in Albenhus zusammen ermittelt. Wie ging es der Dame, als ihr sie zuletzt saht? Macht ihr Zustand ihr schon sehr zu schaffen?” Bei den Ausführungen Doratravas zur Perle des Muschelfürsen hatte der Magier nicht mehr zugehört, und auch die Frage nach der eigenen Perle hatte er nicht wahrgenommen.

Doratrava kniff die Augen zusammen. “Ist dir schon wieder nicht gut? Vielleicht solltest du mal nach deiner eigenen Gesundheit schauen als nach der von anderen Leuten.”

“Mir? Was? Nein, mit mir ist alles in Ordnung”, wiegelte Gudekar ab.

Rionn, der das heftige Gespräch zwischen Tsalinde und Gudekar beim Empfang auf der Eilenwïd noch gut in Erinnerung hatte, beobachtete den Anconiter genau. Hier schien es noch eine Menge zu erzählen zu geben, was der Magier aber vermutlich nicht preisgeben wollte.

“Wie auch immer, dass Tsalinde schwanger ist, konnte ja jeder sehen, aber außer dass es sie in der Bewegungsfähigkeit einschränkt, steckt sie das gut weg, würde ich sagen.” Nochmal sah die Gauklerin den Magier scharf und fragen an. “Ja, stimmt, hätte ich mir ja denken können, dass du sie kennst, wenn ihr beide Perlen vom Muschelfürst habt oder hattet. Wer sind denn jetzt eigentlich die anderen Ermittler? Ich war zusammen mit Rionn hier, mit dem Zwerg Grimmgasch, mit Tsalinde, mit Corvin und Adelchis. Als wir uns beim Tsa-Tempel getroffen haben, waren da auch ganz kurz noch Rahjan Bader, ein Ritter namens Eoban, eine Frau, die Kiria oder Ciria genannt wurde - habt ihr die nicht vorhin erwähnt? - und Braida, diese Bannstrahlerin, von der habe ich mich aber ferngehalten. Die hatten aber wohl alle anderweitig zu tun und haben uns nicht begleitet.”

“Ciria”, wandte Rionn knapp ein, “Ciria Herlogan.”

“Ja, aber wie ging es der Edlen psychisch?” Das letzte Worte betonte er besonders. Auf die Frage nach weiteren Begleitern ging Gudekar zunächst nicht weiter ein.

Doratrava runzelte die Stirn. “Äh … keine Ahnung? Mir ist jetzt nichts Besonderes aufgefallen, aber ich wusste auch nicht, dass ich auf etwas hätte achten sollen.” Nun war sie es, die Rionn einen hilfesuchenden Blick zuwarf. Der Magier schien auf etwas ganz Bestimmtes aus zu sein, aber sie hatte keine Idee, was das sein könnte.

Rionn merkte Doratravas Blick. Aber er war sich unsicher, ob es hier der richtige Platz war, seine Mutmaßungen über Tsalinde auszusprechen, zumal das auch Gudekar betraf.

Doch bevor der Geweihte antworten konnte, lenkte Gudekar ab. „Was diese Perlen angeht: Oh, Geschenke des Muschelfürsten können durchaus ihre Tücken haben, so wie der Große Fluss selbst. Sieht er zunächst wie ein einladendes Gewässer aus, dass einen auf dem Weg schnell voran bringen kann, so kann man doch schnell in einen Strudel geraten, der einen in die Tiefe zieht. Man sollte vorsichtig sein in der Anwendung der Artefakte, die man von einem solchen Feenwesen erhält.” Der Magier hatte Doratravas vorige Frage also sehr wohl vernommen. Es ließ aber noch immer offen, ob er selbst eine solche Perle besaß. Auch war es nicht deutlich, ob er mit seiner Antwort auf ein weiteres Geschenk anspielen wollte, oder dem Schutz des Heiligtums mit der Steintafeln durch das Flussvolk nicht traute. Oder beides.

Doratrava hob eine Augenbraue, dann setzte sie ein fast schon sardonisch zu nennendes Lächeln auf, das überhaupt nicht zu ihrer sonst so heiteren und lebenslustigen Art passte. “Oh, ich habe schon meinen eigenen Erfahrungen mit Flussfeen gemacht, keine Sorge.” Aber schon wandelte sich ihr Gesichtsausdruck wieder zu einem eher neugierigen Lächeln. “Aber von einem Muschelfürsten habe ich bisher noch nie etwas gehört, daher würde ich den gern mal besuchen. Das Risiko, wenn es denn eines gibt, würde ich eingehen.”

Nun hob Gudekar erneut eine Augenbraue. „Nur, wenn es sich gar nicht vermeiden ließe“, murmelte er. Als er merkte, dass er die Worte ausgesprochen hatte, schlug er die Hand vor den Mund. „Was hattest du nicht noch gefragt? Die Namen der anderen Ermittler? Oder? Hatte ich diese noch nicht genannt? Ich dachte wohl, diese wären bekannt.“

"Tatsächlich hat es bisher niemand für nötig befunden, mir alle Beteiligten zu nennen. Da Rionn selbst noch nicht so lange dabei ist, er auch nicht. Wäre doch geschickt zu wissen, mit wem man über diese Dinge sprechen kann und mit wem lieber nicht.”

Zum ersten Mal kamen bei Gudekar Zweifel auf, welche Informationen er hier alles preisgab. Eigentlich kannte er Doratrava ja kaum. Er hatte sie lediglich kurz auf der Schweinsfolder Hochzeit gesehen, als sie gemeinsam gegen das Dämonengezücht gekämpft hatten. Konnte er ihr überhaupt trauen? Warum wollte Sie die Namen der Ermittler wissen? Forschte sie vielleicht doch für den Paktierer, um eine neue, vollständige Liste der Namen zu erstellen, so wie jene, die in Talwacht gefunden wurde? Andererseits, sie kannte bereits die Namen der wichtigsten Personen. Und Rionn, der Geweihte schien ihr zu vertrauen. Beide hatten zusammen an der Entdeckung der dritten Tafel mitgewirkt. Aber war es nicht genau jene Tafel, die nicht in Sicherheit gebracht werden konnte? Beide traten so vehement dafür ein, die Tafel an jenem unsicheren Ort zurückzulassen. Auch schien sein Gegenüber nichts von dem Unfrieden bemerkt zu haben, den Tsalinde verbreitete. Hatte sie tatsächlich nichts bemerkt? War ein solches Verhalten für sie natürlich, weil es im Umfeld von Paktieren des Lolgramoths eh stets Unfrieden gab? Oder spielte ihr genau dies in die Karten und sie tat Tsalindes Verhalten deshalb ab? Gudekar musste vorsichtiger sein. Am besten nichts weiteres verraten, was er nicht eh schon gesagt hatte, oder was Doratrava bereits selbst wusste. “Sicherlich, das wäre geschickt”, ging er auf ihre Bitte ein. “Ich denke aber, du kennst bereits die Namen der Ermittler, die mit mir arbeiten. Ursprünglich wurden die Ermittlungen von ihrer Hochgeboren Witta von Darrenforst, Vögtin unserer Gräfin, geleitet. Später musste sie wegen ihrer Verpflichtungen am Hof nach Albenhus zurückkehren und ließ sich des Öfteren von ihrem Bruder Corwyn vertreten. Die Edlen Tsalinde von Kalterbaum und Eoban von Albenholz gehörten ebenso unserer Gruppe an. Später stieß noch mein Schwippschwager Reto von Darrenbruck dazu, bis er sich aufgrund der Folgen seiner Entführung und Misshandlung zurückzog. Auch Radulf von Grundlsee würde ich zum Kern meines Bundes zählen, ebenso Meister Adelchis, der jedoch erst später in Elenvina zu uns stieß. Ansonsten gab und gibt es wechselnde Begleiter, die unseren Weg nur ein Stück weit begleiteten. Einige habt ihr bereits genannt. Andere waren der Herr Lares von Mersingen und Nivard von Tannenfels. Doch kennen diese auch nur Teile der Ermittlungen.” Gudekar biss sich auf die Lippe. Mit Nivard hatte er doch einen weiteren Namen genannt, der wohl noch nicht gefallen war an diesem Abend. Bis auf die Vögtin Witta, Radulf von Grundelsee und Meister Adelchis waren alle Namen, die Gudekar genannt hatte, Doratrava auch von der Gästeliste der Schweinsfolder Hochzeit bekannt, auch wenn sie nicht unbedingt mit jedem davon Kontakt hatte.

“Nun, einerseits ist es schön, dass so viele tapfere Recken sich kümmern, den Frevler Pruch zu überwinden”, kommentierte der Geweihte die Auflistung, “doch macht es diese Tatsache uns auch nicht leicht, auf dem vollständigen Wissensstand zu sein. Aber dieses Gespräch trägt ja schon dazu bei.” Rionn hatte inzwischen ebenfalls seinen Teller leer gegessen und in die Mitte des Tisches geschoben. “Tsalinde jedenfalls hat bewirkt, dass der Muschelfürst versprach, über die Insel im Tommelknie zu wachen.”

Gudekar nickte mit einer ausdruckslosen Miene. “Na, dann brauchen wir uns wohl keine Sorgen machen.” Seine Stimme klang kalt.

Wieder runzelte Doratrava die Stirn. Der Magier schien immer zögerlicher zu werden, was den Informationsaustausch anging, dabei hatte er sie doch selbst eingeladen. Was von all dem Gesagten bewirkte bei ihm wohl diesen Sinneswandel? Sie konnte ihn aber schlecht danach fragen, fürchtete sie doch, dass dann diese Informationsquelle ganz versiegen würde. Immerhin hatte sie nun schon ein deutlich klareres Bild der Geschehnisse als zu Beginn des überraschenden Auftrags der Herzogenmutter, der zum Auffinden der dritten Tafel geführt hatte. Vielleicht sollte sie es einfach dabei belassen.

“Nun gut”, setzte die Gauklerin nochmals an, “ich glaube, ich muss diese ganzen Informationen jetzt erst einmal verdauen. Vielleicht fallen mir dann noch ein paar Fragen mehr ein. Für den Moment gibt es ja keinen weiteren Auftrag, und allein gehe ich der Sache bestimmt nicht weiter nach. Wie ist es denn mit euch? Forscht ihr weiter? Die anderen? Hat jemand von euch einen offiziellen Auftrag?”

Nun schüttelte Gudekar den Kopf. Er entspannte sich sichtlich. “Nein, zur Zeit haben auch wir keine Spur, der wir folgen können. Wir sind nicht sicher, was Pruch zur Zeit im Schilde führt, auch wenn es Gerüchte gab, die zu erhöhter Wachsamkeit mahnen. Doch hoffe ich, alle notwendigen Schritte in die Wege geleitet zu haben. Einen Hinweis auf den Verbleib der vierten, der letzten Tafel, haben wir leider auch nicht. Mir ist auch nicht bekannt, dass einer meiner Ermittler einen direkten Auftrag von der Altherzögin oder der Vögtin erhalten hat. Ebensowenig ist über den Verbleib des Dracheneis bekannt, dass Pruch seinem Vater gestohlen hat, als er ihn umgebracht hat. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass er das Ei mitgenommen hat, falls er tatsächlich nach Lützeltal gereist ist. Tsalinde”, Gudekar machte eine Pause, bevor er sich korrigierte, “die Dame von Kalterbaum hat sich mit ihrem Ehemann”, eine eigenartige Betonung lag auf dem Wort, “auf ihr Gut zurückgezogen, um das Kind zur Welt zu bringen. Eoban ist aus familiären Gründen in Klingbach gebunden. Ich selbst bin ebenfalls in privaten Angelegenheiten unterwegs, die es mir leider auch nicht ermöglichten, bei der Suche nach der dritten Tafel dabei gewesen zu sein. Vielleicht hätte ich sonst einen Teil zur Bergung der Tafel beitragen können. Aber meine Frau hat unser Kind zur Welt gebracht und ich musste nach ihr sehen. Hierher bin ich als Begleitung meiner Schwester Gwenn gereist, die sich erst vor einem Mond verlobt hat. Sie will nun, nach der Krönungsfeier ihrer Dienstherrin in die Heimat ihres zukünftigen Gemahls reisen, um dort Notwendiges in die Wege zu leiten. Ich selbst muss mich hier leider von ihr trennen, denn ich selbst muss in einer anderen Angelegenheit weiterreisen. Erst zum Flussfest im Efferd werde ich wieder in Albenhus weilen können. Es bleibt doch dabei, dass ihr da zu Besuch kommt? Das Fest dürft ihr euch nicht entgehen lassen.” Er blickte Doratrava und Rionn erwartungsvoll an.

“Naja”, antwortete Rionn mit einem Lächeln, “ich bin jedenfalls schon sehr gespannt auf dieses Fest an dem die Bewohner des Großen Flusses aus den Fluten steigen. Das ist bestimmt ein beeindruckendes Ereignis.” Dann schmunzelte er.Selbstverständlich wusste der Geweihte, dass das vermutlich ein einmaliges Ereignis gewesen war. “Wer weiß, was wir in der kommenden Zeit noch alles herausfinden können.” Er wog den Kopf leicht hin und her. “Wir müssten auf Dauer schauen, wie wir die Informationen, die wir gewinnen, austauschen und uns auf den aktuellen Stand bringen können. Aber das ist bei einer so großen und diversen Ermittlergruppe wohl eher schwierig.”

“Ja, klar komme ich zu dem Flussfest”, erklärte Doratrava heiter. “Das heißt, wenn nicht eine andere Katastrophe dazwischen kommt - oder ich die Zeit vergesse.” Sie zwinkerte selbstironisch. “Das mit dem Austausch von Informationen wird allerdings in meinem Fall tatsächlich schwierig. Ich bin ja ständig unterwegs. Hm … wir könnten natürlich einen festen Ort ausmachen oder vielmehr eine vertrauenswürdige Person benennen, der wir Botschaften schicken können und die dann diese Botschaften zusammengefasst an alle anderen weiterleitet. Wobei … Boten sind teuer, ich selbst werde da wohl nicht so oft eine Nachricht verschicken können.”

„Es gibt niemanden, dem ich mehr vertraue als Eoban, doch der ist selbst ständig unterwegs. Doch es gibt eine Person, der ich noch mehr vertraue, aber sie ist nur bedingt eingeweiht: Meine Schwester Gwenn. Sie ist Haushofmeisterin am Gräfinnenhof in Albenhus, zumindest noch bis zu ihrer Hochzeit. Und selbst, wenn wir eine Vertrauenperson benennen, wie erreicht diese euch, wenn ihr stets unterwegs seid? Ich selbst bin gut über das Anconiterkloster erreichbar, oder eben über Gwenn. Auch wenn ich nicht vor Ort bin, meine Korrespondenz wird dort gesammelt und aufbewahrt. Aber wir sehen uns ja dann bald in Albenhus. Ich hoffe nicht, dass bis dahin eine Katastrophe passiert, während ich außer Landes bin und nicht helfen kann.“ Dann goss Gudekar etwas Schnaps in die drei Becherchen ein und stellte jedem eines auf den Platz. „Gibt es sonst noch irgendwelche Ereignisse, die für Euch im Dunkeln liegen, und zu deren Aufklärung ich beitragen kann?“

“Also ich bin ab und zu bei Rahjan Bader in Erdeschenbach, vermutlich öfters als anderswo, allerdings heißt das, auch nicht öfters als alle drei, vier, fünf Monate oder so”, bezog sich Dortrava nochmals auf ihre Erreichbarkeit. “Dahin könntet ihr Nachrichten an mich schicken. - Was weitere Geschehnisse angeht: du erwähntest ein Drachenei. Was hat es denn damit auf sich? Das hört sich ja sehr märchenhaft an.”

Gudekar lachte kurz auf. Doratrava schien eine romantische vorstellung von dem Fund eines Dracheneis zu haben, vielleicht von heldenhaften Recken, die das Ei aus einem Hort entwenden, vor dem Muttertier entfliehen und schließlich die magischen Kräfte des Eis  nutzen, um stark oder reich oder ruhmreich zu werden. Doch die Wahrheit, die Realität sah ganz anders aus. Und über die Folgen, die der Verlust des Eis für die Nordmarken bedeuten konnte, wollte er gar nicht nachdenken. “Es war Anfang FIRun, zum Lichterfest”, begann Gudekar seine neuerliche Erzählung, ”als wir in die Baronie Liepenstein gereist sind. Eoban hatte uns eingeladen. Das Gut seiner Gemahlin liegt dort, und das Nachbarlehen Trackental war das des Vaters von Pruch, Marbulf von Limmburg. Wir wollten die Feierlichkeiten nutzen, um den Edlen zu besuchen und Hinweisen auf den Aufenthaltsort seines Sohnes nachzugehen. Der Edle war in einem jämmerlichen Zustand, doch berichtete er über eine alte Familienlegende und ein Drachenei, das seit Generationen in Familienbesitz war. Der Edle schien von den alten Sagen wenig zu halten, doch sein Bruder und Vorgänger war wohl von der Bedeutung überzeugt gewesen. Und auch sein Sohn, der Pruch, schien ein starkes Interesse an dem Ei gezeigt zu haben. Das Gespräch kam auch auf die alte verlassene und verfallene Burgruine Limmburg. Wir vermuteten, dass sich Pruch dort ein geheimes Versteck eingerichtet hat. Doch unsere Untersuchung der Ruine zeigte, dass dieser Hinweis eine Sackgasse gewesen zu sein schien.” Dennoch leuchtete in den Augen des Magiers ein mysteriöses Funkeln, während er von der Ruine sprach. “Also kehrten wir um nach Weilheim, um dort den Feierlichkeiten beizuwohnen. Während einer Predigt des örtlichen Praioten wurde dann jedoch der Edle von seinem Sohn ermordet. Er konnte jedoch fliehen, bevor wir ihn fassen konnten.” Gudekar schüttelte den Kopf bei dem Gedanken, wie dicht sie dem Paktierer wieder einmal waren, und dass er erneut entwischte. “Scheinbar hatten sich Vater und Sohn unter anderem um das Ei gestritten, dass Pruch letztlich mitnehmen konnte.”

“Das ist ja schrecklich. Selbst vor seinem eigenen Blute macht er nicht halt. Schlimm.” Rionn schüttelte den Kopf. “Was denkst du, Gudekar, wird er mit dem Ei anrichten?”

Gudekar schaute den Geweihten verwundert an. Hatte er den Inhalt der Unterredung auf der Eilenwïd bereits vergessen? Dort war sowohl über die Ermordung des Edlen berichtet  wie sehr wohl auch der Zweck des gestohlenen Eis diskutiert worden. Er runzelte die Stirn und hob eine Augenbraue. „Im besten Fall wird er versuchen, das Ei auszubrüten und die Brut unter seinen Willen zu zwingen, um die Nordmarken, vielleicht gar die Eilenwïd anzugreifen. Im schlimmsten Fall, … das mag ich mir nicht ausmalen.“

“Ihr wollt jetzt echt sagen, dass die Familie von dem Pruch Hunderte von Jahren auf einem Drachenei gesessen hat, einfach so?”, hakte Doratrava nochmals ein. “Und die Praiosgeweihten haben nichts davon gewusst? Da gibt es doch welche, das hast du gerade gesagt. Und so, wie ich die kenne, hätten sie doch sicher was dagegen gehabt.”

Der Magier zuckte nur mit den Schultern. “Die Praioten sehen halt nur, was sie sehen wollen, was ihrem verbohrten Sicht auf die Welt entgegenkommt. Das Ei war schon zu Zeiten des alten Reiches im Besitz jener Familie. Vielleicht schon zu Zeiten, als die Praioskirche noch keine Probleme mit der Ausübung von Magie hatte.”

“Auf der Eilenwïd haben wir das nicht zu Ende diskutiert”, blieb Rionn hartnäckig. “Könnte Pruch mit dem Ei noch etwas anderes anstellen, als es auszubrüten? Vielleicht noch etwas Schlimmeres? Könnte es eine Zutat zu einem besonderen Zauberwerk sein? Vielleicht ein Akzidenz für eine Beschwörung? Oder kann er es für etwas alchemisches verwenden? `Drachenei´ wird doch auch verschiedentlich ein Karfunkel genannt. Ist es vielleicht vielmehr so etwas und damit vielleicht weit gefährlicher als nur ein schlichtes `Ei´?”

Wieder zuckte der Anconiter mit den Achseln. “Sicherlich. Bestimmt. Halte ich für wahrscheinlich. Aber hier kommen wir wieder in den Bereich der Mutmaßungen. Mit solchem Dämonenwerk kenne ich mich leider nicht gut genug aus, um hier ein sachverständiges Urteil abgeben zu können. Ich habe während meines Studiums nur gelernt, Magie zum Wohle der Geschöpfe Tsas einzusetzen, nicht wider die göttliche Ordnung.”

Doratrava war dem Austausch der beiden mehr oder weniger verständnislos gefolgt. Sie hatte keine Ahnung, was man mit einem Drachenei anstellen konnte, wenn man es nicht ausbrütete, aber so viel hatte sie dann doch verstanden: der Magier und der Geweihte wussten es auch nicht.

Die Gauklerin nahm einen Schluck Wein und ließ den Rest nachdenklich in ihrem Becher kreiseln. “Ich sehe schon, ich glaube, wir allein kommen hier nicht weiter. Dann können wir nur hoffen, dass sich jemand findet, der diesem Pruch das Handwerk legt - oder jemand uns einen neuen Auftrag erteilt, in Sachen Pruch oder in Sachen vierter Tafel.” Wobei sie sich selbstironisch fragte, seit wann sie von der Gauklerin und Tänzerin zur Auftrags-Problemlöserin geworden war. Unwillkürlich verzog sie das Gesicht zu einem Lächeln, das diesen Gedanken widerspiegelte.

Gudekar stimmte ihr nickend zu. “Wenn ich allein die Antworten auf alle Rätsel hätte, würde ich hier nicht tatenlos herumsitzen und mich an Wein und Eintopf gütlich halten. Ich wäre unterwegs, die notwendigen, fähigsten Gefährten um mich scharen und dem Spuk des Pruchs ein Ende setzen.  Doch zu vieles ist noch im Dunkeln. Vielleicht hat die eine oder der andere meiner Weggefährten noch einen Funken Weisheit, den ich bisher übersehen habe, doch reichen unsere Erkenntnisse noch nicht, um das Ziel zu erreichen. Der Auftrag, den uns der Muschelfürst gegeben hat, den er in unsere Verantwortung gelegt hat, ist für mich klar, auch wenn es aus Feigheit nicht alle meiner Wegbegleiter wahrhaben wollen: Wir sollen nicht nur die Splitter des Herzens der Nordmarken auffinden und wieder vereinen, was zusammen gehört, nein, er hat uns auch deutlich gesagt, dass wir auch des Frevlers selbst habhaft werden müssen.” Der Magier redete sich in Fahrt und begann eine enthusiastische Ansprache zu halten. “Dies wird ein gefährliches Unterfangen. Und ich sage es euch frei heraus: Ich bin davon überzeugt, dass nicht alle von uns diese Aufgabe lebend vollenden werden. Doch sind wir in einem Krieg gegen die Dämonenpaktiererei für die göttliche Ordnung der Welt. Und deshalb müssen wir auch bereit sein, Opfer zu bringen. Wenn das heißt, einige der Gefährten werden mit ihrem Leben bezahlen, dann ist dies schmerzhaft, aber ein Opfer, das ich zu leisten bereit bin, wenn dafür die Ordnung wieder hergestellt wird und die Menschen, Zwerge, Nixen und auch die Elfen am Ende wieder gemeinsam, miteinander in Frieden und Harmonie am großen Fluss leben können. Das ist das Ziel, darauf müssen wir hinarbeiten!” Ohne es zu merken, hatte sich Gudekar von seinem Platz erhoben und sich mit den Knöcheln seiner geballten Fäuste auf den Tisch gestützt. Er schaute Rionn und Doratrava auffordernd an. Dann setzte er sich wieder.

Eine beeindruckende Entschlossenheit legt der Herr hier an den Tag, dachte Doratrava bei sich. Schauen wir mal, wie es im Angesicht der konkreten Gefahr damit aussieht.

“Ich für meinen Teil ziehe es vor, die Ergebnisse meiner Bemühungen mitzuerleben”, konnte sie sich dann aber doch nicht verkneifen, zu erwidern. “Bisher hat das auch ganz gut geklappt”, fügte sie heiter hinzu und lächelte entwaffnend in die Runde, bevor sie sich einen weiteren Schluck Wein gönnte.

Ein mitfühlendes, freundliches Lächeln legte sich auf Gudekars Mund und er nickte erneut. “Hoffen wir, dass dies für viele von uns auch am Ende so bleibt.” Er erhob seinen Becher und prostete Doratrava freundschaftlich zu.

“Wichtig ist nur, dass wir diesen Paktierer und dieses niederhöllische Pack in die Schranken weisen”, ergänzte der Tsa-Geweihte - der bisher der beeindruckenden Rede Gudekars nur gelauscht hatte - mit einem merkwürdigen Anklang an `Kampfbereitschaft´ in seiner Stimme.

Doratrava prostete Gudekar zurück und ging nicht weiter auf die Worte Rionns ein. Was hätte sie auch sagen sollen, was nicht schon gesagt worden war? Aber dann fiel ihr noch etwas ein: “Hm, wenn jemand von uns in der nächsten Zeit über irgendetwas stolpert, das im Zusammenhang mit dieser Geschichte stehen könnte, dann sollten wir wohl die Sache mit dem Verschicken von Nachrichten an alle Beteiligten ins Auge fassen, meint ihr nicht? Auch ohne Auftrag.”

“Vielleicht können wir ja irgendeine versteckte Botschaft vereinbaren, die wir in dieser Gazette … wie heißt das Blatt noch mal? Greifenspiegel?” Rionn überlegte wieder einmal laut und ein wenig zusammenhangslos. “Vielleicht kennt ja jemand einen der Schreiberlinge oder schreibt selbst… Nun zumindest würden das dann alle lesen können, egal wo sie sich in gerade den Nordmarken aufhalten…”

Gudekar war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war, doch fiel ihm kein besserer Vorschlag ein. “Ich kenne allerdings keinen Schreiberling. Und wir müssten alle Beteiligten über das Vorhaben informieren, ebenso wie eine solche geheime Botschaft zu erkennen und zu interpretieren sei.” Er hatte auf der Akademie einst eine Lektion über den Austausch von Geheimbotschaften gehört und erinnerte sich noch vage daran, wie schwer es war, Botschaften so zu verschleiern, dass sie nur vom gewünschten Adressaten entschlüsselt werden konnten. Und dass der Austausch des dafür notwendigen Schlüssels die größte Herausforderung war.

“Hm, ja, Schreiberling … ich kenne da auch niemanden. Das mit dem alle informieren wird wohl tatsächlich schwierig. Sind denn vielleicht alle oder wenigstens die meisten bei dem Flussfest? Dann können wir uns ja dort absprechen, wie wir das machen. Und hoffen, dass bis dahin nichts passiert.” Was die Gauklerin allerdings für unwahrscheinlich hielt, denn der Pruch schien ja leider ganz schön umtriebig zu sein.

“Hoffen wir, dass bis dahin nichts geschieht. Dann sollten die meisten Ermittler aus meiner Gemeinschaft wieder beim Flussfest sein. Ich denke, es geht ihnen wie mir: es interessiert uns, ob die Flussmenschen uns erneut eine Botschaft zukommen lassen wollen. Bis dahin bin allerdings auch ich nicht greifbar, da ich demnächst abreise, auf eine andere… Mission.”

“Gut”, willigte Rionn ein, “dann lasst uns wachsam bleiben. Und beim Flussfest versuchen wir dann wieder unsere Informationen zusammen zu tragen.” Er lächelte und nippte entspannt und einigermaßen zufrieden an seinem Becher. “Wenn etwas sein sollte: ich denke, entweder ihr findet mich im Tsa-Tempel in Eisenstein oder dort weiß man, wo ich zu finden bin.”

“Es freut mich, dass ich eure Fragen beantworten konnte. Und dann sehen wir uns in nicht ganz zwei Monden in Albenhus wieder.” Der Magier hob sein Becherchen mit dem Schnaps und prostete seinen beiden Gästen zu. “Passt bis dahin gut auf euch auf!”

Ein Schluck Schnaps konnte nicht schaden, also trank auch Doratrava ihr Becherchen, nachdem sie zurück geprostet hatte. Dann erhob sie sich. “Habt vielen Dank für die Einladung und die Antworten, das war sehr hilfreich. Man sieht sich.”

“Ich danke Euch beiden ebenfalls. Von Herzen”, schloss Rionn und lächelte Gudekar und Doratrava an. “Mir ist einiges klarer geworden. Habt Dank.”

Nachdem Doratrava und Rionn gegangen waren, blieb Gudekar noch einen Moment alleine am Tisch sitzen und trank in Ruhe seinen Becher Wein aus. Er dachte an die nächsten Stunden und Tage. Er würde noch kurz seine Geliebte aufsuchen, um die letzten Vorbereitungen für die gemeinsame Reise zu besprechen. Für einen Abschiedsbesuch bei Gwenn war es bereits zu spät. Er war sich auch nicht sicher, ob sie nicht bereits mit ihrem Verlobten nach Rosenhain aufgebrochen war. Die Nacht würde er in der Akademie verbringen. Er wollte noch ein paar Studien in der Bibliothek absolvieren. Wer wusste schon, wann sich wieder die Gelegenheit dazu ergab. Morgen früh konnte er sich dann von Morgan, seinem Neffen verabschieden und seine Sachen packen.

Schließlich stand er auf. Beim Hinausgehen stoppte er kurz am Tresen und sprach den Wirt an. „Habt Dank für Eure Bemühungen, Milian. Schreibt den Lohn für Eure Dienste auf die Spesenrechnung. Ihr wisst, wem Ihr dies in Rechnung zu stellen habt. Sie wird es begleichen, das Gespräch war in ihrem Sinne.“ Dann verließ er die Kneipe.


~* Ende *~