Unterwegs auf der Via Ferra
Unterwegs auf der Via Ferra
Herzöglich Bollharschen und der westliche Eisenwald
Gewidmet Seiner Hoheit dem Herzog Jast Gorsam vom Großen Flusse, redigiert unter dem Schutze Praios‘ und Hesindes, von Lucco Compallyeone, Elenvina, 31 Hal
Mein Herzog! Den wack’ren, treuen Gruß der Marken entbiet’ ich Euch, Praios vor! Wie’s Eurem Diener befohlen, so nahm er die lange und beschwerliche Reise auf sich und durchquerte dabei Euer Eigengut, von dem eine kundige Beschreibung zu erhalten Euer dringlicher Wunsch und Befehl war. Wohlan!
Wer das Eisenwaldmassiv bereisen will, nutzt seit jeher die wichtigste Passage durch das Gebirge, die ViaFerra. Von der Bezeichnung „Herzogsstraße“ sollte sich gerade der gebildete Städter jedoch nicht zuviel versprechen, denn vom Standard einer Reichsstraße ist man hier weit entfernt. Nicht dass hier Seiner Hoheit Jast Gorsam mangelnde Sorge für Sein Land unterstellt werden soll. Vielmehr ist es die gebirgige Landschaft selbst, die sich hier zwar einerseits durchaus malerisch, ja eigentümlich wildromantisch an manchen Stellen, aber eben andererseits auch schwer zugänglich, teils nahezu unpassierbar darbietet.
Darum muss hier gleich zu Anfang eine eindringliche Belehrung an den Reisenden erfolgen: Die Fortbewegung auf der ViaFerra ist zwar grundsätzlich auch mit Pferdekutschen und Ochsenkarren möglich. Jedoch ist dann – zumindest auf dem Gebiet der Vogtei Bollharschen – mit längeren erzwungenen Zwischenaufenthalten zu rechnen, wenn heftige Regenfälle, Geröll- oder Schneelawinen wieder einmal ein Stück der Straße mitgenommen haben und sie für solche Gefährte erst wieder gangbar gemacht werden muss. In den Wintermonaten gerät das Überqueren mancher Pässe wegen des großen Schneefalls zu einem Abenteuer. Unter den traditionellen Fortbewegungsmitteln auf dieser Strecke kommen die eigenen zwei Beine am häufigsten vor, gefolgt von Maultier und Pferd. Diese Wegbeschreibung geht von einem Wanderer aus.
Das stolze StadtElenvina, Provinzhauptstadt der Nordmarken und wichtiger Umschlagplatz für die Güter des Herzogtums, bildet heute den westlichen Ausgangspunkt der ViaFerra. Hier bietet sich dem Reisenden eine gute Gelegenheit, auf eine günstige Witterung zu warten und sich für die lange Reise mit Proviant und allem Nötigen einzudecken. Ist dann das Beutelchen geschultert und das Göttergebet gesprochen, macht man sich frohen Mutes rahjawärts auf den Weg. So nah an der Herzogsstadt ist die altehrwürdige ViaFerra noch recht gut in Schuss, und bei guter Witterung, insbesondere in den Monaten Ingerimm bis Travia, lässt es sich trefflich voran kommen.
Am dritten oder vierten Tage, nachdem er von Elenvina aus aufgebrochen ist und die ausgedehnten Waldgebiete des Fuchsgaues mit ihren zahlreichen Hecken und saftigen Weiden durchquert hat, erhebt sich vor dem Auge des Wanderers aus der sanft gewellten Ebene ein schroffer, langgestreckter Gebirgszug, der BergBollhag. Über dunkelgrünen, tannenbestandenen Hängen ragt der scharfe Kamm dieses Eisenwälder Vorgebirges silbergrau und bis in den Ingerimm hinein schneebedeckt in den Himmel, ein vielschichtiges Kalk- und Schiefergestein, das an den Blätterteig der Elenviner Bäcker erinnert. Kaum sind hier einzelne Gipfel voneinander zu unterscheiden, nahezu fugenlos ist dieser natürliche Wall, der sich im Süden als Phecanowald bis ins Horasreich hinzieht und der lange zuvor selbst die wilden Thorwaler an sich abprallen ließ wie Brandung an den Felsklippen – und dem die hiesige Herzögliche Vogtei Bollharschen, wie es heißt, sogar ihren heutigen Namen verdankt:
Vor einem dreiviertel Jahrtausend, als sich das Augenmerk der Kaiser in Gareth vor allen Dingen auf den Osten richtete, konnten die Thorwaler auf dem Großen Fluss bis tief ins Landesinnere vordringen. Djannan ui Bennain gründete Kyndoch und unternahm weite Feldzüge weit ins albernische und nordmärkische Hinterland. Mit seiner Drachenkopf-Otta soll er 709 v.H. östlich von Elenvina seinen bis dahin weitesten Vorstoß unternommen haben.
„Himmelshoch der Bergzug, / harschbedeckt das Bollwerk“, so beschreibt uns die nur bruchstückhaft erhaltene Saga des Skalden Thorwylf Yskirsson, die älteste den Landstrich erwähnende Quelle, den Anblick der Nordmänner, die der Gegend wohl auch den heutigen Namen Boll-Harschen gaben.
Wie die Bollharscher Bauersleute berichten, wurden die Thorwaler schon aufgrund des schieren Anblicks des Ehrfurcht gebietenden Bergkamms zur Umkehr bewegt (und Nordmarken und Kaiserreich vor den Barbaren gerettet). Die zwergischen Stelen der BergfreiheitEisenwald berichten jedoch von der „Schlacht am Negarret“ (der zwergische Name für den BergHarschberg, die größte Erhebung des Bergkamms) im selben Jahr. Dabei soll der Pass von Amradosch als einziger Zugang zum Zwergenreich erfolgreich verteidigt worden sein. Den Angroschim, die von einer gewaltigen, heute verfallenen Verteidigungsanlage aus gegen eine Übermacht axtschwingender Hünen den Grat hielten, kam dabei der aus Elenvina exilierte Herzog der Nordmarken mit den Überresten seines Heeres (das damals natürlich noch weitgehend aus seinen Vasallen bestand) zu Hilfe. Zum Dank für diese Unterstützung ließ der Bergkönig vom Eisenwald eine zwergische Grenzfeste, Bestandteil des damaligen Walls, für menschliche Bedürfnisse umbauen und überreichte sie schließlich dreißig Jahre später dem Nachfolger des Herzogs, der einen Veteranen der Schlacht, den legendären Angrond von Bollharschen, adelte und ihn mit der Burg belehnte. So wurde die Feste BergHarschberg zur Keimzelle der späteren Baronie und heutigen Vogtei Bollharschen.
Das sanft hügelige, von einzelnen Gehöften durchsetzte Ackerland am Westhang des BergBollhags zwischen Burg BergHarschberg und Albquelle war früher einmal dem benachbarten Fuchsgau zugehörig, wurde aber während der Herrschaft der Priesterkaiser dem unter Aldec erschaffenen und „protegierten“ Junkergut Züchtelsen und damit Bollharschen zugesprochen, aus der Grenzfeste BergHarschberg wurde damit eine Wegburg. Seit der Rohalszeit jedoch ist der idyllische Landstrich der Marktstadt StadtAlborath angegliedert, deren noch weit entfernter Anblick am Fuße des BergBollhags dem Reisenden nun kundtut, dass er die Lehnsgrenze überquert hat; denn kein Schlagbaum und kein Zollhaus versperrt ihm den Weg. Offenbar hat es bisher noch keiner der angrenzenden Lehnsherren für nötig erachtet, den genauen Grenzverlauf festzulegen.
Während der Wanderer sich dem am schattigen Hang des BergBollhags kauernden Marktflecken nähert, scheint das laubgrüne Vorgebirge an Größe und Erhabenheit stetig zuzunehmen. Ein letztes Stündchen noch darf er seine Füße auf dem leicht zum Flüsschen Albe hin abfallenden, von Wiesen und Hecken sowie Roggen- und Gerstenfeldern bedeckten Flachland ausruhen. Denn wenn er erst StadtAlborath hinter sich lässt, wird ein beschwerlicher und mühevoller Anstieg ihn erwarten. Darum empfiehlt es sich auch, das Stadttor noch vor Sonnenuntergang zu passieren und im Gasthof Falle die Nacht zu verbringen. Denn wie der Städter leicht vergisst, ist das eigentliche Bollharschen zum Großteil raues Bergland, ungezähmte Wildnis, in der man mit viel Glück einmal einem Hirten oder Köhler, mit weniger Glück aber eben auch einer Horde Wegelagerer oder ein Rudel Wölfe begegnet. StadtAlborath aber ist mit seinen 747 Einwohnern die bei weitem größte Ansiedlung im herzöglichen Lehen Bollharschen und die einzige mit Stadtrecht und –mauern.
Nachdem man zum Morgengrauen StadtAlborath hinter sich lässt, setzt die ViaFerra zu einem langwierigen Anstieg in den Nadelwäldern der schattigen Nordwesthänge des BergBollhag an. Die steil verlaufende, erdbraune Piste erhebt sich im dunklen Tannen- und Fichtenwald schnell über den Niederungen der Albsümpfe, in denen der Fluss sich verliert, bevor er den Tiefentann durchquert. Die im ganzen Eisenwald weit verbreiteten Rabenvögel lassen sich zur Balzzeit auf mannigfaltige Weise durch die Luft fallen und vollführen beeindruckende Kunststücke. Die Bolle dagegen ist ein müde dreinblickender Vogel mit – so schien es mir – leicht dümmlichem Gesicht, das man außerhalb Bollharschens vergeblich sucht; wahrscheinlich ist das nur mangelhaft flugfähige Federtier überall sonst schon ausgestorben.
Nach einigen Kehrtwendungen verläuft der Weg schließlich über mehrere Meilen quer zum Hang. Die ViaFerra ist ab StadtAlborath nicht viel mehr als ein Karrenweg, der von den schwer beladenen Fuhrwerken der Eisenhändlergilde tiefe Furchen aufweist. Häufig, wenn der Beleman vom Westen tiefliegende Gewitterwolken mitbringt und sie sich am BergBollhag abregnen, verwandelt sich die Herzogsstraße hier in einen wahren Schlammstrom, durch den es kein Durchkommen gibt. Immer wieder quert der Weg zwischen Moosen und Farnen das Geröll von Bachläufen, die sich bei Gewitter und zur Schneeschmelze im Frühjahr oft zu reißenden Strömen verwandeln und die Straße abtragen. Dann ist sie für Kutschen und Karren so lange unpassierbar, bis die Büttel sie im Namen des Landvogts wieder in Stand setzen lassen.
Schließlich lässt der Wanderer das Dunkel des Nadelholzes hinter sich und folgt den Windungen der stets ansteigenden Straße zwischen hellen Lärchenhainen und wildblumenreichen Almen. Im Schatten des Negarret, des höchsten Gipfels Bollharschens, der sein weißes Kleid nie ganz ablegt und von den Menschen darum schlicht BergHarschberg genannt wird, erreicht er auf der teils in den überhängenden Basalt – der auf den seit langem erloschenen Feuerberg hinweist – gehauenen Straße schließlich den Pass von Amradosch. An diesem weitläufigen, fast kahlen Bergsattel, auf dem über die wenigen Grasbüschel stets ein schneidender Wind pfeift, trifft ein niedrigerer Gebirgszug auf den BergBollhag. Hier wacht der gestrenge Landvogt Helmbrecht von Bösenau von seiner Burg BergHarschberg aus, teils auf und teils in den Fels gebaut, über den Pass und das umliegende Herzogsland. Wer sich als offenkundiger Händler nähert, muss damit rechnen, dass einige von der Burg herabgeeilte Büttel einen Wegzoll verlangen, denn der Landvogt ist verantwortlich für das Instandhalten der Herzogsstraße. Das Felsennest liegt etwas oberhalb der eigentlichen Straße auf einem natürlichen Vorsprung, angelehnt an die hoch aufragende Felswand des BergHarschbergs; zu den übrigen drei Seiten fällt das Gelände ab. Von hier aus lassen sich Pass und Straße über weite Entfernung bis StadtAlborath im Süden und zum Pfad des Fischers im Norden überblicken; bei gutem Wetter reicht die Sicht im Nordwesten über das endlose Grün des dem Gut Züchtelsen angegliederten Tiefentanns hinaus sogar bis an die nebligen Auen des Großen Flusses. Den in diese Richtung abzweigenden, über den niedrigen Bergkamm verlaufenden Weg lässt man links liegen, er folgt einigen uralten Mauerresten und verliert sich einige Meilen weiter talwärts im Tiefentann. Vor Jahrhunderten schlug hier der Versuch fehl, einen direkten Weg zwischen Burg BergHarschberg und dem Großen Fluss anzulegen.
In unzähligen Serpentinen lässt die ViaFerra den Pass hinter sich, klettert über zahlreiche, unstete Geröllhalden den Abhang hinab, überquert mehrmals einen Bachlauf und folgt ihm schließlich linken Ufers in eine Senke, die sich nach Norden und Westen hin zu einer weiten Ebene bis hin zum Tiefentann öffnet. Hier folgt die Straße dem nun weiß schäumenden Isenzulauf durch einen sonnenhellen, wildreichen Mischwald, in dem flechtenbehangene Birken und hellgrüne Lärchen ihre Zweige bis weit über dem Wasser ausbreiten. Ein brauner Teppich aus abgefallenen Nadeln bedeckt den Weg, der nun wieder breiter wird und schließlich das Flüsschen an einer seichten, Steinfurt geheißenen Stelle am Fuß eines hohen, von einer moosbedeckten Bosparanie gekrönten Felsblocks abermals überquert.
Ein morscher Wegweiser mit der Aufschrift „MarktWaldreth“ kündigt einen Fußpfad an, der von den Einheimischen der Pfad des Fischers genannt wird und weiter dem Wasser folgt, das weiter nördlich bei Brandans Klamm in den Isen und, mit diesem vereinigt, unweit eines weiteren, Isenfurt genannten Übergangs in den Großen Fluss mündet. Dort kann man einem Treidelpfad bis zur herzöglichen Feste Treuenbollstein am Alten Werder folgen; von da sind es dann nur noch einige Meilen durch morastige Auen bis zum nördlichen Waldrand des Tiefentanns. An jener Stelle liegt der Marktflecken MarktWaldreth mit Burg Kerbelberg, von wo aus der Junker Kalman von Züchtelsen sein den ganzen Tiefentann umfassendes Gut verwaltet. Der Isen bildet indes auf seiner ganzen Länge die Nordgrenze der Vogtei Bollharschen und verdankt seinen Namen seinen stark nach Eisen schmeckenden Wassern. Wer von Brandans Klamm aus durch Farn und Moos der weglosen, nasskalten Isenschluchten klettert und ihre vielen südlichen Zuläufer hinaufsteigt, der gelangt schließlich in den Hohentann, ein einsames und wildromantisches Gebiet, das zunächst von dunklen, unberührten Nadelwäldern, in höheren Lagen von Rhododendron und Rauschbeere geprägt wird. Der Volksglaube der Einheimischen berichtet von einem verborgenen Heiligtum der Zwergendruiden, ähnlich dem Steinkreis auf dem HarschFeld, doch anders als der letztgenannte nur mit der Zaubersalbe zu erreichen, die die Geoden für diese Zwecke anzufertigen wissen.
Unser Wanderer aber, der auf der ViaFerra verbleibt, überquert die Steinfurt und lässt sich von der Straße zwischen Fichten und Erlen wieder in luftige Höhen tragen. Die Straße erklimmt eine erste Felsbarriere und überquert die Bergmatten und einzelnen Nadelholzgruppen einer Hochfläche, die nach Norden und Westen an den Rändern steil abfällt, im Südosten aber an den BergBollhag angelehnt ist. Im Spätsommer und Herbst, nach starken Regenfällen, wachsen hier die Pilze in mehrfachen Hexenringen, und der Volksglaube weiß zu berichten, dass dieser Ort den Töchtern Satuarias gehört. Wer hier zu nächtigen gedenkt, den wird man eindringlich davor warnen, beim Reisigsammeln sein Lagerfeuer aus den Augen zu verlieren. Denn dann lenken die Schritte des sich unweigerlich Verirrenden ihn zu einer windschiefen Kate, aus deren Türspalt ein einladender Lichtschein tritt. Doch wehe dem, der die Pforte überschreitet, denn er wird nicht mehr zurückkehren.
Wer jedoch die Nacht übersteht (und das sind immer noch die meisten Reisenden), der macht sich auf, den BergBollhag zu überwinden. Der kammartige Höhenzug zergliedert sich hier in eigenartige, silbergraue Kalkformationen, gezackte Felsnadeln, schroffe Hörner und Pyramiden, Schlote mit lotrechten Wänden. Die Straße wendet sich nach Süden und steigt in einem zerklüfteten, schluchtenreichen Bergeinschnitt steil an. Der brüchige Schiefer blättert unter den häufigen Regengüssen so oft ab, dass die Straße hier besonders schwer zu erkennen ist; kleine Steinhügel dienen als Wegmarkierungen zwischen bizarren, nadeligen Schieferformationen, die an die Pfeifen der berühmten Elenviner Orgel erinnern. Der Wanderer tut recht daran, gemäß altem Brauch jeden dieser Hügel im Vorbeigehen mit einem weiteren Stein zu vervollkommnen.
Erst wenn man unmittelbar vor ihm steht, bemerkt man den HexenSchritt, einen engen Pass zwischen zwei fast senkrechten Wänden, die sich zu beiden Seiten mehrere Dutzend Schritt in die Höhe strecken. Ein schneidender Wind pfeift fortwährend durch den Felsspalt, der kaum breiter ist als die ViaFerra selbst. Nach nur wenigen Schritten kehrt sich das Gefälle um, der Wanderer tritt heraus auf eine stark abschüssige, von unzähligen Findlingen bedeckte Alm, die den Grund eines engen Hochtals bildet. Der lange Abstieg beginnt, der mittäglichen Praiossonne entgegen.
Nach einer Weile begleitet der Weg auf dem immer flacher werdenden Talgrund ein munter plätscherndes Bächlein, an dessen Ufer vielerlei Gebirgsblumen blühen. Einige Wegstunden weiter endet das Tal an einer Aufschüttung, die einen großartigen Ausblick auf die Höhen des Eisenwaldes gewährt, ehe sich das Tal nach unten abrupt und ohne Übergang in einen viele hundert Schritt tiefen Abgrund öffnet!
In hundert Wasserstürzen und Kaskaden stürzt sich das Gewässer die überhängende Felswand hinab, während die Straße in einer endlos erscheinenden Abfolge von halsbrecherischen Freiluftabschnitten, die sich mit kleinen und kleinsten Tunneln abwechseln, in schwindelerregender Höhe die Steilwand des Syrrakath oder Starenfels, des höchsten der umliegenden Berge, durchquert. Wer mutig genug ist, hier in die Tiefe zu blicken, der wird mit einer atemberaubenden Perspektive belohnt: Eingezwängt zwischen Gipfeln und Abhängen glitzert unten dunkelblau der TiefenWeiher in seinem trichterartigen Talkessel, eine Einbruchsdoline, in die sich von drei Seiten Wasserfälle ergießen. Jedes Mal wenn sich die Straße auf ihrem stetigen Abstieg einem von ihnen nähert, wird die Luft kühler, allzeit erfüllt von unzähligen kristallklaren Wassertröpfchen, in denen sich Tsas Regenbogen offenbart.
Ist man dann unten angekommen, stellt man gewöhnlich fest, dass der vom stetigen Dröhnen der Wasserfälle erfüllte Kessel größer ist als erwartet, ja viele Rechtmeilen durchmisst das Land um den See, das feucht und flach und von unzähligen Kanälen durchzogen ist, jedoch keines Menschen Seele aufweist. Denn DorfAltenpfort, das Dorf am Scheideweg, am Ufer des TiefenWeihers, ist seit Jahrhunderten verlassen, und Brombeerranken und Brennnesseln wuchern auf den Pfaden zwischen den Fundamenten aus Fels, den steinernen Mauern, der hie und da noch erhaltenen Häuser. Niemand mag sagen, warum genau dieses Dorf aufgegeben wurde, dessen Bezeichnung, wie es scheint, eine volksetymologische Verballhornung des ursprünglichen, auf den offiziellen Elenviner Karten bis heute verzeichneten Namens ist: Alta Porta, Hohes Tor. Auf dem ton- und kalkreichen Boden der stets feuchten, verlassenen Felder ringsum im Talkessel wachsen heute in großer Menge Schilf und die Rote Pestwurz, eine Pflanze, von der man meist nur das bis zu einem Schritt durchmessende Blatt erblickt. Immer noch erkennbar sind Mäuerchen zwischen den Feldern, aus den Steinen erbaut, welche die DorfAltenpforter in jahrhundertelanger Mühsal aus ihren Äckern entfernten, sind von Eschen und dornigem Buschwerk überwuchert. Ein dichtes Wegenetz führte zwischen diesen Feldern entlang, ist jedoch heute nur mehr in Ansätzen zu erkennen. Von den alten Kanälen, mit denen die DorfAltenpforter einst den gesamten Talkessel zu bewässern wussten, führen dagegen einige bis heute noch Wasser, an manchen Orten stehen sogar die – freilich verfallenen – Überreste eines Aquäduktes.
Beim ehemaligen Dorfplatz von DorfAltenpfort, auf dem immer noch die uralte Richterlinde steht, biegt die ViaFerra ostwärts in ein langgestrecktes Tal ab, das in der Ferne auf einen von zwei grauen, granitenen Bergblöcken eingerahmten Pass hinstrebt, die EisenPforte. Der AldwynsStieg dagegen verläuft vom Dorfplatz nach Westen und erklimmt an der Seite eines großen Wasserfalls eine Talstufe hinauf zum hochliegenden und verlassenen TalDerZehnQuellen, an dessen oberstem Ende AldwynsTurm liegen soll, ein hochaufragendes Bauwerk auf einer Felsnadel am östlichen Abhang des BergHarschbergs. Ein weiterer Pfad führt vom Ruinendorf nach Süden und umkreist den See, wo er sich mehrmals verzweigt: Hier führen Wege zur Twergenwacht, dem westlichsten Zugang zu den weiträumigen Höhlen der BergfreiheitEisenwald, zum entlegenen GutFinstermoor, wo Ritter Ingor von Finstermoor über die hundert Seelen von Dorf_Mückenpfütz wacht; und zu dem noch abgeschiedeneren, rätselhaften HausMorgentau, in dem der Volksmund Kobolde wohnen lässt. Auch ist es wohl möglich, das Almadanische zu erreichen, indem man dem Abfluss des TiefenWeihers, den moosigen Katarakten des BachDschadir, gen Mittag folgt, wohin sich auch der Talkessel öffnet. Während der TiefenBach geheißene Wasserlauf zur Provinzgrenze hin zunächst in immer tieferen Einschnitten im Felsgestein und dann unterderisch verläuft, verliert sich der einfache Pfad in den unübersichtlichen, von dichtem Urwald bedeckten Hügeln über dem nordwestlichen Almada. Keine Zollstation hindert hier den Warentransport, aber der Pfad ist schmal und nur sommers für Karren geeignet und wird dann auch noch von einer wüsten Räuberbande bedroht, die im unübersichtlichen Grenzgebiet zwischen den Nordmarken und Almada haust und sich jeglicher Verfolgung durch die Truppen der beiden Provinzen entzieht.
Während aber die Praiosscheibe allmählich hinter dem silbergrauen Kamm des BergBollhag untergeht, erglüht die EisenPforte unter ihren letzten Strahlen in einem sachten, rötlichen Licht. Ob sie von daher ihren Namen hat oder wegen des erhöhten Vorkommens von Eisenerz im Gestein, ist nicht bekannt. Jedenfalls heißt aber dieser Teil der ViaFerra bei den Einheimischen seit jeher die Eisenstiege – ein verwirrender Name, denn er wird etwa gleich oft auch für die gesamte Straße benutzt. Die Straße, nun wieder breit und staubig, steigt über eine Handvoll Meilen sanft an, rechterhand eines weiteren Zulaufs des TiefenWeihers, den sie bald an Höhe übertrifft. Kleine, bucklige Erlen säumen den steinigen Bach; das vorherrschende Bild bleibt über lange Zeit eine Abfolge von immer wieder neuen Geröllhalden. Das Eisenerz im Gestein ist durch den ständigen Regen rostig geworden, was den Steinfeldern ein unerwartetes rotbraunes Aussehen verleiht. Wie in allen Gebirgstälern, deren Ausrichtung von Westen nach Osten verläuft, unterscheidet sich hier der Pflanzenbewuchs auf der sonnigen Nord- von der schattigen Südseite des Tals deutlich: ein felsiges Grau, durchsetzt von Wacholder, Heidekraut und Rauschbeere, ist hier auf den nördlichen, ein dichtes Grün von Erlen und Eschen auf den südlichen Abhängen zu finden.
Gegen Abend erreicht der Wanderer DorfBotenrast (64 Einwohner), einen winzigen Flecken, der sich um eine Botenstation der Beilunker Reiter entwickelte. Hier war auch der Nordmärkische Botendienst NBD bis zu seiner Schließung von vor einigen Jahren untergebracht. Die acht Häuser des langgestreckten Dorfes sind allesamt unter dem Schatten von knorrigen Walnussbäumen an den äußersten Rand der Felswand gebaut – am Grund der Schlucht verläuft ein schäumender Wildbach. Die Menschen leben hier von dem, was der stark abschüssige und darum schwer bebaubare Boden hergibt, sofern sie nicht das einfache Gasthaus Zur eiligen Depesche mit der angeschlossenen Beilunker-Relaisstation betreiben. Es empfiehlt sich bei einer Übernachtung, keine Bedenken wegen der etwaigen üblichen Mitbewohner zu haben, ansonsten ist das Hauspersonal für die Bescheidenheit und Lage des Gasthauses erstaunlich freundlich und weltoffen.
Der nun folgende Anstieg zur EisenPforte kann einen ganzen Tag in Anspruch nehmen. Eingezwängt zwischen den beiden gravitätischen Granitmajestäten mit ihren weißen Kappen, BergWaldstein und BergHohenwaldstein, verläuft die Straße auf immer kärgerem, pflanzenärmeren Boden. Die Straße verläuft durch ehemalige, durch Pflanzenbewuchs schon stabilisierte Geröllfelder geringer Steilheit, in denen zwischen dem Grün des Strauchwerks und dem Gelb der kleinen UcuriBlueten auch das Rostrot der erzhaltigen Steine hervorschaut.
Hoch oben auf den meist hinter Talstufen versteckten Eisfeldern übt der Firungeweihte Bärenzahn als letzter lebender Kundiger die rituelle Kunst des Gletscherlaufens aus. Der nur mehr für ihn sichtbare Pfad des Geweihten diente in früheren Zeiten einem Großteil der Bollharscher, die Nachbarorte und heilige Stätten des Wintergottes mit dessen Hilfe über die Gletscher zu erreichen.
Schließlich steht man kurz vor der EisenPforte, einem felsigen Pass in luftiger Höhe. Hier lädt inmitten der felsigen Ungastlichkeit ein unbewachter Traviaschrein zu Rast und Übernachtung ein, teils in einer natürlichen Höhle gelegen, teils in den Fels gehauen. Obwohl eine große Menge Holzscheite in der Höhle gelagert sind, ist es Ehrensache, dass dieser Vorrat nur in Notfällen angebrochen wird – die Reisenden bringen ihr Brennmaterial eigenhändig mit.
Es ist ihnen jedoch ausdrücklich erlaubt, für den Gebrauch in diesem Tempel Holz von den Bäumen im Tal zu brechen, auch das gemeine Volk ist hier also nicht auf das Fallholz angewiesen.
Wenn am nächsten Morgen die Praiosscheibe aufgeht und der Wanderer die EisenPforte schlussendlich durchschreitet, erreicht er das HarschFeld, eine karge, von seltsamer Poesie erfüllte Hochebene, deren Name sich weniger von der winterlichen Schneedecke als vielmehr von den heute unsichtbaren Gletschern ableitet, die vor Menschengedenken das gesamte Plateau bedeckten und von denen jetzt nur noch die sanfte, ebene Bodenbeschaffenheit kündet. Zahlreiche Geröllfelder prägen heute das Bild, ebenso wie weite, von Heidekraut und Krüppelkiefer sowie anderem niedrigen Gesträuch bedeckte Flächen. Die schulterhohen Decken einiger oft halbverfallener, von Brennnesseln und Sauerampfer umringter Steinhütten zeugen von einer vergangenen Zeit, als die Bewohner der Twergenwacht hier in großer Anzahl ihre Ziegen hüteten – auf der Oberseite ihrer Höhlen, die sich hier unter der Erde im porösen Kalk viele Meilen entlang ziehen. Doch längst haben die meisten unter den Angroschim das HarschFeld aufgegeben und sich in ihre unterderischen Behausungen zurückgezogen, und viele ihrer Hirtenhütten sind entweder verfallen oder werden von menschlichen Schafhirten genutzt. Nur selten aber erblickt man noch einen jener geheimnisvollen, kurzbeinigen Herdenhüter mit der Flöte in der Tasche und, den Wölfen und Wegelagerern zur Wehr, der Axt auf der Schulter. Nur selten auch erklingt noch der alte Name Shakadok, Grubenwiese, mit dem sie die Hochebene über ihren Höhlen und Stollen einst bedachten.
Auf dem ungastlichen, trockenen Plateau, dessen spärliche Niederschläge und Schmelzwasser meist sofort im porösen Untergrund versickern, weht stets ein kalter Bergwind. Kaum jemand außer einigen menschlichen Schaf- und zwergischen Ziegenhirten harrt hier freiwillig so lange aus, wie es nötig wäre, um die Schönheit der Jahreszeiten zu erkennen, die dem aufmerksamen Wanderer hier den Eindruck vermittelt, sich auf der Leinwand der Götter zu bewegen.
Winters ist das ganze HarschFeld wie von einem zunächst blütenreinen, später schmutzigweißen Laken bedeckt; nur an einzelnen grauen Findlingen und Felsbrocken sticht eine andere Farbe hervor. Die – gleichwohl hohen – Gipfel, die das Plateau umgeben, erscheinen dem Reisenden wegen der Höhe, auf der er sich befindet, wie niedrige Erhebungen; und da bis auf gelegentliche Spuren von Schneehase und Gemse kein Leben zu erkennen ist, mag er sich in seiner Einsamkeit näher am Himmelsgewölbe wähnen als an irgendeinem anderen Ort auf der gesamten ViaFerra.
Frühlings tränkt der schmilzende Schnee die zunächst noch erdbraunen Bergmatten und Almen, auf denen dann Tsa unzählige Blumen wie den seltenen Tulamidenbund knospen lässt. In den langen Schatten der südlichen Grate bleiben jedoch zahlreiche vereinzelte Flecken weiß bedeckt, und so grenzt oftmals Firuns Schneefeld an Rondras Feuerlilie.
Im Sommer schießen Zittergras und Kratzdistel in die Höhe, vielerorts gedeihen Preiselbeeren und das unvermeidliche, oft bis mannshohe Weidenröschen, das eher an ein Unkraut denn an ein Geschenk Tsas denken lässt; die Geröllfelder speichern die Hitze der Sonne und verwahren Kühle und Wasser tief unter ihrer Oberfläche, und kein Baum spendet Schatten. Praiodeus Viburian von Halsing besuchte diesen Ort zur Sommersonnenwende und rühmte ihn, da hier „der Mensch einen körperlichen Eindruck von Praios’ Macht erlangen und in Demut vor seinen Gott treten könne“.
Der Herbst bedeckt das Plateau mit leuchtend roten und gelben Farben, denn viele Bäume wachsen als niedrige Sträucher dicht an Sumus Leib und kleiden sich in den Trachten der Jahreszeit. Windhosen brausen verspielt über das Plateau und wirbeln das Laub in die Luft; schließlich werden Blätter und Boden braun, bis ihn Firun wieder weiß bemalt.
Zu jeder Zeit aber wird das HarschFeld dem empfindsamen Beobachter den Eindruck im Gedächtnis brennen, in wilder Abgeschiedenheit allein auf der Welt zu sein.
Im Laufe der Jahrhunderte haben die Herdentiere rings um die Straße unzählige Pfade in ihre Weidegründe getrampelt, so dass die eigentliche ViaFerra, falls sie sich nicht ohnehin unter dem Kleid des Wintergottes verbirgt, im Geflecht der vielen staubbraunen Adern oft kaum mehr zu erkennen ist. Nur selten begegnet man wieder den Steinhäufchen, die den Weg anzeigen, die übrige Zeit weiß man nicht, ob man hinauf- oder hinabsteigen oder auf gleicher Höhe bleiben soll. Das war übrigens in früheren Zeiten der Grund für einen ständigen Zwist unter den menschlichen und zwergischen Schaf- und Ziegenhirten, die jeweils einen Teil des Plateaus für ihre Tiere beanspruchten und deren Herden sich oft auf der weiten Ebene vermischten. Sogar die spärlichen Wasserläufe, unter ihnen der vom Gut Drachentrutz herabfließende DrachQuell, verlieren sich in unzähligen Mäandern, ehe sie schließlich irgendwo unter der Erde versickern, wo sie die Tropfsteinhöhlen der Zwerge entstehen lassen.
Von den wenigen menschlichen Schafhirten, welche im Sommer die auch von ihnen so genannten Zwergenhäuschen bewohnen (während sich die Angroschim auf zurückgezogenen Almen fernab der Straße aufhalten), kann der interessierte Reisende dann auch die althergebrachten Namen der das HarschFeld einrahmenden Berge erfahren, die wie im gesamten Osten der Vogtei seltsame Namen wie TurgaiMeniu oder SirrahMinalakh tragen. Denn keinen Deut hat sich das Volk um die Bemühungen der Kartographen des Militärs, eine Namensgebung auf Hochgarethi durchzusetzen, geschert – wenig verwunderlich in Anbetracht eben jener Offiziere der Rohalszeit, deren Phantasielosigkeit wir heute in bester Sanin-Tradition ein gutes Dutzend Eisenwälder Gipfel mit dem hochamtlichen Namen „BergWaldstein“ einschließlich aller erdenklicher Variationen verdanken…
In einem großen Rund von hochaufgerichteten Felsblöcken zum östlichen Ende des HarschFelds hin, am höchsten Punkt des Weges, treffen schließlich, so mag es scheinen, zwei Viae Ferrae aufeinander: Auf dem kreisrund angelegten Platz stößt die bisher beschriebene, von den zahllosen Verästelungen der Tierpfade umgebene Strecke auf eine breitere und bessere, mit Bruchsteinen gepflasterte Straße, die fortan von zwei niedrigen Steinwällen gesäumt wird und hinter einer Felsbarriere zum Abstieg ins Tal von Eisenbrück ansetzt. Wie das Kleine Volk zu berichten weiß, war ihm dieser Kreis vor langer Zeit ein heiliger Ort und der westliche Abschluss ihrer Straße, denn in der Altvorderenzeit, als sich die Angroschim die Berge nur mit den Rotpelzen teilen mussten, da ward eine Passstraße von ihnen geschaffen als Überbrückung des Rabensteiner Massivs, das sie wohl nur schwer mit ihren Felstunneln durchqueren konnten. Viel später traten sie diese Straße, zunächst widerwillig, an die Menschen ab, die sie über ihre ursprüngliche Länge hinweg ausbauten, bis der heutige Verlauf entstand. Von hier an, schaut man nach Osten, ist die ViaFerra grundsätzlich auch für Ochsenkarren passierbar.
Von jenem zwergischen Steinkreis führt überdies, leicht übersehbar, ein Pfad nordwärts den DrachQuell entlang in die Berge. Schmal windet er sich inmitten eines Bergkessels an den senkrechten Felswänden einer schattigen Schlucht, bis er schließlich die höchstgelegene und (vielleicht neben Finstermoor) abgeschiedenste Ortschaft Bollharschens erreicht: Am Fuße des ganzjährig schneebedeckten Altenwaldstein, von den Einheimischen Naira Krughshach genannt, umschlossen von einem Rund weiterer weißbehaubter Bergriesen, liegt DorfDrachQuell (150 Einwohner), der Haupt- und neben dem umstrittenen Eisenbrück einzige Ort des Ritterguts Drachentrutz, das Ritter Alrik Dernheim von hier aus verwaltet, nachdem der wahnwitzige Versuch der Bauern des ehemaligen Dorfes Raykal am Hang des Altenwaldsteins, auf ihren Äckern Wein anzubauen, den Flecken vor 120 Jahren in den Ruin trieb. Die geschützte Lage DorfDrachQuells, das vom Windschatten der Berge sowie von den zahlreichen Gletschern und ihren Bachläufen profitiert, ermöglicht den Einwohnern einzig den Anbau von Roggen und Gemüse. Und auch das ist in dieser Höhe schon bemerkenswert.
DorfDrachQuell ist zwar vom Steinkreis aus in einer halben Tagesreise zu erreichen. Der enge Pfad ist jedoch nicht nur unbefahrbar für Karren, das Dorf ist überdies für ein Viertel des Götterlaufes, in den Monaten Boron, Hesinde und Firun nämlich, durch Schneelawinen von der Außenwelt völlig abgeschnitten und muss in dieser Zeit auf sich allein gestellt überleben. Um die stets zu knappen Getreidevorräte nicht übermäßig zu beanspruchen, verlässt für diese Zeit manch einer sein Heim und schnürt sich, wie es auch im Koscherland üblich ist, die Kiepe auf den Rücken, einen holzkastenähnlichen Rucksack, mit dessen mannigfaltigen Inhalt bis an den Yaquir Handel getrieben wird. Auch in den folgenden Monaten geschieht es häufig, dass Schnee- oder Gerölllawinen den einzigen gangbaren Pfad über Tage und Wochen versperren. Gelegentlich prescht ein wortkarger Bote durchs Dorf, der zwischen Ritter und Landvogt verkehrt, und einmal im Jahr kommen die barschen Quästoren des Landvogtes den Zins abführen. Abgesehen davon bekommen die Einwohner kaum einmal einen Fremden zu sehen, das Wissen um das auswärtige Land beschränkt sich auf die Berichte der Kiepenkerle. Dieses Völkchen ist demnach auch weitaus weniger weltoffen, dafür umso misstrauischer als die Bewohner der Siedlungen an der ViaFerra und in der Nähe des Großen Flusses. Es ist wohl bezeichnend, dass hier wie auch im gesamten östlichen Bollharschen der Glaube an den Totengott Boron vorherrschend ist. Der Name Drachentrutz jedenfalls ist in rauen Zeiten entstanden … .
Steigt der müde Wanderer aber von der Felsbarriere am östlichen Rande des HarschFelds in die erlenbestandene Schlucht des Eisenlaufs hinab, wohin die Strahlen der Abendsonne bereits nicht mehr vorzudringen vermögen, so erblickt er das sehr alte Dorf Eisenbrück, von den Rabensteinern Isenbrück und in bosparanischen Zeiten Ferrariae genannt (170 Einwohner, z.Zt. etwa 100 Soldaten unter verschiedenen Farben) und wird schon von ferne der natürlichen Gegebenheiten gewahr, die diesen unscheinbaren Flecken für den Landvogt von Bollharschen wie für den Baron von Rabenstein, dessen Lehen hier am Eisenlauf angrenzt, so interessant macht.
Der Eisenlauf hat sich hier so tief in den blanken Fels eingegraben, dass er eigentlich gar nicht passierbar wäre außer für wendige und mutige Kletterer, welche die fünf bis zehn Schritt tiefe Schlucht hinab- und nach Durchqueren des Bachs auf der anderen Seite wieder hinaufzusteigen wagten. Eine einzige Stelle jedoch ermöglicht auch Reittieren und Karren einen Übergang. Bereits zu ihrer Zeit haben die findigen Angroschim sie erkannt und auch ausgebaut: Dort, wo sich heute der Flecken Eisenbrück befindet, neigen sich die Ränder der Schlucht zehn Schritt über den tosenden Wassern bis auf dreißig Schritt zueinander. Diese Entfernung wussten die Baumeister der Erzzwerge mit einer bis heute erhaltenen Steinbrücke zu überwinden, einem Meisterwerk der oberderischen zwergischen Baukunst, das sich, von zahlreichen Rundbögen getragen, über den Talgrund spannt. Es ist gut vorstellbar, dass sich die altbosparanischen Architekten für den Bau ihrer Viadukte und Aquädukte von Bauwerken wie diesem haben inspirieren lassen.
Mit der Eisernen Brücke nun steht und fällt letztlich der gesamte direkte Lastverkehr zwischen Punin und dem unterem Großen Fluss, ermöglicht die westliche ViaFerra den Handelszügen doch, die gerade für dickbauchige Handelsschiffe riskanten Stromschnellen der Opferschlucht zu vermeiden, wo sich die Wassermassen des Großen Flusses zwischen den Höhen des Eisenwaldes und den Xorloscher Ingrakuppen zwängen. Die Brücke dagegen ist immerhin so breit, dass sich zwei Wagen auf ihr kreuzen können, was freilich selten genug vorkommt.
Das Dorf Eisenbrück selbst besteht aus einigen Häusern zu beiden Seiten der Brücke. Die Einwohner leben von der Landwirtschaft. Die hiesige Ackerkrume sorgt für einen recht hohen Ertrag, von dem allerdings auch zahlreiche Soldaten ernährt werden müssen: Neben vierzig Mannen und Frauen der Landwehr des Vogtes zuzüglich sechs Bütteln aus DorfDrachQuell kampiert auf Bollharscher Seite, da ich diese Zeilen niederschreibe, ein halbes Dutzend alanfanische Mercenarios im Dienste des Landvogts, während sich auf dem Rabensteiner Ufer eine schwer abzuschätzende Anzahl von Rabensteinern, Golgariten und wohl auch Schweinsfoldern aufhält. Es herrschen rauhe Zeiten in Eisenbrück, und das augenblicklich vor allem auf der Bollharscher Seite. Die Landwehr übt unter den barschen Kommandos des Korporals Álvarez militärische Schrittfolgen, die Vorräte und Kornspeicher werden aufgefüllt, Barrikaden auf der ViaFerra errichtet (die freilich für neutrale Reisende immer wieder abgeräumt werden, so absurd das auch klingen mag – aber man befindet sich ja auf einer Herzogsstraße).
Beide Gebiete werden von der jeweils anderen Seite beansprucht, der Zoll auf die Brücke wird dreifach erhoben, da außer den beiden angrenzenden Herrschern auch das Haus Grötz auf die „linke Seite der Brücke“ Anspruch erhoben hat. Über die genaue Bedeutung der Bezeichnung und vor allem ihre praktische Auswirkung besteht noch keine Einigkeit. Weil die ziemlich ratlosen fünf Grötzer Söldlinge – oder sind es bloß einfache Habenichtse, die sich als solche ausgeben? – nun von niemandem wirklich geliebt werden, haben sie ihr Zollhäuschen auf der Mitte der Brücke aufgebaut, von wo aus sie sich mehr oder weniger jedes Mal neu einigen, welcher Teil der Brücke nun der linke sei. Bei meinem Besuch hielten sie es beispielsweise so, dass die linke Seite aus der Sicht Praios’ zu bestimmen sei, was lediglich gegen Mittag zu Auslegungsschwierigkeiten führte. Da sie jedoch als einzige unter den hier stationierten Bewaffneten im Konflikt der Lehnsherren neutral sind und deshalb frei zwischen beiden Seiten verkehren dürfen, werden sie als einzige unmittelbare (inoffizielle) Informationsquelle de facto geduldet. Seitdem die Zollhäuschen auf diesem Wege voneinander erfahren, haben sie sich allerdings in ihren Preisen aneinander hochgeschaukelt, so dass der Übergang für die Eisenbrücker unerschwinglich geworden ist. Hinzu kommt, dass jeder Lehnsherr versucht, das Volk auf seinem Gebiet von seiner eigenen Milde und der Verschlagenheit des Gegners zu überzeugen, und seine Grenzsoldaten deshalb angewiesen hat, die Brücke nur mehr für Durchreisende geöffnet zu halten. Die Regelung fiel den bereits seit langem durch das Tal und die Gewohnheit getrennten Eisen- respektive Isenbrückern nicht übermäßig zur Last. Das ehemalige Dorfherrenhaus im Ostteil, gleichzeitig das festeste Gebäude am Ort, wird nun von den Golgariten Rabensteins als Hauptquartier genutzt. Der ebenfalls im Haus befindliche Schrein des Schwarzen Gottes, in dem man sich am Ruhetag – hier Boronstag genannt – zum Gottesdienst versammelt, wird seit kurzem durch einen Neubau auf der Bollharscher Seite ergänzt, an dem mich freilich die Darstellung des gekrönten Raben auf der Vorderfront stutzig machte.
Doch dies zu ergründen ist nicht meine Aufgabe, und so schließe ich, da ich mich incognito im Gasthof Adler, auf der Ostseite der Brücke und somit bereits wieder auf Rabensteiner Gebiet, auf die wohl verdiente Nachtruhe vorbereite, dieses mein Manuskript ab, um es noch am nächsten Tage der Beilunker Reiterin mitzugeben, die ich drunten im Schankraume antraf und die mir zugesagt hat, es nach Elenvina an den Hof Seiner wohlweisen und überaus gnädigen Hoheit, Jast Gorsam vom Großen Fluss, zu befördern. Es war mir eine Freude, von meiner Reise zu berichten. Schon morgen werde ich mich unauffälligst an meine nächste Aufgabe machen, mein Herzog, und Euch so bald als möglich vom Zustande und von der Moralität sämtlicher hier stationierten Truppen berichten.
Glücklich wähnet euch, ihr schönen Marken, dass eine so strenge und doch gerechte Hand euch regieret!
L.C.
(von Lucas C.)