Raben nach Punin zu begleiten
Raben nach Punin
Zeit: Travia- Boron 1045 BF
Personen:
Ardare von Kaldenberg, Baroness von Kaldenberg Tharga, ihre Wehrheimer Hündin
Lucrann von Rabenstein, Diener des Raben und Baron von Rabenstein
Boromada von Henjasburg, Knappin des Rabensteiners
Diverses Gefolge
Eine Briefspielgeschichte von Kaldenberg und Iseweine.
Inhalt: Im Boronmond 1045 BF macht sich die junge Baroness in Begleitung des Rabensteiners auf eine Reise, die man üblicherweise kein zweites Mal tut. (Dokument hängt an).
Die Eisenstraße, Travia 1045 BF
Hoch im Eisenwald verhieß der Travienmond spätsommerliche Wärme am Tag - und bitteren Frost des Nachts. Die Blätter der Laubbäume um die Via Ferra trugen zum Teil noch ihr farbenprächtiges Herbstgewand, auch wenn die Via Ferra dort, wo sie durch Wälder verlief, unter einer dicken Schicht braunorangen Laubes verborgen lag. Firn überzog die Gipfel der Eisenberge, und mit jeder Nacht Firuns Segen weiter gen Tal.
Das Alveranszelt lag wolkenlos und ruhig, von jenem müden Blau, das ein müder Himmel zeigte, wenn der Höhepunkt des Sommers bereits lange ins Land gezogen war. Kurz standen die Schatten auf de Straße und zeichneten die Umrisse einer Kutsche und mehrerer Reiter, die sie begleiteten. Die Kutsche war gänzlich in schwarz gehalten und wurde von sechs eleganten Rappen gezogen. Hinter ihr ritten in Formation vier Gerüstete, deren Wappenröcke einen schwarz-silbernen Raben zeigten.
Auf einer anderen Passstraße, weiter im Osten des Gebirges, war eine weitere Kutsche unterwegs. Sie ähnelte der ersten Kutsche nur vage, denn sie wurde nur von vier Pferden gezogen, die von unterschiedlicher Farbe waren, und von nur zwei Berittenen begleitet, die nicht einheitlich livriert waren, sondern Wämser aus verstärktem Leder trugen. Zwei weitere Pferde waren unprätentiös an der Kutsche angebunden und wurden mitgeführt gleich einem Kalb am Bauernkarren. Die größten Unterschiede offenbarten sich jedoch im Inneren des Gefährts: Drei junge Damen saßen dort, eine dem Hochadel, eine dem niederen Adel, und eine dem gemeinen Volk zugehörig. Die drei Damen hatten die Reise als Freundinnen angetreten, sie hatten sich viel zu erzählen, hatten miteinander gelacht, diskutiert und gestritten. Die Stimmung im Inneren der Kutsche hatte Höhen und Tiefen erlebt und war maßgeblich von der Hochadeligen geprägt worden, die nicht nur die Eigentümerin der Kutsche war und damit die Gastgeberin der anderen beiden, sondern auch Urheberin der meisten Stimmungsschwankungen. Mal war sie herzlich, charmant und großzügig, um bei einem falschen Wort ihrer Freundinnen wahlweise abweisend kühl oder mit hitziger Streitlust zu reagieren. Derzeit gab sie vor zu schlafen, um sich nicht nur den Gesprächen mit den anderen zu entziehen, sondern um ihre Begleiterinnen auch dazu zu bringen, die Gespräche untereinander aus erzwungener Rücksicht zu beenden. Zu den Füßen der jungen Damen lag eine Wehrheimer Bluthündin von kraftvoll-schlankem Wuchs, deren Reisekrankheit in dem schaukelnden Gefährt in den ersten Tagen dramatische Szenen hervorgebracht und die jungen Damen mehrfach zur Schuhreinigung gezwungen hatte. Nun war die Hündin auf dem Weg der Besserung, und der säuerliche Geruch in der Kabine beleidigte die Nasen der Passagiere immer weniger. Ließ er tatsächlich nach, oder war es ein Gewöhnungseffekt? Als abschließender Unterschied war noch die Besetzung der Kutscherbank zu nennen: Das weiter östlich reisende Gefährt führte dort nicht nur den Kutscher, sondern auch eine junge Frau mit sich, jünger noch als die Insassen der Kabine, und auch keine Dame. Anders als bei Kutscher und Reitern schien ihre Kleidung nicht gut auf die Witterung auf der Passstraße abgestimmt zu sein, was die Frau mit einer größeren Menge an Decken zu kompensieren versuchte, die sie so eng um sich wickelte, wie die Fahrt auf dem schaukelnden Kutschbock es zuließ.
In einigen Punkten aber wiesen beide Kutschen große Gemeinsamkeiten auf: Ihr Ziel war Punin, im sonnigen Almada. Und alle Insassen sehnten, jeweils aus ganz persönlichen Motiven, das Ende der Reise herbei.
Punin, Travia 1045 BF
Die Capitale des Fürstentums Almada lag im gleißenden Sonnenlicht, das an diesem Traviennachmittag die Arangen und Feigen beschien, die prall und reif an den Ästen der Obstbäume hingen, die einen Teil des Weges begleiteten. Nichts wies hier, im lieblichen Tal des Yaquir, darauf hin, dass im Eisenwald, wenige hundert Meilen nördlich (und hunderte Schritt höher) bereits der Schnee den gefrorenen Boden überstäubte. Der Travienmond in Almada dagegen war die Zeit des warmen Lichts, das die weißen und ockerfarbenen Fassaden der Palazzi in Goldacker und Ober-Punin und der Tempel aufleuchten ließ, während die Bevölkerung sich an Weinfesten in den Weilern ringsum und den reichhaltig eingebrachten Früchten und Feiern allenthalben erfreute.
Der 25. Travia war, wie bereits die Tage vorher, ein goldener, strahlender Herbsttag. Doch das Licht schaffte es nicht, die düstere Fassade der Komturei der Golgariten im Stadtteil Tempelhof zu erhellen. Nicht weit des gebrochenen Rades lag der wuchtige und wenig verzierte Palazzo, über dessen Portal das Wappen des Golgaritenordens, zwei Schwingen über einem gebrochenen Rad, als Halbrelief eingearbeitet war.
Zur fünften Nachmittagsstunde hatte der Baron von Rabenstein die Baroness von Kaldenberg zu sich geladen. Es dämmerte bereits, als ein Bediensteter sie in ein kleines, aber geschmackvoll eingerichtetes Gesellschaftszimmer führte, in dem sich vor einem prachtvollen Kamin (in dessen Sims ein Fries aus Schädeln und Mohnblüten gemeißelt war) einige bequeme, gepolsterte Sessel gruppierten. Auf dem Boden aus poliertem dunklen Stein mit hellen Einlegearbeiten lag ein großer aranischer Teppich in gedämpften Farben und die Wände waren bis unter das Dach mit schwarzem Holz getäfelt.
Der Baron von Rabenstein stand, im Ornat eines Borongeweihten, vor dem Kamin. Auf eine kaum merkliche Geste hin entfernte sich der Diener und ließ die beiden allein. Der Freiherr musterte seinen Gast einen Atemzug lang, ehe er sie mit ruhiger Stimme ansprach. “Willkommen in Punin, Euer Wohlgeboren.”
“Habt Dank für Euren Empfang!” antwortete die Angesprochene mit einem freundlichen Lächeln und einem kurzen Senken ihres Hauptes - eine Geste, die Demut und Referenz zeigen sollte, doch angesichts des stolzen Charakters der jungen Frau nicht besonders authentisch wirkte. Die Baroness von Kaldenberg trug ein Reisekleid aus gutem Stoff, das in Tönen von dunklem Orange und Braun gehalten war. Dezente Stickerei an den Borten waren der einzige Zierrat, doch der nüchterne Charakter des Kleides wurde durch ein ansehnliches Dekolleté, untypisch für ein Reisekleid, konterkariert. Das Dekolleté hätte üppiger gebaute Damen wohl in missliche Situationen gebracht, wenn der Kutscher mal scharf bremste, doch Ardare von Kaldenberg war von schlankem Wuchs und konnte ihre weiblichen Vorzüge vermutlich gefahrlos zur Geltung bringen. Üppig war jedoch das braune Haar, das die Baroness mit einer schlichten Haarnadel aus Elfenbein zu einer einfachen Hochsteckfrisur gerichtet hatte, die ihren schlanken Nacken betonte. Am Hals trug sie lediglich eine einfache güldene Halskette. Die Almadaner Sonne hatte bereits Spuren in ihrem Teint hinterlassen, die Haut der Kaldenbergerin schimmerte vital in einem leichten Bronzeschimmer. Haut, Haar und Kleid fügten sich Ton in Ton. In der Tat hatte Arda das Kleid und ihr Aussehen sorgsam auf den Anlass abgestimmt. Sie wollte den Reichtum ihrer Familie zeigen, ohne zu prunken, sie wollte den Baron mit ihren weiblichen Reizen für sich einnehmen, ohne ihn zu verführen. (Zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht.)
Bewundernd fuhr die Baroness mit dem Zeigefinger über die Linien der Mohnblüten am Kaminsims. “Ein ausgesprochen markanter Ort, welcher Euch bei Euren Aufenthalten in dieser Stadt zur Verfügung steht, Hochgeboren. Kein Wunder, dass Ihr Euch so gerne in Punin aufhaltet.” Ihre Lippen formten ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. “Es ist bedauerlich, dass mein erster Aufenthalt in dieser schönen Stadt einem derart ernsten Anlass geschuldet ist …” Aufmerksam blickte sie den Baron an. Der betrachtete die Dame einige Atemzüge lang, wie sie den Raum in Besitz nahm und ihr Bestes tat, Sicherheit zu demonstrieren. Sie war von durchaus wohlgefälliger Gestalt und kleidete sich auf eine Weise, die zeigte, dass sie sich dieses Umstandes durchaus bewusst war und ihn bestmöglich einsetzte. Doch sie trug mehr Selbstsicherheit nach außen, als sie tatsächlich empfand - ihre Gestik und insbesondere ihre Augen verrieten nach Ansicht des alten Freiherrn vielleicht nicht viel, aber genug. Er bot der Baroness mit einer Handbewegung einen der Sessel, auf dass sie sich setze. Seine Hände verbargen sich in schwarzen Handschuhen aus feinem Tuch. Mehrere Herzschläge verstrichen. Schließlich erhob der Baron das Wort und seine dunkle Stimme schien ihren Widerhall in den Schatten zu finden, die in den Ecken wohnten und schweigend den Raum beobachteten. “Ihr batet um diese Reise.” Er füllte zwei Kelche mit dem blutroten Wein, der in einer Karaffe bereitstand, und reichte ihr einen der Kelche. “Möge sich ihr Zweck erfüllen.” “Auf Boromil von Kaldenberg. Auf dass seine Seele - und die meiner Base und ihrer Kinder - Einlass in Borons Hallen gefunden hat.” Die Baroness nahm den Kelch entgegen, stieß mit dem Baron an und nahm einen tiefen Schluck, der sie das volle Aroma des Weines kosten ließ. Kurz schloss sie die Augen, als ihr der schwere Wein beinahe augenblicklich zu Kopfe stieg. Sie genoss die rauschhafte Leichtigkeit, die sie erfasste und gleichzeitig die Härte ihres Geistes, mit der sie die aufkommende Leichtigkeit unter ihrer Kontrolle hielt. “Auf die Toten.” pflichtete ihr der Boroni bei und benetzte seine Lippen mit der blutroten Flüssigkeit. Ein guter Tropfen. Das klar geschnittene Gesicht des Freiherrn war im Licht des Kamins und der Kerzen ein Spiel aus schwarzem Schatten und dem Widerschein des Feuers. Doch seine Gedanken ließen sich daran nicht ablesen. “Begleitet mich morgen abend in den Tempel.” Der Baron trank einen gemessenen Schluck und beobachtete seinen Gast. "Das werde ich sehr gern." Die Baroness veränderte ihre Sitzposition und es wirkte, als wolle sie aufspringen und nicht morgen, sondern sogleich in den Tempel eilen. Sie zwang sich zur Ruhe und lehnte sich in ihren Sessel zurück. Wie würde ihr Leben aussehen, wenn diese eine bohrende Frage, die sie in den vergangenen Jahren jeden Tag, beim Einschlafen und beim Aufwachen, in ihren Träumen und oft genug untertags, geplagt hatte? Und vor allem: welche Konsequenz würde sich ergeben, wenn sie jene Antwort zu hören bekäme, vor der sie sich so fürchtete? Und war es sinnig, die Konsequenz wirklich von der Antwort abhängig zu machen? Der Namenlose würde sich doch jede Seele nehmen, derer er habhaft werden konnte. "Sagt, Hochgeboren: Glaubt Ihr, dass… dass die Verwandtschaft einer Familie…" Die Baroness rang nach den richtigen Worten, ihr Blick war überlegend zur Decke gerichtet, und die Gedankenanstrengung befreite ihr Gesicht von jener selbstbewussten Maske, mit der sie sich vor der Außenwelt schützte. "...also, dass die derischen Blutsbande einer Familie die…, die Entsprechung in einer Verwandschaft der Seelen haben?" In untypischer Verlegenheit rieb sie sich den Nacken. "Ich weiß nicht, ob ich meine Gedanken gut formuliert habe." Ihr Gedanke war, dass der Namenlose auch einen Teil ihrer selbst, eine Art erweiterte Seele, in sein Gefängnis in der Sternenkluft gezogen haben könnte. Der Rabensteiner goutierte den eleganten Schwung des Halses der Kaldenbergerin und lenkte seine Aufmerksamkeit schließlich, nach zwei Atemzügen, mit einer Gegenfrage. “Ihr habt Eure Initiation in die Zwölfgöttlichen Kirchen erhalten?” Eine rein hypothetische Frage - in den allermeisten Fällen. In einem Fall wie diesem hier - von großem Gewicht. Die Baroness stutzte kurz - dann erwiderte sie: "Nicht nur das. Ich bin in einer zwölfgötterkirchlichen Ordensburg aufgewachsen und habe dort auch ein Noviziat angetreten - wenn auch nicht für lange." Sie lächelte schalkhaft. "Ich vermute, ein einfaches 'Ja' hätte es auch getan..." Sie dachte zurück an eine gewisse Kleiderkiste, in welcher sie sich aus Burg Rhodenstein heraus geschmuggelt hatte. Ihre damalige Übelkeit war nicht nur auf das Geschaukele zurückzuführen gewesen, welches so typisch war für die Reisekutsche der Marchesa. Ein guter Teil war doch der Aufregung einer Kirchenwaisen geschuldet, die erstmals dem festen Arm der Kirche entkommen war. Ein knappes Nicken war die Antwort auf ihre lange Ausführung. “Durch die Initiation schützen die Götter eure Seele vor solchen ‘Übergriffen.” Er schwieg einige Augenblicke und musterte die junge Frau aus einem ruhigen Augen. “Es geschieht gelegentlich, dass sich gewisse ‘Verletzlichkeiten’ innerhalb einer Familie häufen.” Der Boroni holte Luft ob dieses uncharakteristischen Redeschwalls, überwand sich und erklärte weiter. “Durch eure Initiation sollte der Schutz der Götter diesen Effekt jedoch überlagern. Ihr braucht euch für euch diesbezüglich nicht zu sorgen.” Die Worte des Barons hatten offensichtlichen Widerhall in der Baroness. Ihr Gesicht zuckte unruhig, als hätte sie eine weiterführende Frage oder gar einige Widerworte zu äußern. Doch sie beherrschte sich. Stattdessen streifte sie ihr Kleid glatt und fragte: “Wie könnt Ihr, und wie kann die Boronkirche mich nun unterstützen bei meiner… hm, Queste, die Seelen meiner Verwandten betreffend?” “Ich kann euch begleiten und - einen Teil des Wegs - führen.” Der Einäugige lehnte sich in seinem Sessel zurück, drehte seinen Weinkelch in seinen behandschuhten Händen und betrachtete den blutroten Funken, der auf der Oberfläche tanzte. “Doch gehen, Wohlgeboren, müsst ihr selbst.” Die junge Frau straffte ihre Schultern: "Ich kann laufen. Ich werde laufen…" Sie ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie das genau so meinte - unabhängig davon, dass sie erst garnicht zu antizipieren versuchte, was sie erwartete. “Daran habe ich keinen Zweifel.” Kurz blitzte der Widerschein der Kerzen im verbliebenen Auge des Freiherrn auf, als er seinen Weinkelch nahm, der jungen Frau zuprostete und gemächlich einen Schluck trank. “Auf eine gemeinsame Reise.” "Auf die Antwort auf diese lange schwärende Frage." antwortete die Baroness. Gedankenverhangen, wie sie war konnte sie die wortkarge Natur ds Rabensteiners gut aushalten.
Das gebrochene Rad, 30. Travia 1045 BF
Einige Tage später, am 30. Travia, stand Arda im Schein einer Lampe vor dem Spiegel in ihrem Schlafgemach. An diesem Abend hatte sie ein dunkles und sehr schlichtes Kleid gewählt, wie es sich für einen Besuch im Tempel des Boron geziemte. Ihre Kutsche war angespannt, vor der Türe des Gemachs warteten ungeduldig ihre Leibwächter. Wieder würde die Baroness einer Einladung des Barons folgen. Heute Nacht, so hatte sie verstanden, würde ES möglicherweise passieren: Sie könnte Gewissheit über das Schicksal der Seelen von Onkel Boromil, ihrer Base Alessandra und den drei Kindern erhalten. In den letzten Tagen hatte sie im Auftrag Lucranns einige Ermittlungen in Punin geführt und einer Hesindepriesterin das Handwerk gelegt, die ihre Position und ihren Einfluss dazu genutzt hatte, mit Boronwein und Samthauch zu handeln - sehr potenten Rauschmitteln, welche die Boronkirche für sich beanspruchte. Der Baron stand dafür in ihrer Schuld. Arda war bereit in kauf zu nehmen, dass die heutige Nacht SIE tief - ungleich tiefer! - in die Schuld des Rabensteiners treiben könnte. Und sie würde diese Schuld mit grimmiger Freude, Unze für Unze, abtragen. Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. “Baroness? Wohlgeboren?” erschallte eine Frauenstimme. Die Stimme klang vorsichtig, fast ängstlich. Ärgerlich zogen sich Ardas Brauen zusammen.
Ein halbes Stundenglas später fuhr die vierspännige Kutsche am Platz des Schweigens vor und kam vor dem Tempel des Boron zum Stehen.
Der einäugige Baron empfing Arda in einem kleinen Andachtsraum abseits des großen Tempelraumes, in dem sich am heutigen Abend eine recht große Zahl Gläubiger und Geweihter eingefunden hatte. Doch diese waren nicht die Gesellschaft, die der Rabensteiner für heute wünschte.
Zwei Räucherschalen standen auf kleinen Podesten neben einigen dicken Kissen und mehrfach gefalteten Decken aus schwarzer Wolle. Eine einzelne Kerze in einem schlichten, silbernen Halter war, neben den glimmenden Kohlen, die einzige Lichtquelle in dem Raum. Etwas steifbeinig kniete sich der Boroni auf eines der Kissen und bot der jungen Baroness eibenfalls einen Platz an, knapp eine Armeslänge vor ihm, so dass sich die Räucherschalen beiderseits der beiden Personen befanden.
“Die letzte Nacht des Travienmondes ist die symbolische Grablege der gütigen Mutter und ihr Übergang in die Arme des Todes. Das ist, was meine Brüder und Schwestern im Glauben heute begehen.” Er schwieg einige Augenblicke und lauschte in die Stille, die hier, in diesem schlichten Andachtsraum, absolut war. “Ein guter Zeitpunkt, um der Gütigen über das Nirgendmeer zu folgen - wenn auch lediglich im Traum und auf der Suche nach Antworten. Das ist es, was wir heute anstreben werden.” Einige Atemzüge lang eroberte die Stille, die von der langen Erklärung harsch vertrieben war, wieder den Raum zurück und kroch aus den Schatten in den Ecken, in die sie sich geflüchtet hatte. Jäh zersplitterte ihre Herrschaft. “Ihr habt Fragen?” Dunkel und erstaunlich sanft war die Stimme des Priesters, und erinnerte an den Frieden einer warmen, friedvollen Sommernacht. ‘Eine Geisterreise.’ übersetzte Arda das Gesagte in Gedanken. Sie mutmaßte, dass in den Rauchschalen bereits die Rauschkräuter schwelten, welche diese Reise unterstützen sollten. Obwohl sie sich wochen- wenn nicht gar monatelang auf diesen Tag eingestellt hatte, bekam die Baroness es nun mit der Angst vor der eigenen Courage zu tun. Die Angst begründete sich jedoch nicht mit möglichen Risiken für Leib und Leben, oder Schäden für ihren Geist. Selten nur hatte sie solche Ängste verspürt, meist war sie mit Ignoranz und Selbstüberschätzung an die Sache herangetreten, und der Erfolg (oder die ausbleibende Katastrophe) hatte ihr im Nachhinein recht gegeben. Gewiss, sie hatte auch Angst davor, dass den Seelen ihrer Familie etwas Schreckliches passiert sein mochte. Dass ihre Seelenkraft, das Sikaryan, dem Namenlosen zugeflossen sei und sie so unfreiwillig zu dessen Erstarken beitrugen. Was sie jedoch gerade erschütterte, war die Aussicht, ihre Familie tatsächlich wiederzutreffen. Sie empfand Angst davor, dass im Angesicht von Seele zu Seele ihre Familienangehörigen sie unverstellt erblicken könnten. Dass sie selbst sehen würde, was für reine Seelen die anderen hatten, und sie wiederum erkennen mochten, was für ein schlechter, niederträchtiger Mensch sie, Arda, war. Von Gier, Launen und Trieben geprägt, ungerecht, grausam, überheblich … . Die Baroness schluckte. Sobald sie von dieser Geisterreise zurückkehrte, würde sie ihr Leben ändern. Ganz gewiss! Und anfangen würde sie bei Roana, ihrer Zofe, die in letzter Zeit so viel abbekommen musste von ihren Launen. Aber auch Mika, die junge Firunnovizin. Doratrava oder Wolfrida und Nerek, ihre beiden Leibwächter, konnten sich durchaus gegen ihre Eskapaden zur Wehr setzen. Auch ihr Bruder, der Baron, war von ihrer Kratzbürstigkeit alles andere als verschont geblieben. Es gab Tage, das wusste sie, da gingen ihr alle Bediensteten aus dem Weg. Sie winselte innerlich, als sie sich ihre eigenen Unzulänglichkeiten vor Augen führte, und die Riesenaufgabe, die ihr bevorstand, wenn sie Abbitte leisten müsste an allen, denen sie Unrecht getan hatte… Und dennoch: ab morgen, nahm sie sich fest vor, würde alles anders werden. Ein weiterer Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Sollte der Baron von Rabenstein etwa Zeuge all dieser seelischen Entblößung werden, welche ihr nun bevorstand? Der Gedanke beunruhigte sie sehr. “Ich habe keine Fragen.” Arda erschrak über ihre eigene Stimme. So schwach, so brüchig klang sie in ihren eigenen Ohren. “Euer Gnaden…” - sie fand es passender, den Baron in diesen Hallen mit seinem kirchlichen Titel anzusprechen - “...Ihr müsst mich nicht begleiten. Sagt mir nur, was ich tun soll, gebt mit einen Fingerzeig in die richtige Richtung mit auf dem Weg!” Sie spürte ihr Gesicht glühen. “Ich - es täte mir leid, wenn ich Euch in Gefahr brächte…” log sie. “Es ist doch schließlich meine Reise…” Mehrere Herzschläge lang hallten ihre Worte in der Stille des Raumes wider, die auf einmal sehr drückend und schwer auf den Schultern Ardas lag. “Allein würdet Ihr Euch leicht verlieren, Baroness. Doch wenn Ihr diese Reise nicht antreten wollt, so habt Ihr jetzt die Möglichkeit, davon abzusehen.” Mehr auf den Subtext als auf die tatsächlichen Worte passte die Antwort, doch allein ihre Tonlage verriet viel, und an Lebenserfahrung war ihr der Rabensteiner so manchen Götterlauf voraus. Er wartete, mit einer Boronsruhe, so, als sei Zeit in diesen uralten Mauern ohne jede Bedeutung. Ardas feine Nase konnte im Rauch den Duft glimmender Kohlen und eines winzigen Stückes Weihrauch erkennen. Nicht mehr. Noch nicht. "Nein!" Etwas zu hastig, etwas zu hart, um souverän zu klingen, erfolgte die Antwort der Jüngeren. Doch ihr Gesicht zeugte von fester Entschlossenheit. "Ich werde die Reise antreten, und ich werde Eure Führung gerne annehmen, wenn Ihr das Risiko für Euch selbst zu tragen bereit seid." Sie hatte verstanden: Mit ihm - oder gar nicht. Sie entschied sich dafür, mit ihm zu reisen. Arda sah sich um, wollte noch etwas sagen, entschied sich aber doch zu schweigen. Sie verschränkte ihre Arme, um ihre Ungeduld zu zügeln. Ein knappes Nicken war die einzige Reaktion des Boronis, und seine Miene hätte nicht weiter von Verwunderung ob Ardas Entscheidung entfernt sein können. Er legte aus einer Schale eine krümelige Mischung von Kräutern und Harzen auf die glühenden Kohlen und beobachtete den feinen, grauen Dunst, der sich aus den Räucherschalen empor wand. Mit fein gemahlener Asche vollendete er die Zeichnung eines Boronrades, dass beide umschloss und wiederholte das Zeichen mit dem Rest des schwarzen Staubes auf Ardas Stirn. Leicht wie die Berührung einer Feder legte er die Fingerspitzen seiner Linken auf den Scheitel der jungen Frau und beließ sie dort. Der Rabensteiner schloss kurz die Augen und kostete einige Herzschläge lang die dunkle Stille im Haupttempel des uralten Gebieters der Nacht, ehe er mit leiser Stimme, kaum mehr als ein Flüstern und doch dröhnend in der Stille, sprach: “Herr Uthar, Richter der Seelen, Wächter vor Borons Hallen, lass uns Dein Tor passieren vor der Zeit. Herr Boron, Herr der Letzten Dinge, Hüter der Seelen, blicke gnädig auf uns und gewähre uns einige Worte mit Boromil, dem Onkel Ardare von Kaldenbergs, und dessen Blutsverwandten, so sie in Deiner Obhut sind. Denn siehe, in Aufruhr ist ihr Geist und allein Dein Segen mag ihre Unruhe lindern und ihre Sorgen vertreiben.” Eine weitere Geste mit seiner freien Hand brachte erneutes Räucherwerk auf die Kohlen, das jedoch den Duft der Harze nicht zu durchdringen vermochte. Mit einem tiefen Atemzug schloss er sein verbliebenes Auge, und verharrte, seine Fingerspitzen nicht mehr als eine Ahnung auf Ardas Scheitel. Zeit, gemessen in Herzschlägen und Atemzügen, verlor ihr Maß und besaß keine Bedeutung. Es wurde still. Die Baroness hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Sie verwendete dabei eine uralte Technik, die bei vielen Magiertraditionen in den Tulamidenlanden und auch darüber hinaus bekannt war. Ihre Lehrmeisterin hatte sie ihr beigebracht, wie das meiste, was Arda wusste. Und doch hatte sie von dieser Frau nie als von ihrer Hexenmutter gedacht. Sie hatte eine Mutter - eine Mutter gehabt, eine Familie gehabt. Heute, jetzt, würde sie erfahren, wie tief der letzte Verlust gegangen war. Und ausgerechnet der Mann, der Onkel Boromils irdisches Leben beendet hatte - welcher Beschaffenheit es auch immer gewesen sein mochte - half ihr dabei. Lucranns Worten trotzend beruhigte sich Ardas Geist, sie fokussierte sich auf das, was kommen mochte. Auf des Raben Schwingen Das Schweigen im Raum, unterbrochen nur durch ihre Atemzüge, umschloss beide wie eine weiche Decke. Frieden versprach es, und Ruhe, auch im Inneren. Die kreisenden Gedanken der jungen Frau lösten sich aus dem Hier und Jetzt und wanderten unmerklich, aber von unaufhaltsamer Kraft getrieben, auf eigene Wege - um so erfolgreicher, je energischer sie versuchte, sie wieder einzufangen. Was war Zeit? Gezählt in Tagen? Oder vielmehr in Atemzügen? Oder vielleicht doch nur eine bloße Idee ohne jeglichen Anker in der Wirklichkeit? Gab es sie überhaupt, oder war sie nicht mehr als eine Vorstellung getriebener, angstvoller Geister? Vielleicht war die Ewigkeit ja nichts anderes als ihre Abwesenheit - ein sicherer, ruhiger, weicher Platz hier in der Halle des Schweigens? Die Luft geschwängert von Harz und Kräutern und dem feinen Kohlenduft. Dem Geruch nach Salz in der Luft. Und dem einzigen Geräusch das Zischen des Windes in den dürren Schilfgräsern vom vergangenen Jahr, die trocken und gelb in den Salzmarschen hinter dem Saum des Meeres aus weißem Stand standen, unwirklich im fahlen Zwielicht aus einem Himmel ohne Praiosmal. Ardas Schuhe standen zur Hälfte in den wandernden Sandkörnern begraben, zu ihrer Linken das unerbittlich weite Meer, zu ihrer Rechten die See aus Halmen, vor sich Meilen freien Strandes, von keiner Spur zerstoßen, Reihen auf Reihen von Rippelmarken, geboren aus dem ewiggleichen Spiel von Wellen und Wind. War dies Borons Reich - oder nur die Interpretation ihres Geistes? Für ihr Alter war Arda weit gereist, doch das Meer war für sie fremd geblieben. Über ein paar Fährfahrten entlang der Liebfelder Küste war sie nicht hinausgekommen. Die Baroness versuchte ihre Füße aus dem Sand zu heben, um einige Schritte zu gehen in diesem… Traumgebilde? Oder hatte sich ihr Geist vom Körper gelöst und der Ort war nicht zu ihrem Geist gekommen, sondern umgekehrt ihr Geist zu diesem Ort? …Spielte es überhaupt eine Rolle? Arda straffte sich. Sie hatte eine Aufgabe. Sie suchte nach Geländemarken, nach Gegenständen oder Erscheinungen, die sie der Erfüllung ihrer Aufgabe näher bringen konnten. Öde und leer war das Land, und ein leichter Wind ließ feine Körner flüsternd über den Sand und ihre Füße rascheln, die sie indes ohne Mühe heben konnte. Ein Schatten fiel über sie an diesem seltsam sonnenlosen Ort, der in einem unbestimmten Zwielicht wie in der Stunde kurz vor Sonnenaufgang verharrte. Wortlos bot ihr der Rabensteiner den Arm, während sich die Dunkelheit wie ein Mantel um ihn und seine Umgebung legte. Ruhig blickte er sie an, und sein verbliebenes Auge war wie tiefschwarzer See ohne jeden Grund. Oder es war nur ein Spiel von Zwielicht und Schatten. Auffordernd wies er mit einer knappen Geste voran. Arda wusste es besser, als dass sie den angebotenen Arm abgelehnt hätte. Sie hakte sich ein und setzte sich in die Richtung in Bewegung, die Lucrann ihr gewiesen hatte. Der Einäugige schritt zielstrebig aus, während sich das Land nicht veränderte. Zu ihrer Linken war das Meer, zu ihrer Rechten erstreckten sich nach einem zwei, drei dutzend Schritt breiten Sandstreifen die schilfbestandenen Salzmarschen. Unvermittelt standen beide vor einem toten Baum, der seine schwarzen, kahlen Äste wie Finger in den blassen Himmel streckte. Daneben erhob sich, etwa kniehoch, die aus grauen Steinen geschichtete Fassung eines Brunnens. Der alte Baron hob eine Augenbraue, zuckte mit den Schultern und blickte nachdenklich über den Brunnenrand. Arda staunte nun über ihre Umgebung. Sie dachte an das, was sie über Kunst wusste, über Gemälde und ihre Bildsprache. 'Was will uns der Maler sagen?', 'Welche versteckte Botschaft ist hier zu erkennen?' Wer auch immer der Maler dieser Landschaft war, er musste eine tieftraurige Person sein. Sie hatte schon eine Vorstellung, wer diese Person - dieses Wesen - sein mochte. (Oder täuschte sie sich und SIE war es, die diesen Ort erdacht hatte?) Und doch hatte diese elegische Welt etwas Beruhigendes. Sie vermittelte eine Gewissheit. Was auch immer passieren würde, es war jetzt schon eine beeindruckende, äußerst spirituelle Erfahrung. Die Baroness tat dem Baron gleich und blickte ebenfalls über den Brunnenrand. Schwärze, tiefe, lichtlose Schwärze, blickte ihr entgegen. Ein Schlund ohne Boden und Ziel, ewig und voller Geheimnisse, der nach ihr rief. Eine Pforte. Ein kraftvoller Griff um ihren Oberarm riss sie zurück aus ihren Gedanken. Das war es, oder? Die Geheimnisse schienen nach ihr zu rufen, und Arda war noch nie jemand gewesen, der Geheimnissen widerstehen konnte … widerstehen wollte. Sie wiederholte ihre Frage laut: "Das ist es, oder?" Doch warum hielt der Baron sie zurück? “Einen Anker.” war seine knappe Erklärung. An diesem unwirklichen Ort war sie sich nicht einmal sicher, ob er wirklich gesprochen hatte - oder ob die Worte sich nur in ihrem Geist gebildet hatten. “Eures Selbst.” Ruhig blickte er sie an, abwartend und ohne Hast. Aber welche Bedeutung besaß die Zeit hier schon. Er schloss seine Hände Hände zu einer Kugel. Noch immer trug er Handschuhe aus schwarzem Leder, selbst hier. Als er sie wieder öffnete, erwuchs aus den Schatten eine schwarze Rosenblüte, die er überaus vorsichtig in dem fahlen Sand zu Füßen der Brunnenfassung bettete. Als er sich wieder aufrichtete, wuchsen die Schatten um ihn herum mit ihm und umschlossen die junge Frau. Der Einäugige wartete geduldig. Arda überlegte. Sie hatte verstanden - dies war kein Schaulaufen, keine Demonstration nach außen. Die Qualität des Ankers, den sie hier ließ, würde entscheiden, ob sie zu diesem zurückfand. Dabei spielte es keine Rolle, was der Baron über sie dachte. Lange überlegte sie. In Gedanken sah sie sich in einem Traviatempel in Hlutharswacht sitzen, einen schwarzbraunen Welpen in ihrem Schoß. Der Welpe - er, beziehungsweise sie, hatte Arda gerade vollgepinkelt - hatte in einem Moment ihres Lebens zu ihr gefunden, als sie am Ende ihrer geistigen Kräfte gewesen war. Ungeliebt, verspottet, verachtet und verlassen - so hatte Tharga zu ihr gefunden… Doch das war keine drei Jahre her gewesen. Tharga, ihre treue Begleiterin seitdem. Würde dieser Anker reichen? Ihre Gedanken trugen sie zurück. Weiter, weiter in ihre Vergangenheit…
Vor Lucranns Augen verwandelte sich die Baroness von einer jungen Adeligen in einem Reisekleid in ein junges Mädchen von vielleicht sieben Jahren. Sie trug eine weiße, knielange Wolltunika - oder war es ein Kleid? - und braune Beinkleider. Guter, aber einfacher Stoff. Die braunen Haare waren in einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengefasst, und auch weitere Details - der dezente Dreckrand unter den Fingernägeln etwa, oder die aufgescheuerte Stelle des Beinkleids über dem Knie - wiesen das Mädchen als burschikosen Wildfang aus. Und doch war es unverkennbar: dieselben grauen Augen, das hübsche Gesicht des Mädchens verrieten, dass es einst zu der Schönheit heranwachsen würde, welche Arda heute war. Im Moment war jenes Gesicht jedoch tränenverschmiert, das Mädchen weinte herzzerreißend. Mit bebenden Schultern zog es ein Spielzeugschwert aus der braunen Kordel, welche ihr als Gürtel und improvisiertes Wehrgehänge diente. Mit beiden Händen, als handele es sich bei der plumpen, grob aus einem einzigen Stück Holz zurechtgeschnitzten Waffe um Siebenstreich selbst, legte das Mädchen es neben Lucranns Rose ab. Die Tränen versiegten langsam. Das Mädchen sprach zu der Waffe: "Das ist mein Pfand, bis ich zu Dir zurückkehre, mein Liebes." Das Gesagte klang so, als ahme das Kind altklug den Tonfall eines Erwachsenen nach. Das Mädchen richtete sich auf und nahm Lucranns behandschuhte Hand in die seine. Sie blickte erwartungsvoll zu dem Baron empor, und ihre grauen Augen waren älter, weiser - leidgeprüfter - als es bei einer Siebenjährigen hätte sein dürfen. Hätte sein sollen. Ein kleines Mädchen. So fühlte die Baroness sich selbst hinter ihrer makellosen Maske? Der Rabensteiner ging in die Knie und wischte dem Kind wortlos mit seiner freien Hand die Tränen von den Wangen. Die knappe Geste offenbarte zwei steife Finger - Mittel- und Ringfinger - an seiner Linken. Alte Augen in einem nur scheinbar jungen Kind. Zeit und Krieg waren unerbittliche Herrscher. Er half ihr auf die Umrandung des Brunnens, stieg behende hinterher, fasste das Kind fest um die Hüfte und sprang ausgestreckt, Kopf voran, in die gähnende Dunkelheit.
Der Sturz geriet zu einem Trudeln, das jegliches Konzept von ‘Oben’ und ‘Unten’ vergessen ließ, und irgendwann vollkommen unspektakulär endete, als beide in einem sehr würdelosen Knäuel aus Menschen auf dem Boden liegend ihre Orientierung wiederfanden. Es war stockdunkel und ein leicht muffiger Geruch lag in der trockenen Luft. Der Boden selbst bestand aus regelmäßig behauenen, sauber gefügten Steinplatten, die von einer dünnen Schicht Sand überzogen waren. Arda kam als Erste auf die Beine. Sie erschien Lucrann nicht mehr als sieben Jahre altes Mädchen, sondern als diejenige, die heute (?) Nacht den Borontempel aufgesucht hatte. Allerdings hatte der freie Fall das Äußere der jungen Adeligen derangiert. Während sie ihr Kleid rasch ordnen und den Sand ausschütteln konnte, ohne sich allzuviel Blöße zu geben, war die Frisur unrettbar durcheinander geraten. Arda kam alles, nach dem unwirklichen Fall, allzu banal und "echt" vor. Sie zog die Haarnadel aus ihrer Frisur und schüttelte vornüber gebeugt ihr Haar aus, um dieses nun ebenfalls offen zu tragen. Dann erst setzte sie sich mit ihrer Umgebung auseinander.
Ihre Finger fanden den Boden und direkt neben sich einen sicher schritthohen, behauenen Quader aus Stein, etwa einen Schritt breit und lang. Neben ihr stand der Rabensteiner, klopfte seine Robe aus und richtete Pellegrina, Dolch und Gürtel. Seine Hand fand die Schulter der jungen Frau und legte sich über selbige. Er ließ ihr alle Zeit, ihre Umgebung zu erkunden, die sie wünschte.
Ja, das hier war zumindest olfaktorisch deutlich näher an ihrer Vorstellung einer Gruft. Auch haptisch - Steinquader, damit konnte sie arbeiten. "Worauf warten wir?" fragte sie in Richtung der Hand, die auf ihrer Schulter ruhte. “Auf Euch.” kam die knappe Antwort - wobei sie wieder nicht entscheiden konnte, ob es ihre Ohren oder ihr Geist war, in dem die Worte erklangen. Die tiefe, dunkle Stimme des Boronis war bar jeder Unruhe, aber von einer wachen Aufmerksamkeit, die ihr verriet, dass es ganz und gar nicht gleichgültig war, wohin sie sich entscheiden würde. Die Baroness schlussfolgerte, dass der Ort, an dem sie jetzt stand, ebenso geeignet war oder gar besser als ein beliebiger Ort, den sie erst noch aufsuchen musste. Nein, sie würde erstmal hier bleiben. Zunächst fuhr Arda mit den Händen die Kanten des schritthohen Steinquaders entlang, dann tastete sie vorsichtig nach den Oberflächen - angefangen mit der Oberseite, um sich dann den Seitenflächen zu widmen. Was waren da für Reliefs? Einen kurzen Moment erinnerte sie sich an die kunstvoll behauenen Kamin in der Komturei, welche sie ebenfalls betastet hatte. Der Sarkophag, denn um einen solchen handelte es sich, war aus Stein und mit Reliefs aus aufsteigenden Greifen verziert - dem Wappentier des Hauses Kaldenberg, wie auch vieler anderer Adelshäuser im neuen Reich. Einen zweiten Sarkophag fanden die tastenden Hände der jungen Frau, einen dritten und vierten. In die Wänd eingemeißelt waren acht weitere, quadratische Platten, vielleicht Deckel von Öffnungen, jede mit einem einzelnen, wundervoll gearbeiteten Greifen verziert. Doch kein Name, keine Zahl, kein Boronsrad zierte diese Mahnmale des Todes. Drei Stufen vor einer Wand führten nach oben, zu einer verschlossenen Pforte aus Stein, ebenfalls von einem aufgerichteten Greifen bewacht. Der Rabensteiner war ihren Erkundungen schweigend gefolgt, seine Hand leicht, aber bestimmt auf ihrer Schulter. Der Greif! Das Wappentier der Familie! Das Haus Kaldenberg war traditionell schon immer dem Praios nahe gestanden. Dass der Familiensitz einst ein Praioskonvent gewesen war, sprach Bände. Erst in den letzten Generationen hatte sich eine Verschiebung hin zu Rondra ergeben. War Boromil noch ein Anhänger des Götterfürsten gewesen, wenn auch eher einer der formal- oder maulgläubigen Sorte, waren sein älterer Bruder Celio, der zugunsten eines späten Rondranoviziats abgedankt hatte, seine schwärmerisch-eigensinnige Tochter Alessandra, und jetzt der aktuelle Baron, sein Neffe Caralus, eindeutig der Rondra zugewandt. Zudem gab es starke Bande zwischen dem Haus Kaldenberg und dem rondrianischen Donnerorden, einige Zweit- und Drittgeborene hatten als Donnerer gedient. Ardas Gedanken fokussierten sich wieder auf das Hier und Jetzt. Zwei Gedanken beunruhigten sie - einer in geringerem, der andere in höherem Maße: Die mindere Sorge war das Fehlen der typischen Wellenlinien, die den schräg unteren Teil des Kaldenberger Wappens zierten. Gut möglich also, dass es sich hier nicht um die symbolische Familiengruft handelte. Die größere Sorge war die Anzahl der Sarkophage: vier Stück - für fünf bei der Hochzeit verstorbene Familienmitglieder? Die Implikation ließ sie eiskalt erschaudern - ein Zucken, das auch dem Rabensteiner nicht entgangen sein konnte. Aber vielleicht befand sie sich auf dem Holzweg mit ihren Mutmaßungen und die Sarkophage bedeuteten etwas anderes, oder garnichts. Vielleicht war sie überhastet und fiel mal wieder mit der Tür ins Haus… Wie auch immer die Situation sein mochte, in Borons (Traum-)Reich war es wohl keine hervorragende Idee, Sarkophage zu manipulieren und die Grabruhe zu zerstören. Andererseits - war sie nicht genau deswegen hier? Dennoch beschloss sie, sich zuerst zur Treppe vorzutasten und zu erkunden, was am oberen Ende zu finden war. Der Durchgang am oberen Ende der Treppe war mit einer soliden Tür aus Stein verschlossen. Auch in sie war ein Greif graviert, doch diesesmal stand er auf einem Fluss aus Wellenlinien. Eine Klinke oder ein sonstiger Öffnungsmechanismus fand sich nicht, aber die umlaufende Fuge an dem Block, der den Durchlass - vielmehr den Ausgang - versperrte, wies darauf hin, dass sich die Pforte auf irgendeine Weise öffnen ließ. Die junge Adelige ließ sich von ihrer Intuition leiten: Sie legte ihre Hand flächig auf das Wappen. Dann fokussierte sie sich auf die Toten - auf den Moment, als sie die Fünf das letzte Mal gesehen hatte: Beim Abschied am Kai von Kaldenberg-Stadt. Arda war mit ihnen vom Schloss herüber gerudert, oder besser: gerudert worden. Die Kinder waren albern, überdreht, aufgeregt von der Erwartung ihrer ersten Reise über die Baroniegrenzen hinweg. Alessandra war melancholisch, wie so oft, seitdem ihr Mann in den Krieg gegen Haffax gezogen und nicht zurückgekehrt war. Onkel Boromil hingegen - nun, zuerst schien er genervt von der Reise, doch er hatte sich von der Begeisterung der Kleinen anstecken lassen. Auch er hatte gelacht und mit den Kindern Unsinn gemacht. Altersmilde, mochte man wohl sagen. Er war ganz vernarrt in seine Enkel, und die ungewohnte Art, in der er sich gab, verunsicherte die Bediensteten wieder und wieder aufs Neue, nachdem sie ihn jahre-, teils sogar jahrzehntelang forsch, grob und griesgrämig im Auftreten erlebt hatten. All den Schmerz, den Arda bei dieser Erinnerung fühlte - kurz aufflackernde Bilder von der Rahjasonne, Zahnlücken im Lachen der Kinder, die zurückhaltende Freude ihrer Mutter, das polternde Lachen des Großvaters - all diesen Schmerz lenkte sie in das steinerne Wappenrelief, so wie sie es sonst mit ihrer Astralkraft machte. Sie ächzte erschöpft auf, es fühlte sich an, als löste sich ein Teil des Schmerzes für immer von ihr.
In dunklen Hallen
Knirschend löste sich der Stein und feiner Staub rieselte aus den Fugen, immer mehr, bis ein handgroßer Kegel davon zur Rechten und zur Linken Ardas lag. Das anerkennende Nicken des einäugigen Barons bemerkte sie nicht - wohl aber, dass der Stein unter all ihrem Schmerz, unter allem Willen wich und knirschend nach vorn, weg von ihr, kippte, um mit einem dröhnenden Donnern zu Boden zu Fallen. Fast sichtbar wurde der Laut in der stillen Umgebung, die unmerklich - seit wann? - von fahlem Zwielicht erfüllt war. Der Aufschlag ließ den Boden unter Ardas Sohlen erbeben. Nach wenigen Herzschlägen kamen die Schwingungen zur Ruhe und die Stille floss zurück in die dunklen Räume. Vor Ardas Augen erstreckte sich eine schier endlos lange Halle, gefüllt mit Särgen und hölzernen Liegen, auf denen Reihe über Reihe an mumifizierten Körpern lagen, die Hände überkreuzt und die toten Leiber angetan mit prachtvollen Gewändern und Rüstungen, jeder mit einem Wappenschild neben sich, manche einfach, manche prunkvoll gestaltet. Jeder der Schilde trug, auf teils alte, teils moderne Weise, einen aufsteigenden Greifen über einem Fluss. Adra blinzelte, und wie Wellenringe auf einem stillen Teich stockte und erzitterte das Bild, das sich ihr bot. Anstelle der friedlichen Mumien waren es Schläfer auf ihren Betten, ruhende Gestalten, Greisinnen, junge Männer, Kinder, mit geschlossenen Lidern, die Wimpern dunkel auf der Haut ihrer Wangen, ein jedes in einem weichen Daunenbett und geborgen in tiefem Schlaf. Arda schluckte, trat in den Raum hinein. Unschlüssig stand sie inmitten… ihrer Ahnen? So viele - so viele, die es vor ihr gegeben hatte, und so viele nach ihr…? Mit wie vielen von ihnen würde sie gerne sprechen… Mit Gerding von Kaldenberg beispielsweise, um zu erfahren, wie er in den Besitz des Amuletts geraten war, das jetzt ihren Hals zierte. Sie wusste nur, dass er ein Ritter, später Konnetabel, des Donnererordens gewesen war. "Onkel Gerding!", das war der Ruf, mit welchem sie den magischen Schutz des Amuletts aktivieren konnte. Natürlich gab es durchaus persönlichere Anliegen: Ihr Vater, den sie nie kennenlernen durfte, da er fiel, noch ehe sie geboren wurde. Die Mutter, die sie als siebenjähriges Mädchen zuletzt gesehen hatte, und von der sie völlig verklärte Erinnerungen hatte, eingebettet in die merkwürdigen, simpel-komplizierten Geschichten, mit denen ein nicht verstehendes Kind die Welt um sich herum erklärte. Doch sie hatte eine Mission. Sie durfte das nicht vergessen. Diese Chance durfte sie nicht aufgeben, die Großzügigkeit Borons, der eben nicht als besonders großzügig galt, aufs Spiel setzen.
Während ihrer Gedankengänge war sie weiter in die Halle hineingelaufen, weiter und weiter durch die Reihen der Schlafenden, der Toten, die - wie sie bereits erkannt hatte, hier nicht in chronologischer Ordnung nach Lebensdaten abgelegt waren. Ihr Herz klopfte wie wild, als sie sanft ihre Stimme hob, als wollte sie einen Schlafenden wecken: "Alessandra? Onkel Boromil? Celio, mein Lieber? Richild? Kalman?" Nochmals traf die Trauer sie mit großer Wucht, Tränen liefen ihr das Gesich herab. Mit erstickter Stimme, doch mit höchster Behutsamkeit rief sie weiter: "Boromil? Kalman? Richild? Celio? Alessandra?" Sie brach entkräftet in die Knie, barg das Gesicht in ihren Händen und weinte herzerweichend wie ein Kind. Ihre Rufe verhallten ohne jede Antwort. Nicht einer der Schläfer zuckte mit seinen Lidern, versuchte sich zu heben oder gab auf irgendeine andere Weise zu erkennen, dass er sie gehört hätte.
Der Rabensteiner trat mit kaum hörbarem Schritt hinter die kniende Frau und legte seine Hände auf ihre Schultern. Sein Schatten hüllte sie ein wie ein dunkler Mantel aus Rabengefieder, und in ihren Ohren rauschte es. Wind kam auf, stob durch die lange Halle, flatterte in den Leintüchern der Schläfer und umfing sie und ihren Begleiter mit Brausen und Wirbeln, bis nur noch das Tosen ihre Sinne erfüllte und die Umgebung sich schwindelerregend vor Ihren Augen drehte. Ihre Sinne vermeldeten ihr, dass sie aufgehoben und davongetragen wurde, und kurz erhaschte sie einen Blick auf eine weitläufige, schwarze Halle, ähnlich dem Refektorium eines Klosters, ehe sie weiter davon getragen wurde, durch ein hohes Portal, und sich in einem hohen, steinernen Raum kniend auf dem Boden wiederfand. Die großen Steinquader, die den Boden bildeten, bestanden aus geschliffenem, schwarzen Gestein, die Decke des mehrere Geschosse hohen Raumes verschwand in der Dunkelheit und rund um sie erstreckte sich ein wahrer Wald aus schmucklosen Säulen aus einem glatten, schwarzen Gestein. Der Geweihte trat neben sie und bot ihr eine Hand, um sich aufzurichten. Mühsam richtete sich die Baroness auf, nahm dabei die dargebotene Hand zu Hilfe. Ihre Beine fühlten sich so kraftlos an. Sie gestand sich ein, sie war froh, dass der Rabensteiner dabei war.
Nochmal ließ Arda den Blick in Richtung der Decke schweifen, als könnte sie die Mysterien hier beenden, indem sie das Gewölbe erspähte. Ihr Blick war immer noch tränenverhangen, verschämt wischte sie sich mit einer Hand die Augen trocken. Die andere Hand hatte Lucranns nie losgelassen. Sie fasste die Hand auch nicht mehr geziert wie eine Hofdame, die in eine Kutsche zu steigen gedachte, sondern wie die Hand eines Freundes. "Sie… sie sind nicht hier?" sprach sie ihre schlimmste Befürchtung aus.
Der Einäugige drückte ihre Hand zur Antwort und wies in das Zwielicht der großen Halle. Das unwirkliche Licht umspielte seine klar geschnittenen Gesichtszüge und nahm ihnen einen Teil ihrer Härte. Die ganz trefflich Schild und Wehr nach außen gebar.
Aus dem Dämmer löste sich eine einzelne, schmale Gestalt. Eine schwarze Kutte umhüllte sie, nicht mehr als ein Gespinst aus Dunkelheit. Er trat auf die beiden zu, ohne auf sie zu reagieren, griff sich aus der Finsternis einen Eimer, fiel auf die Knie und begann, mit Inbrunst und Hingabe den Boden zu schrubben, der direkt unter der Bürste in seinen Händen einen Herzschlag lang feucht glänzte, ehe er wieder zum selben matten Schwarz verblasste, das er zuvor innegehabt hatte. Aus der Dunkelheit schälten sich weitere Schemen, ungefähr ein halbes Dutzend. Der Rabensteiner wartete ruhig ab - hätte er sich angespannt, so hätte Arda dies unweigerlich bemerkt.
Die Gestalten, nicht mehr als Schattenbilder, verharrten vor Arda und blickten sie aus müden Augen an. Arda fühlte dem Druck von Lucranns Hand nach. Sollte sie dies als Bestätigung werten? Als Mutmacher? Oder als Eingeständnis der eigenen Unwissenheit in dieser Frage? Sie hatte bereits erkannt, dass Lucrann kein Mann der Worte sein mochte, wohl aber der Gesten und der Symbole, und hinsichtlich dieser war er geschwätziger als ein Warunker Waschweib.
Die erste Kuttengestalt hatte die Baroness noch mit wortlosem Erstaunen auftauchen und verschwinden sehen, doch als die anderen Gestalten erschienen und sie anblickten, wusste sie, dass ihre Rolle nicht auf ein reines Beobachten beschränkt war. Mit der Würde und Grazilität, die einer jungen Frau von Stand geziemte, trat sie einen halben Schritt vor. "Mein Name ist Ardare von Kaldenberg." stellte sie sich vor. Dann wartete sie.
Die Person vor ihr, war eine Frau mit schwer auszumachenden Gesichtszügen, nicht mehr jung, aber auch noch nicht wirklich alt, und Arda vollkommen unbekannt. Sie hob die Hand und strich über Ardas Wange, Sehnsucht in ihrem Blick. Die schattenhafte Berührung war eiskalt und hinterließ ein taubes Gefühl auf der Haut der jungen Baroness. ‘Was suchst Du hier’ war mehr eine Ahnung in ihrem Geist als eine wörtliche Frage, einem hohlen Flüstern gleich, hätte sie die Aussage irgendwie einordnen müssen - oder wollen.
"Ich möchte erfahren, ob gewisse Familienmitglieder von mir in Alveran eingekehrt sind. Sie starben unter Umständen, die dies ungewiss machen." Die Worte kamen Arda leicht und schnell über die Lippen. Doch ihre Stimme klang dabei etwas unmoduliert und hastig, als handele es sich um einen Satz, den sie vorformuliert hatte und nun nur zu gerne an einen passenden Adressaten richtete.
“Hier sind viele.” Die Frau blickte desinteressiert durch Arda hindurch und ihre Augen schweiften hinauf zu der Dunkelheit über den hohen Säulen. Sie strahlte eine gewaltige Müdigkeit aus, die sich auf die junge Baroness übertrug.
“Warum sollten sie nicht hier sein.” Die Stimme der Erscheinung war flach und ohne jede Färbung. Die Gestalt begann, an den Rändern zu verschwimmen und der Saum ihrer Robe verschmolz mit den Schatten.
"So wartet!" rief die Baroness und streckte den Arm aus, als wollte sie die Gestalt greifen und am Verschwinden hindern, wobei sie es sich im letzten Moment anders überlegte.
Mit einer Dringlichkeit in der Stimme erklärte sie: "Meine Familie wurde zu Vampiren gemacht, ihr Sikaryan wurde getrunken!" Arda hatte ihre Hausaufgaben durchaus gemacht, Nachforschungen zum Konzept jener Seelenessenz angestellt, die sie gerade genannt hatte. Hatte so viel über Vampirismus in Erfahrung gebracht, wie ihr als Nicht-Magierin und -Priesterin zugänglich gewesen war. Und oft genug hatte sie auch diese Schwelle überschritten.
Sie hatte das Gefühl, ihre Argumente könnten nicht ausreichen. Verzweifelt rief sie: "Der, der sich an ihrer Essenz gelabt hat, er ist doch auch der Feind des Herrn dieser Hallen! Bitte, wenn Ihr mir nicht um meinetwillen helft, so tut es doch als Verbündete im Kampf gegen diesen Widersacher der Schöpfung! Ich MUSS wissen, ob ihre Seelen Einkehr in Alveran gefunden haben." Auch zum Namenlosen hatte sie ihre Nachforschungen angestellt, was noch deutlich schwieriger gewesen war als bei den anderen Themen. Sie hatte einen Diener des Namenlosen gestellt und nicht nur sein verdammtes Leben beendet, sondern ihm auch sein Edlengut geraubt - in der Hoffnung, bei dieser Scharade Spielerin, und nicht etwa Spielfigur gewesen zu sein… Ganz sicher war sie sich dabei nicht.
Doch sie hoffte, mit diesem Pfund nun wuchern zu können.
Ihr leidenschaftlicher Ausbruch schien eine lang vergessene Saite in der Erinnerung der Frau angeschlagen zu haben. Sie wandte sich Arda zu und betrachtete sie lange und still, wobei sie noch immer halb durch die Baroness hindurch und auf einen Punkt hinter ihr starrte.
Sehr lange Zeit geschah gar nichts.
“Du gehörst nicht hierher” bemerkte der Schatten schließlich uninteressiert.
“Die, nach denen Du riefst, sind nicht hier.”
Die Baroness war nicht bereit, die Antwort zu akzeptieren. Die …Frau? Gestalt …? Sie schien völlig unberührt vom Schicksal ihrer Lieben, sie hatte sich gar nicht ihres Anliegens angenommen. Oder?
Hilfesuchend blickte Arda zum Baron. Das… das konnte nicht wahr sein, es konnte doch nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit sein! Fieberhaft suchte sie nach Erklärungsmöglichkeiten: Waren sie in ein anderes alveranisches Paradies eingegangen? Nein nein nein, das konnte alles nicht sein…! "Lucrann?" fragte sie, ihre Stimme voll der Verzweiflung. Die vertraute Anrede hatte sie unbewusst gewählt. Der Boroni legte seine rechte Hand auf Ardas Schulter. “Wir werden sehen.” sprach er, seine dunkle Stimme wie Wellen auf einem tiefen Teich, in den jemand einen Stein geworfen hatte. Die vertrauliche Anrede überging er scheinbar ungerührt. “Aber nicht hier.” Er strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus, die in großem Kontrast zu Ardas Verzweiflung stand. Vielleicht, so beschlich sie der leise Verdacht, waren sie und ihre Probleme ihm auch einfach nur vollkommen egal? Die Menge der Schattengestalten, die sich um die beiden Menschen herum versammelt hatte, war inzwischen auf mehrere Dutzend angewachsen, und die Ahnung von Bewegung an ihren Rändern zeigte an, dass noch stetig neue hinzukamen. “Eure Emotionen ziehen sie an.” raunte der alte Baron, seine Hand, leicht wie eine Feder und doch schwer und real an diesem unwirklichen Ort, noch immer auf ihrer Schulter. Ihre Emotionen zogen die Gestalten an?! Ja, Emotionen konnten diese Wesen haben, davon hatte sie genug. Genug, um mehr als dieses erbärmliche doppelte Dutzend Wesen satt zu bekommen.
Sie war von ihrer Mentorin stets ermuntert worden, sich ihrer Gefühle und Leidenschaften bewusst zu sein.
Die Comtessa hatte mit ihr den halben Kontinent bereist, von Donnerbach bis Khunchom, um einer Prophezeiung der Rondrakirche auf den Grund zu gehen. Mit der Akribie von Forschern waren sie ans Werk gegangen, mit dem erklärten Ziel, die objektive Wahrheit ans Licht zu bringen.
Gerade deswegen wusste sie nur zu gut auch um die subjektive Wahrheit eines Ereignisses. Historische Ereignisse waren für die Zeitzeugen zwingend mit Emotionen verbunden. Der Leser einer Chronik konnte vielleicht Mitgefühl entwickeln, doch dies war nur ein Abbild der ursprünglichen Gefühle, verändert durch die eigenen Befindlichkeiten des Rezipienten.
Die unmittelbaren Gefühle - die empathische Wahrnehmung der Situation - das war die wahre Kraftquelle einer Hexe. Dies hatte die Mentorin gepredigt, und wie so oft bei Predigten hatte Arda das Gefühl gehabt, dass der Predigende selbst nicht glaubte, was er da sagte. (Darin unterschieden sich für Ardas Geschmack die selten eloquenten und einfach gestrickten Predigten der Rondrapriesterschaft wohltuend von den dahergeschwafelten Lippenbekenntnissen anderer zwölfgöttlicher Kirchen.)
Nein, die Comtessa war reichlich verkopft, darin ähnelten sich Hexenmutter und -tochter, die deshalb gut zueinander passten und - wie zum Beweis dieses Umstands - voneinander als Mentorin und Schülerin dachten. Beide hätten ohne Zweifel ihren Weg auch in einer gildenmagischen Umgebung gemacht. Und doch waren sie Hexen, Arda noch mehr als ihre Lehrmeisterin, da sie ein temperamentvolles Wesen hatte, das unter der Tutorschaft einer hexischen Ausbildung wenig moralische Einhegung erfahren hatte.
Emotionen? Konnten sie haben!
Sie mochte zwar nicht hierher gehören, aber doch kamen diese Wesen zu ihr wie die Motten zum Licht!
Na, hatte sie NUN das Interesse dieser Wesen geweckt?!
Mehr und mehr der Gestalten drängten sich um die beiden Menschen. Eine weitere streckte die Finger nach Arda aus und berührte sie an ihren Schultern, was einen eiskalten Schauer durch den Körper der jungen Baroness trieb. Erstaunt betrachtete der Schemen seine Hand, die mit einem mal klarer und deutlicher denn zuvor in der Dunkelheit zu erkennen war.
Die Frau, die zuerst mit Arda gesprochen hatte, schien zum Teil aus ihrem Dämmer zu erwachen und zu überlegen, ehe sie, langsam und nachdenklich, nach der Hand der Baroness fasste, aber von zwei weiteren abgedrängt wurde, die wie traumverloren ihre Hände hoben, um nach dem unverhofften Gast zu tasten - was wie ein erneuter Guß von Eiswasser auf Arda wirkte.
“Bleibe hier.” murmelte eine der Gestalten, ein junger Mann und Arda vage bekannt, und streckte verlangend - oder bittend? - eine Hand nach ihr aus.
Woher kannte sie diesen nur, überlegte die Baroness.
Eine fast vergessene Erinnerung begann sich in ihrem Geist abzuzeichnen - einer der jungen Knappen der Göttin, vor langer Zeit, im Haus der Rondra. Einige Jahre älter als sie und damit betraut, den Kindern die ersten Grundlagen mit Dolch und Schwert beizubringen. Ein dunkler, wuscheliger Schopf und lachende braune Augen - gut gelaunt und immer freundlich, und dies trotz der Aufgabe, die, wie sie nun rückblickend wusste, für den jungen Krieger oft eine ziemliche Tortur gewesen sein musste, weit weg von sämtlichen Träumen nach Ruhm und Ehre, die ihn in die Kirche der Leuin brachten. Er hatte es sie nie spüren lassen.
Doch wie war sein Name - gewesen?
Ihr lief eine Gänsehaut über die Schultern, als es sie am ganzen Körper fröstelte, als sich die Kälte ihrer Gegenüber langsam auf sie übertrug.
"Waldemar?" Wie der verstorbene Herzog! Waldemar, ja, das war sein Name gewesen. Sie spürte einen Stich im Herzen, ein Bedauern, dass dieser junge Mann - wobei, er dürfte jetzt Mitte 30 sein, oder wäre Mitte 30, würde er unter den Lebenden weilen.
"Waldemar, warum seid Ihr hier? Warum weilt Ihr nicht an Rondras Tafel?" sprach sie die Gestalt an.
“Rondras Tafel.” Sehnsüchtig seufzte der Schatten, der einst Waldemar geheißen hatte, und es klang wie das hohle Pfeifen des Winterwindes in einem leeren Kamin. “Das Paradies der Herrin. Die Recken gelangen dorthin, die Würdigen und die Helden.” Er seufzte und seine Hände fielen herab.
“Wir anderen warten in Borons Hallen, bis die Götter uns rufen am Ende der Zeiten. Wer ist schon würdig für das Paradies der Herrin, kleine Arda?”
"Ja, wer? Wer, wenn nicht ein Diener der Rondra?" gab die Baroness zurück. Die defätistische Haltung des Mannes - der Gestalt - ging ihr sprichwörtlich auf den Geist. "Was hat Euch dahingerafft?"
“Ein Pfeil - bei einem Scharmützel.” Der Schatten Waldemars hob die Schultern. “In den Rücken.” Er betrachtete Arda aus Augen, die nichts weiter als Schatten in einer bodenlosen Dunkelheit waren. “Den Göttern zu dienen ist keine Garantie auf einen Platz in ihrem Paradies. Zumindest nicht sofort. Nicht jeder Geweihte ist ein Heiliger, kleine Arda. Und nicht jeder Streiter der Leuin willkommen.” Kalt war es! Die Fingerspitzen der Baroness begannen, vor Taubheit zu kribbeln. "Waldemar. Ihr wart immer freundlich zu mir, obwohl ich mehr geheult habe als alle anderen Novizen zusammen, und eine lausige, schwierige Schülerin war. Ihr habt mir immer das Gefühl gegeben, bei Eurem Unterricht willkommen zu sein, trotz all meiner Defizite. Ihr habt mich damals nicht aufgegeben. Heute gebe ICH EUCH nicht auf!" Sie hatte verstanden, dass die Geister (Geister?) durch die Berührung mit ihr an Lebendigkeit und Farbe gewannen. Darum drückte Waldemar nun den Zeigefinger in die Brust. "Ihr seid im Kampf gefallen, und Ihr habt die Ideale der Herrin weitergegeben. Wer, wenn nicht Ihr, sollte an Rondras Tafel sitzen? Macht Euch auf, fordert Euren Platz an der Tafel ein, oder eine Chance, Euch zu bewähren! Auf!" befahl sie der Gestalt. Das konnte wohl nicht wahr sein - Waldemar, nicht gut genug für Rondras Tafel? Sie erboste sich über diesen Gedanken - bis sie über ihre Eltern nachdachte. Sie waren beides Rondrapriester gewesen. Beide waren im Kampf gefallen. Ob sie es ebenfalls nicht an Rondras Tafel geschafft hatten? Die Hände der Erscheinung falteten sich über Ardas Finger und drückten ihn an seine Brust - ein höchst eigenartiges Gefühl von Firunskälte - aber einem fehlenden Widerstand. Waren es nur ihre eigenen Sinne, die ihr die Gestalt von Waldemar vorgaukelten, oder war er wirklich hier - so wirklich, wie es diese eigenartige Umgebung zuließ? Kälte verbreitete er, vielmehr die Abwesenheit von Wärme eines lebenden, atmenden, wachen Geschöpfs, eines schlagenden Herzens. Doch kein Leib, kein Stoff, auf den ihre Finger trafen - aber auch kein Nichts, durch das sie einfach ohne Berührung hindurchgegangen wären. Ein Schatten aus Kälte - das war es, was die Erscheinung war - oder?
Waldemar seufzte, und es war mehr ein überaus trauriges Lachen. “Kleine Arda.” sanft waren sein Worte, und ebenso warm und tröstend, wie sie es aus längst zurückliegenden Fechtstunden kannte, als sie wieder einmal in Tränen ausgebrochen war, weil ihre Arme eine Übung nicht schafften, oder sie sich die klobige Übungsklinge schmerzhaft auf Finger, Kopf oder Zehen gedroschen hatte. “Arme Arda. So einfach ist das Wesen der Welt nicht. Und nicht das Wesen der Götter. Die Zeit lehrt uns Demut und Geduld. Manche früher. Manche später. Und es nutzt nichts, aufzustampfen wie ein trotziges Kind und zu verlangen, nach was einem der Sinn steht. Götterdienst ist Demut. Demut ist Weisheit. Du bist jung. Trotz gehört der Jugend, doch ist er kein festes Pfand für die Ewigkeit.”
Er lachte, leichter dieses Mal. “Doch du bist großzügig. Und du hast ein warmes Herz.” Er gab ihre Hände frei, und in diesem Augenblick spürte sie, wie ein Panzer aus Eis von ihrem Geist sich löste und zersprang in tausend Scherben. Sie holte begierig Luft, als käme sie nach langer - nach zu langer - Zeit in tiefem Wasser wieder an die Oberfläche. “Du gehörst nicht hierher. Lebe Dein Leben im Feuer Deiner Jugend. Die Kontemplation kann warten, bis wir uns hier wiedersehen. Und wer weiß - vielleicht wird Rondra mich noch rufen. Und vielleicht auch Dich. Du hast das Herz einer Löwin - wer, wenn nicht Du, kleine Arda.” Sie wollte gerade aufbegehren, als sie erkannte, dass sie Waldemar damit das Wort führte - es wäre nichts tatsächlich anderes als ein wütendes Aufstampfen. Arda wusste nicht wohin mit sich. Es war ein ganz neues Gefühl, an welches sie sich noch gewöhnen musste. Doch eines, das wusste sie: Sie würde für Waldemar eine Kerze anzünden, nahm sie sich vor, wann immer sie an einem Rondratempel vorbeikam. "Ich grüße Euch, Waldemar, Knappe der Göttin!" flüsterte sie, die Rechte Faust zum Kriegergruß ans Herz führend. Der Schemen erwiderte den Gruß und neigte wortlos sein Haupt. Das Zwielicht an diesem Ort verschlang ihn rasch und er verschwand in der großen, schweigenden Menge er sie umgebenden Schatten.
Direkt neben Ardas Schulter drängte sich eine offensichtlich junge Frau, deren schlanke, wohlgeformte Gestalt sich selbst unter der unter der schlichten Robe, die sie trug, abzeichnete. Gedankenverloren betrachtete sie Arda zu, ehe sie sich mit traumwandlerischer Sicherheit abwandte und statt dessen den Boroni fixierte.
“Du hast mich erschlagen, Vater.”
Ihre Stimme war das Flüstern von Wind in dürrem Schilf.
Das Gesagte ließ Arda überrascht zu der Sprecherin herumfahren. Sie sah sich die Frau genau an, dann wanderte ihr Blick zu dem Baron, um seine Reaktion zu sehen.
Könnte das eine Tochter des Rabensteiners sein? Oder gewesen sein? War der Vorwurf buchstäblich zu verstehen?
Die Frau war - vermutlich - dunkelhaarig und von ebenmäßigen Zügen, aber mehr ließ sich in diesem unsteten Zwielicht nicht ausmachen. Sie war von einer vagen Ähnlichkeit wie ihr Begleiter, aber eine Familienähnlichkeit? Dies war ebensoschwer auszumachen wie zu wiederlegen.
Der einäugige Baron musterte die Sprecherin und Arda spürte, wie sich seine Fingerspitzen in ihre Schulter gruben.
“Deine Verantwortung.” Die dunkle Stimme des Rabensteiners war wie Stahl - ebenso hart und kalt. “Niemand hatte dich geheißen, dich diesen Meuchlern anzudingen.”
Diesen Meuchlern? Ardas Neugier war allemal stärker als ihr Taktgefühl, manchmal auch stärker als ihr Selbsterhaltungstrieb. Der Rabensteiner war nicht ohne, kein Mann, der gerne offene Rechnungen hatte. Aber sie MUSSTE dieses Geheimnis erfahren. Sie setzte eine Unschuldsmiene auf, als ginge sie das alles nichts an und könne sie das Ganze auch gar nicht hören, und verhielt sich mucksmäuschenstill.
“Du!” zischte die Frau, ihre Stimme das Schleifen von des Rondrikan über die Eisflächen im firunwärtigen Land. “Du hast Mutter verlassen! Du hast ihr einen Bastard angehängt, sie gezwungen, ihre Gilde zu verraten und dafür gesorgt, dass sie aus Amt und Rang geworfen wurde! Und ich habe geschworen, dass Du dafür zahlen wirst!” Mit wutverzerrtem Gesicht streckte die Gestalt ihre Hände nach dem Baron aus und machte einen Schritt vor, halb durch Arda hindurch, den Körper der jungen Frau mit niederhöllischer Kälte und darauf folgender Taubheit übergießend. Die Finger des Rabensteiners gruben sich schmerzhaft in Ardas Schulter. Er tat einen Schritt nach vorn, auf die Gestalt zu, hoch aufgerichtet und eine Bärenruhe nach außen tragend. Oder eher, so schlich sich der Gedanke ungerufen in Ardas Geist, abwartend wie eine Schlange, die ihre Beute fixierte, ehe sie aus der vollkommenen Stille heraus zustieß. Die Dunkelheit umschloss wie ein gewaltiger Mantel über den Diener des Uralten, des Herrn der Letzten Dinge, hier in seiner ureigensten Halle. Trotz des schmerzhaft zugreifenden Hand wagte Arda nicht einmal einzuatmen, um das Gespräch zwischen Vater und Tochter nicht zu stören. “Es war nie an Dir, ihre Entscheidung zu richten.” Der Rabensteiner hielt mit der Übung vieler Jahre alle Emotionen aus seiner Stimme fern. Dennoch vermeinte Arda das Klirren der Klingen zu vernehmen, die mit diesem Wortwechsel gekreuzt wurden. “Du hast beschlossen, Dich der Hand Borons anzuschließen und mir nachzustellen.”
Der Schemen wurde dunkler, seine Konturen schärfer - und ließen immer mehr die klaren, schön geschnittenen Züge einer jungen Frau in der ersten Blüte ihrer Jahre erkennen.
“Sagt der, der unseren Ordensmeister erstochen, seine Tochter verführt und Bishdariels Feder gestohlen hat!” Ihre Stimme war ein eiskaltes, hohes Zischen, das körperlich schmerzhaft in den Leibern der Menschen widerhallte. Wenn sie es vermocht hätte, hätte sie gewisslich ausgespien.
Arda spürte, wie der Baron Luft holte, und langsam und kontrolliert ausatmete.
“Wir gehen.” entschied er, zu Arda gewandt. “Hier ist nichts.”
Bishdariels Feder, Hand Borons, ein erstochener Ordensgroßmeister, eine diskreditierte Tochter und eine gemeinsame Bastardtochter, die von des Vaters Hand zu Tode gekommen war…
Soviel hatte die Baroness aufgeschnappt und im Geiste notiert. Wie interessant! Es waren etliche Hausaufgaben zu erledigen, sobald sie aus Borons Hallen zurückkehrte.
Doch zunächst galt es sich auf die eigentliche Aufgabe zurückzubesinnen. Allen Ablenkungen zum Trotz.
"Euer Gnaden…" hob Arda an zu sprechen, drehte den Kopf und blickte Lucrann ernst über die Schulter an. "Ihr tut mir weh." Ihre Augen senkten sich herab zur behandschuhten Hand, die sich noch immer in ihre Schulter krallte. Der Baron konnte die Schulterknochen der jungen Frau ertasten, die von einer festen, aber nicht sonderlich dicken Schicht Muskelgewebes umgeben war.
Der Baron löste seinen Griff um eine Kleinigkeit, doch er blieb noch immer unangenehm fest. Er führte Arda entschlossen fünf Schritte nach vorn, durch die Schemen, die sich wie Wasser vor beiden teilten, zu einer gewaltigen, schwarzen Tür, die wenige Herzschläge zuvor an dieser Stelle noch gewiss nicht gewesen war.
Auf eine Geste des Boroni hin schwang die Tür ohne jeden Laut auf. Dahinter wartete dunkler Nebel ohne Raum und Boden. Der Rabensteiner schien dies nicht zu bemerken, als er, Arda im Schlepp, energisch hindurchtrat.
Arda ließ es mit sich geschehen - nicht zuletzt deswegen, weil sie keine Alternativen sah. Sie wurde sich jedoch bewusst, dass es auch für den Baron kein Spaziergang war, sie hierher zu begleiten. Genau das, was sie für sich selbst befürchtet hatte - dem Baron gegenüber "entblößt" zu werden - war nun eingetreten. Ironischerweise in verkehrter Besetzung … .
Im Wald
Der Schritt durch die Tür war ein Fall ins Nichts, der die Empfindungen von ‘oben’ und ‘unten’ der beiden als bedeutungslos verwarf. Sie fanden sich auf dem Boden stehend wieder, auf einer Lichtung in einem kahlen Winterwald, der Boden schwarz vor totem, moderndem Laub, die Bäume dürre Totenfinger, die sich in den den grauen Himmel reckten. An einigen Stellen brachen Findlinge aus dunklem Fels wie morsche Zähne aus dem Boden, und über allem hing eine bleierne, unheilvolle Stille. Der Rabensteiner blickte sich um und holte tief Luft, schwieg aber. "Ich nehme an, Ihr habt kein Bedürfnis, Euch zu erklären?", fragte Arda. Die Antwort vorwegnehmend, fügte sie hinzu: "Jedenfalls werde ich Eure Geheimnisse für mich behalten. Ich bin Euch - hierfür - verpflichtet." Die Baroness machte eine knappe und gleichzeitig raumgreifende Geste. Der Baron fokussierte seine Aufmerksamkeit jäh auf Arda - wo auch immer sie zuvor gewesen war. Er führte einen Finger an seine Lippen und flüsterte: “Hunde.” Und doch herrschte hier nur die feuchte Stille des Waldes - nicht einmal durchbrochen vom Tropfen von Wasser oder Knacken von Holz. Die junge Kaldenbergerin unterdrückte den Reflex, das Gehörte zu wiederholen. 'Wie kommt er auf Hunde?', fragte sie sich, weil das beileibe nicht die größte Bedrohung war, an die sie gerade denken konnte. Nicht, dass sie sich besonders fürchtete, langsam kehrte eine Akzeptanz für all diese düster-elegischen, morbiden Schauplätze ein, mehr noch, sie konnte dem eine gewisse Ästhetik ausmachen und verstand vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, was den Reiz einer Boronpriesterschaft ausmachen mochte. Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gebracht, als sie am Rande ihres Gehörs das laute, energische Bellen von Jagdhunden vernahm. Das tiefe Luftholen ihres Begleiters konnte sie inzwischen selbst ohne ein einziges Wort unschwer als unschönen Fluch übersetzen. Er wies stumm mit dem Daumen den Baum hinauf, neben dem sie standen, und warf ihr einen auffordernden Blick zu. Arda zögerte. Sie hatte eigentlich ein ganz gutes Händchen für Hunde. Sicherlich besser als für Menschen, wie sie selbstkritisch anmerkte. Sie schätzte die Klarheit der sozialen Ordnung in einem Rudel. Es gab den Anführer, taugte dieser nicht, fand sich ein anderer bereit, an dessen Stelle zu treten, und der alte Anführer trat zurück ins Glied (sofern er den Kampf um seine Absetzung überlebte). Keine Meritokratie, keine nachtragenden Gedanken, jeder im Rudel wusste, wo sein Platz war und, vor allem, für jeden war Platz.
Doch wer wusste, wie die Hunde hier - im Geiste dachte sie, hier unten - beschaffen waren. Also begann sie auf den Baum zu klettern. Der Rabensteiner wartete einige Augenblicke, bis sie die ersten Äste erklommen hatte. Seine Umrisse verschwammen, und an seiner statt schwang sich ein großer, tiefschwarzer Kolkrabe empor, bis in die mittleren Lagen des Baumes, wo er auf die junge Frau wartete. Im Wald erklangen das Bersten von Ästen und die dumpfen Tritte eines Wesens, das sich in großer Hast seinen Weg durch das Dickicht bahnte. Das hektische, gellende Bellen der Hunde wurde lauter und kam näher.
Wenige Herzschläge später brach ein weißer Hirsch, ein kapitales Tier mit stahlgrauen Augen, durch das Gebüsch und sprang auf die kleine Lichtung, auf der die beiden Menschen kurz zuvor noch gestanden hatten. Der Hirsch war schweißbedeckt und blutige Kratzer auf seinen Flanken erzählten von einer andauernden Hatz. Er warf den beiden Wesen im Baum einen wissenden Blick zu, wandte sich seinen Verfolgern zu und senkte sein mächtiges Geweih.
Das Kläffen der Hund kam näher. Die ersten Schatten sprangen durch das Unterholz. Ein Teil von ihr verspürte den Drang, dem prächtigen Tier zu Hilfe zu kommen. Ein anderer wiederum wollte Zeugin des Todeskampfs der Beute mit ihren Jägern werden. Und einem dritten Teil ihrer selbst war klar, dass es sich hier um eine Art Metapher handelte. Doch - war möglicherweise Ihr Handeln in Reaktion auf jene Metapher ein Schlüssel, der - je nach zugrundeliegender Absicht des Urhebers jener Metapher - verschiedene Türen aufsperren würde?
In diesem Moment sah sie die grauen Augen des Hirsches. Ohne die Szenerie weiter zu zerdenken, ließ sie sich vom Baum fallen und kam federnd auf dem laubbedeckten Boden zur Landung.
Zeitgleich brachen die Hunde durch das Holz. Schulterhohe Bestien mit glühend roten Augen, denen schaumiger Geifer aus den Lefzen troff, ihr struppiges, räudezerfressenes Fell in Büscheln abstehend. Sie umkreisten den Hirsch und Arda und duckten sich zum Sprung. Einen Lidschlag lang schien die Zeit eingefroren - dann katapultierte sich die größte der Bestien in die Luft, direkt auf den prachtvollen Hirsch. Die Baroness versuchte ruhig und überlegt zu bleiben. Dies ist eine Metapher! Dennoch ließ sich nicht daran rütteln, dass diese Metapher Emotionen freisetzte. Arda erinnerte sich daran, wie Lucrann sich in einen Raben verwandelt hatte. War das eine Fähigkeit, die auf karmalen Fähigkeiten beruhte? Oder war auch sie in der Lage, die Realität dieser… Umgebung, was auch immer das hier war, zu beeinflussen? Sie hatte sich immer gewundert, dass ihr Seelentier ein Wehrheimer Bluthund war - bis sie die Hunde ihres Oheims kennengelernt hatte, der diese Rasse züchtete. Nun versuchte sie, gleich dem Rabensteiner eine wehrhafte Gestalt anzunehmen, fokussierte sich - wobei ihre magische Praxis zum Vorteil gereichte … . Arda konzentrierte sich auf Ihre Erscheinungsform - lag diese doch, wie sie wohl wusste, zu einem Gutteil im Auge des Betrachters, der über Freund und Feind, vertrauenswürdig und gefährlich oft genug befand, ohne das Hirn dazu einzuschalten. Doch Sie watete wie durch zähen Honig und immer, wenn sie glaubte, ihre äußere Form gefasst zu haben, entglitt diese ihrer Hand und floss zurück zu der alten Arda, die sich gerade fühlte, als halte sie ihr erstes Schwert in der Hand - eine einfache Klinge aus blankem Stahl, die, wie ihr Waldemar wieder und wieder versuchte zu erklären, eine Verlängerung nicht nur ihres Armes, sondern ihres Geistes werden sollte - was das Stück Metall trotz aller Mühen nicht werden wollte. Sie fühlte das Heft, das sich in ihre Hand presste, und das Gewicht der Klinge an ihrer Hand. Der Hund landete neben dem Hirschen, der sich im allerletzten Moment zur Seite gedreht hatte und nun das Tier mit seinem Geweih attackierte, währen die nächsten beiden Hunde zum Sprung ansetzten.
Der erste Hund empfing einen Stich mit einer Sprosse aus der Wehr des weißen Hirsches und heulte erstaunt und voll niederhöllischer Wut auf, ehe er sich erneut nach vorn warf.
Arda beschloss, dem Hirsch den Rücken freizuhalten - buchstäblich. Sie nahm sich jenen Hund vor, der die Flanke des Tiers attackieren wollte, und richtete ihre Waffe - dieses klobige, schwere Schwert - auf die zweite Bestie.
Gleichzeitig sprach sie laut auf den Hund ein. Was genau sie sagte, wusste sie schon einen Herzschlag später nicht mehr, doch in der Essenz forderte sie von ihm Gehorsam ein.
Die Hunde ignorierten die Stimme der Frau vollständig - gar nicht nach Hundeart, doch so, als sei Arda ein kleines Mädchen in der viel zu großen Rüstung einer Kriegerin - mit zu kurzen Beinen, um darin auszuschreiten, und zu kurzen Armen, um an die Waffen zu gelangen. Zwei der Hunde wandten sich von dem Hirsch ab, fixierten Arda mit ihren roten, glühenden Augen, und begannen, sie zu umkreisen. Sie musterten Arda mit viel zu klugen Augen, auf der Suche nach jeder Lücke in der Deckung, jedem Punkt, in dem sie nicht genügte, jeder Lüge, die sich sich selbst erzählte. Und sie war unbewaffnet bis auf das viel zu schwere Knappenschwert.
“Bleib ruhig, nicht fuchteln.” kamen ungerufen Waldemars Worte in ihren Geist. Sie war doch ruhig! Arda suchte sich einen der Hunde aus und fixierte diesen - nicht nur mit den Augen, sondern auch mit der Spitze ihres Schwertes. Sie verschob stattdessen ihre Position, immer noch mit dem Rücken zum Hirsch, doch näher zu dem von ihr fixierten Hund, dass die Hunde sich gegenseitig behindern würden. Unvermittelt schrie sie den Hunden entgegen: "Warum verlassen sie mich alle?" Die Hunde waren zusammen eins, ein auf sich abgestimmtes Rudel. Eine große Gemeinschaft, bei der jeder wusste, wo sein Platz war - und was seine Aufgabe. Während die übrigen den Hirsch attackierten, duckten sich ihre beiden Gegner zum Sprung. Ihre lachenden, geifernden Mäuler gaben die Antwort, die Arda sich selbst gegeben hatte. “Du selbst vertreibst sie. Weil niemand es auf Dauer in Deiner Nähe aushält. Weil Du es nicht wert bist, geliebt zu werden.” Noch immer lachend sprangen beide, auf ein geheimes Kommando, auf die junge Frau zu, Bündel aus Muskeln, Sehnen und Jagdtrieb und dem Ziel, sie zu Fall zu bringen und zu zerfleischen. Ohne Gnade - denn dafür hatte ein Hunderudel keine Verwendung. Die Baroness hatte darauf nichts zu erwidern. Vielleicht musste sie den Umstand einfach akzeptieren…? Doch sie hatte es bisher überlebt, verlassen und auf sich allein gestellt zu sein, also würde sie auch diesmal überleben. “Mal sehen, ob IHR es in meiner Nähe aushaltet!” brüllte sie grimmig. Sie begann mit ihrem Knappenschwert nach einem der beiden Angreifer zu schlagen, als sich dieser in ihre Reichweite begab. “HAAAAAAAAA!”, schrie sie dabei wild.
Einer der Hunde wich ihrer Attacke elegant aus und wandte sich noch im Sprung um, um wieder auf sie zuzustürmen, während der zweite, mit grinsendem Gesicht, auf ihre durch den Ausfall ungedeckten Seite hechtete. “Du bist kein Teil irgendeines Rudels! Du hast keinen Wert! Niemand braucht Dich!” Schnappte er.
Neben Arda flog einer der Hunde durch die Luft, aufgespießt durch das Geweih des Hirsches, der noch von zwei weiteren bedrängt wurde und mittlerweile eine lange, blutige Wunde an der Flanke davongetragen hatte.
Hinter Arda erahnte sie die Präsenz einer weiteren Person, war aber mit ihren Hunden beschäftigt genug, um sich nicht auch noch um die Tätigkeiten ihres Begleiters zu kümmern.
Tränen flossen unentwegt aus ihren Augen, sie fand jedoch keine Zeit, diese wegzuwischen. Die Hunde hätten mit ihren Zähnen keine schlimmere Wunden reißen können als jene, sie sie mit ihrem gehässigen Mundwerk anrichteten. Mit weitausholenden Hieben versuchte die junge Baroness, sich und dem Hirsch Platz zu verschaffen. Beschäftigt damit, sich ihrer Haut zu erwehren, hatte sie keine Kapazitäten, um die auf sie eindringenden Botschaften auch noch abzuwehren. Sie versuchte tapfer zu sein, doch die schmerzhaften Worte und der Abwehrkampf erschöpften sie. Sie konnte nicht mehr. Sie konnte einfach nicht mehr. Immer wieder gab sie sich einen erneuten Ruck, doch jedes Mal setzte sie auf einem schwächeren Niveau an als zuvor. Sie hatte das Gefühl, die Hunde wurden größer… oder wurde sie kleiner? Die Hunde waren Bestien, aus deren Schlündern sie eine niederhöllische Finsternis anlachte - sie würden den Hirsch überwinden und sie selbst ebenso. Keine Möglichkeit, nicht den letzten Hauch davon, auf einen Sieg, besaß sie in diesem Kampf, zeigte ihr der unermüdliche Angriff der Hunde. Viel zu viele waren es - und viel zu ungestüm ihr Angriff. Eine der Bestien schnappte nach ihrer Schwerthand, und nur mit allergrößter Mühe schaffte sie es, diese gerade noch rechtzeitig aus der Reichweiter der Kiefer zu bekommen. Der Geifer rann schaumig über ihren Arm. Einer der Hunde hechtete sich auf den Rücken des Hirschen und verbiss sich in dessen Nacken. Arda hatte schon immer Schwierigkeiten damit gehabt, Niederlagen einzugestehen. So auch jetzt. Keine Frage, sie fühlte sich körperlich völlig erschöpft. Der Gedanke gab ihr Kraft, dass sie eigentlich keinen Körper hatte, dass sie eine Geistreise - Traumreise? - machte. Also gab es nur den Geist! Auf, auf! Alles eine Frage des Willens, des Wollens! Auch wenn der Kampf hoffnungslos erschien, wollte sie doch nicht von sich aus aufgeben. Sie würde mit Würde untergehen, nahm sie sich vor, als sie erneut die Klinge in einem weiten Schwung führte. Der Wolf sprang zur Seite, der Klinge auszuweichen, während der zweite sich auf ihren Arm hechtete und seine gelben Zähne in ihrem Fleisch vergrub. Ihr Geist erwartete eine Welle aus Schmerz, doch diese blieb aus. Statt ihrer umschloss eine Namenlose Kälte ihr Handgelenk und bereitete sich bis in ihre Finger aus. Ihre kraftlose Hand verlor den Griff am Heft und kurz und ungebeten blitzte in Ardas Geist die Erinnerung an eine Erzählung darüber auf, in der eine Traumreisende im Traum verstarb und auch in der Wirklichkeit auf den Schwingen des Raben entglitt. Der Wolf hatte sich in ihre Hand verbissen und suchte, sie mit seinem Gewicht zu Boden zu ringen. Was half es ihr, wenn sie ihr Geheimnis bis ins Grab nahm, fragte sich Arda. Einem Impuls folgend, sammelte sie die Spucke in ihrem Mund und setzte einen Schleimbatzen gekonnt über die kurze Distanz in des Wesens Auge. Doch es war nicht "nur" Speichel - es war der Speichel einer Hexe…
Der Hund heulte auf, ließ das Handgelenk Ardas fahren und sprang, wild den Kopf schüttelnd, zurück, und versuchte, sich mit der Vorderpfote über die Augen zu wischen. Das zweite Tier ließ sich davon nicht beeindrucken und witterte seine Möglichkeit, seiner angeschlagenen Beute den Rest zu geben. Mit gefletschten Zähnen sprang es auf die junge Baroness zu. Hinter Arda hörte sie den Hirsch vor Schmerzen stöhnen.
Die junge Kaldenbergerin beugte die Knie und legte ihre Hände auf die Oberschenkel, um mit einem Krötensprung einen weiten Satz nach oben zu machen, der sie aus der Reichweite der heranspringenden Bestie und in die Griffweite einiger einst kräftiger, nun morscher Äste des Baumes brachte. Sie streckte beide Hände aus, um jeweils einen der Äste zu fassen.
Erwartungsgemäß hielt das tote Holz das Gewicht der Baroness nicht, es brach und Arda fiel. Sie schien jedoch keineswegs verzagt darum. Sie federte die Landung geschickt ab und stand, mit jeweils einem abgestorbenen Ast in der Hand, zwischen den Bestien. Mit einer geradezu arroganten Bewegung ließ sie zuerst einen der Äste um ihr Handgelenk kreisen, bevor sie ihn auf eine der Bestien warf. Dasselbe wiederholte sie mit dem anderen Holz, das auf eine andere Bestie geschleudert wurde. Beide Äste begannen ein Eigenleben zu entwickeln und wie besessen auf die Hunde einzuprügeln. Die beiden Hunde heulten auf und ließen von Arda ab, um sich den so jäh aufgetauchten neuen Gegnern zu widmen, was der Baroness eine Verschnaufpause verschaffte. Ihre linke Hand, von der der Blut rann, war vollständig taub. Arda warf einen Seitenblick auf den Hirsch. Das Tier war in die Knie gebrochen, attackiert von drei Hunden, von denen zwei sich in seine Flanken verbissen, während ein drittes auf seinen Rücken gesprungen war und nach seinem Nacken schnappte. Der Hirsch blickte die junge Frau aus verzweifelten Augen an, sein Kampfwille am erlöschen. Ein Blick aus den Augenwinkeln zeigte Arda, dass der Rabensteiner gerade dabei war, sich seiner Haut gegen eine Gruppe anderer Hunde zu erwehren. Von der Seite aus war kaum Hilfe zu erwarten.
Der Hund auf dem Nacken des Hirschen blickte die junge Frau aus blutunterlaufenen Augen an. Er schien zu lachen. “Nichts hat es Dir eingebracht, gar nichts. Du hättest zuhause bleiben können!”
Trotzig antwortete die Baroness mit einem Zitat ihrer Lehrmeisterin: “KEINE Reise ist vergebens!” Sie hatte fast ihre gesamte Lehrzeit reisend verbracht. Der Versuch, die Prophezeiung um die Zerstörung Arivors zu entziffern - der eigentliche Grund der Reise - scheiterte, Rondras Stadt verging im Sternenfeuer. Und doch hatte die Reise sie, Ardare von Kaldenberg, zu der Person gemacht, die sie jetzt war. Arda nahm die taube und die heile Hand hoch und formte einen ungelenken Trichter vor dem Mund. “Krahhhh!”, imitierte sie den heiseren Ruf von Krähen. Aus dem Nichts erschienen drei große Exemplare der Vögel und stürzten sich auf die Hunde an den Flanken. Die Hexe würde aus ihrem vollen Repertoire schöpfen. Konzentriert blickte sie auf ihre intakte, rechte Hand deren Finger sie zu Krallen geformt hatte. Wieder ließ sie ihre Kraft fließen. Die Nägel ihrer rechten Hand wurden länger, härter und fester. Mit ihrer letzten Waffe stürzte sie sich auf den Hund auf dem Rücken des Hirsches. Mit einem Schauer aus Blut und Federn beendete eine der Krähen ihr Dasein, und wenig später fiel die zweite zu Boden, während die dritte wütend nach den Augen des einen Hundes hackte. Der Hirsch keuchte, und Blut lief aus seinem Äser. Der Hund, nicht willens, seine Beute zu teilen, fletschte die Zähne und sprang Arda entgegen. Seine langen, ungepflegten Krallen kratzten über ihren Brustkorb, und sein Maul schnappte nach ihrer Schulter. Der Zustand des Hirsches - Symbol für was-auch-immer - versetzte Arda in Wut. Sie fletschte ebenfalls die Zähne, deutlich weniger imposant als ihr Gegenüber, und setzte ebenfalls ihre Krallen ein. Sie versuchte das Tier am Hals zu packen und ihre Krallen in das weiche Fleisch um die Gurgel zu schlagen… Der Hund riss Arda zu Boden und landete mit seinem vollen Gewicht auf ihr. Seine Pfoten ritzen die Haut ihrer Schultern. Ihre Krallen gruben sich in das weiche Fleisch seiner Kehle, das, an Gallert erinnernd, kaum Widerstand leistete, und ein Regen aus dampfendem Blut ergoss sich über sie. Die Bestie lachte, das Geräusch kreischend in ihren Ohren. “Das ist alles? Kleine Arda - sag mir, was ist Dir die Seele Deines Onkels wert?” "Was will ich mit seiner Seele?" brüllte sie. "Ich will sie nicht! Ich will nur wissen, wo sie ist!" Wieder begannen Tränen aus ihren Augen zu laufen. "Willst Du wirklich mit mir schachern - um die Seelen, die Dir anvertraut werden? Willst Du seine Seele dem Namenlosen geben, wenn Dir mein Angebot nicht gefällt?! Dann bist Du, dann seid IHR nicht besser als ER!"
Sie weinte - nicht aus Selbstmitleid, sondern aus Mitleid für alle, die an das Gute glaubten.
Sie weinte, weil sie sich in ihrer schlimmsten - der allerschlimmsten! - Furcht bestätigt sah.
Sie weinte, weil sie Recht hatte und die Welt eine Welt war, in der es nichts Gutes gab. Nicht mal die Götter waren gut. Jeder ein Egoist, von der Ameise bis zum Götterfürsten. Jeder feilschte, selbst um den Dreck unter seinen Fingernägeln.
Sie weinte.
Der Hund lachte sein kreischendes Lachen.
“Du willst ihn nicht? Nun, er war mein, er ist mein und ich nehme ihn.” Im Zuge eines Lidschlags verschwand das Gewicht aus Ardas Brust und sie sah, wie der Hund, einen Schleier aus Blutstropfen hinter sich herziehend, zum finalen Biss an der Kehle des Hirschen ansetzte. Aus ihren Augenwinkeln sah sie, wie fünf der Hunde auf die Gestalt hinter ihr eindrangen, der sie gerade so eben in Schach hielt und dessen Robe an Saum und Ärmeln mittlerweile in Fetzen hing. Der Hirsch brach zu Boden, als der Hund an seine Kehle ging, und sein gewaltiges Geweih grub Furchen in den feuchten, schwarzen Grund. Arda hatte keine Ahnung, wer der Hund war, wen er repräsentierte, als Metapher für was auch immer er diente - und es war ihr auch egal. JETZT, in diesem Moment, war es ihr Feind. Sie schrie, schrie, schrie, wie von Sinnen. Ihr Verstand schaltete sich aus. Purer Instinkt, pure Emotion, purer Hass ließen sie agieren. Sie stürzte auf den Hund, kam rittlings auf dessen Rücken zu Sitzen, legte die Krallenhand an dessen Lefzen, versuchte die taube Linke an den Unterkiefer der Bestie zu bringen, versuchte, dessen Gebiss von der Kehle des Hirsches zu lösen. Und sie schrie, schrie, schrie. Der Hund schnaufte belustigt, als sie sich auf ihn stürzte. “Macht Dich das jetzt groß und stark?”
Doch lachte er nicht mehr, als Arda ihn mit einem gewaltigen Kraftakt von dem sterbenden Hirsch riss und und einen halben Schritt in die Luft hievte. Das war es, was wirklich zählte - ein genau definiertes Ziel für all ihre aufgestaute Wut! Zumindest genau jetzt in genau diesem Moment. Sie schrie, zog an den Kiefern, als wollte sie das Maul, nein, den Kopf der Bestie auseinanderreißen. Sie ignorierte, wie die scharfen Zähne ihre Finger zerschnitten. Das gellende, unartikulierte, andauernde und von schierer Wut erfüllte Schreien der Baroness hallte durch den Wald. Der Hund ließ sich ziehen, einen Schritt, zwei. “Ich mag deine Wut.” erklang unvermittelt seine rasselnde Stimme in Ardas Kopf.
“Nun gut, so sei es. Ich nehme sie dafür.”
Innerhalb eines Lidschlags zerfloss die Wut der Hexe und hinterließ nichts als niederhöllische Kälte und ein Gefühl namenloser Leere, wo gerade eben noch das brennende Feuer ihres lodernden Hasses gewesen war. Im selben Moment verschwand der Hund und es herrschte wieder tiefe Stille in dem feuchten, modernden Wald. Arda blickte sich desorientiert um. “L… Lucrann? Euer Gnaden… Hochgeboren?”, rief sie. sie drehte sich orientierend einmal im Kreis. Sie fühlte sich wie erschlagen. Und diese Kälte… bis in die Knochen war ihr kalt, die linke Hand dazu noch taub. Ihr einäugiger Begleiter war noch mit seinen Gegnern zugange. Zwei der Tiere lagen still am Boden, die beiden anderen versuchten, ihn anzugehen und dabei der schwarzen Klinge in seiner Hand auszuweichen. Viele Chancen besaßen sie nicht - so dass Arda diese Gruppe mit einem Schulterzucken abtun konnte. Sie ging vor dem verendenden Tier in die Hocke und ließ ihre Astralkraft wirken, um zu retten, was noch zu retten war. Falls noch etwas zu retten war … . Die Kraft Ardas glitt als schimmernder Fluss von ihrer Hand zum Kopf des Tieres und entzündeten ein Leuchten in dessen brechenden Augen. Doch sie spürte: der Hirsch - ihr Onkel? - lag im Sterben, und sie hatte ihm bestenfalls einige Augenblicke Zeit verschafft. Sie ließ mehr und mehr Kraft in das Tier fließen. Währenddessen redete sie auf es ein: “Es tut mir leid, dass ich nicht dabei war bei dieser Hochzeit! Vielleicht hätte ich Dich - Euch - retten können. Vielleicht kann ich Dich jetzt retten. Ich will doch nur wissen, ob ihr tot seid, nur tot seid, und Eure Seelen nach Alveran eingegangen sind, oder ob sie zugelassen haben, dass Ihr gänzlich vernichtet wurdet! Hilf mir, Onkel, hilf mir dabei Gewissheit zu erlangen, hilf mir dabei Frieden zu finden, oder hilf mir dabei, Euch zu helfen!”
Der Hirsch betrachtete Arda lange und mit viel zu klugen Augen für ein bloßes Tier.
“Es ist nicht Deine Schuld, Ardare.” klang die Stimme ihres Onkels in ihrem Kopf. “Du hättest daran nichts ändern können und wärst ihm ebenfalls zum Opfer gefallen, so wie Alessandra und die Kinder.” Der Hirsch holte stöhnend Luft. “Der Namenlose ist ein großer Verführer, und die kleinste Unachtsamkeit kann ausreichen, um in seine Fänge zu geraten. Versprich mir, dass Du wachsam bist, Ardare. Hüte Deine Seele gut, dass sie nicht in seine Hände gerät. Und achte nicht nur auf Dich, sondern wache über die, die schwächer sind als Du. Versprichst Du mir das?”
"Bist Du gerettet? - Ja, ich verspreche es. Alessandra, die Kinder, sind sie gerettet?" Arda sprach schneller, spürte die Notwendigkeit, ihren Oheim zu drängen, den zeitlichen Druck, eine Antwort zu erhalten. Doch Panik, Wut - nichts. Nichts! Sie hatte die Ruhe eines neutralen Beobachters. Und das machte ihr Angst… aber nur ein wenig. Im Grunde hob es sie nicht an.
“Du hast die Hunde vertrieben.” Tiefe Dankbarkeit schwang bei diesen Worten mit. Die Worte kamen langsam, ein scharfer Gegensatz zu der drängenden Eile, die Arda verspürte. “Schenke ihm nichts. Nicht ihm und nicht den Siebstsphärigen. Und mache Deinen Frieden mit dem, was geschehen ist. Du kannst es nicht ändern.” "Sag es mir. Bitte. Sag es mir." wiederholte Arda ruhig und unbeirrt. Sie bemerkte, wie das schimmernde Band zwischen ihr und dem Hirschen verblasste, schwächer wurde. Ihr Onkel musterte sie mit traurigen Augen, ehe er wiederholte: “Sie sind in die Fänge dessen ohne Namen geraten.” Die Augen des Wesens trübten sich, und Arda fühlte, wie die Kraft des Tieres - ihres Onkels - in das sie umgebende Grau zerrann.
Ein Schatten fiel auf beide. Der Boroni trat zu ihnen.
“Es ist soweit. Komm.” Er hielt Arda eine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen, und betrachtete mit emotionsloser Miene den Hirschen, der zu Boden brach und begann, seine äußere Form zu verlieren.
Aus den Augenwinkeln erspähte Arda die Form eines inzwischen Vertrauten Portals, das zwischen den Bäumen stand, als wäre es schon immer dort gewesen.
Wie betäubt stand die Baroness auf. Ihr Verstand hatte damit gerechnet, dass ihre Familie in die Hände des Namenlosen geraten war - allein, ihr Herz hatte es nie wahr haben wollen. Nun hatte sie Gewissheit.
Selbstverständlich hatte sie es keinem von den Fünfen gewünscht, dass ihre Seelenessenz dem Namenlosen zum Fraß vorgeworfen wurde - den Kindern aber am wenigsten.
Eins war sicher: Hlutharswacht würde brennen dafür. Die Familie Sturmfels-Maurenbrecher würde bitter, bitter dafür bezahlen. Dafür würde sie sorgen. Sie tastete im Inneren nach ihrer Wut - doch sie war nicht da. - Ja, die Hunde hatten sie. Noch. Aber sie würde zurückkehren, das wusste sie. Es würde vielleicht Jahre, Jahrzehnte der Vorbereitung benötigen, doch sie würde ihre Rache üben, und sie würde furchtbar sein. Rache an denjenigen, die mit ihrer Unbedarftheit, ihrer Unachtsamkeit, ihrem Egoismus den Altar bereitet hatten, auf welchem die Seelen ihrer Familie geopfert worden waren.
Doch ihre Rache würde weitergehen, die derischen Gefilde überschreiten: ER war vielleicht der Gott ohne Namen. Aber IHREN Namen würde er bald gut kennen. Er würde den Stachel in seinem Fleisch mit Namen benennen können, er würde sich wünschen, DIESE Seelen nicht vereinnahmt zu haben. Sie, Arda, könne das Geschehene nicht rückgängig machen?! Ihr Onkel unterschätzte sie mal wieder… Sie würde einen Weg finden, dem Namenlosen diese Seelen zu entreißen, und wenn sie dazu 100, 1000 Jahre alt werden und als verhüllte Meisterin die Geheimnisse der Magie und des Kosmos ergründen müsste.
Die Götter, was waren sie? Nichts anderes als Erzdämonen, nur dass sie auf der Seite der Gewinner standen, mit besserem Leumund und gediegenerem Interieur, was ihre Domänen betraf. Wenn ein Gott wie Nandus zerbrechen konnte in eine Göttin der Weisheit und einen Erzdämon des Wahnsinns, dann war die Ordnung doch nicht so ewig und unverrückbar, wie die Kirchen den Menschen weismachen wollten.
Der Nebel der Taubheit wich und machte einer Klarheit Platz, wie Arda sie noch nie zuvor gefühlt hatte. Sie hatte ein großes, ambitioniertes Ziel, doch sie wusste, dass sie es mit unbeirrbarem Fokus erreichen konnte - erreichen würde. Die Baroness reichte Lucrann die Hand und ließ sich aufhelfen. Ihr Blick kreuzte den des Barons, die sonst so lebhaften grauen Augen waren unergründlich still. Ein unverbindliches Lächeln erschien auf Ardas Gesicht. Die Kaldenbergerin richtete sich kerzengerade auf und hakte sich bei dem alten Borongeweihten ein. "Nun Denn. Es gibt einiges zu tun.” meinte sie knapp.
Der Geweihte schwieg, sich zu wiederholen war seine Sache nicht. Er wartete, bis der Hirsch seine Form verloren hatte und zu einem annährend menschenähnlichen Schemen geworden war, ehe er diesem mit einer Handbewegung die Richtung des großen Portals wies, das geräuschlos aufschwang. Die Blicke des Schemens und des Geweihten trafen sich zu einer wortlosen Übereinkunft, und der Schemen nickte einmal, ehe er sich zielstrebig zu dem Portal begab und es durchschritt. Hinter ihm schlossen sich die Flügel. Borons Hallen hießen ihn willkommen.
Eine Seele hatte ihr Ziel - und ihren Frieden - gefunden. Eine andere nicht. Nachdenklich blickte der Rabensteiner die junge Frau an, sein Gesicht reglos wie stets, ehe er ihr den Arm reichte und mit ihr durch den modrigen, toten Wald schritt.
Arda war geistig abwesend, nahm von der Umgebung und ihrem Begleiter nur am Rande Notiz. Schweigsam lief sie neben ihm her. Umso überraschender kam ihre Frage, die sie unvermittelt stellte: "Was ist das GENAU für ein Ort, an welchem wir uns befinden? Ich frage Euch nicht aus der seelsorgerischen, sondern aus der theologischen Warte." So, wie sie die Frage stellte, schien sie sich den Wortlaut präzise überlegt zu haben. Der alte Baron antwortete nicht sofort. Beide hatten den Saum des Waldes erreicht, die Bäume traten zurück und nach wenigen Schritten war wieder der feine Sand am Strand der stillen See unter ihren Füßen. Zu ihrer Linken erstreckte sich das bleigraue Wasser, zu ihrer Rechten das Schilfmeer, und als Arda sich umblickte, war von dem Wald nichts mehr zu erkennen. “Genau” ist kein Wort, das diesen Ort beschreibt.” Die dunkle, ruhige Stimme des Borongeweihten. “Ich gehe nicht davon aus, dass jeder Mensch ihn auf dieselbe Weise wahrnimmt. Er überlappt in Teilen Borons Reich, so weit, wie uns zu diesem Moment der Zugang gestattet wird.” Ein leiser Wind kam auf, ließ die Sandkörner wandern und wisperte in den blassen Rispen des Schilfs. "'Zu diesem Moment?'", echote die junge Frau mit fragendem Unterton. Sie bewegte vorsichtig ihre linke Hand, die durch den Kampf mit den Hunden in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sie konzentrierte sich auf die Hand und folgte denselben geistigen Handlungen, die sie bei der Anwendung ihrer astralen Kräfte anwenden würde. “Ein dauerhaftes Recht, hier zu sein, haben wir noch nicht.” war die trockene Antwort des Einäugigen. Arda fühlte sich leer- ihre astralen Kräfte, die sie mit der lebendigen Welt um sie herum, mit dem gesamten Kosmos verbanden, schienen hier knapp bemessen und auf das begrenzt, was sie in sich getragen hatte. Was nun, nach der Orgie an Wut und Gewalt im Kampf mit den Hunden, aufgezehrt war. Ihr Begleiter beobachtete interessiert Ardas konzentrierten Fokus auf ihre Hand und hielt ihr schließlich stumm, aber in eindeutiger Aufforderung seine offene Hand auf ihre Linke gerichtet entgegen. Die junge Frau zögerte nur kurz und kam der Aufforderung nach. Sie sortierte währenddessen ihre Eindrücke. Sie verstand, dass sie sich in Borons Hallen aufgehalten haben mussten, doch dann hatte ihre fortwährende Suche sie aufs Nirgendmeer hinausgeführt. Der tote Wald - es musste eine Inkarnation des Nirgendmeers gewesen sein, passend zum Hirsch, den sie dort gefunden hatten. Ihren Oheim. Seit seinem Tode musste er dort herumgeirrt sein, gehetzt von jener Meute Jagdhunde, die dem Namenlosen dienten. Ihm hatte sie jetzt wohl zum Eintritt in Borons Hallen verholfen. Nur noch vier. Doch sie musste noch viel lernen, bevor sie diese Reise antrat.
“Was ist Bishdariels Feder?”, fragte sie den alten Geweihten vor sich unvermittelt. Der Baron ging nicht auf ihre Frage ein. Er tastete vorsichtig ihre Hand ab, und strich mit seinem Daumen leicht über die deutlich sichtbaren, weiß hervortretenden Bißspuren des Hundes. Die Berührung hinterließ ein Kribbeln in Ardas Hand, und die Male der Hunde verblassten und verschwanden schließlich. Es fühlte sich an, als wäre ihre Hand eingeschlafen und erwache langsam wieder zum Leben. Er umfasste weiter ihre Hand und beobachtete das graduelle Schwinden der Abdrücke. Geraume Zeit verstrich - insofern dieser Ort ein Konzept wie ‘Zeit’ überhaupt besaß. Der Rabensteiner betrachtete ihre Züge. “Ein Artefakt der Boronkirche.” Als erkläre dies alles. Arda nickte knapp. "Und die 'Hand Borons'? Eine Sekte? Möglicherweise des… anderen Ritus?" mutmaßte sie, weiter mit sachlichem Ton, während sie ihre Hand versuchsweise öffnete und wieder schloss. Ihre Hand funktionierte wieder tadellos - auch wenn vorerst noch ein Kribbeln in den Fingerspitzen zurückgeblieben war. Der Baron gab ihre Hand frei, legte seine Rechte unter ihre Wange und verschloss mit seinem Daumen ihre Lippen. “Es gibt nicht auf alles eine Antwort, Baroness.” Sein Auge funkelte. Arda beschlich der leise Verdacht, dass er die Situation genoss. Die Baroness entspannte ihre Mundpartie, als Zeichen dafür, dass sie in der Angelegenheit nicht weiter nachbohren würde. Warum auch? Sie hatte irgendwann gelernt, dass man auf Fragen nicht NICHT antworten konnte, und die "Nicht-Antwort" des Rabensteiners war Antwort genug. Unter anderen Umständen hätte sie die Geste wohl als übergriffig empfunden. Doch der Alte brachte in ihr eine Saite zum Schwingen, die sie so noch nicht kannte. Sie war in ihrem Leben vielen starken Frauen begegnet, doch sie hatte noch nie wirklich eine Vaterfigur gehabt. Onkel Boromil hatte dieser Rolle noch am ehesten entsprochen - in der kurzen Zeit, die sie mit ihm und seiner - ihrer - Familie verbringen durfte. Vom Rabensteiner gingen Führung, Kompetenz, Selbstvertrauen aus. Er gab ihr das Vertrauen, sich ihm ungefährdet unterordnen zu können, zumindest in ein paar Aspekten des Lebens. Sich nicht auflehnen zu müssen, wie bei den meisten anderen Zeitgenossen, weil man sie für Flachpfeifen hielt. Außerdem hatten die vergangenen Augenblicke - Minuten? Stunden? Tage? - zwischen den beiden Nordmärkern eine tiefe Verbindung hergestellt. So empfand es Arda zumindest, und so wenig sie diesen Umstand erwartet hatte, war es ihr irgendwie doch nicht unangenehm. In manchen Aspekten ähnelten sich der Baron und sie sehr, und in anderen konnten sie verschiedener nicht sein. Eine Ähnlichkeit, die sie verband, war die Last der Geheimnisse, unter der sie durchs Leben gingen. Arda war nur nicht ganz klar, welche ihrer Geheimnisse sie vor dem Alten offenbart hatte. Sie würde das ergründen müssen. Während sie sich anschickte weiterzugehen, fragte sie: "Da wir schonmal hier sind: gibt es nicht noch weitere Angelegenheiten, die es hier zu… ergründen und zu erledigen gäbe?" Der Baron folgte mit seinem Daumen den schön geschwungenen Lippen der jungen Frau. “Wir sind jetzt nur zu Gast, und dennoch zieht es uns hierher, zum Ziel unseres Weges. Bemerkt ihr es?” Wenn Arda in diesem Moment in sich hineinfühlte, hätte sie das Zupfen und Wispern am Rand ihrer Aufmerksamkeit vermutlich bemerkt - eine Einladung, wie die Aussicht auf ein weiches Bette am Ende eines langen und arbeitsamen Tages. Und ebenso schwer auszuschlagen. Eine enorme Verlockung. Die Baroness versuchte zu verstehen, was der Rabensteiner meinte. Machte der alte Bock ihr etwa Avancen? Das konnte er doch nicht ernst meinen! Meinte er etwa, sie würde ihm die Gefälligkeit dieser - Traumreise? - mit ihrem Körper vergüten, wie eine Dirne mit leerer Geldkatze? …und daher war sie der Meinung, ihn falsch gedeutet zu haben. Sie nahm ihren Kopf etwas zurück, um seinen Daumen von ihren Lippen zu lösen. “Ziel unserer Reise?” “Borons Reich wird uns alle willkommen heißen.” Er ließ seine Hand sinken. “Jetzt zu verweilen ist gefährlich.” Er reichte ihr mit undeutbarer Miene erneut seinen Arm. “Kommt.” Das Schilf zischte in unwirklichem Wind und der Sand rann nun merklich über ihre Beine, ihnen entgegen, lief einem Ziel weit hinter ihnen zu. Jeder Schritt geriet ein wenig schwerer als der folgende, gerade so, als wolle der feine Sand am Ufer des grauen Meeres sie halten, eine Einladung, auf immer hier an seinen Gestaden zu warten. Arda blickte zurück. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst und wehte im Wind. Immer hatte sie sich gewünscht, die geliebten Personen, die in Borons Hallen weilen, wieder zu sich holen zu können. Jetzt hoffte sie, dass diese Personen alle Einkehr in Borons Hallen oder eines der anderen Paradiese gefunden hatten … . Was war mit ihrem Vater, der in der Dämonenschlacht gefallen war? Die Mutter, die gegen die Orks gefallen war, mit ihren fremden Göttern und finsteren Ritualen? Konnte sie sicher sein, dass IHRE Seelen bei den Garanten der Ordnung verwahrt waren? “Du musst wagen, Du musst hoffen, denn die Götter leihn’ kein Pfand.”, zitierte sie leise ein horasisches Gedicht, von dem sie nur diese eine Zeile kannte. Unversehens war sie stehen geblieben. Noch immer blickte sie zurück. Sie hatte bereits beschlossen, dass dies ihr einziger Besuch in Borons Reich sein würde. Willkommen hin oder her. “Ihr wollt also gehen?” fragte sie. Der Wind frischte auf, zerrte an Ardas Haaren und Kleidung und zischelte in ihren Ohren. Der Rabensteiner bot ihr seinen Arm und verharrte schweigend. Arda zögerte noch einige Augenblicke, bevor sie nachgab und sich bei dem Baron unterhakte. Nachdenklich blickte sie in die Weite. Die beiden schritten schweigend an dem fahlen Strand des bleigrauen Meeres entlang. Der Wind peitschte in ihr Gesicht, stärker jetzt und fast wütend, als wolle er sie festhalten. Der Einäugige schritt aus, als schlendere er an einem ruhigen Abend über den Greifenplatz in Elenvina, unbeeindruckt von dem Fauchen und Zischen des Windes. Eine lange, sehr lange Zeit geschah nichts weiter. Dann, als Arda sich bereits zu fragen begann, ob sie nicht doch in die Irre geführt wurde, erschien auf einmal die niedrige Umfassung eines Brunnens auf dem schmalen Landstreifen zwischen Meer und Schilf. Der Wind heulte wütend auf, riss an den Haaren der Wanderer und trieb ihnen Sand ins Gesicht. Waren sie an diesem Brunnen schon gewesen? Unsicher sah sich die Kaldenbergerin nach jenem kruden Holzschwert um, welchen sie als “Anker” - hatte Lucrann das nicht so genannt? - einst am Brunnenrand zurückgelassen hatte. Tatsächlich - unter dem Sand am Fuß der Brunnenfassung zeichneten sich die Konturen des groben Knappenschwertes ab, daneben lag, halb verdeckt und um einige Blätter ärmer, die schwarze Rosenblüte. Der Wind peitschte den beiden den Sand ins Gesicht. Der Einhäugige bückte sich, nahm die Blüte an sich und schloss seine Hand um sie. Als er sie wieder öffnete, hatte sich die Blüte zu schwarzem Staub verwandelt, den der Wind begierig mit sich riss. Stumm wies der Schwarzgewandete, dessen Robe vom Wind unberührt schien, auf das gähnende Portal des Brunnens. Es hätte einfacher sein mögen. Auch Arda griff nach dem Knappenschwert, doch kaum war die Waffe in ihrer Hand, da begann der Wind bereits, die Waffe abzutragen. Kleinste Stückchen lösten sich fortwährend von dem Holz, bis die gesamte Waffe im Wind verwehte. Arda setzte sich an den Brunnenrand, blickte sich noch ein letztes Mal um, als wolle sie sich den Ort einprägen. Bevor sie die Beine über die Umrandung hob, suchte sie den Blick Ihres Führers in diesem… Traum? Der erwiderte ihren Blick mit borongefälliger Ruhe. Sein verbliebenes Auge war wie ein stiller schwarzer See ohne Grund. Zeit, so sprach er ohne Worte, besaß weder Bedeutung und Wert. Nicht mehr als ein Wimpernschlag im Wüten des Windes, der nun, heulend und voller Kraft, an ihnen riß, zwei Wesen an einem Ort, an den sie nicht gehörten. Ebenfalls stumm griff die Baroness nach der Hand Lucranns. Mit einem Kopfnicken gab sie ihm zu verstehen, dass sie bereit war. Dann wandte sie ihren Blick in die Finsternis des Brunnens, auf ihrem Gesicht erschien ein unbeeindruckter, gleichgültiger Gesichtsausdruck, der - unabhängig davon, ob er ihrer tatsächlichen Geisteshaltung entsprach - doch recht überzeugend vermittelt wurde. Der Einäugige schien diesem Detail wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Er trat auf den Brunnenrand, half der jungen Frau beim Erklettern und machte dann, vollkommen ungerührt, einen Schritt nach vorn in die Schwärze des bodenlosen Schachtes. Der Fall ins Nichts wandelte sich nach wenigen Herzschlägen ins blanken Schwindel, der ‘oben’ und ‘unten’ ineinanderfließen ließ
Zurück
Zuerst drangen die Düfte in Ardas Nase. Nach Räucherwerk, Sandelholz und Wolldecken. Dann die Empfindungen - von etwas Weichem unter ihrer Wange und ihrem Leib, Kissen und Stoff. Und zum Schluss erst das trübe Zwielicht, in das ihre Augen blinzelten und das ihr die Kammer im gebrochenen Rad zeigte, in der ihre Reise begonnen hatte. Vor langer Zeit. Wieviel Zeit mochte vergangen sein? Arda blieb liegen und drehte sich lediglich auf die Seite. Sie suchte nach Anhaltspunkten, die ihr eine zeitliche Orientierung ermöglichten. Als sie die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen erkannte, spürte sie stattdessen in sich hinein. Ihr Magen meldete sich mit einem leichten Hungergefühl, und ihre Blase drückte nicht zu sehr. Mehr als ein paar Stunden, schlussfolgerte sie, konnte sie kaum geschlafen haben. Ihr nächster Gedanke galt ihrer linken Hand, an der sie sich auf ihrer Traumreise verletzt hatte. Prompt stellte sich ein leises Pochen ein - mehr nicht. (?) Doch die Fingerkuppen ihrer Rechten ertasteten an der Stelle eine leichte Erhebung. Vorsichtig setzte sich die Baroness nun doch auf und inspizierte ihre Hand. Diese wies, weiß gezackt, ein Abbild der Bißspuren des Hundes auf, und dort, wo die Zähne ihr Fleisch durchdrungen hätten, wäre das Untier wirklich gewesen - oder wäre es in dieser Sphäre wirklich gewesen -, erhob sich eine regelmäßige Reihe von Schwellungen. Und doch schien ihre Hand körperlich unversehrt. Ihre Finger kribbelten. Lange Zeit blickte Arda auf ihre Hand, während ihr Geist - gerade erst in ihren Körper zurückgekehrt - schon wieder an fernen Orten weilte, auf Gedankenpfaden wandelte. Sie fühlte sich leer, stumpf. Sie wusste, dass die Narbe auf der Hand der Narbe entsprach, die auf ihrer Seele lag. Die weiße Zackenlinie würde wieder den Ton ihrer Haut annehmen, so wie die Gefühle, die ihr von den Hunden entrissen worden waren, wiederkehren würden. Es würde nur Zeit dauern. Die Baroness wünschte sich Zeit für sich alleine, den Kontakt mit ihren Mitmenschen meiden zu können. Doch sie wusste, diesen Luxus würde sie entsagen müssen. Jäh erinnerte sie sich, dass sie schon jetzt nicht alleine war. Etwas desorientiert blickte sie auf und sah sich erneut nach dem Alten um. Der Boroni kniete an der Stelle, an der er das Ritual begonnen hatte. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und wischte sich mit einem dunklen Tuch das Rinnsal aus Blut ab, das aus seiner Nase rann. Sein Gesicht wirkte wie in Stein gemeißelt. Er zeigte mit keiner noch so kleinen Regung, dass er Ardas Blick bemerkt hätte. Vorsichtig fasste sich die Baroness unter die eigene Nase, um zu prüfen, ob auch sie aus der Nase blutete. Sie stellte fest, dass das nicht der Fall war. “Es ist nicht an mir vorbeigegangen, dass Ihr Euch in große Gefahr begeben habt, um mich auf dieser Reise zu begleiten.” sprach sie den Baron mit gedämpfter Stimme an. “Ebenso ist mir klar, dass ich diese Reise mit Eurer Hilfe ebenso wenig beendet wie begonnen hätte.” Sie neigte den Kopf in einer raren Geste der Demut und Dankbarkeit. Dass - und wie sehr - sie in des Rabensteiners Schuld stand, darüber verlor sie kein weiteres Wort. Dieser wüsste das nur zu gut selbst abzuschätzen, und Arda machte sich keine Illusionen darüber, dass er sie eines Tages nicht auch einfordern würde. Nun - es war wie es war. “Ich denke, es ist in beiderseitigem Interesse, über die… Details unserer Reise Stillschweigen zu bewahren.” Rasch hatte sie wieder zu ihrem eigenen, leicht überheblichen oder altklugen Habitus zurückgefunden, jetzt, da sie von dem Baron nichts mehr benötigte oder erwartete. Bis auf die Rechnung. Die würde er ihr aber früh genug vorlegen, und sie erhoffte sich ohnehin keinen Abschlag aus Milde oder Großzügigkeit. Der Hauch eines Lächelns - ob ironisch, spöttisch oder gar zynisch: die Unterscheidung war rein akademisch! - lag auf ihren Lippen, dazu funkelten ihre Augen. “Freilich, ich würde Euch möglicherweise als Zeugen benennen wollen. Sofern das Haus Kaldenberg unvermutet eine erneute Chance bekommen sollte, das durch das Haus Hlutharswacht erfahrene Unrecht vor einem Gericht verhandelt zu bekommen.” Ihr Lächeln wich verärgert gespitzten Lippen, als sie ergänzte: “Die Richter sollten erfahren dürfen, dass durch Josts schuldhafte Versäumnisse - oder gar weit schlimmerer Vergehen - eine junge Frau und ihre unschuldigen drei Kinder ihrer Seelen beraubt wurden.” Sie wusste genau, wie sehr sie ihrer Umgebung auf die Nerven gehen musste mit immer derselben Leier, die sie einstimmte. Worüber sie sich im Unklaren war, das war die Frage, warum nicht jeder die Verfehlungen des Hlutharswachters nicht genauso bewertete wie sie selbst. Langsam drehte der Dunkelgekleidete sich zu ihr um und steckte das Tuch weg. Er betrachtete sie eingehend, zwei, drei Herzschläge lang, ohne zu Blinzeln. “Wollen mögt Ihr viel, Baroness.” Seine dunkle Stimme war ruhig, gelassen, eins mit dem Raum und dem Zwielicht. Er wartete, während die Stille immer lauter wurde, bis sie schließlich in Ardas Ohren dröhnte. Arda schluckte, suchte einen Ausweg aus dem für sie unbequemen Schweigen. Schließlich fand sie einen, und erwiderte mit gespielter Nachdenklichkeit: “Ja, Ihr habt wohl recht, einer weiteren Klage gegen den Hlutharswachter wird derzeit wohl nicht stattgegeben werden…” Es gelang ihr, sich einigermaßen damenhaft aus dem Sitzen auf dem Kissenlager zum Stehen aufzurichten. Unschlüssig verharrte sie, auf eine Aktion ihres Gastgebers wartend. Der Boroni wies ihr mit einer knappen Geste, sich abermals hinzuknieen. Ohne weitere Regung wartete er, bis sie der Aufforderung nachgekommen war. “Wir beten.” beschied er knapp, Er tat einige tiefe Atemzüge, ehe er seine Hände, die Handflächen nach oben, in Brusthöhe vor sich hielt. Eine übliche Dankesgeste in den meisten Kirchen der Zwölfe. “Ewiger, sei bedankt für Deine Gunst. Dein Wille sei unser Befehl.” Die Stille, die sich in den Ecken des Raumes verkrochen hatten, flutete zurück wie die Brandung eines ruhigen Meeres und errang wieder die Oberherrschaft über die dämmrige Kammer. Das Rascheln bleichen Schilfes an den Ufern eines bleigrauen Meeres narrte Ardas Ohren, und fast vermeinte sie, das leise Flüstern von Sandkörnern an seinen Gestaden zu hören. Laut klopfte ihr Herzschlag in ihrem Hals. Sie schnappte in einem langen, ächzenden Atemzug nach Luft. Sie hatte das Gefühl, als sei ihr Brustkorb von einer zu eifrigen Zofe zusammengeschnürt worden wie ein Korsett. Ein Sturm von Gefühlen brach über sie ein, als hätte Lucranns Boronsgebet den Fluch des oder der Hunde gebrochen, als fluteten zurück gedrängte Gefühle auf sie ein. Als hätte ein gestauter Fluss den Damm durchbrochen, um das ausgetrocknete Tal ihrer Gefühle wieder zu befüllen.
“Es sei.”
Die Schlussformel des Einäugigen flocht sich mehr in das Schweigen, als dass es dieses zerbrach. Langsam erhob sich der Mann, blieb einen Augenblick vor der Baroness stehen und legte ihr schließlich die Fingerspitzen auf die Stirn, mit einer Berührung, die nicht schwerer wog als der Strich einer Feder, die Umrisse eines Boronsrades auf selbiger führend. “Tue wohl, was Du beginnst, und bedenke das Ende.” Einige Atemzüge lang musterte der Rabensteiner die Baroness, ehe er schließlich kurz nickte, Zeichen, dass die Andacht ihr Ende gefunden hatte. Schweigend reichte er ihr eine Hand, um ihr aufzuhelfen. Geschwächt ließ sich die Baroness aufhelfen, als sei sie eine alte Muhme und keine junge Frau von 23 Jahren. Als die Baroness taumelte und zusammenzusacken drohte, griff der Einäugige um ihre Hüfte und hielt sie, bis sie wieder sicher auf den Beinen stand. Jung war sie und voller Leben - ein Unterschied, wie er zu dem Ort des Todes, von dem sie kamen, größer nicht hätte sein können. Warm unter seiner Hand. Er wartete, bis sie wieder stabil stand, und zog seinen Arm zurück. 'Welches Ende gilt es zu bedenken?!', dachte sie sich. Sie sehnte sich nach einem Bad, einem bisschen Naschwerk, über dessen Konsum ihr junger Körper so nachsichtig und straff bleibend hinweg sah. Ihr Leben, zumal das als Baroness, war von Widerstreit geprägt - von Kalkül und Laune, von Pflicht und Lust. Seit dem Verlust ihrer Familie - dem zweiten Verlust, ihrer zweiten Familie - war es ihr nicht schlecht ergangen. Wahrlich nicht. Sie war zu Rang und Ansehen gekommen, war geachtet oder gefürchtet, der Unterschied wurde von der Missgunst und dem Neid ihrer Mitmenschen bestimmt und kaum von ihrem Handeln. Kurzum, sie war gut gefahren mit ihrer Strategie. Und: In einer Welt, die stetig im Wandel war, wo das ferne Ziel im Nebel lag, war es besser auf Sicht zu fahren, wie es die Flussschiffer am Großen Fluss taten. Es war genug, das große Ziel zu kennen und die Strecke unterwegs zu erkunden, oder? Mit gravitätischer, geradezu feierlicher Miene nickte Arda dem Baron zu. Mochte er denken und daraus machen, was er wollte… .
Der musterte die äußerlich wieder in eine Maske aus Selbstsicherheit gekleidete Baroness mit ruhigem Blick. Es war gut, wieder zurück zu sein. Zu gerne hätte er sich einige Zeit ins Gebet versenkt, um das Gesehene zu verarbeiten. Wie mochte es da der Baroness ergehen, die dasselbe erlebt hatte, doch über weniger geistige Rüstung verfügte? Es wäre kein Akt der Gnade, sie nun kurzerhand allein auf die Straße zu schicken. Zudem tat sie den Augen wahrlich nicht weh. “Darf ich Euch zu einem Frühstück einladen?” Nur kurz war die Baroness irritiert, dann fragte sie zurück: “Ist es tatsächlich schon wieder Morgen?” Sie stutzte, wurde gewahr, dass sie gerade eine Frage mit einer Gegenfrage beantwortet hatte. “Ihr dürft.”, schob sie mit dem Anflug eines Lächelns hinterher. Anscheinend hatte er noch Redebedarf. Der Arme. Sie, ja, sie hatte das Privileg der Jugend, sie konnte auf solche Ereignisse noch mit der Flexibilität eines noch formbaren Geistes reagieren. Doch wie mochte es ihm gehen, mit den ausgetretenen Denkpfaden des Alter, der alles Erlebte in den Kontext des Leids stellen musste, welches ein langes Leben zwangsläufig mit sich brachte? “Gut.” Mehr nicht. Der alte Baron nickte knapp und reichte der jungen Frau seinen Arm.