Reise des Barons Otwin von Greifenhorst und seiner Gemahlin in die Nordmarken - Besuch auf Gut Drachenstieg - Baronie Witzichenberg, Teil 2
Otwin Besuch Witzichenberg II
Eine Briefspielgeschichte von Windwanderer SGS und Reinhard S.
Inhalt: Im Firun 1044 BF besucht ein greifenfurter Baron seine Verwandte in Drachenstieg
Ort: Junkergut Drachenstieg in der Baronie Witzichenberg
Zeit: Firun 1044 BF bis Peraine 1044 BF
Reise des Barons Otwin von Greifenhorst und seiner Gemahlin in die Nordmarken - Besuch auf Gut Drachenstieg / Baronie Witzichenberg, Teil II
Baronie Greifenhorst, Mitte Phex 1044
Der Morgen der Abreise war gekommen!
Müde erhoben sich Otwin und Karina von ihrem Lager, nachdem Arndis Falner ihre Herrin und diese ihren Gemahl geweckt hatte. Es war noch stockfinstere Nacht und Otwin fühlte sich, als hätte er gerade erst sein müdes Haupt auf das Kissen gebettet. Er gähnte, setzte sich auf die Bettkannte und streckte sich, um die Müdigkeit aus dem Körper zu vertreiben. Nach der Morgentoilette traf sich die Familie zum Frühstück. Auch Gerion wirkte noch müde. Karina gab ihrem Sohn noch letzte Instruktionen, diese wurden von Gerion nur still abgenickt. Sie hatten alles bereits zweimal besprochen und sowohl er selbst, als auch der Verwalter Leuwin hatten sich ausführliche Notizen gemacht.
Langsam wurde die Schwärze der Nacht etwas weniger dicht und die Sicht etwas besser. Das Gepäck war aufgeladen und die Pferde vor Kutsche und Gepäckwagen gespannt. Die Route hatte Otwin mit seinem Kutscher Henk am Vortag besprochen. Die erste Etappe der Reise würde sie südlich über Greifenfurt, danach westlich nach Breitenbruck und von dort wieder südlich nach Niemith führen. Dort wollten sie übernachten und am nächsten Tag der Breite weiter südlich folgen, um die zweite Nacht hoffentlich in Serrinmoor verbringen zu können. Otwin versuchte es sich bequem einzurichten, um noch etwas zu dösen. Karina war schon eingeschlummert. Zärtlich zog Otwin seiner Frau die verrutschte Decke wieder über die Beine.
Der Tross wurde von zwei bewaffneten Reitern in wattierten Waffenröcken, Olpert und Firuna, angeführt. Ihnen folgte die Kutsche des Barons, auf dem Bock der treue Henk und sein Gehilfe Tarbold. Den Abschluss bildete der Gepäckwagen, der von Henks Schwester Dilga gefahren wurde. Neben ihr die Zofe Arndis. Am Gepäckwagen angebunden folgte Otwins Reitpferd.
Als Otwin wieder erwachte, war es bereits hell. Es war nicht bequem in der rüttelnden Kutsche, doch war die Straße nach dem Winter noch in recht gutem Zustand. Karina rührte sich noch nicht und so lehnte auch Otwin den Kopf nochmal zurück und döste leicht vor sich hin. Als er wieder munter wurde, war Karina erwacht. Sie hatte sich in die warme Lammfelldecke gewickelt und betrachtete die Landschaft. „Wir sind bald in Greifenfurt, dort werden wir kurz rasten. Ich möchte gerne mit Dir Frühstücken.“ Standesgemäß führte der Baron seine Karina in das Gasthaus Drei Kronen, wo sie vom Türsteher Alrik ohne Probleme eingelassen wurden und einen Tisch in der Nähe des Kaminfeuers zugewiesen bekamen. Nachdem die Pferde versorgt waren, wurde auch das Gesinde verköstigt. Dann setzten sie ihre Reise gen Breitenbruck fort. Nach dem zweiten Frühstück nahmen sie erst ein spätes Mittagessen aus ihrem wohl gefüllten Picknickkorb ein. Abends erreichten sie Niemith, ohne das Störungen die erste Etappe ihrer Reise behindert hätten.
Am nächsten Morgen wurde Otwin vom Geräusch prasselnden Regens geweckt. Er seufzte, Bilder von aufgeweichten Straßen und steckengebliebenen Wagen kamen ihm in den Sinn. Nach dem reichhaltigen Frühstück hatte sich zwar die Laune des Barons gebessert, aber nicht das Wetter. Rasch stiegen Karina und Otwin in ihre Kutsche. Ihre Leute hatten sich in Ölzeug gekleidet. Die Pferde schnaubten widerwillig, ob des schlechten Wetters. Der Konvoi setzte sich in Bewegung. Das Wetter besserte sich nicht. Zu Mittag rasteten sie in einem kleinen Gasthof am Straßenrand. Der Wirt reichte jedem von ihnen zum Aufwärmen einen Becher roten Glühwein. Karina fühlte, wie das Getränk sie bis in ihre Zehenspitzen wärmte und ihre Fröhlichkeit kehrte zurück. Auch Otwin merkte. wie seine Stimmung stieg und wies die Wirtin an, seinen Leuten auch davon zu reichen. Nach einem heißen Eintopf, etwas Käse und Obst und einem Krug Bier, brachen sie wieder auf. Noch hatten sie ein weites Stück Weg bis Serrinmoor vor sich, aber die Straße blieb passierbar. Auch ihr zweites Etappenziel erreichten sie ohne Störungen. Otwin ertappte sich, als er stundenlang in den Regen gestarrt hatte, bei dem Gedanken, was für eine nette Abwechslung ein kleiner Überfall bieten würde. Er verstand sein Schwert immer noch gut zu führen, wie seine regelmäßigen Übungen bewiesen. Er musste wohl sehr grimmig geschaut haben, denn Karina, die auch trübsinnig und schweigsam aus dem Fenster gestarrt hatte, reichte ihm einen Flachmann. Otwin lächelte sie an und nahm einen großen Schluck aus der Flasche! Auch Karina trank, wenn auch nur einen kleinen Schluck, und musste husten. Die Flasche war mit Retos Branntwein gefüllt. Ein Geschenk, das vor dem Winter aus Drachenstieg gesandt worden war und nur bei besonderen Anlässen gereicht wurde. Karina hatte Voraussicht bewiesen, diesen Branntwein mit auf die Reise zu nehmen. Es war schon dunkel, als sie Serrinmoor erreichten. Müde und steif stiegen Karina und ihr Mann aus dem Wagen und betraten das Gasthaus.
Die Reise verlief in den folgenden Tagen nicht mehr so unproblematisch. Das schlechte Wetter hielt an. Die Straße weichte aufgrund des anhaltenden Regens auf und sie kamen nur noch sehr langsam vorwärts. Ungeplant mussten sie in einem kleinen Weiler, dessen Namen Otwin auf seiner Karte nicht ausmachen konnte, eine zusätzliche Rast einlegen. Travia sei Dank, fanden sie in einem sauberen, warmen Gasthof Quartier, dessen Koch ihnen einen guten Braten zum Abendessen servierte. Während Karina nach dem Glühwein bei Wasser blieb, gönnte sich Otwin zum Essen noch zwei gute Krüge Bier. In dieser Nacht schlief er vorzüglich!
Sie folgten der Breite und erreichten Oberangbar, wo sich Breite und Ange zum Großen Fluss vereinigen. Dort rasteten sie zwei Tage. Karina war vollkommen zerschunden und Mensch und Tier genossen die Ruhezeit. Was Otwin und seinen Leuten den Aufenthalt besonders angenehm machte, war die Tatsache, dass der Wirt bestes „Ferdoker“ ausschenkte. Vor der Weiterreise kaufte er dem Wirt noch zwei Fässer „Ferdoker“ ab, nicht ohne zuvor mit den Kutschern geklärt zu haben, dass sie auf dem Gepäckwagen untergebracht werden konnten. Allerdings mussten dazu einige Gepäckstücke vom Gepäckwagen auf die Kutsche umgeladen werden und einige der kleineren Stücke mussten im Wageninneren platziert werden. Dieser Vorgang erforderte einige strategische Überlegungen und einiges Ausprobieren, aber mit vereinten Kräften gelang es Otwin, Henk, Arndis und Dilga, alles gut zu packen, damit sie demnächst den Greifenpass gut überwinden würden. Karina sagte zu alledem nichts, zog nur etwas unwirsch die Nase kraus, als sie sah, mit wie vielen Gepäckstücken sie den Innenraum ihrer Kutsche nun teilen musste. Sie war halt keine Biertrinkerin!
In Steinbrücken übernachteten sie ein weiteres Mal. Als sie am Morgen erwachten, wurden sie von Vogelgezwitscher und nicht von Regentropfen geweckt. Karina stieß den Fensterladen auf und Sonnenlicht flutete das Zimmer. Mit bester Laune begaben sie sich auf die Weiterreise. In Steinbrücken wandten sie sich westlich und konnten nun auf der komfortablen Reichsstraße III gen Angbar reisen. Mittags rasteten sie am Angbarer See. Karina und ihre Zofe breiteten Decken aus und richteten die mitgeführten Speisen an, während die anderen die Pferde versorgten. Es gab sogar für jeden einen kleinen Krug Ferdoker Bier, der zum Proviant gehörte, den sie im Gasthaus mitbekommen hatten.
Leuchtend blau lag der See vor ihnen. Otwin erläuterte ihnen, dass man den See auch „Saphir des Koschs“ nannte. Bald brachen sie wieder auf und setzten ihren Weg nach Angbar fort. Auf der Reichsstraße war sehr viel mehr Betrieb als auf den kleineren Straßen, die sie bisher genutzt hatten. Sie erreichten Angbar bevor die Dunkelheit herein brach. Das Stadtwappen wies auf den Beginn des Stadtgebiets hin: es zeigte eine rote zwergische Sackpfeife auf goldenem Grund. Angbar hatte durch den Angriff des Alagrimm im „Jahr des Feuers“ furchtbare Zerstörungen erlitten, nicht nur die Angbarer Puppenbühne wurde Opfer des Feuers, auch das Fürstenschloss wurde furchtbar getroffen. Während die Stadt inzwischen wieder aufgebaut wurde, waren die Baumaßnahmen am Schloss noch nicht abgeschlossen. Die Puppenbühne, inzwischen wieder auferstanden, hatte nun ihren Sitz im Stadtteil Kruming. „Wengel sei schlau!“ fuhr Otwin ein altes Zitat aus den Stücken der Bühne durch den Kopf und seine Gedanken reisten etliche Götterläufe zurück, als er die Adelskonvente ohne Karina besuchen musste, die in Greifenhorst blieb und sich um Kind und Baronie kümmerte. Und auch an Seine Durchlaucht Blasius von Eberstamm, Fürst des Koschs, musste er denken. Oft hatte er die Gelegenheit, dem freundlichen Mann zu begegnen. Vor etwas mehr als drei Götterläufen war Seine Durchlaucht friedlich in seinem Bette verstorben, in der Gewissheit, sein Fürstentum gut bestellt seinem Sohn Anshold zu hinterlassen.
In Angbar gönnten sie sich einige Tage Ruhe. In der Stadt gab es viel zu sehen und zu kaufen. Außerdem lahmte eines der Kutschpferde und benötigte einige Tage der Schonung.
Sie stiegen im Brau- und Schankhaus Wackerbusch in der Altstadt ab. Das 1000 jährige Gasthaus gefiel sowohl Otwin als auch Karina. Es war nicht das erste Haus am Platz, aber die freundliche Wirtin, die gemütliche Schankstube und die sauberen, behaglichen Zimmer, sorgten für einen angenehmen und erholsamen Aufenthalt. Zum Abendessen probierten die Eheleute zwei Angbarer Spezialitäten: Karina wählte die Angbarer Käseschmelze, eine Mischung verschiedener regionaler, erhitzter Käse, die mit einem guten Schuss Gebranntem verfeinert wurden. Dazu gab es Brot, welches an langen Spießen in die Schmelze getaucht wurde. Otwin hatte sich für eine Angbarer Biersuppe entschieden, zu der ebenfalls Brot gereicht wurde. Otwin und seine Frau ließen einander von ihren Gerichten probieren und lobten den Koch.
Am nächsten Tag schauten sich Karina und Otwin in der Stadt um. Sie besuchten den Neumarkt, der das Stadtzentrum bildet, und den Tempel der Flamme und huldigten dort Ingerimm. Da Angbar für seine Schmiedearbeiten berühmt war, erstanden Otwin und Karina einen Langdolch für Gerion, einige kunstvoll verzierte Messer und Dolche und Otwin gönnte sich ein besonders hübsches Kurzschwert. Karina stieß auf ein Angbarer Kochbuch: „Suppen-Spezialitäten“ von einer gewissen Laxolla, Wirtin aus Angbar. Auch davon erstanden sie einige Exemplare, nicht nur für ihre eigene Bibliothek, sondern auch für die Küchen von Drachenstieg und Burg Tannwirk.
Am nächsten Tag besuchten sie die alte Fürstenburg, Zitadelle genannt und am Haus der Zünfte das berühmte Uhrwerk des Relox. Zu jeder vollen Stunde ertönte ein kleines mechanisches Konzert und eine Holzfigur aus der Angbarer Geschichte oder Kultur erschien. Karina und Otwin bekamen einen Bergmann zu sehen.
Das berühmte Uhrwerk wurde von dem zwergischen Mechanikus Relox Rotwang geschaffen und zeigte nicht nur die Uhrzeit, sondern auch die Phasen des Madamals und bestimmte Sternenkonstellationen. Otwin und Karina waren begeistert von diesem Kunstwerk.
Und an einem weiteren Tag unternahmen Otwin und Karina mit Arndis und Dilga im Gefolge einen Ausflug vor die Tore der Stadt, wo sie das Immanstadion und das Turnierfeld Brodilsgrund besichtigten. Im Immanstadion hatten sie die Gelegenheit, einige Immanspieler beim Training zu beobachten. Mittags picknickten sie in einem verlassenen geodischen Steinkreis. Da das Wetter sonnig und warm war, waren sie nicht die einzigen Besucher.
Karina hatte noch nichts gesehen, was mit diesem Kultplatz vergleichbar war und ließ die intensive mystische Stimmung auf sich wirken. In der folgenden Nacht träumte sie wirr und erinnerte sich nur noch dunkel, dass es sich wohl um ein geodisches Ritual gehandelt haben müsse.
Da in Angbar die „12 Heller Regel“ galt, mussten sie beim Wiedereintritt in die Stadt nachweisen, dass sie liquide waren und nicht zum Bettelvolk zählten. Karina konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als die Wache das Geld zu sehen verlangte, denn sie und Otwin waren sehr gut gekleidet, aber Gesetz ist Gesetz!
Otwin hatte den Greifenpass in der Vergangenheit schon mal überquert. Damals war er zu Pferde unterwegs gewesen. Das war nun schon einige Götterläufe her und dieses Mal war er mit seiner Gemahlin, ihrer beide Gefolge und zwei Wagen unterwegs. Er trug die Verantwortung für seine Gesellschaft. Zudem war das Frühjahr noch nicht weit fortgeschritten und wer weiß, wie viel Schnee ihnen dort oben noch begegnen würde. Nein, es war besser, in einer Gruppe mit kundigem Führer zu reisen. Durch Vermittlung der Wirtsleute gelang es ihm, Kontakt zu einem Bergführer zu knüpfen, der in einigen Tagen mit einem Wagenzug gen Anpforten aufbrechen würde und dem sie sich anschließen würden.
Da sie noch einige Tage Zeit bis zu ihrem Aufbruch hatten, nutzten sie die Gelegenheit, eine Aufführung der Angbarer Puppenbühne zu besuchen. Als Karina klar wurde, was sie bei der Überquerung des Greifenpasses erwartete, kaufte sie für Otwin, ihre Bediensteten und sich selbst noch einige warme Kleidungsstücke und Decken aus Lammfell. Otwin füllte die Vorräte des Branntweins auf und besorgte auch einige Fackeln. Die Kutscher prüften die Wagen und das Geschirr und besorgten Ersatz für Teile, die verschleißen oder reißen konnten. Die Pferde wurden dem Schmied vorgeführt, der die Hufeisen prüfte. Auch der Proviant wurde aufgefüllt, inklusive Hafer für die Pferde.
Anfang Peraine, das Saatfest hatten sie noch in Angbar gefeiert, brachen Karina, Otwin und ihr Gefolge morgens zeitig gen Anpforten auf. Ihr Führer Odo wartete vor dem Stadttor auf sie, wo sich noch weitere Wagen eingefunden hatten. Sie würden über Anpforten, wo sich ihnen weitere Wagen anschließen würden, zum Greifenpass reisen. Diesen zu überqueren würde einige Tage in Anspruch nehmen und sie würden auf dem Pass einige Male in kleinen Wegstationen übernachten müssen.
In Anpforten übernachteten sie noch einmal und brachen dort beim ersten Morgengrauen auf. Vor besonders schwere Fuhrwerke waren Vorspannpferde gespannt worden, auch vor den Gepäckwagen der Greifenhorsts. Karina erblickte am Wegesrand heimelige Fachwerkhäuschen, die nie allein, sondern immer in kleinen Gruppen standen.
Karinas Augen wurden immer größer, je näher das Koschgebirge rückte. Wie eine schwarze Wand ragten die Basaltberge vor ihnen auf. „Die höchsten Gipfel ragen 4000 Schritt hoch“, klärte Otwin seine Gemahlin auf. „Der Pass liegt an seiner höchsten Stelle auf 1600 Schritt.“ „Otwin, ich glaube, mir ist das nicht geheuer!“ Etwas beunruhigt nahm sie seine Hand. „Keine Sorge! Die Reichstraße führt über den Pass und bietet eine sichere Überquerung des Gebirges. Ich habe den Pass bereits einige Male allein überquert. Da das aber schon mehrere Götterläufe her ist, und wir ja auch mit Wagen reisen, habe ich uns diesem Treck angeschlossen. Falls es ein Problem gibt, ein Rad bricht oder irgendetwas in der Art, sind wir nicht allein. Es gibt Pass-Stationen, wo wir rasten werden und im Notfall Hilfe erhalten können. Sorge vor magischem Unbill müssen wir nicht unbedingt fürchten. Es heißt, dass der Kosch-Basalt magische Kreaturen fern hält.“ Otwin drückte zuversichtlich Karinas Hand. Seufzend lehnte sie sich in die Polster des Wagens.
Die Kolonne durchquerte bewaldetes Gebiet, zuerst Mischwälder, die in Nadelwälder übergingen, je höher sie kamen. Ohne Zwischenfälle erreichten sie Trottweiher, wo sie ihre erste Etappe beendeten. Nachdem sie sich im Gasthaus eingerichtet hatten, begab sich Karina, begleitet von Arndis, in den Tempel der heiligen Theria, dem Perainetempel Trottweihers. Dort verweilte sie außergewöhnlich lange in inniges Gebet versunken. Als Karina den Tempel verließ, wurde ihr erst bewusst, wie groß der Ort eigentlich war. Nie hätte sie im Gebirge eine so große Siedlung erwartet, aber die Reichstraße III führte ja über den Pass und entsprechend viele Menschen und Waren kamen hier vorbei. Der Wirt ihrer Unterkunft erzählte ihr später, dass Trottweiher die größte Ortschaft am Greifenpass sei.
Auch am nächsten Morgen ging die Reise bei Morgengrauen weiter. Die Wälder wurden lichter und je höher sie den Pass erklommen, desto weniger Bäume gab es. Steile, schwarze Felswände ragten zu beiden Seiten beklemmend hoch über ihnen auf. Die Baronie Greifenhorst lag zwar am Finsterkamm, jedoch hatte Karina ihn nur selten überqueren müssen. Diese schwarzen Steine waren ihr irgendwie unheimlich. Sie versuchte jedoch, sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Ihr nächstes Nachtquartier schlugen sie in Kammhütten auf. Da der Gasthof „Feuertopf“ abgebrannt war, wurden die Reisenden bei den Bewohnern des Ortes untergebracht, die sich gerne einige Münzen dazu verdienten. In der Nacht fiel etwas Schnee und die Berggipfel wirkten wie mit Mehl bestäubt. Die Straße war passierbar, weshalb sie weiter reisten. Gegen Mittag jedoch bedeckte sich der blaue Himmel und dunkle Wolken zogen auf. Ihr Bergführer ließ den Tross an einer geschützten Stelle halten. „Ein Schneesturm zieht auf! Wir müssen ihn hier abwarten, nach Passweiser schaffen wir es nicht mehr!“, klärte der Mann sie auf. Er wies die Fuhrwerke an, ganz am Straßenrand zu halten. Die Zugtiere wurden ausgespannt und die Wagen gesichert. Der Wind war bereits stark aufgefrischt und peitschte in Böen durch den Pass. Die ersten, noch zarten Flocken fielen und sahen ganz unschuldig aus. Dilga und Henk versorgten die Pferde und legten ihnen Decken über. Die anderen, unter ihnen auch der Baron, sicherten die Wagen und die Ladung. Karina bot Hilfe an, wurde jedoch von Otwin gebeten in der Kutsche zu bleiben. Sie räumte, so gut es ging, das Gepäck, das sich seit Angbar auch schon irgendwie wieder vermehrt hatte, zusammen und legte die Decken bereit. Auch zog sie ihren in Angbar erstandenen, mit Lammfell gefütterten Mantel über. Sie zog die Kapuze über und steckte ihre behandschuhten Hände in den zum Mantel passenden Muff. Otwin half Tarbold und Olpert eine Plane über den Gepäckwagen zu spannen, damit sie den Bediensteten Schutz bieten würde. Als er zu Karina in die Kutsche stieg, hüllte sie ihn in eine warme Decke. Draußen schneite es inzwischen immer stärker und auch der Wind hatte an Heftigkeit zugenommen. Draußen prüfte Odo, ob der Treck vollzählig war, alle Wagen gut standen und die Tiere so sicher wie möglich verwahrt waren. Er gab letzte Anweisungen an einige ihrer Mitreisenden und brachte sich dann selbst in Sicherheit.
Otwin hatte die Läden der Kutsche fest verschlossen. Karina und er harrten im Dämmerlicht aus. Die kleinen Öffnungen in den Läden ließen nur wenig Licht ein. Karina vermeinte im Tosen des Sturms Stimmen und einen seltsamen Singsang zu vernehmen. Als sie Otwin fragte, ob er sie auch vernähme, musste sie feststellen, dass ihr Gemahl eingeschlummert war. Als eine besonders heftige Böe die Kutsche wieder einmal durch schüttelte, nahm Karina einen Schluck aus dem Flachmann. Mantel und Decken wärmten sie recht gut. Sie schaute immer wieder aus der kleinen Öffnung, konnte aber nur weißes Getöse ausmachen. Irgendwann fiel auch sie in einen unruhigen Schlaf.
Stunden später erwachte Karina, weil Otwin sich bewegte. Es war ruhiger draußen geworden und kein Sturm schaukelte die Kutsche mehr durch. Karina fror, jetzt war es trotz Decken kalt geworden. Bevor Karina richtig zu sich gekommen war, hatte ihr Mann die Kutsche verlassen. Wenige Minuten später kehrte er zurück. „Es ist alles in Ordnung, meine Liebe! Unsere Leute sind wohlauf und auch den Pferden geht es soweit gut. Der Sturm hat nachgelassen, aber es schneit noch.“ Beide nahmen einen großen Schluck aus dem Flachmann und griffen dann zu den Leckereien im Picknickkorb. Ein warmer Eintopf wäre jetzt Willkommen gewesen. Eine Weile später klopfte es leise an die Tür der Kutsche. Es war Odo, der zu allen Mitgliedern des Wagenzuges kam, um sich zu überzeugen, dass alle wohlauf waren. „Der Sturm ist vorüber gezogen, aber es schneit und beginnt bereits zu dunkeln, wir müssen hier übernachten“, teilte er ihnen mit. „Was? Hier?“, entfuhr es Karina voller Entsetzen. „Keine Sorge! Wir stehen hier recht geschützt und werden die Nacht bestimmt gut überstehen!“ versuchte Odo sie zu beruhigen. Draußen hatten sich bereits einige Leute versammelt, die ein Lagerfeuer entzündeten. Nach einer Weile wurde ein Kessel gebracht und man kochte einen improvisierten Eintopf. Der Schneefall hörte auf, als ob das Feuer ihn vertrieben hätte. Alle Reisenden der Gruppe steuerten von ihren Vorräten etwas bei und so gab auch für jeden eine Schale des warmen Eintopfs. Henk und Dilga fütterten und tränkten die Pferde. Es gelang ihnen, das Feuer bis in die frühen Morgenstunden am Brennen zu halten. Irgendwann waren sie alle so müde, dass sie sich in ihren Gefährten zur Nachtruhe begaben. Als es dämmerte, wurden Otwin und Karina von dem Klingen feiner Glöckchen geweckt. Karina fragte sich, ob sie träumte, aber es waren tatsächlich Glöckchen. Sie stammten vom Geschirr zweier Pferde, die einen Schneepflug zogen, der aus Passweiser kam. Er wurde jubelnd begrüßt. Mensch und Tier hatten die Nacht überstanden. Es wurde angespannt und die letzten Meilen nach Passweiser zurückgelegt.
Karina, Otwin und ihr Gefolge nahmen Quartier im „Stollen“. Die von dem Zwergen Rumborag in einem ausgedienten Bergwerkstunnel geführte Gaststätte rühmte sich damit, die längste Theke auf ganz Dere zu besitzen. Karina hatte jetzt kein Interesse an Biertheken (sie war ja sowieso keine Biertrinkerin), sie bestellte ein heißes Bad, das sie in einem sehr kleinen Zuber sogar bekam. Sie gab Arndis frei, die sich sogleich mit den anderen zur Besichtigung der Theke begab. Nach ihrem Bad kuschelte sie sich in ihr, von der Magd des Gasthauses mit Bettpfannen vorgewärmtes, Bett und schlief sofort ein.
Nachdem Otwin sich überzeugt hatte, dass die Tiere gut versorgt waren, gab er seinen Leuten frei und übernahm die erste Wache bei den Wagen. Arndis brachte ihm heißen Eintopf und frisch gezapftes Bier.
Am nächsten Morgen zog der Tross weiter. Ihre Route führte sie auf dem Pass weiter über Passwacht und Dunkelhain. Bei Dunkelhain konnten sie einen Bildstock bewundern, der am Wegesrand aufgestellt war. Das teilvergoldete Relief von Meister Brandwar Dinklinger pries das Licht Praios, in dessen Schein brave Bauern und Bürger ihr Tagewerk verrichteten, während im Schatten Räuber und Orken vor sich hin vegetierten. Otwin deutete auf eine der Gestalten und sagte zu seiner Frau: „Dieser soll Ähnlichkeit mit dem berühmt-berüchtigtem Jergenquell aufweisen“. Karina schauderte es, als sie an die Schrecken dachte, die dieser Mann verbreitet hatte.
Schließlich erreichten sie die Wegestation unterhalb der Ruine Koschwacht. „Otwin, was ist das für ein unheimlicher schwarzer Turm dort in den Bergen?“ fragte Karina ihren Gemahl. „Vor vielen Götterläufen stand dort oben eine Burg. Sie stammte aus der Zeit des Bosparanischen Reiches. Einige Jahrhunderte nach ihrem Bau lebte der Magier Algorton dort, bis er in den Magierkriegen getötet und die Burg zerstört wurde. In diesem schwarzen Turm lebt inzwischen wieder eine Magierin - Domaris von Atalente.“ Wieder konnte Karina ein Schaudern nicht unterdrücken. „Hattest Du nicht gesagt, dass der Basalt aus diesem Gebirge magische Wesen fern hält und magische Handlungen hier nicht möglich sind?“ „Ja, schon, aber ich kenne mich mit derlei Dingen ja auch nicht aus. Vielleicht ist die Dame sehr mächtig“, antwortete Otwin schulterzuckend.
An der Wegestation befand sich auch ein Zollhaus. Der Wagenzug musste die Zollschranke passieren. Grummelnd bezahlte Otwin den Zoll für die Reisegruppe samt Tieren und Wagen, seine zwei Fässer Ferdoker und einige der Geschenke, die der Baron und die Baronin mit führten. „Karina, hast Du die Gesichter der Zöllner gesehen? Was hätten die sich gefreut, wenn sie die Fässer hätten konfiszieren können! Ha!“, empörte sich Otwin. „Ganz ruhig mein Lieber!“, beruhigend tätschelte Karina den Arm ihres geschröpften Gatten.
Langsam verließen sie das Hochgebirge und der Weg war nun nicht mehr so steil. Die Vorspannpferde hatten sie bereits an der letzten Herberge zurückgegeben. Sie passierten das „Wirtshaus zum schwarzen Keiler“ und auch hierzu konnte Otwin seiner Gattin eine spannende Anekdote berichten. Einige Meilen später lag die Stadt Gratenfels vor ihnen. Als sie sich der Stadt näherten, rümpfte Karina die Nase: „Was riecht hier so seltsam? Ist das Schwefel?“. „Ja, meine Liebe, in der Stadt befinden sich schwefelhaltige Quellen. Hier wird Schwefel gewonnen, den Alchymisten, Ärzte und Apotheker benötigen.“
Sie nahmen Quartier im „Gasthaus zum Greifen“, einem ordentlichen Haus in der Nähe von Praiostempel und Marktplatz gelegen. Otwin hatte es kategorisch abgelehnt, im „Koschblick“ abzusteigen, dem besten Haus am Platze. Ihn schmerzte noch der Zoll, den er hatte entrichten müssen, zu sehr.
Der „Greif“ war seit vielen Generationen in Familienbesitz, worauf die Wirtin Elwene Griff nicht wenig stolz war. Karina war mit der Unterbringung in dem soliden Gasthaus zufrieden, auch wenn man den Schwefelgeruch noch immer wahrnahm.
Otwin verfasste eine Nachricht an seine Cousine Nyah, die von einem einheimischen Boten nach Drachenstieg gebracht wurde. Bis die Antwort einträfe, wollten Karina und Otwin sich, ihren Bediensteten und den Pferden einige Tage Ruhe gönnen.
Ende Teil II - (Link Teil I, Link Teil III)