Rabe und Amboss
Rabe und Amboss
Ort
Markt Calmir in der Baronie Rabenstein
Zeit
Firun 1043 BF
Personen
Marbolieb, Borongeweihte aus Markt Calmir,
Murloschtaxa 'Murla', Tochter der Mokloscha, Bergvögtin aus Ishna Mur,
Murixe, Tochter der Murloschtaxa, ihre Tochter,
Mutter Ganslind, Hochgeweihte des Traviatempels,
Vater Ganslieb, Ihr Gemahl,
Lucrann von Rabenstein, Baron des Lehens und Geweihter des Schweigsamen
Eine Briefspielgeschichte von BorBar und Iseweine.
Inhalt
Mitte Firun 1043 BF besucht die Tochter der Bergvögtin von Bergwacht Ishna Mur die Borongeweihte in Markt Calmir. Frost und Schnee im Eisenwald, die Reibungen mit der örtlichen Traviageweihtenschaft und unerwartete Erkenntnisse gestalten den Winter lehrreich - für alle Beteiligten (Dokument hängt an).
Besuch im Winter
Der Schnee lag weiß, fest und dicht wie eine Totendecke über der Landschaft, es fielen seit Tagen ununterbrochen die dicken schweren Flocken aus den tiefhängenden Wolken. Längst waren die Wege und Pässe in den Eisenbergen zugeschneit und lagen mannstief unter Ifirns Daunendecke.
Da konnte man in Calmir ein leises Klingeln von Glöckchen vernehmen. Das Geräusch näherte sich dem Dorf aus Firun kommend immer weiter, aber durch das dichte Schneetreiben war die Quelle nur schemenhaft zu erkennen. Es schien sich um einen Schlitten zu handeln, der von zwei stark vermummten Gestalten gezogen und einer weiteren Gestalt begleitet wurde. Die Spur von großen ovalen Abdrücken führte den Weg bis zum Marktplatz und bog dann efferdwärts ab und verschwand aus dem Dorf. Nach einer Weile hörte das Klingeln auch auf.
Denn der Schlitten war am Eingang des Boronackers am Rande des Dorfes stehen geblieben. Die eine Gestalt aus den Sielen begab sich an das hintere Ende des Schlittens und begann dort die angebrachten Kisten und Säcke zu lösen.
Derweil gingen die beiden anderen Gestalten, von beiden konnte man nur grobe Umrisse erkennen, denn sie waren in dicke Umhänge gehüllt und hatten die Kapuzen tief über den Kopf gezogen, gingen auf dem schmalen Pfad des Boronsangers zum Eingang des Tempels. Dort angekommen, öffnete die eine der beiden Gestalten die Tür zum Tempel und rief: “Euer Gnaden Marbolieb, seid Ihr zu Hause?”
Die Stimme war der wohl tönende Alt einer vermutlich älteren Frau, eine Stimme, die Marbolieb nur zu bekannt vorkam. Aber wieso war sie hier zu hören? Denn die Stimme erinnerte sie an Murloschtaxa, die Frau des Bergvogtes von Ishna Mur. Kaum hatten die Frauen den Tempel betreten, da stolperte auch die dritte Gestalt beladen mit Kisten und Kästen den Weg Richtung Tempeleingang. Im Tempelraum selbst war es dunkel und still. So, wie es in einem Borontempel auch sein sollte. Eiskalt. So sehr, dass der Atem in der Luft gefror.
Marbolieb war in das Gebet versunken, eins mit der Stille, eins mit der Gelassenheit. Die sie in diesen Tagen dringend benötigte. Als auf einmal mit einem Krachen die Tempeltür aufflog und jemand in voller Lautstärke nach ihr rief. Ungehörig. Laut. Eine Frau. Eine Zwergin. Frau Murla. Hier?
Verdattert fuhr die junge Menschenfrau aus ihrem Gebet auf, wandte sich um und schaffte es nicht, ihre eiskalten Beine, die längst eingeschlafen waren, zu entfalten. Mit großen Augen starrte sie blicklos in Richtung des Eingangs, der einige Stufen über dem Bodenniveau lag.
“Ah, ich wusste doch, dass Ihr bei Anbruch der Nacht hier seid!” freute sich Murla und ging auf die verdatterte Geweihte zu, zog sie zu sich hoch und schloss sie fest in ihre Arme. “Ihr seid ja immer noch so dünn!” meinte sie dann als sie die Geweihte aus der Umarmung entließ. “Ich habe Euch doch bei meinem Besuch gesagt, dass Ihr mehr essen müsst.” Verdattert ließ sich die Geweihte in die Umarmung ziehen und tastete mit klammen Fingern über den Rücken und die Arme der Zwergin, ehe sie die Umarmung so fest es ihre dürren Arme zuließen erwiderte. Sie seufzte und legte ihren Kopf auf den Scheitel der Zwergin, einen Augenblick nur, ehe sie ihren Griff wieder löste.
“Was tut ihr hier?” “Oh, ich kenne den Weg”, antwortete die alte Zwergin, “und daher bin ich mitgekommen. Aber keine Angst, ich werde morgen wieder aufbrechen. Wenn Xerberum das Dach repariert hat”, fügte sie mit einem fröhlichem Unterton hinzu.
“Aber verzeiht mir meine Unhöflichkeit, ich bin ja nicht alleine gekommen, sondern habe zwei Begleiter. Zum einen, den eben erwähnten Xerberum Sohn des Gargamil, der uns beim Ziehen des Schlittens geholfen hat und der Euch Morgen bei einigen Reparaturen zur Seite steht.” Der Angroscho brummte ein Begrüßung auf Rogolan, die aber Marbolieb nicht verstand.
“Und natürlich meine kleine Murixe, die ich Euch für den Winter als Schülerin zur Verfügung stellen wollte.” “Mutter!” protestierte eine höhere und jüngere Frauenstimme. “Ich bin nicht Deine Kleine!”
“Seid willkommen.” flüsterte die vollkommen überrumpelte Geweihte.
“Mögt ihr in die Küche mitkommen?” bot sie schließlich an. Dass es stockfinster im Tempel war, kam ihr in diesem Augenblick nicht in den Sinn. “Seid vorsichtig, hier gibt es ein paar Stufen!” meinte Murla zu ihren beiden Gefährten. Sie selbst kannte die Stufen noch zur Genüge und ihre Zehen hatten die Schmerzen noch gespeichert und hoben sich an den richtigen Stellen fast von alleine.
Von Xerberum kam ein heftiger Fluch als dieser eine Stufe übersah und fast mit all den Paketen gestolpert und gefallen wäre. Diesen Fluch begleite Murixe mit einem lauten Gekicher. Aber letztlich kamen sie alle wohlbehalten in der Küche an.
Marbolieb hob die Augenbrauen. “Bitte seid leise im Tempel und flucht nicht.” Das ärgerliche Schimpfen musste sie nicht übersetzen können, um es zu begreifen. Sie tastete sich auf wackeligen Beinen, in denen es wie von Nesseln stach, voran in die Küche.
Nicht wirklich wärmer war es dort, das Feuer im Herd längst erloschen. Über der kalten Asche stand ein Topf, auf dem Tisch eine offensichtlich noch unbenutzte Schüssel und ein hölzerner Löffel, während in der Ecke, die Murla gut kannte, ein Strohsack lag. Aus einigen Stellen im Dach hingen gewaltige Eiszapfen.
Murla meinte als sie in der Küche waren zu Xerberum: “Bitte mach Licht, die Pakete stell dort in die Ecke.”
Der Angroscho stellte die Pakete ab und begann dann eine Laterne zu entzünden. Nach wenigen Schlägen des Stahls begann der Docht der Sturmlaterne zu leuchten und die Küche war in ein angenehmes Licht getaucht.
Als Murla sah wie es hier aussah, sah sie ihre Befürchtungen bestätigt, denn genau das hatte sie die ganze Zeit seit der Abreise vor ihrem geistigen Auge gesehen: Kalt und ohne Vorräte.
Aber genau auf Grund dieser Ahnung hatte sie vorgesorgt und deshalb war sie wieder mitgekommen und auch der Schlitten voller nützlicher Dinge, der draußen vor dem Boronanger stand.
“Habt Ihr Hunger?” fragte die blinde Priesterin ihren unerwarteten Besuch und tastete sich vorsichtig zu dem Topf, der kalt und rußig in der Asche stand. “Ihr habt wie immer Eure leckere Grütze im Topf?” fragte Murla mit einem leichten Lächeln im Ton. “Die könnt Ihr später auch noch essen. Wartet bitte bis Xerberum alles hereingebracht hat.” “Kannst Du bitte”, forderte sie den Angroscho auf und dieser begann wieder durch das Dunkel im Flur nach draußen zu tappen. Kurze Zeit später kam er mit der zweiten Ladung Pakete zurück, die er neben die anderen stellte.
“Das Holz stapele ich draußen, Herrin?” Murla nickte bestätigend. “Ja, bitte!”
Murixe, die sich in der Küche umgesehen hatte, wirkte ein wenig eingeschüchtert von Kargheit und der Trostlosigkeit der Umgebung.
Marbolieb stellte mit einem sehnsüchtigen Ausdruck in den Augen den Topf mit der Grütze wieder zurück. Natürlich war es Grütze. Das war das einzige, was sich in ihrem Vorratsschrank befand, und sie war sich sehr sicher, dass der Zwergin dies bewusst war.
Aber vermutlich hatte diese aus ihrer Erfahrung beim vergangenen Besuch Schlüsse gezogen und sich klugerweise ihr eigenes Essen mitgebracht.
Beschämt schlug die Geweihte die Augen nieder und schlang ihre Finger ineinander. “Da sich die Beschaffung von Lebensmitteln hier im Dorf - wie soll ich es ausdrücken - schwierig gestaltet, habe ich mir erlaubt für Euch und Murixe ein paar Vorräte mitzubringen. Es sollte ein paar Tage” - nun ja wohl eher Wochen - “reichen!” Sie hoffte, dass sie an alles gedacht hatte und auch Murixe die richtigen Rezepte beigebracht hatte, denn die Fähigkeiten der blinden Boroni kannte sie von ihrem letzten Besuch.
“Aber …” die Boroni schloss überfordert ihren Mund wieder. Sie senkte den Kopf. “Mögt ihr Strohsäcke in die Küche holen?”
Diesmal war es aber an Murla diese vehement zu verneinen. “Ihr habt das letzte Mal diesen Platz geräumt, aber dieses mal bleibt Ihr schön in Eurer Küche und wir belegen die Gästezimmer!” Marbolieb schüttelte entschlossen den Kopf. “Ich schlafe nicht in der Küche, wenn ich Gäste habe.”
Sie tastete sich zu ihrem Strohsack, sammelte Decken und Mantel ein, die darauf lagen und trug einen großen Arm voll der oft geflickten Stoffe zu den drei Kammern, wo sie diese gleichmäßig auf die Betten verteilte. Allerdings gab es nur drei Strohsäcke in ihrem Tempel - und sie hatte drei Gäste. Grübelnd verharrte sie am Eingang der Kammer, die sie im Sommer meistens nutzte.
Schließlich zuckte sie die Schultern, legte ein paar der Decken in den leeren Bettkasten und holte schließlich den Strohsack aus der Küche, um ihn in eine der beiden Gästekammern zu tragen.
“Murixe” forderte Murla ihre Tochter auf. “Dann bleibst Du in der Küche - so wie den Rest des Winters. Versuche nicht sie zu überreden, sie ist sturer als Dein Vater!” Dann wandte sie sich an Xerberum und sagte zu ihm: “Du nimmst das eine Zimmer, ich das andere!”
Die Boroni lauschte mit schräg gelegtem Kopf, atmete einmal tief ein und aus und ging langsam, die Fingerspitzen an der Wand, in eines der Gästezimmer, um den Strohsack für die junge Zwergin wieder zurück in die Küche zu schleppen. Der Strohsack war gute zwei Schritt lang und prall ausgestopft - ein unhandliches Ding. Und so schwer, wie dicht gepacktes Stroh nun einmal war.
Schnaufend packte die zierliche Geweihte die Bettstatt wieder an ihren ursprünglichen Ort und richtete sich auf, eine Hand in ihren Rücken gedrückt. Als Murixe merkte, dass der Strohsack zu schwer für sie war, eilte sie der Boroni zur Hilfe und fasste mit an. “Lass doch bitte, Euer Gnaden, das ist nicht nötig! Aber wenn Ihr darauf besteht, so gebt ihn mir zu tragen.”
“Ihr seid mein Gast, junge Dame.” schüttelte die Geweihte den Kopf. Trotzig half Murixe der Geweihten trotz ihrer Ablehnung den schweren Strohsack in die Küche zu bringen.
“Mögt ihr alle etwas zu trinken?” wandte sie sich an die drei Zwerge. “Ich habe noch Kräutertee.” “Müht Euch nicht”, meinte Murla und begann erst einmal ein wenig Wärme zu erzeugen indem sie versuchte die erbärmlichen Reste Glut wieder zum Leben zu erwecken. Dann befahl sie Xerberum ein paar Holzscheite herein zu bringen. Und so flackerte wenig später ein recht gemütliches Feuer im Herd und der Topf mit dem Wasser begann auch bald darauf vor sich hin zu blubbern.
Verloren blieb die Boroni an der Tür stehen und lausche auf die Umtriebigkeit und das Prasseln des Feuers. “Kann ich etwas für euch tun?” fragte sie verschüchtert. “Ja”, meinte Murla, “Ihr kennt mich doch, setzt Euch einfach zu uns und erzählt wie es Euch seit meinem Besuch ergangen ist.”
Die Boroni nickte, tastete sich zum Tisch und lehnte sich an die Wand. Sie besaß drei Hocker, genau ausreichend für ihre Gäste, die mit einem Handstreich ihren Haushalt übernommen hatten. “Ich freue mich, euch kennenzulernen, Frau Murixe.” lenkte sie ab. “Eure Mutter hat mir viel von euch berichtet.”
“Oh! Euer Gnaden, bitte nennt mich nicht ‘Frau Murixe’, einfach Murixe ist genug!” widersprach sie der Anrede durch die Geweihte. Dann wandte sie sich an ihre Mutter: “Was hast Du denn erzählt?” “Nur dies und das!” war die Antwort Murlas. “Und Ihre Gnaden Marbolieb wird schon genug von Dir erfahren.”
Xerberum saß derweil schweigend auf seinem Hocker und nippte an seinem Tee. Mit leicht schräg gelegtem Kopf lauschte die Boroni dem Schlagabtausch und Teegespräch und genoss die Wärme, die sich mit eine Mal in ihrer Hütte breit gemacht hatte. Mit lautem Zischen rannen Wassertropfen ins Feuer, als der mächtige Eiszapfen, sicher einen halben Schritt lang, über der Feuerstelle zu schmelzen begann.
Sie wartete ab, bis ihre Gäste sich weit genug gestärkt haben würde, um ihre Zimmer zu beziehen und es sich gemütlich zu machen.
Aber das dauerte noch eine kleine Weile, denn die beiden Angroschax ließen sich beim Teetrinken reichlich Zeit und so dauerte es, bis sie soweit waren, ihre Sachen in den Zimmern zu verstauen. Aber schließlich wünschten die Gäste ihrer überraschten Gastgeberin eine gute Nacht. Noch immer verdattert über den heftigen Trubel zog sich die Boroni in ihre Kammer zurück, kniete sich zu einem letzten Gebet des Abends nieder, und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, was ihr auch leidlich gelang.
Gäste.
Mit einem vorfreudigen Lächeln schlüpfte sie in ihren Wintermantel, legte sich auf die vorbereiteten Decken und deckte sich mit ihrem alten Mantel zu - was insgesamt gewiss reichen würde, sie die Nacht über warmzuhalten. Sie hatte schon in deutlich unbequemeren Schlafstätten - und unruhigeren Umgebungen - genächtigt.
Der Tag der kein neues Dach brachte
Da Murixe von dem Wasserholen wusste, war sie die erste, die sich am nächsten Morgen rappelte, sich anzog und dann das Joch und die leeren Wassereimer schnappte und sich damit dann zum Brunnen aufmachte.
Über Nacht war weiterer Schnee gefallen und so musste sie durch lockeren Schnee stapfen, in dem sie an einige Stellen teilweise bis über die Knie einsackte. Unter dem dicken Umhang schwitzend erreichte sie den Brunnen.
Wispern und Tuscheln begegnete ihr, denn die Dörfler begannen ihr Tagewerk früh. “Schau, die Dienstmagd von der Zwergenhur’ is’ widder da.” raunte ein jüngerer Mann seiner fast dreißig Sommer älteren Begleitung zu. “Wir hatte’ scho’ g’hofft, dass se wegbleibe tät mit ihr’m G’sind. Die brauche’ mir net.” stimmte die zu.
Mit ungnädigen Blicken drängten sich die Dörfler an den Brunnen, mehr spritzend und platschend, als unbedingt notwendig, ehe sie schließlich ihr Wasser geholt hatten und unzufrieden der Zwergin an der Wasserstelle Platz machten.
Da Murixe von ihrer Mutter auf so einen gearteten Empfang vorbereitet war, wartete sie still bis sie an der Reihe war und füllte dann die beiden Eimer aus dem Brunnen. Anschließend hakte sie die Eimer ein und es ging den gleichen Weg zurück. Jetzt war zum Glück durch den Hinweg eine Schneise im Schnee gefräst und so war es trotz des Jochs relativ einfach wieder zurück in den Tempel zu gelangen. Dort angekommen brachte sie das Wasser in die Küche. In der Küche traf sie dann bereits auf Murla, die gerade dabei war das Feuer im Herd wieder anzufachen. Die Boroni schlief wohl noch.
Als sie schließlich müde und zerknittert in die Küche schlich, brannte das Feuer im Herd bereits seit einiger Zeit. “Guten Morgen?” fragte sie in das Rascheln und Klappern.
“Guten Morgen, Eurer Gnaden!” kam es wie aus einem Mund von den beiden Zwergenfrauen. Xerberum brummte etwas auf Rogolan, das aber auch wohl ein Gruß bedeuten sollte.
“Das Teewasser kocht schon”, meinte Murixe im Anschluss. “Soll ich die Kräuter schon einwerfen?” Dann begann die junge Angroschna in den Kisten und Paketen zu kramen und förderte allerlei Lebensmittel zu Tage. “Was möchtet Ihr essen, Euer Gnaden?”
Murla saß derweil auf dem Hocker und beobachtete still, wie sich ihre Tochter anstellte. Vorsichtig, um über nichts und niemanden zu stolpern, tastete sich die Geweihte an den Wasserbottich vor, der auch als Waschtisch diente, und goß sich etwas das eiskalten Wassers über die Hände, um diese und ihr Gesicht zu waschen. Mehr wagte sie angesichts der vielen Wesen in ihrer Küche nicht. Sie sog die Luft ein, als das eiskalte Wasser ihre Haut berührte und sie schaudern ließ. Und gründlich wach machte.
“Ihr habt schon wieder Wasser geholt, vielen Dank.” wandte sie sich an die Zwerge hinter ihr. “Das müsst ihr doch nicht. Es ist doch mein Tempel - und ihr seid meine Gäste.”
“Ihr ward vermutlich noch im Gebet versunken, Euer Gnaden!” meinte Murixe. “Da bin ich schnell los, das Wasser holen. Ich wache morgens immer sehr früh auf.” “Ja, sie ist noch so jung”, bestätigte Murla, “und sie hilft gerne.”
“Aber, Euer Gnaden, Ihr habt noch nicht gesagt, was Ihr zum Frühstück wollt!” war es jetzt wieder Murixe, die zu hören war. “Das, was ihr euch macht, junge Dame.” Zweifel klangen in der Stimme der Boroni - immerhin hatte sie ihre eigenen Vorräte, und den Proviant ihrer Gäste aufzuessen war nicht besonders höflich. Andererseits war sie hungrig und die ungewürzte Grütze hatte sie gründlichst über.
“Ich würde uns ein paar Eier machen”, schlug die junge Angroschna vor, “sagt mir bitte wo ich eine Pfanne finden kann.” Noch bevor die Geweihte antworten konnte, war Murixe in einer der Kisten abgetaucht und holte ein halbes Dutzend Eier hervor.
Die Boroni lächelte angesichts der Düfte und rieb sich vorfreudig die Hände. Nun mochte Murixe vielleicht nicht eine genauso gute Köchin wie ihre Mutter sein, aber ein paar Eier in die Pfanne schlagen und dazu ein paar Streifen Speck auslassen, war nun ja auch kein mehrgängiges Menue. Der knusprige Speck knisterte und blubberte in der Pfanne bis ihn die geschlagenen Eier dann ablöschten und alles zu einer homogenen Masse verrührt wurde. Fix füllte Murixe das Ganze auf vier Teller und stellte es vor die Anwesenden. Dazu gab es für jeden ein paar dick geschnittene Brotstullen und einen Becher heißen Tees.
“Nach dem Frühstück wird sich Xerberum um die Löcher in Eurem Dach kümmern und das Holz, das wir noch auf dem Schlitten haben, in Euren Unterstand stapeln. Und wenn das alles erledigt ist, dann machen wir beide uns spätestens Morgen früh wieder auf den Heimweg und lassen Euch beide alleine.” erklärte die Bergvogtin ihren beim letzten Besuch schon zurecht gelegten Plan. “Schade.” murmelte die Boroni, die mit verzücktem Blick an dem Frühstück schnupperte, sich schließlich aber ihrer Manieren besann und aufstand, um ein kurzes Tischgebet samt Traviendank zu sprechen, das sie mit einem ‘so sei es’ besiegelte.
“Oh, ja, es ist schade, aber wir wollen Eure Gastfreundschaft nicht zu sehr strapazieren”, meint Murla zwischen den einzelnen Bissen. “Und wir haben auch nicht genug Vorräte für uns alle mitgebracht. Aber wenn Ihr im Frühjahr in Senalosch seid, dann sehen wir uns bestimmt wieder.”
Nachdem das Frühstück beendet war, begann Xerberum sich die Eiszapfen an der Decke der Küche abzusehen, dann suchte er etwas mit dem er diese Abschlagen konnte und eine Leiter oder etwas mit dem er sich der Decke nähern könnte. Die beiden Angroschax hatten in der Zwischenzeit das Geschirr zusammengestellt und begannen dieses abzuwaschen.
“Lasst mich auch etwas tun.” reagierte die Boroni auf das Klappern des Geschirrs und trat zu dem Waschbottich, an dem die Frauen arbeiteten.
Xerberum indessen war sich nach seiner Inspektion sicher, dass der Borontempel keine Leiter aufwies - lediglich einen Baumstamm mit Trittstufen fand er, der aber mit knapp zwei Schritt nicht bis unter das Dach reichte.
Auf dem Dach lag der Schnee über einen Schritt tief, was den Zugang von außen lebensgefährlich bis unmöglich machte.
Dafür war aber der Eiszapfen über dem Herd so weit geschmolzen, dass er mit einem lauten Knirschen brach und in den Herd stürzte, als Xerberum ihn mit einem Stock anstieß.
Fluchend sprang der Angroscho zur Seite und schaute dann schulterzuckend zu Murla. “Herrin, hier fehlt es an Leitern und nachdem ich mir draußen das Dach angesehen habe, denke ich, dass wir bei dem Schnee keine Möglichkeit haben Ihrer Gnaden zu helfen. Ich hasse es zwar, unverrichteter Dinge von dannen zu ziehen, aber mit dem Dach kommen wir nicht voran. Allerdings habe ich bei meinem Weg einige Kleinigkeiten gesehen, die ich reparieren könnte.”
Murla nickte dem Angroscho zu. “Dann mach dieses bitte. Wir sollten er hier ein wenig wohnlicher machen. Also voran, bis morgen haben wir Zeit.”
Verlegen lauschte die Boroni den unverständlichen Rogolan-Fetzen. Die Bergvögtin hatte wohl beschlossen, Dinge in ihrem Tempel zu tun und anzuweisen, von denen Marbolieb jedoch wenig wusste. Sie schien die Wirtschaft hier im Handstreich übernommen zu haben.
Götterergeben lehnte sich die Geweihte an die Wand und harrte der Dinge, die nun passieren mochten - oder auch nicht.
“Es tut mir leid”, meinte nun Murla auf Garethi zur Boroni. “Das Dach werden wir Euch nicht richten können, für hier drinnen fehlt eine entsprechenden Leiter und draußen liegt viel zu viel Schnee. Das heißt, dass Ihr uns sehr bald wieder los seid. Xerberum hat nur ein paar Kleinigkeiten, die er gerne noch reparieren würde. Aber er meint, dass er nach dem Mittag fertig werden würde.” Marbolieb nickte. “Ich danke euch.” So recht wusste sie noch immer nicht, was sie tun sollte angesichts dieser freundlichen Übernahme. “Ich möchte euch nicht hinauswerfen. Vor allem nicht bei diesem Wetter. Bitte bleibt hier, solange ihr mögt.”
“Genau, das sagte ich doch”, grinste Murla. “Die Hinreise war nicht so schlimm. Und mit dem leeren Schlitten werden wir noch schneller zurück kommen.”
“Passt auf euch auf, bitte.” “Das wünsche ich Euch auch, aber erstmal warten wir noch bis Xerberum fertig ist.”
Murla schaute sich noch einmal in der Küche um und meinte dann zu Marbolieb: “Euer Gnaden, wann habt Ihr Euren letzten Braten gegessen?” Die zierliche Geweihte überlegte mit gerunzelten Brauen. “Anfang Efferd in Senalosch …” grübelte sie. “Nein, im Boron! Der Oberst hat mich für einige Tage nach Tandosch abgeholt, dort gab es ein großes Festmahl.”
“Nun denn”, freute sich Murla. “Dann wird es wohl so langsam wieder Zeit. Während Xerberum arbeitet, werde ich mit Murixe das Mittagsmahl bereiten. Und dann nach dem Essen breche ich wieder auf.”
Dann suchte sie in den Paketen bis sie aus einem ein gut zwei Stein schweres Stück Fleisch rausholte. Dieses begann sie dann mit Kräutern zu würzen. In der Zeit schnippelte Murixe Zwiebeln, Möhren und Knoblauch und anschließend füllten beide Angroschax alles mit einem Schluck Wasser in einen großen Topf und stellten es auf den Herd.
In der Zeit bis der Braten fertig war, war auch Xerberum mit dem Ausbessern der kleinen Stellen im Haus der Geweihten und im Tempel fertig. Und da zog auch schon der Duft von garem Fleisch, Zwiebeln und Knoblauch durch die Küche.
“Essen ist fertig!” rief Murla und deckte den Tisch. “Es riecht herrlich.” flüsterte die Geweihte mit andächtiger Stimme und starrte mit blinden Augen in die Richtung des Herdes, der Quelle der verheißungsvollen Düfte.
Das Licht der Flammen spielte über ihr Gesicht, zeichnete Schatten in ihre hohlen Wangen und die dünne, sich über die Haut spannenden Knochen. Das letzte Festmahl lag merklich lange schon zurück und die Aussicht auf den Braten verhieß einen Blick in Frau Traviens Paradies an einem wohlgedeckten Tisch.
Mit ordentlicher Mühe hielt sie sich zurück, gleich am Tisch zu warten - doch sie besaß sowieso nur drei Hocker, die ihren Gästen vorbehalten waren.
“Bitte setzt Euch!” hörte sie kurz darauf Murixes Aufforderung. Denn die junge Angroschna hatte sich aus den Kisten einen bequemen Sitzplatz zurecht gestellt und so war ein Hocker frei für die Boroni. Murla schnitt den Braten in daumendicke Scheiben und verteilte sie auf vier Teller. Die zerkochten Zwiebeln und Gewürze waren zu einer sämigen Soße eingedickt, die sie über die Fleischscheiben goß. Dann schnitt sie jedem noch einen breite Scheibe Brot ab.
“Angrosch segne dieses Mahl!” wünschte sie dann und fuhr fort: “Lass es euch schmecken!” “Travia sei Dank für dieses nährende Essen.” antwortete die Boroni, kräftig bemüht, sich nicht von dem duftenden Mahl ablenken zu lassen, ehe sie, nach einer kurzen Pause, um ihren Gästen Gelegenheit zu geben, ebenfalls zuzulangen, mit seligem Lächeln über ihren Teller tastete und voller Andacht den ersten Bissen genoss.
Sie schloss die Augen und seufzte verzückt, ehe sie wenig ansehnlich, aber äußerst begeistert und um Langsamkeit bemüht, das Festmahl verzehrte. Einige Zeit breitete sich ein glückseliges Schweigen in der Küche des Borontempels aus.
Denn auch die Angroschim hatten sich vollständig auf das Essen konzentriert und sprachen dem Braten und dem Brot zu. Aber auch dieses Festmahl ging zu Ende und so war dann für Murla und Xerberum die Zeit zum Aufbruch gekommen.
“Euer Gnaden, es war zwar nur ein kurzer Besuch, aber ich habe mich gefreut Euch wiederzusehen. Aber nun ist es Zeit, dass wir aufbrechen!”
Sie nahm die Geweihte wieder in die Arme und drückte sie fest an sich. “Passt gut auf Euch und meine Tochter auf!” “Das will ich tun. Kommt gut nach Hause!” Die magere Geweihte umarmte die kleine Zwergin und hielt sie für einige Augenblicke fest.
“Passt auf euch auf, Frau Murla!” Fast schüchtern fügte sie hinzu. “Wünscht ihr meinen Segen auf die Reise?”
“Wenn Ihr ihn uns gehen wollt, dann nehmen wir ihn natürlich gerne an, Euer Gnaden!” antworte die Angroschna dankbar. “Aber Ihr wisst doch, dass Euer Gott nicht der unsrige ist.” Marbolieb nickte. Eben deshalb hatte sie schließlich gefragt.
“Mögt ihr euch hinknien?” Murla kniete sich vor die Boroni hin und blickte Xerberum streng an, der es ihr dann gleich tat und sich neben seine Herrin kniete. Die blinde Geweihte tastete nach den beiden Zwergen vor ihr, fand ihre Gesichter, Stirn und Scheitel und legte ihr Hände, sanft wie eine Feder, auf ihr Haupt.
“Möge euer Weg geschwind sein und euch die Elemente nichts anhaben. Möget ihr Euer Ziel erreichen und gnädig aufgenommen werden. So sei es.” Frieden und Zuversicht sprach aus ihrer Stimme, und ihre Hand auf Murlas Haupt war warm.
“Habt Dank für Euren Segen!” bedankte sich die Angroschna höflich, dann stand sie auf und deute Xerberum an ihr gleich zu tun.
Dann ging Murla zu Murixe drückte sie ebenfalls fest an sich und sagte zu ihrer Tochter: “Pass gut auf Dich und die Geweihte auf. Wir kommen Dich abholen, wenn die Zeit gekommen ist.” Die Tochter gab der Mutter einen Kuss und nickte.
“Lebt wohl!” winke Murla noch, dann packte sie sich fest in ihren Wollmantel und zog die Kapuze tief über den Kopf.
Der junge Angroscho tat es ihr nach und dann verließen sie die wohlig warme Küche. Murixe folgte den beiden noch bis zu Tür und blickte ihnen nach wie sie sich am Rand des Boronangers die Schneeschuhe unterschnallten und sich dann die Geschirre des Schlittens über die Brust hängten. Der Schlitten war bis auf das Zelt und zwei Rucksäcke leer und ruckte leicht los und folgte den beiden Angroschim leicht hinterher.
Als sie nicht mehr zu sehen waren, drehte sich Murixe um und ging zurück in die Küche. “Jetzt sind wir alleine, Euer Gnaden!”
“Jetzt sind wir zu zweit.” stimmte Marbolieb zu. “Ich hoffe, ihr bereut es nicht, hier zu sein.” Zu gerne hätte sie gewusst, was Murla ihrer Tochter über Calmir erzählt hatte - bezweifelte aber entschieden, dass diese ihr das verraten würde. “Oh, Euer Gnaden, wie kann ich jetzt wissen, dass ich etwas bereuen könnten, wenn ich noch gar nicht weiß, was ich bereuen sollte”, antwortete Murixe nachdenklich.
“Das werdet ihr gewiss hinterher wissen.” tröstete die Boroni. “Was mögt ihr jetzt tun?” “Nun”, meinte die junge Angroschna unbestimmt. “Mutter sagte, ich sollte von Euch lernen. Also denke ich, ich werde genau das tun.” Sie überlegte kurz.
“Habt Ihr schon einen Plan für den Unterricht?” Marbolieb schüttelte den Kopf. “Ich habe noch nie jemanden unterrichtet.” Sie grübelte. “Ich kann euch über das Wesen der Zwölfe erzählen, so ihr mögt.”
Was sollte sie dieser aufgeweckten jungen Zwergin beibringen, was ihr helfen würde? Unmittelbar vor die Herausforderung gestellt schien ihr Murlas Idee mit einem Mal nicht mehr ganz so überzeugend wie noch vor wenigen Wochen, als sie einen einsamen und sehr kalten Winter in Calmir vor sich gesehen hatte. Nun würden sie zumindest gemeinsam frieren. Eine schmale Verbesserung.
“Ja, bitte!” antwortete Murixe. “Ich bin im Glauben an den Allvater erzogen wurde und würde gerne mehr über die Götter der Xomasch wissen wollen.” Sie machte eine Pause, dann fuhr sie fort.
“Die Zwölf ist auch eine so schöne Zahl, sie enthält die acht für die Urväter und die vier meiner Brüder.” “Vielleicht mögt ihr mir im Gegenzug dann etwas über die Zahlenbedeutung der Angroschim verraten?” Vieles über die Zwerge erklärte sich über ihre Zahlenmystik, davon war die Boroni nach zwei Jahren in Senalosch inzwischen überzeugt. “Aber gerne, Euer Gnaden”, stimmte Murixe zu. “Aber ich lerne noch so viel dazu. Bei meinem Meister in Xorlosch.”
“Wann plant ihr diesen wieder zu besuchen?” fragte Marbolieb nach der Dauer der Anwesenheit der jungen Zwergin. Sie hatte noch nie einen Novizen oder eine Gehilfin bei sich gehabt und war fest entschlossen, der jungen Frau den Aufenthalt so lohnend und so angenehm wie möglich zu machen. Doch dass sie sehr lange bliebe, daran zweifelte sie entschieden.
“Ich dachte doch nach dem Winter”, meinte Murixe fragend. “Mutter sagte, ich solle bis zum Frühling bei Euch bleiben.” “Der kommt aber sehr spät in den Bergen.” wandte die junge Boroni zaghaft ein.
“Das ist doch sehr gut, dann werde ich viel lernen”, kam es verheißungsvoll optimistisch von ihrem Hocker. “Ich freue mich, wenn ihr das so seht.” murmelte Marbolieb.
“Wir sollten die Küche aufräumen.” Nun, da die Gäste weg waren. “Ich spüle, ihr trocknet ab - einverstanden?” “Wenn Ihr das wünscht, Euer Gnaden”, antwortete Murixe. “Aber ich kann es auch alleine machen. Ich sehe ja den Schmutz auf dem Geschirr besser …”
Murixe unterbrach sich und lief dunkelrot an. “Verzeiht, Euer Gnaden, so habe ich das nicht gemeint.”
“Ihr dürft morgen spülen - einverstanden?” Das Spülwasser war eiskalt, oft zog sich eine dünne Eisschicht über die Oberfläche, und die Asche, mit der die Geweihte wusch, machte das Wasser zu einer beißenden Lauge. Die Hände der jungen Zwergin waren fein und weich und mehr das Halten eines Stiftes als körperliche Arbeit gewohnt. Und immerhin war Murixe ihr Gast, gleich, was ihre Mutter gesagt hatte - und Murixe noch fast ein Kind. Also würde Marbolieb gut auf sie aufpassen - das Leben in Calmir war fordernd genug.
“Wie Ihr befehlt, Euer Gnaden”, sagte Murixe und suchte nach dem Handtuch und begann das Geschirr zu trocknen. “Wo gehört das Geschirr hin? Sagt Ihr es mir.”
“Vor dem Tisch ist ein Brett an der Wand - darauf kommen die Schüsseln und Teller. Und darüber die Becher.” Die hölzernen Schüsseln würden für höchstens sechs Leute reichen, die Becher für fünf, die Teller für vier - offensichtlich waren schon einige Teile des lange gebrauchten Tongeschirrs ihren Geschirrkameraden auf dem Weg des Endlichen vorausgegangen.
“Das ist ja interessant!” bemerkte die junge Angroschna. “Sechs Schüssel, fünf Becher, vier Teller … wie viele Messer habt Ihr?” “Drei. Und fünf Löffel.”
Messer benötigte sie streng genommen ja nur eines - um das Gemüse klein genug für die Grütze zu schneiden. Die Löffel aus Holz zerbrachen weniger leicht.
“Auf die drei Messer hätte ich auch gewettet!” freute sich Murixe. “Aber die fünf Löffel passen nicht!” Murixe begann zu überlegen, was ihr das Ganze sagen könnte, dann schaute sie sich in der Küche um. Irgendwo musste die fehlende vier stecken …. “Warum?” kam denn auch rasch die verdatterte Frage der Boroni.
“Ihr müsst die Zahlen betrachten!” belehrte sie Murixe. “Zahlen lügen nicht. 6 … 5 … 4 … 3 und dann 5? Da fehlt die vier oder die zwei.” “Ist das wichtig?” Marbolieb konnte damit merklich nichts anfangen. “Es ist eine Sache von Folgen. Es ist so vorgesehen, Angrosch macht keine Fehler, er würfelt nicht!” “Aber es ist nur der Inhalt meines Geschirrschranks!” begehrte die kleine Menschenfrau gegen den Einblick in Angroschs göttlichen Plan auf.
“Es beginnt immer im Kleinen und wiederholt sich im Großen!” “Aber weshalb meine Teller? Warum?” “Es sind nicht nur die Teller, er ist in allem. Man muss es nur sehen und erkennen.”
Murixe überlegte kurz. “Könnt Ihr Zahlen sehen?” “Ich kenne die Zahlen.” Worauf wollte die junge Zwergin hinaus?
“Ja”, nickte Murixe, “die meisten kennen Zahlen, aber könnt Ihr sie sehen? Welche Farben haben sie für Euch?” Perplex schüttelte Marbolieb den Kopf. “Könnt ihr dies?”
“Ja, Zahlen haben Farben und ich kann einige sogar riechen und fühlen.” Sichtlich erfreut erzählte sie davon.
“Könnt ihr dies nur mit Zahlen- oder auch mit Begriffen?” Von so etwas hatte Marbolieb schon das eine oder andere Mal gehört - doch solche Verwirrungen waren unter den Menschen selten. Aber üblicherweise nicht mit anderen Krankheiten des Geistes verbunden. Die meisten, die solches empfanden, waren in allen anderen Bereichen nicht anders als ihre Mitmenschen - oder Mitzwerge. “Und gibt es unter den Zwergen viele, die dieses vermögen?” “Ich weiß es nicht”, antwortete Murixe. “Aber die anderen Schüler meines Meisters in Xorlosch können es nicht, nur der Meister. Aber ich kann nur Zahlen sehen. Und ihre Beziehungen zueinander, wie sie sich verändern können.”
“Und was macht ihr mit diesem Wissen - und was tut es mit euch?” Eine spannende Angelegenheit. “Es geht darum die Welt zu verstehen”, meinte Murixe. “Der Allvater hat die Welt erschaffen, wir versuchen so seiner Schöpfung nahe zu kommen. Sie zu verstehen. Ihre Geheimnisse und Zusammenhänge zu ergründen.”
“Mit Zahlen? Und welche Erkenntnisse haben sie euch gebracht?” “Die Weltenschöpfung ist nicht einfach zu verstehen”, sagte Murixe, “wenn wir sie in unserem Leben verstehen würden, wäre das nicht so als würden wir über den Göttern stehen?” “Aber was sagen euch die Zahlen dann?” Die Boroni ließ nicht locker.
“Jedes steht mit jedem in Zusammenhang”, wiederholte sie, “und diesen Zusammenhang beschreiben Zahlen. Und so können wir ein Stück der Schöpfung erkennen. Es erklärt im kleine die Welt, die uns umgibt. Die Zahlen zeigen, was sich der Allvater gedacht hat.”
“Hm.” Marbolieb überlegte einige Atemzüge lang. “Habt ihr bereits eine konkrete Erkenntnis aus Euren Berechnungen gewonnen?”
“Nein”, musste Murixe nun zugeben, “ich lerne noch. Und mein Meister hat mir gesagt, dass ich alles um mich herum beobachten muss und versuche soll die Zahlen und ihre Zusammenhänge zu notieren. Wenn ich dann wieder in Xorlosch bin, werden wir das Ergebnis besprechen und deuten.” “Schade.” Sie hätte gerne etwas mehr Erkenntnis gewonnen. “Verstehen braucht Zeit.”
“Ja, genau.” Der nächste Satz war typisch für die Angroschim. “Wir haben Zeit.” “Gut.” Marbolieb suchte nach einem Tuch, fand keines und wischte sich die Hände an ihrer Robe trocken. “Dann dürft ihr nun das Geschirr aufräumen.”
Murixe nickte und begann die Sache, wie Marbolieb vorher erklärt hatte, ordentlich im Regal zu verstauen. Dabei achtete sie auf die Ausrichtung der einzelnen Teile zueinander. So standen dann alle Geschirrstücke in Reih und Glied. “Ich bin fertig!” kam prompt danach die Rückmeldung.
“Dann bereiten wir jetzt den Tempel vor.” Marbolieb wandte sich sehnsuchtsvoll in Richtung des Feuers, das wohl bereits am Verglimmen war, und streckte ein letztes Mal wärmesuchend ihre Hände in seine Richtung.
“Oh, Euer Gnaden”, rief Murixe begeistert. “Werde ich dann an einem der Gottesdienste der menschlichen Götter teilnehmen dürfen? Das ist für mich sehr interessant!”
“Ihr dürft gerne dabeisein. Aber er wird euch vermutlich langweilen.” Die Boroni schob etwas Asche in eine Schüssel und machte sich damit auf in Richtung des Tempels. “Oh, das glaube ich nicht, so etwas habe ich noch nicht gesehen”, plapperte die junge Angroschna vor sich hin. “Die Asche braucht Ihr auch für die Zeremonie? Aber kann es jede Asche aus dem Ofen sein? Nichts besonderes?”
“Ich werde sie weihen. Welche Asche sollte ich sonst benutzen?” kam die verwunderte Gegenfrage. “Das weiß ich nicht”, Verlegenheit war in der Stimme Murixes zu hören. “Aber sie ist doch dann etwas besonderes, wenn sie geweiht ist. Daher dachte ich, dass es vielleicht auch Asche von besonderen Hölzern sein müsste. Aber ich bin ja unwissend und Ihr die Geweihte.”
“Ich nehme das, was da ist.” Die Geweihte war im Tempel angekommen, stellte die Schale auf den Altar und zog ein kleines Messer aus einer Tasche an ihrem Gürtel.
Es war finster. Nur durch die hochgelegenen Fenster fiel ein fahles Dämmerlicht in den Raum. “Sucht euch einen Platz.” bot sie der jungen Zwergin an, stellte sich vor den Altar, eine Hand an dem wuchtigen Steinblock, atmete einige Male ruhig und konzentriert ein und aus, ehe sie sich die Klinge flach über die Hand zog und einige Blutstropfen in die Schale mit der Asche fallen ließ. Sie hielt ihre offenen Hände mit der Handfläche nach unten über die Asche, betete schweigend und gab von ihrer Kraft auf die Masse aus Asche und wenigen Blutstropfen.
Die Zwergin bemerkte nur, wie die Geweihte schweigend vor dem Altar stand, fast unbeweglich, ehe sie sich schließlich ungeschickt auf die Knie niederließ, ihre Hände auf dem Schoß faltete und wieder still verharrte. Neugierig hatte sich Murixe so auf einen der Plätze niedergelassen, dass sie die Boroni genau beobachten konnte. Als sie sich in die Handflächen schnitt, stieß sie einen erschreckten Schrei aus und hielt sich dann schnell die Hand vor den Mund, so etwas kannte sie nicht von den Angroschpriestern - allerdings war sie auch noch nie bei einer solcherartigen Handlung dabei gewesen. Sie nahm sich auf jeden Fall vor dieses zur Sprache zu bringen. Dann beobachtete sie weiter.
Als Marbolieb in stillen Gedenken vor dem Altar verharrte, war Murixe ein weiteres Mal irritiert. Müsste die Geweihte nicht beginnen ihren Gott zu preisen, zu singen oder wenigstens zu predigen? Doch nichts dergleichen geschah. Die Geweihte erhob sich schließlich, wandte sich, eine Hand am Altar, in die andere segnend in den Raum erhoben.
“Möge der Schweigsame Euren Schlaf behüten und euch aufnehmen am Ende Eures Weges. So sei es!” beendete sie schließlich ihre stille Andacht doch mit einem gesprochenen Satz.
Murixe drängte sich ungebeten der Gedanke auf, dass es, wenn auch die anderen Andachten der Geweihten derart still und langweilig waren, kein besonderes Wunder war, wenn niemand kam. Die Boroni tastete sich derweil zum Ausgang des Tempelraumes und wartete auf ihren Gast. Murixe stand schnell auf und folgte der Geweihten. Als sie wieder in der Küche war, fragte sie: “Euer Gnaden, könnt Ihr mir bitte ein paar Fragen beantworten?”
“Ist es bei den Angehörigen der Zwölfen üblich Blut zu opfern? Ist das nicht Drachenwerk? Ich habe gehört, dass es verboten sei?”
“Es sind nur wenige Kulte, die das nicht tun.” Marbolieb sann einige Lidschläge lang nach. “Die Kirche der Tsa tut dies nicht. Und vielleicht nicht die des Efferd.” “Das heißt die Gläubigen des Ingerimm opfern auch Blut?” war die erstaunte nächste Frage.
“Das kommt auf die Liturgie an. Doch das teilt kaum eine Kirche mit Laien … .” Die Stimme er Boroni versickerte ins Nichts, als ihr klar wurde, mit wem sie gerade sprach.
“Ich meinte auch mit den Gläubigen eher die Priester, vielleicht habe ich mich nicht richtig ausgedrückt, aber ich kenne so wenig von Euren Göttern.” entschuldigte sich die junge Zwergin. “Wenn es bei der Kirche des Ingerimm Brauch ist, kann es denn dann auch sein, dass es so etwas bei den Geweihten des Allvaters Brauch ist?” “Ich meine die Priester. Außer bei der Kirche des Kor opfert kein Laie sein Blut.”
Was auch von diesen ziemlich vermessen war, doch wussten sie es offenbar nicht besser. Der Chirmärenkönig war denn auch ein sehr umstrittenes Objekt in der Kirche der Zwölfe … und keinesfalls von allen wohl gelitten.
“Vermutlich gibt es auch einige Liturgien in der Kirche des Ingerimm - und vermutlich in jener des Angrosch. Und sehr sicher ist dies nichts, was jedem Neugierigen, der es nicht vollständig verstehen kann, erzählt werden muss. Nicht verstehen macht Angst.”
Etwas irritiert schaute Murixe die Boroni an, anscheinend war die Antwort doch zu komplex oder zu mystisch. Die aber konnte den Blick nicht sehen. Sie tastete nach einem Schemel und setzte sich vorsichtig wieder an den Tisch, darauf bedacht, nirgendwo anzustoßen und, wichtiger, nichts von der Tischplatte, auf der augenblicklich nichts mehr lag, herunterzuwischen.
“Sind immer so wenig Gläubige anwesend, wenn Ihr eine Andacht haltet? Würden vielleicht mehr kommen, wenn Ihr singen würdet oder eine Predigt haltet?” Ein kurzes Lächeln zuckte über die Mundwinkel der Boroni und funkelte in ihren Augen.
“Wenn ich sänge, wärt ihr davongelaufen, Frau Murixe.” “Hi hi!” kicherte Murixe. “Glaubt Ihr? Und bitte nur Murixe, ich bin noch keine Frau.”
“Gerne.” schmunzelte die kleine Geweihte. “Habt ihr noch eine Frage?” So ganz sicher war sie sich nicht mehr, keine der vielen der jungen Zwergin übersehen zu haben.
“Nein, im Moment nicht”, schüttelte Murixe den Kopf. “ich muss erstmal darüber nachdenken, was Ihr gesagt habt.”
Dann hörte Marbolieb ein Gähnen aus der Ecke der Angroschna. “Ich bitte Euch, Euer Gnaden, schlaf Ihr hier, mir macht es nichts in der Kammer zu schlafen.”
“Hier ist es wärmer.” widersprach die Geweihte. “Aber ich würde gerne meinen Strohsack ebenfalls hierherbringen - so es euch nicht stört.” “Selbstverständlich stört es mich nicht”, antwortete Murixe sofort. “Und lasst mich Euch beim Tragen helfen!” Sie eilt der Geweihten hinterher und fasst mit an den Strohsack an.
Zu zweit den zwar leichten, aber enorm sperrigen Strohsack durch den schmalen Gang von der Gästekammer in die Küche zu wuchten und auf die andere Seite des Herdes zu quetschen, klang einfacher, als es sich schlussendlich gestaltete. Außer Atem, aber mit einem Lächeln im Gesicht, ließ die Geweihte sich schließlich auf den Sack fallen.
Viel Platz, sich daran vorbeizudrücken, war nicht mehr. “Hier wird niemand mehr umfallen können.” schmunzelte Marbolieb, ein Lachen in der Stimme.”
“Ich falle bestimmt vor lauter Müdigkeit um, Euer Gnaden!” meinte Murixe und entledigte sich ihren Oberbekleidung. “Ich wünsche Euch eine gute Nacht!” “Euch ebenso. Möge Bishdariel euch einen guten Schlaf schenken!”
Marbolieb tastete nach dem Bündel Decken und beiden Wintermänteln - ihrem alten und ihrem neuen -, die auf ihrer Lagerstatt lagen, und zog unter allem ein Paar dicke Stricksocken hervor. Sie legte ihre Robe vorsichtig zusammengelegt über einen Hocker, zog sich die Socken an die Beine und eine gestrickte Mütze über den Schädel und wickelte sich in beide Mäntel und einige Decken, bis fast nur noch ein Berg aus Stoff auf ihrem Strohsack zu erkennen war. Kaum noch hatte sie die Zeit für ein stilles Gebet, ehe der Rabe seine Gunst ausschickte und sie für diese Nacht tief und traumlos unter seinen Schwingen bettete.
Die junge Angroschna kuschelte sich in ihren Schlafsack, den sie auf Murlas Anraten mitgebracht hatte, und ließ noch einmal alle Ereignisse des heutigen Tages auf sich wirken. Wenige Lidschläge später war aber schon aus dem Schlafsack auch nur noch ein leises Schnarchen zu vernehmen.
Die_halbe_Gruetze
Der nächste Morgen kam und machte sich durch stark gedämpfte Geräusche, fast ein Flüstern, von draußen bemerkbar.
Kein Wunder - hatte es doch in der Nach begonnen, zu schneien, so dass nun im tanzenden Flockenwirbel das Land unter gut einem halben Schritt Neuschnee begraben war.
Murixe erwachte dadurch, dass jemand energisch an ihren Strohsack stieß und ein Rascheln und Klappern davon kündete, dass dieser Jemand im Augenblick sehr um sein Gleichgewicht rang.
“Was ist?” rief die Angroschna und versuchte in dem Halbdunkel der Küche etwas zu erkennen. “Verzeiht - ich wollte Euch nicht wecken.” Kam die sanfte Stimme der Geweihten. “Schlaft weiter.” Was eher ein frommer Wunsch war. Murixe hörte ein Rascheln und Klappern von der Stelle, an der die Eimer hingen.
“Aber, Euer Gnaden, lasst mich doch das Wasser holen!” schlug Murixe vor, die sich jetzt aus dem Schlafsack arbeitete. “Ich bin doch hier um zu lernen und Euch auch zu helfen.” In dieser Zeit hatte sie sich schon ihr Kleid übergeworfen und gegürtet.
“Aber ich kann euch doch nicht alles tun lassen!” protestierte Marbolieb. “Doch das könnt Ihr, ich muss schließlich für mein Lehrgeld arbeiten”, mit diesen Worten zog sich Murixe ihren Mantel über, die Kapuze weit in die Stirn und griff nach den Eimer. Dann drängte sie auch schon aus der Küche Richtung Ausgang.
Als sie Tür öffnen wollte, stellte sie fest, dass das nicht so einfach ging wie am Tag zuvor. Also drückte sie und stieß bis die Tür endlich aufging … und sie mit einer kleinen Schneelawine begrüßte. Murixe schnaube ärgerlich, aber dann stellte sie erst einmal die Eimer ab, drehte sich um und ging zurück in die Küche: “Euer Gnaden, habt Ihr eine Schaufel?”
“Wie tief ist es?” wollte sie Geweihte wissen, trat ebenfalls zur Tür und stellte fest, dass sie bis zum Bauch im Schnee stand. “Oh.” war ihr einziger Kommentar. “Beim Brennholz sind Besen und Schaufel.”
“Gut!” nickte Murixe. “Ich werde dann versuchen einen Weg zum Brunnen zu bahnen. Vielleicht könntet Ihr schon Feuer machen? Ich glaube ich wäre froh, wenn es warm wäre.” Dann ging sie los die Schaufel zu holen. Als sie mit der Schaufel wieder an der Tür stand, kam ihr eine Idee. “Euer Gnaden!” rief sie Marbolieb zu. “Warum sollen wir Wasser vom Brunnen holen, wenn der saubere Schnee direkt vor der Tür liegt?” “Wenn ihr den sauberen Schnee nehmt, warum nicht?” Bislang hatte Marbolieb noch davor zurückgeschreckt, nachdem einmal das Wasser aus getautem Schnee äußerst eigenartig geschmeckt hatte.
“Was wollen wir heute kochen? Dann bereiten wir alles vor und müssen nur einmal anfeuern.” “Dann hole ich jetzt ein paar Eimer von dem saubersten Schnee, den ich finden kann”, bestätigte die Angroschna. “Und danach fege ich den Flur wieder sauber und komme in die Küche. Vielleicht sollten wir erst einmal alle Kisten und Päckchen, die Mutter zusammen gepackt hat ansehen und dann entscheiden was wir als erstes essen wollen.”
“Eine gute Idee. Und dann mache ich Feuer, damit wir kochen können.” freute sich die Geweihte. “Dann machen wir es so!” freute sich Murixe, trat ein wenig raus in den Schnee und begann mit den Händen die obersten sauberen Schichten in den Eimer zu schaufeln. Als die beiden Eimer voll waren, brachte sie die Eimer in die Küche. “Euer Gnaden, das Wasser!” Und schon war sie wieder verschwunden und kurz darauf hörte Marbolieb das Kratzen des Besens auf dem Steinboden. Und das leise Fluchen der jungen Angroschna, die mit dem ausgefransten und fast schon reisigfreien Besen gegen den hereingewehten Schnee kämpfte. Einige Zeit später kam dann Murixe erhitzt mit rosigen Wangen zu Marbolieb in die Küche.
“Ich bin fertig, Euer Gnaden!” “Vielen Dank, Murixe.” Die Geweihte rieb ihre klammen Hände aneinander.
“Wollen wir auspacken?” Bei der Aussicht auf irgend etwas anderes als Grütze lief ihr bereits das Wasser im Mund zusammen, und ihre Magen meldete sich mit einem sehr energischen Knurren zu Wort.
Und so begann Murixe mit dem Auspacken. Es waren Säcke mit Mehl, einige Schock Eier, ein paar Brote, Schinken und Würste. Einige Käseräder, die nachdem sie aus den Stoffplanen ausgewickelt war, ihren würzigen Duft entfalteten.
Daneben legt sie noch einige Bunde Zwiebeln, Knoblauch und Karotten. Ein paar Krüge mit Honig, Mandeln und Nüssen vervollständigten die Lebensmittel. In weiteren Tüchern eingeschlagen waren große Stücke Butter. Und dann waren da noch ein paar größere Krüge mit Bier. “Ich glaube, das ist alles!” sagte Murixe und begann die Schätze aufzuzählen.
Immer größer wurden dabei die Augen der mageren Geweihten. “Das reicht ja für Monde!” flüsterte sie fassungslos.
“Auf was habt ihr Lust?” “Ich esse - und koche auch - das was Ihr wollt!” war die bescheidene Antwort der Angroschna.
“Wir könnten etwas Schinken in die Grütze schneiden?” tastete sich die Boroni an den unerwarteten Reichtum heran. “Wenn Ihr unbedingt Grütze wollt, dann können wir auch den Schinken hinein schneiden”, murmelte Murixe. “Wir können die Grütze aber auch weglassen.” Vor dieser furchtbaren, ungewürzten Pampe hatte ihre Mutter sie gewarnt!
“Aber wir haben sie - da sollten wir sie doch auch benutzen.” Marbolieb schnupperte, denn beim Auspacken hatten sich die leckersten Düfte in ihrer Küche verbreitet. “Doch trockene Grütze hält lange. Was essen wir dann?”
“Eier mit Schinken?” schlug Murixe vor. “Den Schinken klein schneiden und anbraten und dann die Eier darüber. So würde ich das machen, Euer Gnaden.” “Schneiden kann ich - gebt mir den Schinken, und ihr nehmt die Eier.”
Zufrieden mit der Aussicht auf ein gutes Essen begannen die beiden Frauen mit der Arbeit, ehe die Geweihte dann nach einigen Versuchen das Feuer entzündete und vorsichtig zwei Holzscheite in den Herd stapelte, um nichts von dem kostbaren Feuermaterial zu vergeuden. Durch das Auspacken und die Arbeit war es den beiden immerhin leidlich warm geworden.
Murixe suchte derweil den Schinken aus den Vorräten heraus und legte ihn vor Marbolieb auf den Tisch. “Bitte, Euer Gnaden!” Dann nahm ein Löffel Butter in eine Pfanne und setzte sie auf den Ofen.
“Wenn die Butter heiß ist, dann kann der Schinken hinein.” Gesagt, getan, als die Butter geschmolzen war und zu bräunen begann, warf Murixe die Schinkenwürfel in die Pfanne und als auch diese richtig schön ausgelassen waren, zerschlug sie gut ein halbes Dutzend Eier darüber und begann alles durchzurühren.
Wenig später erfüllte der Duft von gebratenen Schinken und Eier die Küche. Murixe nahm die Pfanne vom Herd und hat die Rühreier auf zwei Teller häufeln. “Guten Appetit, Euer Gnaden!” Glücklich rieb sich die Geweihte die Hände über dem Feuer, begierig, die Wärme auszunutzen, solange sie währte. Widerstrebend und getrieben von den köstlichen Düften riss sie sich schließlich los.
“Es schmeckt herrlich!” erklärte sie wenig später glücklich mit vollem Mund. “Wir könnten heute den Tempel putzen. Und ich darf meinen Proviant beim Wirt abholen.”
“Soll ich Euch dabei begleiten?” wollte Murixe wissen. Das Putzen war jetzt nicht so wirklich ihre Lieblingsaufgabe, lieber würde sie noch ein paar der Dorfbewohner kennenlernen. “Ihr könnt mich hinführen. Bei dem Schnee fühlt sich der Weg anders an als sonst.” schmunzelte die Geweihte und rieb sich über ihren vollen Bauch.
“Gibt es etwas, das euch besonders interessiert?” “Wollen wir dann zuerst zum Wirt gehen oder erst reinigen?” fragt Murixe nach. “Und Mutter hat mir nicht viel Gutes von den Dörflern erzählt, aber ich würde mir gerne ein eigenes Bild machen. Daher bin ich an allem interessiert, was Ihr mir zeigen könnt.” “Dann waschen wir ab und gehen.”
Wenig später waren die beiden Frauen in dem dichten Schneetreiben unterwegs. Der ungeräumte Schnee ging der Angroschna bis zum Hals.
“Wir müssen in die Graue Gans. Am Marktplatz.” erklärte die Geweihte, die sich so dick eingemummelt hatte, dass kaum noch ihre Nasenspitze aus dem Berg an Schal, Mütze, Robe und einem äußerst dicken, warmen, pelzbesetzten, offensichtlich sehr neuen und braunen Wintermantel ragte.
“In welche Richtung ist das, Euer Gnaden? Ich kann hier nirgendwo einen Weg sehen”, meinte die kleinere der beiden Frauen, die große Mühen hatte überhaupt über den den Schnee schauen zu können. Es war ihr auch peinlich einfach so über den Boronanger zu stapfen auf dem die Xomascho ihre Toten gelegt hatten statt einfach den Körper ihren Göttern zurückzugeben.
“Da wo der Brunnen steht.” Sie grübelte. “Ich habe am Wegrand ein paar Stäbe in den Boden gesteckt, bis zum Tor.” Ein Zaun umfriedete den Boronanger, der am äußersten Dorfrand in eine dichte Hecke und einen Holzzaun überging. Doch sowohl Zaun als auch Weg waren längst tief unter dem Schnee begraben, der sich unerbittlich seinen Weg in die Kleidung der beiden Frauen suchte. Murixe versuchte durch das Schneetreiben die Stöcke zu erkennen, blieb aber erfolglos, da diese höchstens hüfthoch waren. Da keine Stöcke zu sehen waren, blieb Murixe nichts anderes übrig als sich auf das Gespür der Boroni zu verlassen. Zumindest war die Mauer zu erkennen, den die Schneeverwehungen zeichnet diese als höhere Linie ab. Und da voraus war auch eine kleine Einbuchtung zu erkennen, das müsste wohl der Durchgang zum Dorf sein. Als gestern dort noch der Schlitten gestanden hatte, sah alles viel näher aus.
Also stapfte sie weiter grob in diese Richtung.
Schneeüberstäubt und schon etwas nass langten die beiden Frauen nach einer schier endlos scheinenden Zeit am Tor an. Die Fußstapfen von gestern, die diesen Weg geführt hatten, waren längst vom Schnee verweht und verdeckt.
Einige Schritt weiter zeichnete sich deutlich flacher und von einigen Füßen niedergetreten die Oberfläche der Dorfstraße ab, zumindest ein Trampelpfad verband die Hütten und wurde breiter zum Dorfplatz hin.
Am Brunnen hatte sich ein halbes Dutzend Leute - alt und jung, Männer wie Frauen - versammelt, die frierend und mit den Füßen stapfend darauf warteten, dass sie an der Reihe waren ihr Wasser zu holen und wieder ins Warme zu kommen. Als sie des ungleichen Paares ansichtig wurden, hielten sie inne und starrten die beiden an, ehe sie die Köpfe zusammensteckten und offensichtlich sehr wichtige Neuigkeiten austauschten - die Wortfetzen, die herüberdrangen, klangen nicht besonders schmeichelhaft.
Murixe ließ sich davon noch nicht irritieren, grüßte die starrenden Menschen höflich und führte die Geweihte weiter in Richtung Marktplatz, denn dort waren ja die beiden Wirtshäuser. Als sie dort anlangten, schaute sie sich nach dem Wirtshausschild um und steuerte dann auf die Gans zu.
“Wollt Ihr vorgehen, Euer Gnaden?” fragte sie als sie vor der Tür standen. “Wir müssen zur Küche - an die Rückseite.”
“Aber Ihr seid doch eine Geweihte, eine Dienerin ihrer Götter!” meinte Murixe jetzt stark empört. “Wieso speist man Euch dann ab wie den letzten Bettler?”
“Der Wirt sagt, ich vergraule seine Gäste. Und wir holen ja nur etwas ab.” “Aber trotzdem, das ist doch nicht richtig! Warum lasst Ihr Euch diese Behandlung einfach so gefallen?”
“Ich möchte gerne etwas zu Essen, Murixe.” Murixe schüttelte stumm den Kopf. Was konnte sie dagegen noch einwenden, irgendetwas in der Geweihten schien sich mit diesem Leben abgefunden zu haben und sie begehrte nicht mehr gegen diese Behandlung auf.
“Bitte dann kommt!” Sie nahm die Hand Marboliebs und führte sie um das Gebäude herum an die Hinterseite. Immer darauf bedacht, dass die beiden nicht von abfallenden Eiszapfen oder Dachlawinen erschlagen wurden.
An der Hintertür angekommen klopfte die Boroni - nicht besonders überzeugend, und auf Murixe machte es eher den Eindruck, als würde sie wünschen, nicht gehört zu werden. Neben der Tür standen einige Eimer mit Unrat, und auf dem Misthaufen nicht weit der Tür dampften frisch drauf gekippten ausgekochte Knochen, von zwei Krähen auf dem Dach gegenüber gierig beäugt. Wenn nur die Zweibeiner nicht zwischen Ihnen und ihrem Festmahl gestanden hätten!
Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür knarrend nach draußen und trieb die die beiden Frauen einen Schritt in den schmutzigen Schnee zurück. Ein pickeliger junger Mann mit fettigen Haaren und einer noch fettigeren Schürze, aufgekrempelten Ärmeln und einer roten Nase öffnete, blickte die beiden an und drehte sich dann in die Küche um, wo er mit voller Lautstärke “Die Zwergenhure ist da!” brüllte.
Bei diesem Ruf klappte Murixe die Kinnlade herab. Das war ein starkes Stück. So etwas über die Geweihte zu denken, wäre ihr noch in den Sinn gekommen. Es heimlich hinter Marboliebs Rücken zu reden, ungehörig. Aber das war eine Frechheit sondergleichen!
Die Boroni umklammerte mit einer Hand den Griff des Korbes, den sie dabei hatte, und legte die andere auf den Türrahmen. Murixe bemerkte, wie ihr Kopf ein kleines bißchen weiter nach unten sackte.
Die Leute in der Küche der Gans - vier insgesamt - gingen ohne große Hast weiter ihren Verrichtungen nach, bis schließlich der junge Mann wieder aus einer Vorratskammer zurückkam, und einen halben Scheffel grob geschrotete Grütze in den Stoffbeutel leerte, den die Geweihte in ihrem Korb mitgebracht hatte. Zusätzlich fanden vier schrumpelige Rüben, fünf Zwiebeln und drei runzelige Äpfel ihren Weg dorthin.
“So, das war’s. Die Götter befohlen.” Brummte der junge Mann mit einem sehr neugierigen Blick auf die Zwergin. “Habt Dank.” murmelte die Geweihte, ehe sie nach dem Arm Murixes tastete. “Gehen wir.” flüsterte sie.
Zähneknirschend nickte Murixe und führte die Geweihte wieder zurück auf den Marktplatz. “Sind sie immer so gemein zu Euch?” Marbolieb zuckte die Schultern. “Sie haben ja recht.” seufzte sie leise.
“Aber selbst, wenn sie recht haben”, empörte sich die junge Angroschna. “sollten sie ihre Meinung für sich behalten. So etwas gehört sich nicht! Und Ihr seid eine Dienerin der Götter, eine Respektsperson!”
Die Geweihte schwieg darauf, bis sie wieder im Tempel ankamen. Das Feuer war mittlerweile zu glühenden Kohlen herabgesunken, über die Marbolieb dankbar ihre klammen Hände hielt, als sie, schneebedeckt wie ein Winterbold, die Küche wieder betreten hatte.
“Helft ihr mir, die Hälfte der Grütze in den Vorratstopf zu gießen?” fragte sie. “Und die Hälfte des Obstes in den Schrank.”
“Gerne, Euer Gnaden!” Murixe war immer noch aufgewühlt. “Warum lasst Ihr Euch das gefallen?” Sie nahm den Topf und füllte die Grütze hinein. Das Obst betrachtete skeptisch, denn diese Äpfel hätte man in Xorlosch kaum den Schweinen als Futter vorgesetzt. Aber wenn es die Boroni so wollte, dann machte sie es. Vielleicht war das ja eine Lektion, die sie lernen sollte.
“Vom Gemüse auch. Die Hälfte nehmen wir.” Die Geweihte rieb noch immer ihre Hände, die von der Kälte krebsrot geworden waren, über der Glut. Da die Geweihte nicht auf ihre Fragen antwortete oder antworten wollte, war es wohl jetzt nicht die richtige Zeit für dieses Thema, als schaute sich Murixe das Gemüse an, roch kurz daran und tauschte es dann gegen das deutlich frischere Gemüse aus, dass sie aus den Päckchen ausgepackt hatte.
“Soll ich das Feuer wieder anschüren, Euer Gnaden?” Die Geweihte schüttelte den Kopf. “Es ist doch noch warm.” Sie hielt ein letztes Mal mit einem sehnsüchtigen Gesichtsausdruck die Hände über die Glut.
“Gebt mir den Korb.” bat sie. “Wir haben noch etwas zu tun.” Sie fühlte, ob sich noch die Hälfte der Grütze und der restlichen Nahrungsmittel darin befänden, und machte sich auf zur Tür.
Gespannt, was mit den Lebensmitteln nun passieren würde, ging Murixe hinter der Geweihten her. Die trat wieder vor die Tür und das Tor der Umfriedung, die Boronanger und Tempel umschloss, und tastete sich dann durch den offensichtlich unberührten Schnee an dem Zaun entlang. Es schneite noch immer.
Der Schnee reichte Murixe bis zum Hals, dass die Geweihte mühsam einen Trampelpfad bahnte, half nur wenig weiter. Direkt neben dem Tempelgelände lag eine kleine, windschiefe Kate aus Holz, die offensichtlich das Ziel der Geweihten war - zumindest folgte sie der Abgrenzung des Angers weiterhin in genau diese Richtung.
Stumm - aber durch den Schnee behindert und daher schimpfend - folgte Murixe der Geweihten durch die Winterlandschaft. Ihre Neugier war geweckt, was für ein Geheimnis steckte hinter diesem Spaziergang?
Entschlossen und nur mit zwei Fehlversuchen fand die blinde Boroni schließlich die Tür der Holzhütte und klopfte energisch dagegen, ehe sie ein Stück Schnee beiseite fegte und das Obst und den Beutel mit der Grütze davorlegte.
Vorsichtig ging sie einige Schritt zurück, während in der Kate ein Rascheln und Poltern ertönte und die Tür vorsichtig geöffnet wurde. Fünf Kinder im Alter von vielleicht drei bis knapp über zehn lugten heraus, samt und sonders vor Schmutz starrend in fadenscheiniger Kleidung und mit hohlen, ausgezehrten Wangen. Als sie die Äpfel, die Rüben und die Zwiebeln bemerkten, fielen sie wie eine Horde ausgehungerter Tiere darüber her und verschlangen Obst und Gemüse roh. Die Geweihte schmunzelte traurig und machte sich auf den Rückweg, ebenso still, wie sie gekommen war.
Und wie fiel der Angroschna die Kinnlade herunter. Von den kümmerlichen Essensresten fütterte die Geweihte noch Dorfkinder durch!
Als ihr Marbolieb nun wieder entgegen stolperte, konnte sie die Fragen nicht mehr verkneifen: “Warum gebt Ihr ihnen Essen?”
Die Geweihte ließ sich einige Schritte Zeit mit der Antwort. “Ich höre es im Tempel, wenn sie vor Hunger weinen.” Sie fand die Umfriedung zum Boronanger und atmete erleichtert auf, als ihre vor Kälte bleichen Finger die bekannte Landmarke ertasteten.
“Ich habe selbst ein Kind, Murixe.” “Ja, Mutter sagte es”, nickte Murixe. “Es lebt in Senalosch, nicht wahr? Ein kleines Mädchen, oder?” Die Boroni nickte, kaum zu sehen unter den vielen Lagen Kleidung, in die sie sich gehüllt hatte. Dann ging sie ein paar Schritte neben der Geweihten her.
“Wessen Kinder sind das denn?” “Ihr Vater, Burian, ist ein Witwer. Und treibt sich ständig im Gasthaus herum.”
“Und wie lange helft Ihr Ihnen schon?” Sie konnte sich nicht erinnern, dass Murla etwas davon erwähnt hätte.
“Seitdem ich wieder hier bin.” Die beiden Frauen hatten die Tür zum Gang zur Küche erreicht, wo auch das Holz lagerte - üblicherweise ging die Geweihte nicht über den Tempelraum, wenn sie in ihre Wohngemächer wollte - und Marbolieb begann, sich den Schnee von Kleidung und Schuhen zu klopfen. “Ich darf mir alle zwölf Tage Essen in der Gans abholen - dann bringe ich ihnen davon.”
“Wir haben doch aber so viel Essen in der Küche, wollen wir davon nicht etwas abgeben? Oder die Kinder einladen?” “Das ist euer Essen, Murixe. Ich kann das nicht eigenmächtig verschenken.” “Es ist die Bezahlung, dafür dass Ihr mich bei Euch wohnen lasst und unterrichtet. Also ist es Eures!”
“Ihr mögt keine Grütze, darum ist es euer Essen. Und es muss bis zum Frühling für euch reichen.”
“Es muss für uns reichen!” meinte Murixe und betonte das ‘uns’. “Und wenn es zu Ende ist, dann sehen wir weiter, aber bis dahin sollten wir alle satt werden und schöne Tage haben.” “Bis dahin weiß jeder, dass ihr bei mir wohnt und niemand wird euch mehr etwas verkaufen. Wir sollten es gut einteilen. Doch wenn ihr den Kindern davon etwas geben wollt, tut dies. Sie können es gebrauchen.”
“Wenn wir hier nicht mehr einkaufen können, dann kaufen wir es im Nachbardorf!” bestimmte Murixe.
“Nicht im Winter. Das ist zwei Tagesreisen weit weg. Im Sommer.” erklärte die Boroni, entledigte sich ihrer nassen Schals und des Mantels und hängte beides an einen Haken im Gang, wo sich rasch eine Wasserlache aus tauendem Schnee darunter sammelte. Sie zog sich ihre nassen Stiefel von den Füßen, wrang die Socken aus und suchte nach ihrem zweiten Paar Schuhe, dass hier irgendwo stehen musste. Erfolgreich geworden strebte sie in Richtung Küche, um sich aufzuwärmen.
“Wir müssten noch Tee haben. Wollen wir nachsehen?” schlug sie vor. “In nicht einmal drei Tagen bin ich in Ishna Mur und würde dort alles bekommen, was wir brauchen”, führte sie ihren Gedanken fort, dann suchte sie in den Regalen nach den Kräutern für den Tee. “Ja, Euer Gnaden, hier ist noch was.”
Sie stellte die Kräuter neben die Becher und füllte Wasser in den Kessel, den sie auf den Herd stellte - oder besser stellen wollte, denn die heruntergebrannten Scheite würden nicht genügend Wärme abgeben, um das Wasser zu erwärmen.
Also flitzte sie zu dem Holzvorrat und wäre beinahe in der Pfütze, die sich unter den aufgehängten Mänteln gebildet hatte, ausgerutscht. Sie fing sich aber und holte ein paar frische Scheite, die sie dann in den Herd legte. Nach einer Weile begann das Wasser zu brodeln und Murixe goß das Wasser zu den Kräutern in die Becher und reichte einen der Geweihten.
“Bitte, Euer Gnaden!” “Aber … “ entgeistert hatte die Geweihte dem Räumen und Rascheln der Zwergin gelauscht. “Wir hatten noch Tee vom Frühstück! Ich wollte nicht, dass ihr nochmal Feuer macht. Murixe, so wird das Holz nicht reichen!”
“Es tut mir leid, Euer Gnaden!” Murixe wirkte deutlich zerknirscht über den Rüffel der Geweihten. Sie hatte genügend Geld von Murla bekommen, um den Winter mit Lebensmitteln und Holz durchzubringen. Aber das musste sie der Geweihten ja nicht am zweiten Tag auf die Nase binden.
“Und ihr könnt im Winter auch nicht so einfach einkaufen gehen. Wenn der Schnee noch einen Schritt tiefer liegt, oder es richtig kalt wird, werdet ihr draußen erfrieren.” Einmal, im vorvorletzten Winter, waren Marbolieb nach drei Atemzügen die Eiskristalle an der Nasenspitze festgewachsen und sie hatte zugesehen, dass sie sehr rasch wieder ins Haus kam. Die Aussicht, mehrere Wassergläser draußen zu sein, wäre der direkte Weg auf den Boronsanger. Von einer mehrtägigen Reise ins nächste Dorf oder nach Ishna Mur ganz zu schweigen.
“Ja, Euer Gnaden” Murixe war sichtlich eingeschüchtert. “Na ja, wenn das Wasser schon heiß ist, machen wir uns ausreichend Tee und kochen etwas Grütze zum Abendessen - einverstanden?”
Die Zwergin hatte ihr Ansinnen, von ihren Vorräten abzugeben, wohl wieder aufgegeben. Marbolieb konnte es ihr nicht verdenken. Aber ganz offensichtlich war das junge Mädchen vorher noch nie über Monde hinweg eingeschneit gewesen.
“Das können wir machen, wenn Ihr das wollt, Euer Gnaden.” Murixe begann das heiße Wasser in die leere Kanne zu gießen und darüber die Kräuter zu verteilen. “Wollen wir nicht etwas anderes machen außer Grütze? Wenn wir die Kinder einladen … .”
“Die werden wir nicht einladen.” Die Geweihte war an ihren Vorratsschrank - eher ein kleines Schränkchen mit zwei Regalbrettern, einen Dreiviertel Schritt breit, da in die Wand eingelassen war und durch eine Lade verschlossen werden konnte - getreten und betastete die darin gelagerten Nahrungsmittel, fand die geschrotete Grütze und gab zwei Hände davon zu dem kochenden Wasser in den Topf.
“Sie würden Unsinn anstellen - und ich glaube nicht, dass es hinterher noch ein Körnchen Gerste hier gäbe.” So sehr die Kinder sie dauerten - aber ihr Heim von ihnen verwüsten zu lassen, das wollte sie auch nicht. “Wenn ihr ihnen etwas geben mögt, bringt es ihnen.”
“Heute haben sie ja schon etwas bekommen, dann geben wir es ihnen an einem anderen Tag?” fragte Murixe vorsichtig. Sie würde sich an dieses Regime wohl noch gewöhnen müssen. “Das dürft ihr sehr gerne tun. Ich bringe ihnen immer etwas vorbei, wenn ich in der Gans bin - aber das ist nur alle zwölf Tage.” Nickte die Geweihte.
“Dann machen wir es so wie Ihr es bisher gemacht habt”, bestätigte die junge Zwergin. “Kann ich Euch bei der Grütze zur Hand gehen?” “Ich muss nur noch umrühren - aber vielen Dank.” lächelte die Boroni, die keinesfalls unglücklich über den Platz am warmen Feuer wirkte. “Wir wärmen uns noch einmal richtig auf, ehe wir in den Tempel gehen - einverstanden?” “Ja, sonst wäre das Holz ja ganz vergeblich verbrannt”, nickte Murixe. Sie wollte nicht als prassend und ausschweifend wirken, wenn Marbolieb mit einem Scheit am Tag auskommen wollte, dann würde sie diesem nicht widersprechen, sondern sich fügen.
Geraume Zeit später betraten die beiden Frauen den Tempelraum. Er war finster, und die wenigen hochliegenden Fenster spendeten kaum genug Licht, dass die scharfen Augen der Zwergin die Konturen der wenigen Einrichtung - die sich hauptsächlich aus Altar, einem Wandbild dahinter und einer Statue daneben zusammensetzte - erkennen konnte. Die Boroni schleppte Besen, Kehrichtschaufel, Eimer und Putzlappen und schien wild entschlossen, den vermuteten Staubmäusen in den Ecken und allem Schmutz in dem von wenigen benutzten Raum zu Leibe zu rücken.
“Wobei soll ich Euch unterstützen? Soll ich den Boden ausfegen, da sehe ich den Staub wohl ein wenig besser als Ihr.” Der Vorschlag kam nicht von ganzem Herzen, aber die blinde Frau alleine putzen zu lassen ging ja auch nicht.
“Gerne - das wäre großartig!” freute sich die Geweihte. Allein war es eine ziemlich Arbeit, die sie bis zum späten Abend hin beschäftigt hätte. Sie nahm Wasser und Lappen und begann, hingebungsvoll den Altar zu putzen. Ein fast schon liebevolles Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie sich gründlich und methodisch von einem Ende des wuchtigen Basaltblockes voranarbeitete. Als Murixe sah mit welcher Hingabe Marbolieb den Altar reinigte, packte sie ebenfalls der Ehrgeiz und sie begann den Tempel aufs ordentlichste auszufegen. Sie kehrte alles auf einen Haufen und dann auf die Kehrschaufel, die sie dann nach draußen brachte.
Die Nacht war schon hereingebrochen, als die beiden Frauen mit ihrer Arbeit fertig waren. “Jetzt ist es aber wieder richtig sauber hier!” freute sich Murixe und ließ sich auf einen der Plätze fallen.
“Soll ich vor Eurer Andacht noch die Putzsachen weg bringen?” “Ich helfe euch.” bot die Geweihte an. In der Küche angekommen, setzte sie zu einer Erklärung an.
“Boron ist nicht nur der Gott des Todes, sondern auch des Schweigens. Ein Gebet an ihn muss nicht laut sein. Und nicht gesprochen.” Dass sie, da sie üblicherweise alleine betete, einfach vergessen hatte, dass gestern ein Gast dem Götterdienst beigewohnt hatte, verschwieg sie besser. “Wir bitten ihn um Seelenfrieden, Gelassenheit und friedlichen Schlaf.” Und einige andere Dinge. “Und wir geloben, zu diesem Ziel an uns zu arbeiten. Denn nur, wer seine eigenen Triebe zügelt, kann anderen Ruhe schenken.” “sehr wohl, Euer Gnaden”, nickte Murixe. “Ich werde kein Wort mehr sagen und Euch still folgen.”
Zumindest erklärte sich Murixe so das Verhalten Marboliebs vom Vorabend.
“Bei der Andacht.” präzisierte die Geweihte. “Ansonsten fragt, wenn ihr etwas wissen möchtet.” “Sehr wohl, Euer Gnaden”, Murixe wollte im Moment nichts fragen, zu mal ja ein Teil ihrer Fragen vom Tag noch nicht beantwortet waren. “Ich werde mit Euch kommen.”
Der Götterdienst an diesem Abend verlief mit einer diesesmal gesprochenen Segensbitte der Geweihten - und zu Murixes insgeheimer Erleichterung ohne ein weiteres Blutopfer. Die Asche hatte die Geweihte sehr sorgsam in einen Beutel geschüttet und in einem Nebenraum des Tempels verwahrt. Geweihte Asche, so hatte sie erklärt, benötigte sie für verschiedene Zeremonien, darunter auch die Grablege - und für einen Schutzkreis gegen Geister oder Dämonen, sollte dies jemals notwendig werden.
Die Küche empfing die beiden Frauen nach dem Götterdienst mit klammer Kälte. Vor Murixes Nase zeichnete ihr Atem Dampfwolken in die Luft und auf dem Tee vom Vormittag hatte sich eine feine Eisschicht gebildet.
Die Boroni rieb ihre klammen Hände. “Haben wir noch etwas zu essen? Und dann sollten wir zu Bett gehen - es ist spät.” Zumindest aber war es kalt. “Ich glaube, es ist noch etwas Brot und Schinken da. Oder wollt Ihr lieber etwas Käse?” fragte Murixe, die begann die Vorräte ein wenig zu taxieren und zu rechnen wie lange sie reichen würden.
“Wir haben Grütze.” brachte die Geweihte die hochfliegenden Pläne auf den Boden der Tatsachen. “Aber wir könnten etwas Schinken hineinschneiden.”
“Wie Ihr meint, Euer Gnaden!” Murixe säbelte eine fingerdicke Scheibe vom Schinken ab und zerkleinerte sie dann in gleichmäßige Würfel, die sie natürlich zählte und in Achterblöcke gruppierte. Als acht Häufchen a acht Würfel vor ihr lagen, war die Scheibe zerschnitten und Murixe freute sich, es geschafft zu haben. Die Geweihte holte zwei Schüsseln und Löffel. “Lasst uns essen.” ignorierte sie die numerologischen Mühen der jungen Frau.
“Angrosch segne dieses Mahl!” sagte Murixe und begann die Grütze zu löffeln. Auch wenn es ihr nicht wirklich schmeckte würde sie sich wohl die nächsten Monate dran gewöhnen müssen.
Aus Wald und Feld
Die nächsten Tage verliefen ruhig und gleichförmig. Es schneite weiter und der Schnee lag als mehrere Schritt dicke Decke auf Dächern, Wegen und Feldern. Es war kälter geworden, so dass die Flocken zu kleinen, scharfen Nadeln gefroren und schließlich ausblieben. Auf dem Schnee bildete sich eine trügerisch dünne Schicht aus gefrorenem Firn und der Himmel war klar und wolkenlos. Des Nachts funkelte Phexens Geschmeide hell und kalt auf einem Mantel aus pechschwarzen Samt. Es war still geworden im Tempel des Totengottes, die wichtigsten Dinge zwischen beiden Frauen ausgetauscht, und eine Art Normalität hatte sich eingefunden.
Die Stille die im Tempel herrschte und die Schweigsamkeit Marboliebs waren neue Erfahrungen für Murixe, die bislang immer ihre Gedanken mit ihren Mitbewohnern geteilt hatte. Aber in den Tagen, in denen immer weniger gesprochen wurde, waren eine gute Gewöhnung für die junge Angroschna. Und so gingen sich Marbolieb und Murixe bei den täglichen Aufgaben mit der Zeit schweigsam Hand in Hand.
Das Essen war da schon schwerer für Murixe zu ertragen. Auf einem Berg Lebensmittel zu sitzen und dann immer nur wenig davon zu essen und dann auch noch immer wieder diese Grütze, das war schon eine kleine Strafe für sie. Aber sie versuchte sich daran zu halten - bis ab und zu ein kleines Häppchen, das sie sich beim Portionieren direkt in den Mund steckte. Das füllte zwar kurzfristig ihren Magen, aber es machte ihr auch ein schlechtes Gewissen, dass sie die blinde Boroni betrog.
Aus diesem Grund war sie beim Putzen und Aufräumen immer besonders fleißig. Die Boroni indes bekam davon nichts mit - oder gab vor, es nicht zu hören. Doch die Zwergin bemerkte, welche Freude sie an den Zusätzen zu der Grütze hatte, die für sie die eintönigen Gerichte zu einem Festmahl machten.
Das Frühstück war noch nicht lange vorbei und das Geschirr gerade eben erst gereinigt, als ein kräftiges Pochen an der Seitentür die beiden aufschreckte.
Nach den Tagen der Stille und der ausschließlichen Gegenwart von Marbolieb, fuhr Murixe zusammen - wer sollte das sein? Hier hatte sich doch bislang niemand der Dorfbewohner verirrt. Die Wangen der Geweihten röteten sich und Murixe bemerkte, wie ihre Augen aufleuchteten. “Euer Gnaden, seid ihr da?” rief eine raue Frauenstimme, woraufhin das Leuchten in den Augen der Boroni schlagartig erlosch.
“Ich komme.” Murmelte sie und tastete sich durch das Labyrinth aus Tisch, Schemeln und Strohsäcken, die einen Gutteil der Küche ausfüllten.
Vor der Tür stand eine in Leder und Felle gekleidete Frau mit einem Überwurf aus dichtem, fellgefüttertem Loden, die in der Hand einen toten, steifgefrorenen Hasen hielt. “Hier, für euch.” streckte sie den Kadaver der Geweihten entgegen, stutzte kurz, und drückte ihn ihr in die Hand, ehe sie auf den Fersen kehrt machte und die vollkommen verdatterte Geweihte stehen ließ.
Murixe war gerade aufgesprungen und blickte gerade um die Ecke als die Frau schon wieder umgedreht war und verschwand.
“Ein Geschenk, Euer Gnaden?” fragte sie die verdutzt mit dem Hasen in der Hand stehende Geweihte. Ungläubig hielt die den toten Hasen in den Armen und strich durch das dichte Winterfell des Tieres.
“Ich weiß nicht. Sie hat mir vor drei Jahren schon einmal etwas gebracht, als Mirla noch sehr klein war.” Verwirrt hob sie die Schultern. “Aber warum?” “Vielleicht mag sie Eure Tochter und hat gedacht, dass sie hier ist.” vermutete Murixe. “Jetzt haben wir einen Hasen. Was wollen wir mit ihm jetzt machen?”
Murixe mochte Hasen, am liebsten am Spieß gegrillt oder auch als Ragout. Aber diese Hasen hatten kein Fell mehr und waren Innen auch leer. Aber dieses Tierchen war noch im Pelz und vollständig.
“Wir tauen ihn auf, ziehen ihn ab und nehmen ihn aus.” kam die vollkommen selbstverständliche Antwort. “Dann können wir ihn in die Grütze schneiden und mitkochen.” Was die einzige Art zu kochen war, welche die Geweihte einigermaßen beherrschte.
“Wie wollt Ihr ihn abziehen, wenn Ihr nicht sehen könnt?” fragte Murixe jetzt verdutzt. “Ich habe so etwas nämlich noch nie gemacht.”
“Das ist auch nicht viel anders, als einen Ritter auszuziehen.” schmunzelte die Geweihte. “Ihr schneidet das Fell am Hals auf, löst es mit dem Messer Stück für Stück ab und dreht es um.”
“Sehr wohl, Euer Gnaden”, murmelte Murixe ein wenig verschreckt über die Anweisung. “Habt Ihr denn ein Messer, das scharf genug ist?
Müssen wir den Hasen nicht irgendwie festmachen, dass man ihm das Fell abziehen kann? Und wäre es nicht schöner den Hasen zu grillen als ihn in Stücke zu schneiden?”
“Ich weiß nicht, wie ich ihn grillen sollte - ich habe so etwas noch nie gemacht.” bekannte die Boroni. “Aber ich habe ein Messer - ich glaube, das liegt noch im Tempel.” Entschieden machte sie sich auf und kam wenig später mit dem Gewünschten zurück. Besonders scharf sah es allerdings in Murixes Augen nicht mehr aus.
“Gebt mir den Hasen, dann zeige ich euch, wie es geht.” freute sich Marbolieb. Murixe blickte sich um und fand den Hasen, den Marbolieb liegen gelassen hatte. Dann reichte sie ihn der Geweihten und schaute gespannt zu wie die blinde junge Frau das anstellen wollte, den Hasen aus dem Pelz zu holen.
Die setzte sich an den Tisch, lege sich das Geschirrtuch auf den Schoß und den Hasen mit dem Rücken nach unten darauf, tastete durch das Fell und setzte schließlich das Messer mit einem sauberen Schnitt ohne zu Zögern an den Läufen des Tieres an und begann, nach und nach die Haut abzulösen und umzudrehen, um sie abzuziehen. Es dauerte eine geraume Weile, und das Fell war hinterher gewiss nicht mehr an einem Stück, aber irgendwann lag der Hase zwar noch innerlich komplett, aber abgezogen vor den beiden. Die ganze Angelegenheit war erstaunlich unblutig vor sich gegangen - bis jetzt.
“Ihr habt das aber schon häufiger gemacht, oder?” Murixe war erstaunt von dem Können der Boroni. Diese Fertigkeit hätte sie der blinden Frau nicht zugetraut. “Vor drei Götterläufen - ein paarmal. Aber so richtig schwer ist es nicht.”
Die blinde Frau wischte sich die Finger an dem Tuch ab, verfrachtete den Hasen auf den Tisch und öffnete die Bauchhöhle des Tieres, ehe sie mit bloßen Fingern die Innereien herausfischte. Die Prozedur war deutlich glitschiger, aber auch längst nicht so blutgetränkt, wie Murixe das erwartet hätte.
“Normalerweise mache ich das andersherum.” murmelte Marbolieb. “Wie meint Ihr das?” fragt Murixe verwirrt. Man kann doch nicht die Eingeweide entfernen, wenn das Fell noch am Tier ist.
“Nicht bei Hasen.” Nun war es an der Geweihten, verlegen zu sein. Sie packte Fell und Innereien zusammen und wickelte sie in das Tuch. “Werft ihr sie auf den Abfallhaufen?” bat sie Murixe und hob das Bündel in ihre Richtung.
“Ja, Euer Gnaden”, bestätigte Murixe. “Aber wie meint Ihr andersrum?” Sie nahm das blutige Bündel und ging langsam zum Hinterausgang um es auf den Abfall zu werfen. Die Geweihte nahm das Tuch entgegen, trug es zum Waschbottich und begann es energisch zu reinigen. Lieder ging davon die Frage der Zwergin nicht von dannen, die sie selbst mit ihrem losen Mundwerk erst hervorgerufen hatte.
“Bei einem Menschen.” Flüsterte sie mit gesenktem Kopf. “ihr habt Menschen ausgeweidet?” die Angroschna trat entsetzt einen Schritt zurück. Die junge Frau sah doch so harmlos aus und schien nicht zu Gewalt zu neigen. “Habt Ihr einen Grillspieß?” “Nein!” kam erschrocken die Antwort. “Beides nicht!”
Sehr viel leiser und verlegen fügte sie hinzu. “Ich habe doch gesagt, andersherum.” “Aber gekocht schmeckt der Hase lange nicht so gut wie gegrillt.” überlegte Murixe. “Wenn wir ihn auf einen Besenstiel schieben? Oder mit zwei Dolchen fixieren?” “Ich habe keine Dolche.” wandte Marblieb ein. “Und der Besenstiel ist aus Holz.” Außerdem war es ein sehr breiter Besenstiel für ein ein nacktes Bißchen Hase.
“Schade!” Murixe überlegte noch ob es noch andere Möglichkeiten gäbe den Hasen zuzubereiten als ihn in dieser grässlichen Grütze zu kochen, aber so sehr sie sich in der Küche umsah, fand sie nichts was ihr eine Idee gab. Ja, wenn Murla hier wäre, die hätte sicherlich ein gutes Rezept im Kopf … aber so. “Ich verstehe das mit dem andersherum nicht”, meinte Murixe um auf das andere offene Gesprächsthema zurück zu kommen. “Bitte erklärt es mir, ich verstehe es nicht!” Marbolieb wrang das Tuch gründlich aus und legte es schließlich auf den Rand des Tellerregals, damit es trocknen - oder steif frieren oder beides - würde.
Als auch das getan war und ihr beim besten Willen nichts mehr einfiel, womit sie die Antwort hinauszögern konnte, wandte sie sich bedächtig zu der Zwergin um und fixierte die Stelle, an der sie diese vermutete. Sie lag nur einen halben Schritt daneben.
“Normalerweise räume ich die Innereien zurück.” erklärte sie. “Das verstehe ich auch nicht!” Murixe war immer noch von den Antworten der Geweihten verwirrt. Ob es ein Mysterium des Totengottes war, dass sie vor ihr geheim halten müsste?
“Dürft Ihr Euch nicht weiter erklären?” “Bei einer Schlacht gibt es oft Bauchwunden, und dann verlieren viele der Opfer … nun ja.” Die Geweihte verstummte kurz, ehe sie fast verschämt weitersprach. “Ich stecke die Innereien zurück, bevor ich die Leute bestatte. Sie sollen ja würdevoll und sauber aussehen.”
“Ah! Ich verstehe und wenn Ihr ihnen den Bauch zunäht, dann zieht Ihr ihnen das Fell wieder über die Ohren … also sinngemäß.” Der Dienst einer Geweihten eines Totengottes schien also doch mannigfaltiger zu sein als nur in einem leeren Tempel leise zu beten. Marbolieb nickte, insgeheim erleichtert, dass die Zwergin sich weder entsetzte - noch genauer nachbohrte.
“Hängen wir den Hasen in die Kammer neben dem Tempel.” schlug sie vor. “Dann wird er gefrieren und hält eine Weile.”
“Ich mache es, Euer Gnaden!” Murixe war froh, dass sie den nackten Hase erst einmal aus dem Blickfeld bekam. Der Gedanke, dass die Geweihte Därme und Innereien in Menschen stopfte, war zu sehr mit dem armen Hasen verbunden, deshalb sollte er nicht die ganze Zeit in ihrer Nähe sein. So brachte sie den toten Hasen in die Kammer und band ihn mit zwei kurzen Strickenden an die Decke.
Und so kam es, dass es neben der Grütze an diesem Tag die große Frage gab: Hase oder nicht?
Gänseklein
“Setzt euch und esst erst einmal etwas.”
Die gute Stube des Traviatempels in Calmir sah aus wie eine große, wohlgepflegte Bauernstube, die in eine Küche überging. Dominiert wurde der große Raum unter schweren, dunklen Deckenbalken von einem großen, offenen Herd in der Stirnwand, über dem an einem gusseisernen Arm ein Kessel mit warmen Wasser und ein ungleich größerer Suppentopf aus schwarzem Eisen, in dem eine herzhafte Suppe köchelte.
Mitten im Raum stand ein großer Bohlentisch mit zwei langen Bänken an der Längsseite und je einem schweren hölzernen Lehnstuhl an den Stirnseiten.
Der untersetzte Geweihte stellte eine irdene Schüssel vor die Zwergin, legte einen hölzernen Löffel daneben und schnitt eine daumendicke Scheibe von einem frischen, duftenden Bauernbrot ab, ehe er ihr einen Becher heißen Kräutertees einschenkte und einen Schöpflöffel dickflüssige, duftende Bohnensuppe mit großzügigen Wursträdern darin austeilte.
“Ich bin Vater Ganslieb, meine teure Gemahlin hier Mutter Ganslieb.” So gemütlich der ältere Mann mit seinen beginnenden Geheimratsecken, wach blitzenden braunen Augen und einem dunkelbraunen, sauber gewellten Vollbart wirkte, so sehr stand er im Gegensatz zu seiner gertenschlanken, einen halben Kopf größeren Gemahlin, welche die Zwergin über ihre scharfgeschnittene Nase ungnädig musterte.
“Wohlschmecken.” wünschte sie dennoch und beäugte diesen seltsamen Gast aus wachsamen Augen.
Murixe war nach der Zustimmung Marboliebs der Einladung der Gänsepriester gefolgt. Der Junge, der die Einladung überbracht hatte, war seit der Jägerin und dem Hasen der einzige Besuch gewesen, der in den Tempel des Totengottes gekommen war.
Sie hatte ihr Kleid ausgebürstet, sich gewaschen und die Zöpfe neu geflochten und war dann pünktlich zum Abendessen an der Tür des Traviatempels angekommen. Nun saß sie mit den zwei Gänsepriestern am Tisch und fühlte sich unter der Beobachtung der beiden unwohl.
“Angrosch segne diese Speise!” antwortete die junge Angroschna auf den Wunsch der Geweihten und wartete nun höflich ab bis die Gastgeber mit dem Essen begannen.
“Travia, Dir sei Dank für Güte, Speise und Dank. Behüte uns in Deiner Familie und schenke uns Wärme und Fürsorge derer, die sich unter Deinem Schutz einfinden, wie auch wir uns um unsere Familie sorgen und sie schützen und speisen. Gütige Herrin, so sei es!” sprach die Geweihte das Tischgebet. “So sei es!” bestätigte ihr Gemahl mit wohltönender Stimme.
Genussvoll aßen die Geweihten die ersten Löffel der durchaus leckeren und nahrhaften Suppe. “Seit wann seid ihr denn in Calmir, gute Frau?” wandte sich schließlich die Priesterin an ihren Gast. Murixe tauchte den Löffel in die dicke Suppe, nahm ihn vor den Mund und pustete sanft hinein. Dann roch sie kurz daran bevor sie sich den Löffel in den Mund steckte. Nachdem sie geschluckt hatte, rechnete sie die Tage ihrer Anwesenheit zusammen und antwortete dann: “Es sind jetzt zweimal acht und vier Tage.”
“Aha.” nickte Vater Ganslieb, während Mutter Ganslind, nach exakt der gleichen Geste, hinzufügte. “Und was hat euch in unser schönes Dorf geführt?”
Als Murixe die nickende Geste sah, fielen ihr die Gänse auf dem Weiher in Isnha Mur wieder ein, die sie bei ihrem letzten Besuch in der Bergwacht gesehen hatte. Sie hatten auch immer mit dem Kopf genickt und dann ins Wasser gepickt.
Um das Grinsen nicht zur Schau zu stellen, nahm sie schnell noch einen Löffel der köstlichen Suppe - eine deutliche Abwechslung zu der ständigen Grütze, selbst wenn sie sie durch Hasen aufgepäppelt wurde. Als sie an die Grütze dachte, kam sie sich vor wie eine Verräterin, denn sie hatte heute Marbolieb mit ihrer Portion Grütze zurück gelassen während sie hier diesen leckeren Eintopf aß.
“Ich bin hier um zu lernen!” meinte sie zwischen zwei Löffeln. “Das ist immer löblich.” lächelte der breit gebaute Geweihte. “Aber was hat euch dann um aller Götter Willen in den Borontempel verschlagen?” Wieder nahm sie ein paar Löffel, solange sie noch geduldet wurde, wollte sie die Suppe genießen.
“Aber wie ich schon sagte”, kam die Antwort einige Löffel später, “ich bin zum lernen hier.” “Und was sucht ihr an Wissen im Tempel des Raben?” kam die neugierige Gegenfrage Vater Gansliebs.
“Ich versuche mehr über Euch Xomasch zu erfahren”, wieder waren einige Löffel des Eintopfs gegessen. “Aber warum vom Tod her? Warum nicht über unser Leben?” Jetzt schien die Neugier des Geweihten wirklich geweckt. “Weil der Tod euch Kurzlebige so schnell ereilt und ihr darin alle gleich seid!”
“Aber sagt man nicht auch, einem Toten kann man nur einen Dienst erweisen, einem Lebenden hundert?” schmunzelte der Gänsepriester zurück. “Ich fürchte, ihr habt euch eine sehr einseitige Sache ausgesucht, um die Menschen genauer kennenzulernen.”
“Oh, das sehe ich nicht so, Euer Gnaden!” Murixe musste schmunzeln, sollte sich der Gänsepriester so einfach mit seinen eigenen Worten fangen lassen. “Die hundert Dienste lasst Ihr allen angedeihen?”
“Die Dienste leisten wir der Gemeinschaft der Zwölfgöttergläubigen.” lächelte der Mann. “All jenen, die sich zur Familie der Gütigen Göttin bekennen.” “Und was macht Ihr mit den anderen, die auch leben? Sollten auch diesen nicht Eure Dienste zu gute kommen?”
“Unser Göttin herrscht über Heim und Familie. Und jeder, der Bestandteil dieser Familie werden will, ist uns mit offenen Armen willkommen.” tat Mutter Ganslind das Offensichtliche kund.
“Dann ist es ja genauso wie ich es sagte!” schloss Murixe nun den Bogen. “Der Tod vereint alle Lebenden, Eure Gaben erhalten nur wenige. Daher ist doch der Tempel des Totengottes ein viel besserer Ort, etwas über Euch zu lernen!”
“Eine Sache könnt ihr dort lernen - aber nicht mehr. Doch wenn euch dies genügt, werde ich euch nicht hinterfragen.” Der beleibte Geweihte schüttelte den Kopf. “Allerdings solltet ihr acht geben, mit wem ihr euch abgebt, junge Dame.” setzte die Geweihte hinzu, während ihr Gemahl sich erhob, die leeren Suppenschüsseln abräumte und einem duftenden Apfelstrudel auf den Tisch stellte, von dem er drei ordentliche Scheiben abschnitt, jede auf einem Brett anrichtete und sie Murixe, seiner Frau und sich selbst vorlegte.
“Die Boroni ist eine Weib von liederlichem Gebaren und keine gute Lehrmeisterin für Anstand und gutes Benehmen.” “Ich wollte ja auch nichts über Anstand und Benehmen lernen, sondern über Euch Menschen. Und da denke ich, kann ich genügend da lernen, wo ich jetzt bin.” Dann blickte sie auf den duftenden Apfelstrudel.
“Ich bin von dem Eintopf so satt, dass ich das nicht mehr schaffe”, mit einem unschuldigen Blick schaute sie den Gänsepriester an. “Darf ich mir das Stück für später einpacken?”
“Das geht leider nicht.” schüttelte Vater Ganslieb traurig den Kopf. “Ihr seid uns willkommen, mit uns an unserem Tisch zu speisen. Doch wenn die Boroni etwas haben will, dann muss sie selbst kommen und Abbitte tun.”
“Ich möchte es für mich mitnehmen”, antwortete Murixe, “oder wenn Ihr es mir nicht geben wollt, dann gebt es wenigstens den armen Kindern, die in der Hütte hinten im Dorf leben, die könnten es besser gebrauchen!”
“Das werden wir tun, wenn wir ihren Vater nicht wieder im Wirtshaus finden.” nickte Vater Ganslieb. “Und wenn ich ihn rausprügele!” setzte mit jäh verkniffener Miene seine holde Gemahlin hinzu.
“Warum lasst Ihr die Kinder für die Verfehlungen ihrer Eltern leiden?” wollte jetzt die Angroschna wissen. “Ist es nicht ein Aspekt Eures Glaubens der Schutz der Familie und besonders der von Kindern und Waisen?”
“Auch diese sind eine Familie - und seiner Familie ist er verpflichtet. Wenn er seine Pflicht vernachlässigt, tritt er Travia mit Füßen. Wir haben ihm sogar angeboten, die Kinder hier einziehen zu lassen, solange er seiner Trunksucht frönt. Zumal, junge Frau, was geht dies euch an? Wünscht ihr ihn zu ehelichen?”
“Nun, die Kinder hungern und da sie Euch egal sind, geben wir Ihnen von unserem Essen ab. Etwas, was die Nächstenliebe von jedem fordert.” antwortet Murixe ein wenig ärgerlich. “Aber das scheint ja nicht für Euch zu gelten.”
“Wir kümmern uns um die Mitglieder unserer Familie.” Verkniffen wurde der Mund der Geweihten auf die Frechheit der Zwergin hin. “Vielleicht könnt ihr es nicht verstehen - immerhin seid ihr kein Mensch und euer Schmiedegott ist nicht der Beschützer des trauten Heims. Aber es ist äußerst unhöflich, junge Dame, sich dann eine Maßregelung unserer Götter herauszunehmen!”
“Es tut mir leid!” murmelte Murixe. “Ich wollte bestimmt nicht Eure Götter maßregeln. Die Maßregelung gilt alleine Euch!” Mit diesen Worten erhebt sie sich vom Stuhl.
“Ich glaube ich sollte Euch jetzt verlassen. Vielen Dank für die Suppe und das sehr interessante Gespräch! Angrosch zum Gruße!”
“Ihr seid ein freches und ungezogenes Ding, zu recht nehmt ihr bei dem Hurenweib Gastung.” Die Hochgeweihte war aufgestanden und hielt der Zwergin die Tür auf. “Hinaus mit euch. Wenn ihr Manieren gelernt habt, mögt ihr wieder an unsere Tür klopfen.”
“Euch auch vielen Dank für die Einladung!”
Hinter der Zwergin fiel die Tür ins Schloss, untermalt vom wütenden Zischen der Tempelgänse, die, hoch aufgerichtet, Murixe um eine Kopfhöhe überragten und die keinesfalls mehr einen so freundlichen Eindruck machten wie noch zu ihrem Ankommen.
Verglichen mit dem hell lodernden, warmen Feuer im Travientempel lag der Borontempel dunkel, kalt und schweigend da.
Der Schnee knirschte unter Murixes Füßen, als sie den ungeräumten Weg zur Nebentür des Tempels entlangging und die knirschende Tür neben dem Holzstapel aufdrückte.
“Euer Gnaden, ich bin wieder hier!” rief sie in die Dunkelheit, die ihr nach den Tagen heimeliger vorkam als die übertriebene Wärme der Gänsepriester. “Ich muss schon sagen, das ist mir ein prächtiges Pärchen!” “Sie stehen zu ihren Überzeugungen.” Die dünne Geweihte tastete sich aus der Dunkelheit des Tempels in die Küche, in der das Feuer längst ausgegangen war.
“Habt ihr gut gegessen?” “Die Suppe war recht reichhaltig”, musste Murixe zugeben. “Als es dann Kuchen gab, wollte ich ihn für uns beide mitbringen. Das haben diese beiden Gänse aber nicht zugelassen. Stattdessen haben sie Euch auf Übelste beschimpft! Als ich dann vorschlug, dass sie doch dann den Kuchen an die armen Kinder verteilen sollten, haben sie mich rausgeworfen!”
Überlegend wog Marbolieb ihren Kopf. “Das ist kein Grund, jemanden herauszuwerfen. Habt ihr sie beleidigt?”
Zwerge und Menschen hatten mitunter ihre Verständnisschwierigkeiten. Und vielleicht war dem jungen Mädchen eine Bemerkung herausgerutscht, welche die Geweihten anders aufgefasst hatten, als von Murixe beabsichtigt.
“Ich habe sie nur gefragt, wieso sie Euch und den Kinder nichts gönnen”, kam es ein wenig zaghaft von Murixe. “Und auch ob sie wüssten, dass ihre Göttin die Kinder schützt und den Armen hilft und ihnen Speisung gibt. So habe ich es zumindest gelernt. Darauf waren sie der Meinung, dass das nicht für jeden gilt, sondern nur für diejenigen, die an die Gänse glauben.
Das habe ich bestritten. Vermutlich hat ihnen diese Antwort nicht geschmeckt. Jetzt müssen die beiden feisten Gänse alleine ihren Kuchen essen und werden noch dicker!”
“Es kommt darauf an, wie ihr das gesagt habt. Ihr hättet den Kuchen nicht ausschlagen sollen - die beiden backen sehr gut.” lächelte die Boroni wehmütig. Bei dem Gedanken an die Leckerei knurrte ihr Magen energisch. “Ich habe den Kuchen nicht ausgeschlagen”, schmollte Murixe. “”Ich wollte ihn mitbringen!”
“Der Kirche der Travia ist die Familie der Kern der Gemeinschaft. Wer zu ihr gehört, wird umsorgt und behütet. Das ist wie bei einem Clan in Eurer Gesellschaft. Würdet ihr ganz Fremde in eure Clanhallen laden, wenn sie euren Gesetzen nicht folgen?”
“Wenn sie unserer Hilfe bedürfen, dann geben wir sie ihnen”, widersprach die junge Angroschna. “In Ishna Mur gibt es keine Clangrenzen. Vater hat die Bewohner nach ihren Fähigkeiten und nicht ihren Familien ausgesucht.”
“Sind bei den Zwergen nicht die Clans die großen Familien, die in sich so fest zusammenstehen, dass sie kaum einen Unterschied zwischen den einzelnen Mitgliedern machen? ” “Ja, in den alten Städten der Angroschim ist die Sippe das wichtigste. Sie übt in der Regel den gleichen Beruf aus und das über viele Generationen. Da Vater aber Soldat ist - wie auch viele unserer Vorväter - er nun aber ein Lehen hat, dass viele verschiedene Berufe benötigt, konnte er dieses nicht alleine mit den Mitgliedern unseres Clans vollbringen. Daher hat er die Sippenstruktur durchbrochen und suchte die Arbeiter nach ihren Fähigkeiten aus. Aber vielleicht legen wir damit den Grundstein für eine neue Sippe - aber das werden die Jahrhunderte zeigen.”
“Sind diese dann ihrer Familie nicht mehr verhaftet?” Neugierig bedachte die Geweihte die ihr so fremde - und in Teilen so vertraute - Konstellation.
“Ja, aber manche Bingen sind voll und so gibt es immer wieder Angroschim, die sich auf die Suche nach einer neuen Binge aufmachen und sich dann einem anderen Clan anschließen oder diesen gründen.” überlegte Murixe. “Sonst würden die Angroschim alle noch in Xorlosch hocken.” “Wenn sie ausziehen - sind sie dann kein Familienbestandteil mehr?”
“Doch”, versuchte Murixe zu erklären, “aber wenn sie Aufnahme in eine andere Sippe finden, dann gehören sie fortan zu dieser Sippe. Ihr müsst wissen, dass die Sippe als solche nicht nur aus Blutsverwandten bestehen muss.”
“Also habt ihr in Ishna Mur nun eine neue wachsende Sippe - oder besteht diese aus vielen Arbeitsgefährten, die jeder noch zu seiner eigenen Familie gehören?”
“Noch sind es einzelne Angroschim, die ihre alte Sippe verlassen haben, aber sie werden mit der Zeit alle zu einer gemeinsamen Sippe. Aber vielleicht wird das einige Menschenleben dauern.” “Kommt es auch vor, dass eine Angroschna einen Angroschim aus einer anderen Sippe heiratet? Und wer verlässt dann seine ursprüngliche Sippe?”
“Die Tradition sieht vor, dass die Sippe der Braut den Bräutigam adoptiert, aber es gab auch schon Gelegenheit in denen das Thema zu Streit und Sippenkriegen geführt hat.”
Marbolieb grübelte und nickte leicht. “Hm, das klingt sehr pragmatisch … schade, wenn es trotz einer Regel zu Streit kommt. Gehen Erzzwerge auch mit anderen Zwergensippen - zum Beispiel Hügelzwergen - den Bund ein?”
“Erzzwerge und Hügelzwerge sind keine Sippen, das sind Völker”, erklärte die junge Zwergenfrau. “Und da ist die Tradition im Umgang miteinander und auch die Lebensumstände seit vielen Jahrhunderten anders.
Selbst die Glaubensvorstellungen zwischen den Völkern sind anders. Es ist sehr schwierig so zu leben wie ein anderes Volk und daher muss schon die Liebe sehr groß sein, dass es zwischen einzelnen Mitgliedern zweier Völker zu einer Gemeinschaft kommt. Und dann sind auch noch die Clans der beiden Verliebten, die sich auch noch einigen müssen.”
“Das verstehe ich.” nickte die blinde Geweihte. “Das erklärt, warum Dwarosch so unwirsch wurde, als wir darüber sprachen.”
“Ihr meint, dass sein Klan etwas gegen die Verbindung mit Euch hat?” fragte Murixe nach. “Nun ja, eine Verbindung zwischen einem Angroscho und einer Menschenfrau ist schon sehr ungewöhnlich …” ‘... und führt zu nichts. Keine Kinder und die Frau stirbt, während der Angroscho noch lange lebt.’
“Dwarosch mag den Gedanken nicht.” Ob er sich mit dem Clan abgesprochen hatte, bezweifelte die Geweihte sehr. “Er hat ja auch recht.” flüsterte sie in den Kragen ihrer Robe.
“Ja, aber Ihr liebt ihn doch?” fragte die Angroschna. “Und Liebe und Vertrauen kann soviel bewirken! Ihr dürft Euch nicht so sehr von den anderen beeinflussen lassen. Ihr müsst mehr zueinander stehen!”
“Aber ich kann ihn nicht zwingen - und würde es nicht. Für ihn hätte es nur Nachteile.” “Aber er hätte Euch, und das wäre für ihn und für Euch ein großer Vorteil!”
“Für mich sicher. Aber er müsste sich für das eine oder zwei Dutzend Jahre vor seiner Sippe rechtfertigen - es brächte ihm keine Freunde, aber jede Menge Ärger.” “Ich glaube, es würde ihm auch Freude bereiten, das wäre doch wichtig. Und er wäre bei Euch.”
“Er wollte darüber nicht weiter nachdenken. Und so einfach ist es weder von meiner noch von seiner Seite.” “Das hatte mir Mutter auch gesagt, dass Ihr das so seht”, bestätigte Murixe. “Aber Ihr müsst es doch nicht hinnehmen - also nicht nur Ihr, sondern auch Meister Dwarosch.”
“Er will es aber nicht - sonst wäre er nicht so kurz angebunden gewesen.” Weitere Worte darüber waren darum sinnfrei - worauf diese Zwergin mit ihrem Beharren hinauswollte, war Marbolieb mehr und mehr ein Rätsel.
“Ihr müsst auch bedenken, dass er ein Angroscho ist, und so braucht er lange für manche Entscheidung. Ihr solltet nicht zu früh aufgeben.” “Ich denke nicht, dass er irgendwann seine Meinung ändert. Aber wenn, werde ich es vermutlich erfahren.” ‘Falls Ihr dann noch lebt …’ dachte Murixe, aber sie sagte: “Ja, das werdet Ihr sicherlich. Er wäre ja dumm, dass er es für sich behält.”
Die Geweihte zuckte die Schultern - eher resigniert als zustimmend. “Bestimmt.” “Schaut nicht so negativ in die Zukunft”, meint Murixe und hoffte, dass sie genügend Zuversicht ausströmte. “Das Leben ist doch so wunderbar!”
Wieso_Zwoelfe
Ein paar Wochen waren seit der Begegnung mit den Gänsepriestern vergangen und Marbolieb und Murixe hatten sich aneinander gewöhnt und einen routinierten Tagesablauf erarbeitet, der zum größten Teil in Stille abgewickelt wurde.
Murixe hatte sich an das Schweigen und die Stille gewöhnt und war selber schweigsamer und ruhiger geworden. Die junge Boroni hatte damit mehr erreicht als ihre Eltern und Lehrmeister. Sie hatte Marbolieb allerdings auch über die interessanten Zusammenhänge zwischen Länge, Breite und Höhe des Tempels, der Anzahl der Stufen und die täglich gleiche Zahl der Schritte aufgeklärt. Allerdings hatte die Angroschna dabei das Gefühl, dass diese Informationen an der Boroni abgeprallt waren wie ein Tropfen der Eiszapfen vom Spülstein.
Und so fragte sie eines Morgens nach dem Frühstück die Boroni: “Sagt bitte Euer Gnaden, wieso braucht Ihr Menschen soviele Götter? Der Allvater hat doch die Welt mit alle ihren Facetten erschaffen und geregelt. Ihr Menschen habt aber für alles einen eigenen Gott, warum?”
“Weil es die Götter gibt.” kam die verwunderte Antwort. “Wir haben sie doch nicht erfunden.”
“Ja, natürlich gibt es Götter oder besser gesagt es gibt einen, den Allvater.”
“Es gibt die Zwölfe. Sie haben sich mehrfach den Menschen offenbart und jeder ihrer Priester hat eine Verbindung zu ihnen. So wissen wir, dass es mehr als einer ist.” Murixe begann nervös auf und ab zu gehen, dann bohrte sie weiter: “Wenn Ihr Eure zwölf Götter habt, wir haben einen, das wären dann dreizehn. Aber das ist soweit ich weiß, eine Zahl die Euch Menschen nicht genehm ist.”
“Es gibt auch einen dreizehnten Gott bei den Menschen, doch diesen betet niemand an. Er ist ein Feind der Schöpfung.”
“Und was ist mit den anderen Göttern? Denen der Orks, der Goblins und der Menschen in der Wüste? Wie viele Götter gibt es denn?”
“Götter gibt es Zwölf. Der Rest sind Götzen und Dämonen.” kam die entschiedene Antwort. “Das heißt, dass aus Eurer Sicht der Allvater ein Götze oder gar ein Dämon ist?” jetzt war die Stimme der Angroschna sehr empört.
“Spricht nicht viel mehr dafür, dass Angrosch das Erscheinen Ingerimms bei den Zwergenvölkern ist?” kam die ruhige Gegenfrage.
“Das kann nicht sein, oder?” antwortete Murixe noch erregt. “Der Allvater ist der einzige Gott, den es für die Angroschim gibt. Und dieses seit den ältesten Aufzeichnungen, die uns vorliegen. Das war viele Generationen bevor es überhaupt Menschen hier in Aventurien gab.
Es wäre also bei einer Gleichheit von Angrosch und Ingerimm wohl eher so, dass die Menschen den Gott der Angroschim auf ihre Art anbeten. Und wenn das so wäre, dann stimmt Euer Satz, das es nur Zwölf Götter gibt und der Rest Götzen sind, auch nicht!”
“Nun, aber es stimmt, wenn Angrosch und Ingerimm eines sind. Und die Zahl der Zwölf Götter haben diese selbst 98 vor Bosparans Fall Silem Horas offenbart. Und ihr wollt doch nicht behaupten, Angrosch sei ein Götze?”
“Daher müssen die Götter vorher anders gewesen sein? Und sie können auch wieder anders werden?“ “Gewiss nicht in einer Zeit, die Euer oder mein Volk erleben wird, Murixe.”
“Unser Volk hat es bereits erlebt.” “Ihr habt Angroschs Erscheinen erlebt?” Das verdutzte die Geweihte denn doch. “Nein, wir haben erlebt, dass sich die Götter der Menschen wandeln. Wie Ihr sagtet, hat Silem Horas Eure Götter festgelegt.”
“Dass hat er nicht - sie haben ihm offenbart, wer die Götter sind. Sie waren selbstverständlich vorher bereits da.” “Genau wie die anderen auch! ” “Nur, dass dies keine Götter sind.” schmunzelte Marbolieb. “Ja, jetzt zählen sie nicht mehr für Euch, aber für die Menschen damals waren es schon Götter!”
“Es ist gefährlich, die falschen Wesenheiten anzubeten - ihr könntet auch einen Dämon oder einen bösen Geist vor euch haben.”
“Wir wissen, dass es der Allvater ist! Wie ist es denn bei Euch? Sind Eure Zwölf sicher die richtigen Wesenheiten?” “Woher wisst ihr, dass Angrosch euer richtiger Gott ist, Murixe? Wie könnt ihr sicher sein?”
“Weil wir seine Kinder sind, er ist der Allvater! Er hat die Urväter und Urmütter erschaffen auf die wir alle zurückgehen.” “Und wie beweist ihr dies?”
“In Xorlosch gibt es die Ahnentafeln, die die Herkunft auf die Urväter und -mütter aufgezeichnet haben. Gibt es das auch für Eure Vorfahren?” Die Geweihte schüttelte den Kopf, setzte aber nach. “Ihr habt also nur Aufschriebe, die besagen, dass Angrosch eure Urmütter erschaffen habe. Nicht mehr?” “Das reicht! Wir wissen, dass wir Angroschs Kinder sind!”
“Ein Beweis ist dies nicht - lediglich euer Glaube. “ Die Stimme der Geweihten war sanft. “Wir spüren die Macht unserer Zwölf Götter, wenn sie sich uns offenbaren. Wir können durch ihre Kraft Wunder wirken. Wunder, die jeder erfahren und spüren kann - die Leben geben und verändern.” Und nehmen.
“Nun, das können unsere Geweihten auch!” gab Murixe zu bedenken. “So ist Euer Gott so wirklich wie die unsrigen - nicht wahr?” “Nein! Wir haben einen Gott und der reicht aus”, widersprach Murixe der Geweihten des Totengottes.
“Ihr hattet soeben aber gesagt, dass eure Aufschriebe das einzige sind, womit Eurer Gott seine Existenz beweist - und die Verbundenheit eurer Priester. Das ist weniger als bei uns. Ihr widersprecht euch.” “Ihr Euch auch, Euer Gnaden.” bemerkte die Angroschna. “Erst meint Ihr Angrosch ist wie Eure Götter, dann wieder nicht.”
“Wenn eure Priester von ihm Kraft erhalten - wie wir von unseren Göttern - ist das ein Beleg, dass er ist wie die unseren - und nichts vollkommen anderes. Und dass er vielleicht nur ein anderes Bild von Ingerimm, dem Herrn der Schmiede, ist. Oder Ingerimm von ihm.”
“Aber wenn Ingerimm, wie Ihr sagt ein anderes Bild vom Allvater sei, dann braucht Ihr keine weiteren Götter! Denn der Allvater ist der eine und einzige Gott!”
“Tja, aber das sehen die Geschwister des Herrn Ingerimm, die sich ebenso und teilweise deutlicher offenbaren, leider nicht so.” Die Geweihte lächelte. “ich habe die Kraft meines Gottes erfahren und trage sie in mir - wie könnte ich ihn da leugnen?”
“Aber es könnte doch auch die Kraft Ingerimms sein, oder? Wie genau konntet Ihr denn erkennen, dass es wirklich Euer” - ‘vermeintlicher’ dachte Murixe, verschluckte das Wort aber - “Gott war?” “Ingerimm äußert sich auf andere Weise als der Herr Boron.” schmunzelte Marbolieb. “Könntet ihr diese Fingerzeige erspüren” was Du ohne Weihe nie können wirst, Mädchen “so würdet ihr es wissen.”
“Ich denke, dass ich Euch das glauben muss, da ich keine Möglichkeit habe es selber zu erfahren.” antwortete Murixe um dann aber gleich fortzufahren: “Also ist es eine Sache des Glauben und nicht nur des Wissens?”
“Die Geweihten und alle, die jemals der Macht eines Gottes teilhaftig werden durften, wissen es.” widersprach die Geweihte. “Nur wer nichts weiß, muss alles glauben.”
Murixe merkte, dass ihre Frage so nicht geklärt werden könnte. Sie würde das Ganze nach ihrer Rückkehr nach Xorlosch noch einmal mit ihrem Lehrer diskutieren. Dann wäre sie für eine erneute Diskussion mit genügend Argumenten gewappnet.
“Ich bin eine Angroschna, ich weiß, dass es den Allvater gibt und ich glaube an ihn!”
“Das ist gut so.” Allerdings leitete sich weder daraus noch aus dem beleglosen Beharren der jungen Zwergin ein wie auch immer gearteter Absolutheitsanspruch ab - und sofern sie dies erkannte (Marbolieb zweifelte insgeheim daran), war nicht vollständig Hopfen und Malz verloren.
Staub zu Staub
So vergingen die Tage. Es wurde noch kälter, und die tanzenden Flocken wurden magerer und dünner, bis sie schließlich aus beißenden Eiskristallen bestanden, die selbst auf der Haut der jungen Frauen eine ganze Weile haften blieben, ehe sich Firuns Griff widerstrebend so weit löste, dass sie zu einem winzigen Tautropfen schmolzen.
Ein energisches Klopfen an der Tempeltür riss die beiden Frauen eines morgens - draußen war es noch dunkel - aus ihrem Schlummer. Gähnend wachte Murixe auf. Hatte sie ein Klopfen gehört? Sie lauschte in die Dunkelheit ob das Geräusch sich wiederholen würde.
Vielleicht war es ja wieder die Jägerin, die sie mit einem Hasen überraschen wollte? Wäre eine schöne Überraschung, den der letzte Hase war nun schon lange gegessen und die Vorräte waren durch Marboliebs strenge Rationierung noch lange nicht aufgebraucht, aber so ein schönes Stück Fleisch käme jetzt genau richtig.
“Euer Gnaden!” kam ein Ruf. “Wir brauchen euch!” Der Berg aus Mänteln und Decken, unter dem sich die Boroni vergraben hatte, bewegte sich unwillig. Aber darüber hinaus machte die Boroni keine Anstalten, aufzustehen. Murixe räusperte sich und rief nun auch: “Euer Gnaden! Man verlangt nach Euch!”
Da auch diese Aufforderung nur bedingten Erfolg hatte, quälte sich die junge Angroschna aus ihrem warmen Schlafsack, zog dann die Stiefel aus demselben und zog sie langsam an.
Nachdem sie eines Tages den ganzen Tag kalte Füße gehabt hatte, zog sie die etwas unbequemere Art des Schlafens den kalten Füßen vor. Dann legte sie sich eine Decke über die Schultern und tappte im Dunkeln zur Tür. Den Weg im Dunklen zu gehen, war sie auch bereits gewohnt und sie zählte wie jedes Mal die Schritte bis sie beim letzten vor der verschlossenen Tür stand.
Sie schob den Riegel beiseite und schaute nach, wer sie um diese Zeit störte. Vor der Tür stand eine gegen die Kälte so dick in Jacken gepackte Gestalt, dass es fast unmöglich war, auszumachen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.
“Der Mann der Fatznerin ist in der Nacht gestorben. Seine Hochwürden war bei ihm.” Verwirrt blickte der Mann - vermutlich handelte es sich um einen solchen - an der Zwergin nach unten und streckte ihr die Stalllaterne, die er in einer dick mit Stoff umwickelten Hand hielt, genau auf ihrer Augenhöhe entgegen.
“Holt ihn ab.” vollendete er, mit etwas Verwirrung in der Stimme, seinen offenbar zuvor einstudierten Satz, drehte sich um und stapfte wieder durch den Schnee davon. Im Lichtschein seiner Laterne glitzerten die Kristalle wie Diamantsplitter.
“Hey!” rief die Angroschna hinter ihm her. “Ihr hättet ihn ja auch mitbringen können, schließlich seid Ihr ein starker Mann!”
Doch der Mann schien sie nicht gehört zu haben - jedenfalls machte er keine Anstalten, innezuhalten oder sich gar zu ihr umzudrehen.
Ein leises Rascheln hinter ihr kündigte die leisen Schritte der Geweihten an. Verschlafen zog sie ihre Kapuze über die Stirn und schlang sich eine geflickte Decke fester um die schmalen Schultern. “Was ist?”
“Entweder das war der Dorfdepp oder Ihr habt einen Einwohner weniger”, antwortete Murixe, die die Tür erstmal wieder schloß. Denn trotz der warmen Stiefel war es im Unterkleid und Decke viel zu kalt. Und wenn es sich um einen Toten handelte, würde er auch nicht weglaufen.
Dann klärte sie Marbolieb auf: “Er sagte irgendwas vom Fatzner, der sei tot, und Ihr sollt ihn holen.” Marbolieb seufzte. Feiner Nebel trat in dem ungeheizten Tempelraum vor ihre Nase und zerfaserte in der eisigen Luft.
“Vermutlich denken sie, wir könnten ihn abholen, weil wir zu zweit sind. Helft ihr mir?” “Ihr sollt mir ja etwas beibringen und das ist etwas Neues. Natürlich helfe ich Euch! Aber wir sollten uns erst anziehen und frühstücken, oder?” “Das Frühstücken sollten wir später.” Sonst würden die Leute nur wieder schimpfen, dass sie trödele. “Das haben wir danach aber auch gut verdient. Wisst ihr, wo das Haus der Fatzners ist?” “Nein”, schüttelte Murixe den Kopf und zog sich das dicke Kleid an und schlüpfte dann in den Mantel und den Umhang. “Ich bin fertig, Euer Gnaden!”
Die Boroni kleidete sich ebenfalls an, mit allen Schichten an Stoff, die ihre Garderobe hergab. “Das zweite Haus links in der Gasse hinter der Gans.” gab sie die Richtung an, ehe sie ihre Hand auf die Schulter der Zwergin legte und mit ihr hinaus in die bittere Kälte, zwei Stunden vor der Dämmerung, trat.
Murixe stapfte im Dunkel durch den auf den Wegen und in den Gassen festgetretenen Schnee bis zu dem Haus, das Marbolieb ihr gesagt hatte. “Wir sind da!”
Beim Haus der Fatzners - ein zweistöckiges Fachwerkgebäude, mit einem nur über eine schmale Außentreppe zugänglichen Wohnteil über dem im Erdgeschoss liegenden Stall - öffnete nach ihrem ersten Klopfen eine Frau in unbestimmbarem Alter, aber mit rot verweinten Augen.
“Angrosch zum Gruße!” begrüßte sie die Alte. “Man sagte uns, dass Ihr nach Ihrer Gnaden Marbolieb verlangt.”
“Mein armer Mann!” heulte sie Frau zur Bestätigung und schluchzte laut auf. Hinter ihr trat aus dem nur durch eine kleine Unschlittlampe beleuchteten Gang die breite Gestalt Vater Gansliebs, der der weinenden Frau mitfühlend den Arm um die Schultern legte und sie etwas zur Seite führte. “Meister Haldan liegt in der Schlafkammer. Nehmt ihn mit und bereitet ihn für die Bestattung vor.” nickte er den beiden Frauen zu, ehe er, sanft auf die Frau einredend, diese in die eine zweite Kammer, vermutlich die Wohnstube, führte.
Die zweite Tür erwies sich als jene zur Schlafkammer, die, ungeheizt und spärlich eingerichtet, auf die Schritte der Frauen mit knarrenden Bodendielen antwortete.
In dem hohen Kastenbett lag die kalte und bleiche Gestalt des Bauern, mit Schlafmütze, Stoppeln über den bleichen Wangen und über der Brust übereinandergelegten Händen. “Euer Gnaden, hier liegt er”, beschrieb Murixe die Situation. “Was machen wir jetzt mit ihm?”
“Es sollte hier ein Leichentuch geben - ein Laken. Darin schlagen wir ihn ein und nehmen ihn mit.” Das gesuchte - ein weißes, offenbar neues Leintuch - lag gefaltet am Fußende des Bettes. Aus dem Nebenraum war weiter das trostlose Weinen der Frau und die beruhigende Stimme des Priesters zu hören, und Murixe sah, wie sich die sonst so gleichmütige Miene Marboliebs mehr und mehr bedrückte.
Die Geweihte tastete nach dem verstorbenen Bauern, legte ihm eine Hand auf den Scheitel und zeichnete mit etwas mitgebrachter Asche ein ziemlich krummes Boronsrad auf seine Stirn, ehe sie ihm über die Augen strich und vorsichtig Murixe half, das Tuch zu entfalten und um die Gestalt zu wickeln.
Ohne ein weiteres Wort machte sie sich daran, den schweren, leblosen Körper anzuheben - keine leichte Angelegenheit. Murixe schob das Leichentuch noch ein bißchen zurecht, da noch etwas von dem Toten rausschaute und steckte es fest. Dann ging sie der Boroni zur Hand und schleppte mit ihr den Toten aus dem Zimmer.
“Müssen wir ihn die ganze Zeit tragen?” fragte sie. Schweigend nickte die Boroni. Leider besaß sie keinen Schlitten - oder Karren -, was die mühselige Arbeit etwas leichter gemacht hatte.
Der schmale Gang zur Tür war eine Schwierigkeit, die steile Treppe draußen, die zudem noch zur Hälfte überfroren war, eine ungleich Größere. Eiskalt gefroren und unter den äußeren Kleidungsschichten nassgeschwitzt kamen die beiden geraume Zeit später am Borontempel an und Marbolieb zeigte der Zwergin, wo sie den Leichnam in einem Nebenraum des Tempels aufgebahrt haben wollte.
Dies erledigt, reckte sie schweigend und presste ihre Hände in ihren schmerzenden Rücken. “Es gehört wirklich zu den Aufgaben der Priesterin die Toten aus den Wohnungen in den Tempel zu bringen? Ich dachte immer, dass das die Angehörigen selber machen”, stöhnte die junge Zwergin.
“Früher haben sie es getan.” schnaufte die junge Frau noch immer außer Atem. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Der Bauer Haldan wog gewiss fast das Doppelte wie die schmale Frau.
“Jetzt sind wir zu zweit.” “Und wenn ich wieder weg bin, werden sie es wieder tun, oder?” Marblieb hob die Schultern. Wer wusste das schon?
“Aber es ist ja im Moment auch egal.” meinte Murixe, die sich den Toten auf dem Tisch näher ansah. “Was müssen wir jetzt mit ihm machen?”
“Wir werden ihn ausziehen und waschen. Aber erst nach dem Frühstück.” nahm Marbolieb den Faden des Gesprächs von vor ihrem Ausflug wieder auf. “Einen Toten ausziehen? Und ihn dann waschen?” fragte Murixe ein wenig blass werdend. “Ich glaube … ich denke … ich brauche doch kein Frühstück.”
“Er wird euch nichts mehr tun. Habt keine Angst.” beruhigte die Boroni und steuerte zielsicher die Küche an, wo sie sich gründlich die Hände in der Aschelauge wusch. Seife wäre schön gewesen, war aber eine unerschwingliche - und vor allem nicht zu bekommende - Kostbarkeit.
“Wir brauchen heute viel Wasser.” Und sie hatte Hunger nach dieser Arbeit. “Machen wir etwas mehr Grütze heute. Euer Hunger wird wiederkommen.”
“Ich gehe etwas Schnee zum Schmelzen holen und dann hole ich noch ein paar Scheite zum nachlegen.” Und schon war sie mit den Eimer aus der Tür. Wenig später kam Murixe mit Eimern voll Schnee und ein paar Holzscheiten zurück.
“Soll ich das Wasser warm machen während Ihr esst?” “Bitte.” nickte Marbolieb und wartete ab, bis das Wasser kochte, ehe sie einige Handvoll Grütze unterrührte. Das würde bis zum Abend reichen.
Murixe schaute der Geweihten mit einem flauen Gefühl in der Magengegend beim Essen zu. Einen Toten zu waschen war ihr schon ein wenig unheimlich, aber sie würde sich zusammenreißen. Nach dem Frühstück, draußen dämmerte bereits der Morgen, als die Geweihte, mühsam einen der vollen Eimer schleppend, die Leichenkammer neben dem Tempelraum betrat.
“Ich zeige euch, wie es geht.” lächelte sie in die Richtung, in die sie Murixe vermutete, trat zum Kopf des Verstorbenen, legte ihm sanft die Hände auf Scheitel und Brust und versenkte sich still ins Gebet. Wie ein Mantel legte sich ein tiefes Schweigen über den Raum, und Murixe merkte, wie die Anspannung in ihr immer mehr tiefem Frieden wich. So schien es ihr fast natürlich, als die kleine Geweihte schließlich mit sanften, sicheren Händen einen Stoffstreifen unter dem Kinn hindurch um den Kopf des Bauern schlang und danach begann, den leeren Körper zu entkleiden.
“Mögt ihr mir helfen? Ihr müsst es nicht.” “Ich weiß nicht …” stammelte die junge Angroschna. “Ich hatte es noch nie mit einem Toten zu tun …” Dann gab sie sich einen Ruck. “Was soll ich machen?”
“Zieht ihm die Schuhe aus - könnt ihr das?” Geübt zog die Geweihte dem Bauern den Kittel über Arme und Kopf und rollte sein Hemd zusammen, um es ihm nach oben über den Kopf zu ziehen, ehe sie ihn seiner Beinkleider entledigte. Derweil knotete Murixe die Schuhriemen auf und zog dem Alten die mit Stroh ausgefütterten, beuligen und ausgetretenen Schuhe von den bloßen Füßen. “Und jetzt?” “Jetzt waschen wir ihn - von oben nach unten.” Sie tauchte einen Lumpen in den Eimer, wrang in ihn aus und begann, dem Bauern vorsichtig Haare und Gesicht zu reinigen und sich methodisch und gründlich von über Kopf bis zum Hals und Torso vorzuarbeiten. Die Geweihte arbeitete so bedacht, als schlafe der Mann vor ihr nur.
“Wenn ihr wollt, könnt ihr einen Arm übernehmen.” Stumm nickte Angroschna und versuchte es der Boroni nachzumachen. Der Tote fühlte sich schon kalt an - was bei diesem Wetter ja wohl nicht nur bei Toten vorkam - aber die Gliedmaßen ließen sich noch einigermaßen bewegen.
Eine seltsame Arbeit war es - eigenartig, und ein wenig wehmütig, doch längst sich so widerwärtig, wie Murixe befürchtet hatte.
Die Gestalt des Bauern war abgearbeitet, sehnig und krumm, mit knotigen Fingern, einigen Narben, abgesplitterten Fingernägeln, wettergegerbter Haut dort, wo die Kleidung sie nicht bedeckt hatte, dick hervortretenden Adern auf den behaarten Handrücken und Schrunden und Hornhaut an Händen und Füßen.
“In zwei Götterläufen wäre er fünfzig geworden.” bemerkte Marbolieb. “So jung war er noch?” entfuhr es Murixe.
“Für einen der Dörfler hier ein normales Alter. Seine Kinder sind längst erwachsen.” Sie arbeitete einige Zeit schweigend weiter und trocknete den abgearbeiteten Leib des Bauern mit einem anderen Tuch ab. “Die Arbeit ist hart und erschöpfend.”
“Aber wenn er fünfzig ist, dann sind doch seine Kinder noch gar nicht mündig, oder?” “Sie sind mit einundzwanzig großjährig.” kam die ruhige Antwort. “Oh, verzeiht!” entschuldigte sich Murixe. “Ihr seid ja so kurzlebig.” Dann war sie mit dem Arm fertig. “Soll ich den anderen Arm auch?”
“Bitte.” stimmte die Boroni zu, während sie den Rest der Arbeit übernahm. Eine Weile arbeiteten die beiden Frauen schweigend. Es war zwar Murixe nach der Arbeit nicht viel wohler, aber die Tätigkeit war eine Arbeit die getan werden musste, also machte sie es.
“Ich bin fertig!” sagte sie nachdem auch der zweite Arm sauber war. Marbolieb nickte, kämmte die Haare des toten Bauern und zeichnete ihm mit Asche ein Boronsrad auf Stirn und Brust, ehe sie das Leichentuch wieder zusammenschlug und mit geübten Griffen verknotete.
Sie wusch sich die Hände bis zu den Ellbogen in einem zweiten Eimer, dessen Wasser sie großzügig mit Asche versetzt hatte, suchte eine ganze Weile nach einem sauberen Tuch, und wischte sich schließlich erleichtert die Hände trocken.
“Und jetzt stecken wir das Grab ab.” machte sie sich auf in Richtung der Mäntel. “Glaubt Ihr wir kommen durch das Eis und den Schnee?” fragte Murixe während sie sich in ihren dicken Mantel wickelte und von draußen die Schaufel herbei holte.
“Wir brauchen die Schnur mit den vier Pflöcken, die Spitzhacke und die Schaufel. Und nachher noch den Korb, ein Seil und das Steigholz.”
Was für eine Erleichterung, die Dinge nicht ganz allein tragen zu müssen! Vor allem hatte sie keine Ahnung mehr, wo sie das Seil für den Korb verstaut hatte, den sie üblicherweise für die Holzscheite nutzte. “Sehr ihr das Seil irgendwo?”
“Ja, Euer Gnaden! Ich suche die Sachen zusammen. Also: Schnur, Pflöcke, Spitzhacke, Schaufel, Korb, Seil und Steigholz.” Murixe lief los und kramte die Dinge zusammen. Nach einer Weile des Hin und Her kam sie mit den verlangten Utensilien wieder zurück. “Ich habe fast alles gefunden, aber allerdings scheint ein Pflock zu fehlen. Geht es auch nur mit dreien?” Die Boroni nickte nur. Sie würde sich behelfen - und da Murixe sehen konnte, wäre das keine Schwierigkeit.
Ganz am Ende der Gräberreihe in Richtung des großen Haselbusches wäre ein guter Platz für das neue - neben dem Schuster Tamalos, der zu Beginn des Winters gestorben war, als Dwarosch sie nach Tandosch abgeholt hatte. Damals hatte der Oberst ihr beim Graben geholfen.
Marbolieb unterdrückte ein Seufzen, zog sich den dicken Mantel über und öffnete entschieden die Tür nach draußen. Ein Schwall eiskalter Luft biss ihr in Wangen und Nase. Die Angroschna folgte ihr mit den ganzen Sachen, die sie zum größten Teil in den Korb gestopft hatte nach draußen.
Dort wurde sie Zeuge, wie die Geweihte sich zunehmend verwirrter durch den brusttiefen, unberührten Schnee auf diesem Teil des Boronsangers arbeitete und schließlich mit einem erleichterten Aufseufzen die Äste eines Busches, die noch durch Schnee staken, fand, und energisch begann, nach unten zu graben. Immer röter wurden die Hände, Wangen und Nase der kleinen Geweihten dabei, und immer blauer ihre Lippen. Nach einer halben Stunde graben fand sie schließlich ein grob zusammengebundenes Boronsrad, dem bereits die Hälfte der Speichen fehlte, und maß mit gestreckten Armen die Entfernung zwischen diesem und dem Busch aus.
“Das passt noch.” schlotterte sie mit klappernden Zähnen. “Machen wir den Schnee weg … darf ich die Schaufel haben?”
“Wollt Ihr Euch nicht ein wenig aufwärmen? Sonst müssen wir - oder besser muss ich - noch ein weiteres Grab für Euch schaufeln. Ich mache weiter. Sagt mir wie groß und tief es werden soll.” “Euch ist genauso kalt wie mir.” Die Boroni rieb ihre Hände in dem vergeblichen Bemühen, ihre mittlerweile weiß gewordenen Finger wieder aufzuwärmen. Mit ihren steifen Lippen konnte sie kaum sprechen. “Wenn der Schnee weg ist, stecke ich mit den Schnüren die Kanten ab - dann erst graben wir.”
“Mir ist nicht kalt! Ich grabe und hole Euch!” “Ihr werdet erfrieren!” widersprach die Geweihte energisch. “Wir stecken ab und wärmen uns dann auf.
Nachdem Marbolieb ihr gesagt hatte, wo und wie sie zu graben hatte, begann Murixe das Loch auszuheben. Dazu musste sie erst einmal den ganzen Schnee in der Umgebung wegschaufeln.
Die Aufgabe war noch relativ einfach und dabei wurde Murixe auch recht warm, aber dann stieß sie auf die harte festgefrorene Erde und da begann die Schaufelei anstrengend zu werden. Da sie mit der Schaufel nicht weiter kam, begann sie die Erde mit der Spitzhacke aufzuschlagen. Der Boden war hart wie gewachsener Fels - was vermutlich auch an den Steinen lag, die durch den bitteren Frost eng mit dem Grund verbacken waren. Es war eine Knochenarbeit, auch nur die Pflöcke für die Abmessung zu fixieren, doch das war nichts gegen die Mühe, die Schollen im Grund zu lockern.
Marbolieb half Murixe, die gelockerten Krümel beiseite zu schaffen und häufte diese neben dem künftigen Grab auf. Trotz der anstrengenden Arbeit wurden mit der Zeit Zehen und Finger der beiden Frauen eiskalt, und irgendwann fühlte auch Murixe, wie ihr der Stiel der Hacke durch die klammen Finger glitt.
“Bei Angroschs breitem Hintern!” fluchte die junge Angroschna. “Ist das kalt! Ich habe Angst, dass mir die Hacke wegrutscht und ich Euch damit treffe. Können wir nicht eine Pause machen und uns eine Tasse heißen Tee gönnen?”
Mit vor Kälte steifen Lippen nickte die Geweihte und raffte mit tauben Händen das Arbeitsgerät zusammen, das sie fand. Sie war aus ganzem Herzen dankbar über die Hilfe der jungen Zwergin - alleine wäre dies eine Schinderei bis morgen gewesen. Mindestens.
Starr streckte sie ihre Hand nach Murixe aus, in der Hoffnung, dass diese den Rückweg schnell fand. Diese war aber gerade noch dabei das restliche Werkzeug zusammen zu suchen und sah daher Marboliebs Hand nicht - allerdings wies ein lautes Brummen aus der Magengegend Murixes der Geweihten den Platz wo sie sich aufhielt.
Ungeschickt stolperte die Geweihte in die kleine Gestalt und setzte sich jäh auf ihre vier Buchstaben - und auf einen Haufen von Steinen, gefrorener Erde und Schnee, der in einer kleinen Wolke aufstäubte.
“Marbolieb! Oh, verzeiht, Euer Gnaden! Ist Euch etwas zugestoßen?” Die Geweihte schüttelte müde den Kopf und versuchte, sich wieder aufzurappeln, was ihr erst im zweiten Anlauf gelang. “Ich bin so dankbar für Eure Hilfe.” brachte sie mit steifen Lippen hervor. “Das mache ich doch gerne!” antwortete Murixe und ergriff den Arm der Geweihten und führte sie unter Vermeidung der Steinhaufen und Schneewehen zurück in die Küche.
Dort warf sie schnell einen weiteren Scheit auf die fast schon ausgebrannte Feuerstelle und füllte dann eiligst den Kessel mit Wasser.
“Gleich ist der Tee fertig!” Marbolieb nickte dankbar und streckte ihre bleichen, fast weißen Hände in Richtung des Feuers. Die Eiskristalle in ihren Ärmeln begannen zu tauen und wurden zu kleinen Wassertropfen, die auf dem feinen Loden standen. Ganz erbärmlich begannen ihre Zähne ob der Kälte zu klappern, ein Zeichen, dass die Wärme ganz vorsichtig wieder zurück in ihre Glieder fand. Das Wasser im Kessel begann zu sieden und Blasen zu werfen - viel war von dem großen Topf aus Schnee nicht übrig geblieben, doch das war immer so.
Murixe goß das Wasser in ihre Becher und warf dann einige der Kräuter hinterher. “Gleich ist es soweit, nur ein bisschen muss der Tee ziehen. Soll ich derweil die Grütze wärmen?” Die Frage wurde von einem lauten Magenbrummen begleitet, denn Murixe hatte ja noch nichts gegessen.
“Gern.” schlotterte die Geweihte, die versuchte, etwas näher ans Feuer zu rücken. Ihre ehemals weißen Finger verfärbten sich langsam nach krebsrot.
In Murixes ausgehungerter Nase duftete die klebrige Grütze mit einem Mal richtig verlockend. So schaufelte sie zwei der Teller mit Grütze voll stellte einen vor Marbolieb - so wie sie es in den letzten Wochen gemacht hatte - legte den Löffel auf die eine Seite und stellte die Tasse mit dem heißen Tee auf die andere. "Guten Appetit!”
Dann begann sie die warme Grütze begierig in sich hinein zu schaufeln. “Frau Travia segne dieses Mahl.” sprach die Geweihte mit leiser Stimme. “Wohlschmecken.” Einige Zeit lang war nur das Kratzen der Löffel zu hören.
“Danke, dass ihr mir da draußen helft.” brach es Marbolieb schließlich. “Aber deswegen bin ich hier ich soll von Euch lernen und Euch helfen!” war die bescheidene Antwort. “Ihr strengt euch dabei sehr an. Danke.”
Ansonsten wäre sie allein - nicht nur im Haus, sondern mit der kaum zu schaffenden Aufgabe auf dem Anger. Und vor allem allein mit ihren Gedanken.
“Natürlich strenge ich mich an. Ich kenne meine Mutter, sie wird Euch fragen wie ich mich während unserer Zeit benommen habe. Und einer negativen Antwort möchte ich vorbeugen. Außerdem ist dieses hier sehr aufregend und neu für mich.”
"Löblich.” freute sich die Priesterin, deren Finger mittlerweile wieder fast ganz warm waren. Einige Zeit später standen die beiden Frauen erneut, in nun nicht mehr so trockenen, doch noch nicht ganz steif gefrorenen Kleidern auf dem Anger und führten ihre Arbeit fort, bis schließlich die Dunkelheit hereinbrach und mit ihr der Frost aus den Herrn Firuns Gefolge mit Eisfingern nach den beiden tastete, mit dem letzten Licht den letzten Dunst vom Alveranszelt zog und Phexens Geschmeide auf einer tiefschwarzen Decke aus edelstem Samt offenbarte.
“Meint Ihr nicht, dass das Loch jetzt tief genug ist?” fragte die an Händen, Kleid und Gesicht mit Erde verkrustete Murixe. “Es wird dunkel und ich kann fast nichts mehr sehen.” Die kleine Geweihte tastete mit beiden Händen an den Rand des Grabes.
“Morgen noch ein bißchen.” meinte sie hoffnungsvoll mit vor Kälte starren Lippen. “Gut, so machen wir es”, meint Murixe und kroch wieder aus dem Grab. “Gebt mir das Werkzeug, ich bringe es zurück ins Haus.” Sie packte alles in den Korb und ergriff mit der anderen Hand Marbolieb Unterarm und führte die Boroni zurück in den Tempel.
“Müssen wir heute Abend noch beten?” “Das können wir in der Küche tun.” schlotterte Marbolieb und ließ sich dankbar ins Warme zurückbringen. Die äußere Schicht ihrer Kleidung war steif gefroren.
“Wollt Ihr heute meinen Schlafsack haben? Ihr seid ja ganz steif gefroren!” Murixe blickte das zitternde Häufchen Elend an. “Wenn Ihr nichts dagegen habt, könnten wir auch beide in den Schlafsack …”
“Ich will euch den Platz nicht streitig machen … “ klapperte die Geweihte sehnsüchtig mit den Zähnen. “Ich habe kalte Füße … .“ “Die würden wir schon warm bekommen, Euer Gnaden! Dieser Tag draußen, das war schon sehr anstrengend, da sollten wir uns für den morgigen Tag wärmen.”
“Danke.” Marbolieb zog sich ihre nassen Socken von den Füßen und rieb sich die Zehen, die an den kleinen Zehen bereits deutlich sichtbare Frostblasen aufwiesen. Sie verzog das Gesicht, als sie an die schmerzenden Stellen gelangte, und suchte eine Weile nach trockenen Socken. Dank Dwaroschs großzügigem Geschenk besaß sie mittlerweile drei Paar - mehr als genug, um meistens trockene und warme Füße zu haben.
Mit etwas Mühe gelang es Murixe zusammen mit der Geweihten in den Schlafsack zu klettern und ihn noch zu zubekommen. So konnten sich die beiden in der Nacht aneinander wärmen, so dass die Frauen am nächsten Morgen wenigstens schlafwarm aufwachten. Vielleicht auch etwas mehr als das. Wo die Hände und Füße der Borongeweihten gestern noch eiskalt gewesen waren, waren sie heute wirklich warm. Mit deutlich geröteten Wangen kletterte sie ungelenk aus dem Schlafsack und suchte nach einem Becher mit Wasser. Ein wenig war von gestern übrig geblieben. Sie sog scharf die Luft ein, als der eisige Innenraum in der Küche sie umarmte, obgleich sie in Socken und Unterkleidung und einer trockenen Robe geschlafen hatte, und drosch den Becher durch die dünne Eisschicht, die sich auf dem Wassereimer gebildet hatte.
“Kalt.” flüsterte sie mit rauher Stimme. Ein verschlafenes “Hmm?” kam aus dem Schlafsack. Dann regte sich Murixe, denn nachdem Marbolieb herausgeklettert war, war es schlagartig kalt geworden. Sie schlug die Augen auf und zog sich schnell an.
“Soll ich Holz holen? Oder haben wir gestern zuviel verbraucht?” “Mir ist so kalt!” schlotterte die Boroni. “Gerne mehr Feuer.” Sie suchte eine Decke und schlang diese eng um sich, ehe sie mit einem zu diesem Zweck an der Wand hängenden Rührlöffel die restliche Eisschicht im Wasser zerschlug.
Murixe nickte kurz und lief den Gang hinunter zum Holzhaufen und holte einen Arm voll Holzscheite. Dann begann sie die erkaltete Asche aus der Herdstelle zu fegen und legte dann die frischen Scheite ein. Dann füllte sie ein wenig Anmachholz und Zunder darunter und zündete das Ganze an.
Wenig später breitete sich ein bedingt wohlige Wärme im Raum aus. Und wieder etwas später blubberte der Wasserkessel.
Marbolieb holte tief und glücklich Luft - und bekam einen fulminanten Hustenanfall. “Ihr müsst doch nicht alles allein machen.” keuchte sie, als sie wieder Luft bekam und schlich, die Decke fest um sich gewickelt, mit hochroten Wangen zum Vorratsschrank, um nach der Grütze zu suchen.
“Ich hoffe, dass Ihr Euch nicht erkältet habt?” fragte Murixe besorgt nach dem Hustenanfall. “Denn wenn das so ist, dann müsst Ihr heute in der Küche bleiben.” “Das Grab ist noch nicht fertig und heute Abend wird die Grablege des Bauern sein.” widersprach Marbolieb.
“Nur wenn es Euch wirklich gut geht! Sonst bleibt Ihr hier, ich schaffe das auch alleine.” Heute früh langte Murixe bei der Grütze zu, denn die körperliche Arbeit brauchte eine gute Grundlage. Nachdem Frühstück und dem Abspülen schaute sie wieder nach Marboliebs Zustand. Sollte sie immer noch so glasige Augen haben und husten, dann würde sie die Aufgabe alleine übernehmen.
Die Wangen und die Stirn der blinden Boroni glühten. Nichtsdestotrotz begann sie mit gesenktem Kopf ihre Winterstiefel anzuziehen und tastete nach dem notwendigen Werkzeug. “Gehen wir?”
“Halt!” befahl die junge Angroschna energisch. “Ihr bleibt hier drinnen und ich gehe! Sonst muss ich heute Abend noch ein zweites Grab schaufeln. Ihr habt Euch erkältet und könnt so nicht raus! Legt euch wieder in den Schlafsack. Ich komme heute Mittag wieder rein und sehe nach Euch. Und wehe, ich finde Euch nicht im Schlafsack!”
“Aber wenn ich heute Abend das Begräbnis nicht mache, schelten sie mich noch mehr” wandte die Boroni ein, hin- und hergerissen zwischen der Aussicht auf Wärme und Ruhe und den äußeren Notwendigkeiten.
“Vielleicht seid Ihr dann wieder auf dem Damm, wenn Ihr Euch jetzt hinlegt und Euch ausruht!” Die Angroschna schob die zierliche Boroni wieder in ihre Schlafecke. “Bitte ruht Euch aus, ich schaffe das schon!”
“Aber ihr kommt zurück, wenn es euch zu kalt wird - versprecht es.” beharrte Marbolieb, die spürte, wann sie geschlagen war. “Besser sie schimpfen mich faul als dass ihr friert!” Ein erneuter Hustenanfall unterstrich ihre Worte.
“Ja, ich verspreche es Euch!” Murixe zog sich den warmen Mantel an, nahm das Werkzeug und den Korb vom Vortag und begab sich nach draußen, um weiter an dem Grab für den Bauern zu arbeiten. Alleine ging die Arbeit sehr viel schwieriger vonstatten als am Vortag.
Als dann die Praiosscheibe an diesem von tiefhängenden Wolken verhangenen Himmel den Zenit erreichte, machte Murixe eine Pause, kroch auch dem Loch und ging frierend zurück in die Küche und nach Marbolieb zu schauen und etwas zu essen.
Die Geweihte lag unter einem Stapel Decken und schlief unruhig. Ihre Stirn und ihre Wangen glühten und sie murmelte im Schlaf.
‘Wenn jetzt Mutter hier wäre, die wüsste was ich machen müsste.’ überlegte Murixe als sie die Boroni dort schwitzend und phantasierend liegen sah. Sanft zupfte sie die Boroni am Arm. “Euer Gnaden, wie kann ich Euch helfen?”
“Mirla?” Die junge Frau fuhr aus ihrem rastlosen Schlummer auf und blickte mit weit aufgerissenen, glasigen Augen an Murixe vorbei. “Geh schlafen, mein Schatz - alles ist gut!”
‘Oh verdammt! Sie erkennt mich nicht … was mache ich nur … wenn ich die Gänsepfaffen rufe, werden sie sowieso nicht mitkommen und sie hier liegen lassen … das kann ich auch ohne sie!’ Murixe fühlte die heiße Stirn der Geweihten, dann überlegte sie, was Murla in einer solchen Situation gemacht hatte. Das Fieber senken …
Sie ging zum Wassereimer und tauchte einen Lappen in das eiskalte Wasser und legte ihn vorsichtig Marbolieb auf die Stirn. “Es wird alles gut, Euer Gnaden, ich sorge für Euch!” Zur Antwort seufzte die Geweihte und tastete nach der Hand der Zwergin. “Dwarosch.” murmelte sie und ein glückliches Strahlen zog sich über ihr Gesicht.
Murixe verdrehte die Augen. Die Geweihte war anscheinend weit, weit weg in ihren Fieberträumen. Hoffentlich war der kalte Wickel das richtige, überlegte Murixe und wechselte den eiskalten Lappen aus. Marbolieb seufzte, holte tief Luft und wurde von einem neuerlichen Hustenanfall geschüttelt. Als sie wieder Luft bekam, schloss sie erschöpft die Augen, drehte den Kopf zur Seite und schlief ohne viel Federlesens wieder ein.
Das Schlaf gut für die Heilung war, wusste Murixe noch. Daher nahm sie ihr den verrutschten Wickel ab und deckte die Geweihte mit allem Verfügbaren zu. Anschließend nahm sie sich etwas von dem Rest der morgendlichen Grütze, trank einen Becher des eiskalten Tees und legte bevor sie sich wieder an das Grabausheben begab, noch einen Scheit Holz nach.
Wie tief genau das Grab sein sollte, hatte die Boroni nur grob angedeutet. Es war eine Schinderei sondersgleichen in der eiskalten Luft, und einige der Schweißperlen auf Murixes Stirn gefroren an den Rand ihrer Mütze, bis die Zwergin schließlich beschloss, dass es nun gut zu sein hatte.
Die Boroni hatte etwas von einer Grablege am Abend erzählt, und der kurze Wintertag neigte sich mittlerweile schon bedenklich seinem Ende zu.
Als Murixe merkte, dass sich der Tag dem Ende zubewegte, kletterte sie aus dem nun schon recht großen und tiefen Loch, versuchte sich die gröbsten Erdklumpen aus der Kleidung zu klopfen und ging dann wieder zurück in den Tempel. Hoffentlich würde die Boroni jetzt wach werden, überlegte sie noch, stand dann aber schon in der Küche. Die Geweihte regte sich, als Murixe hantierte und und raschelte, und versuchte sich mühsam aufzurichten.
“Euer Gnaden!” freute sich Murixe. “Fühlt Ihr Euch besser?” Die antwortete mit einem langen, trockenen und atemlosen Hustenanfall und ließ sich, nach Luft ringend, wieder auf den Strohsack fallen. “Ist schon Abend?” flüsterte sie mit rissigen Lippen. Murixe nickte und holte der Geweihten schnell einen Becher Tee. “Hier trinkt!”
Die Hände der kleinen Priesterin zitterten so sehr, dass sie die Hälfte des Tees verschüttete, während sie dankbar und gierig in großen Schlucken trank.
“Die Grablege! Wir müssen den Bauern holen!” keuchte sie. “Seid Ihr wirklich dazu in der Lage? Ihr seid doch sehr krank!” “Aber sie kommen heute Abend!” War die atemlose Antwort. “Sollt ihr ihn in der Leichenkammer liegen lassen?”
“Ich weiß nicht was richtig ist, aber Ihr lebt, der Bauer ist tot und das bleibt er sicherlich auch”, war die verzweifelt klingende Antwort der jungen Zwergin, “ich habe nur Angst, dass Ihr so krank wie Ihr seid auch eher tot als lebendig seid.”
“Die Trauergäste werden aber gleich kommen!” presste Marbolieb verzweifelt mit pfeifendem Atem hervor. “Ich kann sie wegschicken”, schlug Murixe vor. “Ihr seid doch nicht in der Lage jetzt in der Kälte den Mann zu begraben!”
“Sie werden schimpfen.” Erschöpft durch das viele Reden rang die Geweihte nach Luft. Ihre Augen glänzten und ihr Atem pfiff in in ihren Lungen. “Sie werden sich auch wieder beruhigen”, meinte sie und versuchte der Geweihten die Stirn zu fühlen. “Ihr habt sehr hohes Fieber, Euer Gnaden!” Die Haut der mageren Priesterin glühte. Sie schloss, müde von der Auseinandersetzung, die Augen und gab die Diskussion sichtlich auf. Murixe war froh, dass die Geweihte sich nicht überanstrengen wollte. Sie holte ihr noch einen weiteren Becher Tee, den sie ihr einflößte und wickelte sie nachdem sie ausgetrunken hatte, fest in den Schlafsack ein. Wenn die Angehörigen kommen würden, dann würde sie diese nach Hause schicken!
Und sie kamen - trotz des Schneetreibens, das am Abend kurzfristig wieder einsetzte und Myriaden winziger, eisiger Flocken aus dem gefrorenen Himmel rieseln ließ.
Gut drei Dutzend Menschen standen um das ausgehobene Grab, flüsterten aufgeregt miteinander und warfen immer wieder fragende Blicke zum Borontempel, der still und schweigend dalag.
“Wo ist die Dirne denn? Hat sie die Grablege verschlafen?” Zischte eine ältere Frau ihrer Nachbarin zu. “Das würd’ mich nicht wundern - auf so ein loses Luder ist bei nix Verlass.”
“Vielleicht hat sie den armen Haldan ja auch einfach fallen lassen - und er war ihr zu viel Arbeit.” Murmelte der Mann hinter den beiden und beäugte das leere Grab mit finsterem Blick.
“Kein Wunder, dass die Zwerge sie rausgeworfen haben - wieso hätten sie dieses faule Stück auch durchfüttern sollen.” gab die erste Frau ihre Gedanken preis. “Na, für die hat sie ja auch die Beine breit gemacht, das Hurenweib. Aber einen guten Mann, wie’s ihr ihre Hochwürden angeboten haben, den wollt’ sie nicht.” entrüstete sich ihre Nachbarin.
“Aber wo bleibt die Dirne denn nun?” grantelte sie frierend und äußerst missmutig. Da Murixe die Zeremonie nicht kannte und auch nicht wusste wie und wo es vonstatten ging, war sie in den Tempel gegangen und ging dort auf und ab. Irgendwann müssten doch die Dorfbewohner kommen.
Irgendwann, nach geraumer Zeit, stapfte einer der Dörfler, eine alte Frau, in den Tempel, senkte kurz und unwirsch den Kopf und grummelte unwirsch in die Dunkelheit: “Wir warten draußen!”
Murixe zuckte ob der plötzlich ertönenden Stimme zusammen und antwortete der Alten höflich: “Ehrenwerte Dame, es tut uns leid, aber Ihro Gnaden Marbolieb liegt krank darnieder. Sie ist heute nicht in der Lage die Zeremonie durchzuführen. Bitte geht nach Hause, wir werden Euch benachrichtigen, wenn wir Euren Angehörigen bestatten können.”
“Wir stehen hier seit Stunden in der Kälte! Wenn ihre Gnaden zu faul ist, dann tut eben ihr etwas!” herrschte die Frau zurück. “Ja, das mache ich: Ich bitte Euch geht nach Hause, wir benachrichtigen Euch.” Murixes Antwort war auch nicht mehr so freundlich wie die erste.
“So nicht, junge Frau - ihr habt den guten Haldan in eurem Tempel. Und den werdet ihr jetzt begraben, wie’s den Göttern gefällig ist. Und wenn die Zwergenhure zu faul dazu ist, dann macht eben ihr das!” Bedrohlich schoben die Leute sich auf die Zwergin zu.
“Ihro Gnaden Marbolieb ist krank! Sehr krank!” wiederholte Murixe ungehalten. “Und wenn ihr ihn heute begraben wollt, dann macht es gefälligst selber. Oder holt euch den Segen euer Götter von den Gänsepriestern.” Murixe stemmte die Hände in die Hüften. “Und jetzt geht!”
“Freches, faules Pack!” zischte die Frau. “Was brauchen wir so was wie euch überhaupt in unserem Dorf!” Wütend drehte sie sich um und stapfte nach draußen, ihre Begleiter im Gepäck. Erboste Stimmen vom Boronsanger kündeten davon, dass sie die ungeheure Nachricht ihren Begleitern vermittelte. Doch immerhin zog die ganze Kohorte wenig später unter Schimpfen und Brummen ab. Erleichtert, dass die Dörfler einfach so wieder gegangen waren, seufzte Murixe und ließ sich auf eine der Bänke im Tempel fallen. Sie musste erstmal durchschnaufen und sich wieder ein wenig beruhigen, bevor sie sich wieder um die Geweihte kümmern konnte.
Als sie sich wieder beruhigt hatte, danke sie Angrosch für den glimpflichen Ausgang und ging in die Küche, um nach Marbolieb zu sehen. Die schlief wieder unruhig unter ihrem Berg an Decken, und ihre Stirn und Wangen glühten. Es war mit einemmal einsam in der dunklen Küche … und bedrückend still.
Murixe legte der Geweihte noch einmal einen kalten Wickel auf die Stirn und prüfte ob der Rest der Geweihten im Warmen im Schlafsack und unter den Decken lag. Nachdem sie das zu ihrer Zufriedenheit erledigt hatte, begann sie einen weiteren Topf Grütze als Abendbrot zu kochen. Sie hatte Marbolieb schließlich oft genug dabei zugesehen und wusste daher die richtigen Mengen. Als der Brei langsam köchelte, schaute sie in die Vorratsschränke - heute musste sie das Ganze ein wenig aufpäppeln damit die Geweihte wieder zu Kräften käme. Es war noch ein kleines Stück vom Schinken übrig, dass sie jetzt klein schnitt und unter die Grütze rührte. Als es genügend gekocht war, füllte sie es in eine Schale und setzte sich neben Marbolieb auf den Boden.
“Ihr müsste etwas essen, Euer Gnaden!” sagte sie leise zu der fiebernden Geweihten. Marbolieb versuchte vergeblich, sich auf die Ellbogen aufzurichten, ließ sich ein paar Löffel voll des klebrigen Breis einflößen und schlief mitten beim Essen wieder ein. Murixe hatte den Eindruck, dass ihr Atem etwas gleichförmiger ging - doch konnte da auch der Wunsch Mutter des Gedankens sein.
Nachdem die Geweihte wieder eingeschlafen war, aß Murixe den Rest der Grütze. Es wäre schade gewesen, wenn es verkommen wäre. Dann wickelte sie sich in die letzte übrig gebliebenen Decken und fiel in einen tiefen Schlaf.
Der nächste Morgen brachte eine tief und fest schlafende, doch noch immer fiebernde Geweihte - und ein Scharren und Rascheln im Tempel, das weder von Murixe noch von der vor ihren Augen schlummernden Geweihten ausging.
Verschlafen und frierend schaute sich Murixe um. Als sie merkte, dass die Geräusche nicht von Marbolieb kamen, schälte sie sich aus den Decken und griff nach ihrem Dolch. Wer wagt e es um diese Zeit in den Tempel zu kommen? Die ganze Zeit in der sie hier war, war - bis auf den gestrigen Tag - nicht einer der Dorfbewohner vorbei gekommen.
Das Rätsel löste sich teilweise, als Stimmen vom Boronsanger klangen - und mit Keuchen und Schlurfen etwas offensichtlich sehr Schweres ums Haus bewegt wurde. Neugierig schlich die junge Angroschna in Richtung des Fensters und versuchte zu erkennen, was dort draußen vorging.
Was sie sah, waren vier kräftige Dörfler, die die in ein Leinentuch gewickelte Leiche des Bauern Haldan (zumindest hoffte Murixe, dass es sich darum handelte) trugen, begleitet von den beiden Traviageweihten, Vater Ganslieb mit verschränkten Händen voraus, Mutter Ganslind mit verkniffenem Gesicht hinterher, und einer ganzen Schar Dorfbewohner, die sie auf dem Boronanger erwarteten. ‘Na, dann können sie es doch alleine’, dachte Murixe freudig. ‘Ich werde es Marbolieb sagen. Und dann freuen wir uns sicherlich schon auf den Besuch der Gänsepfaffen.’
So beugte sie sich zurück über die kleine Geweihte und fühlte ihre Stirn. Sie war heiß, immer noch heiß und trocken. Also wieder ein paar kalte Wickel auf die Stirn. Die Geweihte regte sich unruhig und tastete mit einem fragenden ‘Dwarosch?’ nach der Hand der Zwergin. Keine Hilfe von dieser Seite.
Dafür aber bewegte sich die Prozession aus Traviapriestern, Leiche und Trauergästen sehr gemessenen Schrittes hinaus auf den Boronsanger zum offenen Grab.
Da Marbolieb weiter phantasierte und die Gänsepriester die Bestattung übernommen hatten, begann Murixe die normalen Frühstückstätigkeiten wie jeden Morgen, Ofen anheizen, Tee kochen, Grütze zusammenrühren.
Als alles fertig war, flößte sie Marbolieb die Grütze und den Tee ein. Die trank einige Schlucke und schlief dann wieder, erschöpft von der Anstrengung, ein. Draußen verliefen sich die Trauergäste, auch wenn einzelne Wortfetzen, die keine besonderen Nettigkeiten in Bezug auf die Leistung und Person der Boroni in sich trugen, zu Murixe herüberwehten.
“Ihr müsst das Grab noch schließen!” kam kurz und wenig freundlich von draußen noch die Stimme der Traviageweihten, als diese ebenfalls am Tempel vorbeischritt. Der Tag verging vergleichsweise friedlich, nur unterbrochen von einigen Hustenanfällen der Geweihten, die merklich um Atem zu kämpfen hatte, aber fast die gesamte weitere Zeit in Fieberträumen verschlief.
“Ihr müsst das Grab noch schließen!” äffte Murixe den Gänsepriester nach als dieser verschwunden war. “Ja, hohe Dame! Gerne hohe Dame! So eine Deppin!” schimpfte sie hinterher.
Doch die Traviageweihte schien sich daran nicht zu stören - mit dem Rest der Trauergemeinschaft verschwand sie zum Leichenschmaus in eines der Gasthäuser. “Sie sind weg”, sagte sie erleichtert zur schlafenden Marbolieb. Als nichts mehr von der Dörflern zu hören war, zog sie sich ihren Mantel über, nahm die Schaufel und begann den Toten zuzuschaufeln.
~*~
Die Boroni schlief den ganzen folgenden Tag, mit bleicher Haut und roten Flecken auf den Wangen. Erst in der Nacht danach sank schließlich ihr Fieber, und ihre unruhigen Träume schienen mehr und mehr unter der dicken Decke, welche der Herr der Nacht über sie breitete, zur Ruhe zu kommen. Sie war dürr geworden, und ihre Haut spannte sich eng über ihre hervortretenden Wangenknochen und ihre mageren Finger.
Die ganze Zeit wachte Murixe bei ihr, kühlte ihr Stirn und gab ihr Schlückchen Tee und Grütze so viel wie sie von Marbolieb aufgenommen wurden. Als sie dann wieder fieberfrei war, bereitete sie Marbolieb mit den letzten Eiern, die sie im Schrank fand ein nahrhaftes Rührei.
Diese bestand allerdings darauf, das Festmahl mit Murixe zu teilen - und genoss es mit gutem Appetit, aber deutlich schlechtem Gewissen, derart verhätschelt zu werden. Es war wieder an der Zeit, die neue Grütze am Gasthaus abzuholen.
“Fühlt Ihr Euch in der Lage mit zum Gasthaus zu gehen und Essen zu holen?” Marbolieb versuchte, sich aufzurappeln, schaffte einen halben Schritt und folgte dann rasch wieder Sumus Griff - nach unten.
“Also gut, bleibt hier liegen. Ich gehe und hole die Grütze.”
Murixe zog wieder den dicken Mantel an, nahm den Korb und den jetzt wieder leeren Leinensack und machte sich auf den Weg zur Rückseite des Gasthauses. Dort angekommen klopfte sie an die Tür und wartete.
“Was wollt ihr?” öffnete einer der Küchenknechte die Tür und runzelte ungnädig die Stirn. Auf einen Ruf ‘Wer isses?’ von drin rief er über die Schulter zurück ‘die Magd von der Zwergenmetze!’ “Dann gib’ ihr das, was ihr zusteht.” kam es sehr ungnädig zurück.
Wenig später hatte Murixe einen runzligen Apfel, eine schon leicht matschige Rübe, eine Zwiebel und einen halben Bierkrug voller Grütze in ihrem Korb - nicht einmal die Hälfte dessen, was sie bisher zusammen mit der Geweihten abgeholt hatte.
“Das ist doch noch nicht alles!” beschwerte sich die Angroschna. “Das ist alles. Wer nicht arbeitet, braucht auch nicht essen. Und nun raus mit euch!” schlug ihr der Knecht die Tür vor der Nase zu - oder versuchte es zumindest.
Da stand aber noch ein Stiefel Murixes dazwischen. “Bursche!” drohte sie. “Gibt uns alles, los!” “Das ist genug! Und nun packt euch!” Hinter dem Knecht bauten sich eine interessierte Köchin mit einem Fleischklopfer und ein weiterer Knecht auf und beäugten neugierig den Stein des Anstoßes.
“Dann verkauft mir was!” forderte die Angroschna verärgert. “Mit Hurenweibern machen wir keine Geschäfte.” bekam sie ihre Antwort. Klatsch! hatte der freche Bursche sich eine Backpfeife eingefangen. “So spricht man nicht mit mir!” “Das reicht! Packt euch und kommt nicht mehr wieder!” Der zweite Knecht holte einen Eimer mit schmutzigem Wasser, trat neben seinen Kumpan und holte weit aus.
Extrem wütend zog sich Murixe zurück.
Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss. Zu diesem Gasthaus, so war sich die Zwergin sicher, brauchte sie nie mehr zurückkehren.
Auf dem Heimweg bekam sie Gewissensbisse, ob sie mit ihrem Verhalten nicht das Leben der Geweihten hier in Calmir erschwert hat. Erst die Absage beim Toten und nun auch noch ihre Entgleisung im Wirtshaus. Sie würde es der Geweihten beichten müssen. Als sie wieder bei der Geweihten ankam, stellte sie die kargen Vorräte in den Schrank zurück und setzte sich dann neben Marbolieb auf den Boden.
“Euer Gnaden, wir haben ein Problem!” “Was ist passiert?” Hustete Marbolieb mit sehr kratziger Stimme. Das lange Fieber hatte ihre Lippen aufspringen lassen und saß ihr noch immer wie ein Alp im Genick.
“Wir haben nur noch die Hälfte der Ration bekommen”, gestand die zerknirschte Murixe. “Sie haben uns vorgeworfen, dass wir den Toten nicht beerdigt haben. Und ich habe zusätzlich dem Burschen eine Ohrfeige verpasst.”
“Oh.” Der Kopf der Boroni sank nach unten. “Wir hätten die Grablege doch machen sollen.” Ein erneuter Hustenanfall schüttelte die magere Frau. “Es tut mir leid, Murixe.” Die Zwergin war nur ein Kind, und sie hatte sie mit einer Situation überfordert, der sie noch nicht gewachsen war.
“Ihr wart dazu nicht in der Lage, Ihr wart todkrank. So haben es die Gänsepriester gemacht.” “Dann muss ich mich noch bei Ihren Hochwürden bedanken und sie um Verzeihung bitten für ihre Mühe.”
“Und damit würden sie die Rationen wieder erhöhen? Und was ist, wenn ich weg bin?”
“Allein kann ich gar nicht so viel essen. Und jetzt bist du ja hier.” Erschöpft lehnte sich die junge Frau an die Wand. “Hast du den Nachbarskindern schon ihre Speisen gebracht?”
“Nein, Euer Gnaden. Wir haben ja fast nichts bekommen. Und das wollte ich Euch erst sagen.” immer noch zerknirscht saß die junge Zwergin neben der Boroni.
“Gib ihnen die Hälfte.” bat die Geweihte. “Und dann schauen wir, wieviel wir noch haben. Und Murixe: es reicht, wenn Du mich einfach Marbolieb nennst.”
“Das mit der Hälfte ist schwierig, da sie mir nur einen Apfel, eine Rübe und eine Zwiebel gegeben haben. Mit der Grütze ist es natürlich einfacher …” meinte Murixe. “Und danke Euer Gnaden Marbolieb.” “Auf das ‘Euer Gnaden’ kannst du auch verzichten, Murixe.” Marbolieb legte die Stirn kraus und dachte nach. Das war sehr wenig für zwei Leute und zehn Tage.
“Wir geben ihnen die Rübe, den Apfel und die Hälfte der Grütze.” entschied sie dann. “Ja, Eue... Marbolieb”, antwortete Murixe und nahm die Zwiebel und die Hälfte der Grütze und verstaute es im Schrank. Mit den restlichen Dingen im Korb ging sie zu dem Haus hinter dem Boronanger und gab die Nahrungsmittel an die Kinder.
Die stürzten sich wie ausgehungerte Tiere darauf und es entspann sich eine wüste Prügelei um den Apfel und die Rübe, bei dem schließlich die beiden Kräftigsten siegten und die anderen heulend und mit blutigen Nasen zurückblieben.
Murixe schüttelte traurig den Kopf und ließ dann die Kinder wieder unter sich. Dann drehte sie sich unglücklich um und ging zurück zu Marbolieb, der sie von der Prügelei berichtete.
“Sie haben Hunger.” Hustete die Geweihte unglücklich. “Wieviel haben wir noch?” “Das von heute, nochmal soviel von letzter Woche. Und noch ein wenig Mehl, Käse, ein Stück Hartwurst und ein paar Äpfel.”
“Meinst Du, das reicht bis in zehn Tagen?” Marbolieb überlegte und setzte die Worte zusammen, die Murixe erzählt hatte.
“Glaubst Du, sie geben uns dann wieder etwas?” “Ich denke, dass es wenn wir uns ein wenig zusammenreißen die 10 Tage reichen wird. Es ist mindestens noch die normale Ration. Aber wenn sie uns wieder nur die Hälfte geben, dann werden wir hungern müssen.” Dann überlegte sie kurz.
“Oder wir müssen bei den Gänsepriestern Abbitte leisten.” “Wir müssen sie sowieso um ihre Verzeihung ob der Grablege bitten.” Ein erneuter Hustenanfall schüttelte die magere Geweihte. “Und damit dürfen wir nicht lange warten.” “Seid ihr … oh, ich werde mich so schnell nicht daran gewöhnen … bist Du schon in der Lage das Hause zu verlassen?” “Wenn Du mir hilfst?” Mehr eine Frage als eine Feststellung.
“Aber klar, ich hoffe nur, dass ich nichts damit zerstöre”, antwortete sie. “Wann wollen wir los?” “Gehen wir.” keuchte Marbolieb. Unangenehme Dinge erledigte man am besten sofort. Murixe reichte Marbolieb den Mantel und half der noch hagereren Frau in diesen. “Dann gehen wir los. Komm!”
Sie reichte der Boroni die Hand und zusammen gingen sie in Richtung des Gänse-Tempels.
Gang in den Gänsestall
Überraschend schnell nach ihrem letzten Besuch stand Murixe zusammen mit der keuchenden Geweihten vor der kunstvoll geschnitzten und bemalten Tür des Traviatempels. Der Weg vom Borontempel war nicht über Gebühr lang, der Tatsache geschuldet, dass das Dorf nicht besonders groß war, doch die kurze Strecke hatte gereicht, zu zeigen, dass die Boroni sich offensichtlich etwas überschätzt hatte.
Es war klirrend kalt, und der Atem der beiden Frauen stand in dicken Wolken vor ihren Mündern und Nasen.
Auf das energische Klopfen der jungen Zwergin geschah eine ganze Weile nichts, ehe schwere Schritte den Hausherrn ankündigten, der die Tür einen Spalt weit öffnete, die beiden Frauen mit äußerst ungnädigem Blick musterte und sie schließlich mit einem “Schau an, was der Wind für seltsame Vögel angeweht hat. Und was wollt IHR beide hier?” begrüßte. “Euch auch einen schönen Tag, Euer Gnaden”, grüßte Murixe mühsam. “Dürften wir eintreten? Euer Gnaden Marbolieb ist noch sehr krank.”
“Und was wollt ihr hier?” Mit einem sehr, sehr frostigen Blick trat der Geweihte zur Seite. “Tretet ein in der Frau Travia Haus und unter ihre Gastfreundschaft. Und erweist euch ihrer würdig.” “Natürlich”, murmelt Murixe und führt Marbolieb stützend in den Flur.
“Habt Ihr einen Platz für Ihro Gnaden?” war die höflich gegenüber dem Gänsepriester formulierte Frage als die Angroschna merkte, dass die Boroni am Ende ihrer Kräfte war und fast zu Boden ging. “Bitte.” Der Geweihte wies die beiden in die guten Stube und deutete auf die breite Bank, die an der Längsseite des Tisches vom Kamin bis fast zur Tür zog.
Mit einem erleichterten Seufzen sackte die Geweihte auf die Bank und rieb sich ihre eiskalten Hände. Das Feuer loderte hell und warm und zeichnete eine sanfte Röte auf ihre bleichen, eingesunkenen Wangen. Sie spürte, die heimelige Ausstrahlung des gut geheizten Tempels. “Travia, Dir sei Dank für das freundliche Willkommen.” murmelte Marbolieb und kämpfte gegen den Drang, einfach die Augen zu schließen und sich dem Frieden hier zu überlassen. “Ich Euch um Eure Verzeihung bitten, Euer Hochwürden. Es tut mir sehr leid, dass Ihr meine Arbeit habt verrichten müssen.”
Murixe hatte sich neben der Geweihten auf der Bank niedergelassen und achtete darauf, dass sie nicht vor Erschöpfung von der Bank rutsche. Dabei überlegte sie, ob sie in das Gespräch einsteigen sollte, aber nach ihren letzten Erlebnissen mit den Kurzlebigen in der Schenke, entschied sie sich zu schweigen. “Hm. Und was wollt ihr dann von uns?” Unter zusammengekniffenen Augenbrauen fixierte die hinzugetretene Mutter Ganslind die zerfledderte Boroni. "Unseren Segen für eure Faulheit?”
Die Frau schüttelte mit schmalen Lippen den Kopf. “Ihr habt Eure Aufgabe, und die ist, wissen die Götter, nicht besonders groß. Und nicht einmal die erfüllt ihr, ohne dass eure Magd an die armen Dörfler ein freches Maul führt und keinen Finger krümmt. Ihr werdet ihn nicht erhalten, ehe Ihr und eure Magd keinen Anstand lernt.”
Bei diesen harschen Worten fiel die Boroni noch ein Stück weiter in sich zusammen und Murixe fühlte, wie ihr Kopf und ihre Schultern nach unten sackten. Marbolieb spürte wie die Hand auf ihrem Rücken vor Zorn zu beben begann und hörte das Knirschen der Zähne die Murixe zusammenbiss.
“Was wünscht ihr als Wiedergutmachung?” flüsterte die Geweihte fast tonlos. “Büßt endlich euer Lotterleben und benehmt euch wie ein anständiges Weib!” zischte die Traviageweihte in einem Ton, der auch ihren Gänsen gut zu Gesicht gestanden hätte.
“Sagt euch von der Hurerei mit den Zwergen los und beichtet, wer der Vater Eures Bankerts ist - und dann werden wir euch die entsprechende Buße schon auferlegen.”
Murixe spürte, wie die Boroni schluckte und noch ein ganzes Stück kleiner wurde, ehe sie schweigend, aber entschieden, den Kopf schüttelte.
“Gänslein, die Boroni will doch sicher nur wissen, wie sie uns unsere Arbeit entgelten kann. Nach Ehrlichkeit und Anstand hat sie nicht gefragt.”
Begütigend legte Vater Ganslieb seiner Angetrauten eine Hand auf den Arm und schüttelte traurig den Kopf. “Wenn sie arbeiten will, dann sollte sie das doch tun, meinst du nicht auch?”
“Wir haben gearbeitet … Euer Gnaden”, Murixe knurrte fast, “wir haben das Grab ausgehoben und auch wieder zugeschüttet. Dabei hat sich Ihro Gnaden Marbolieb erkältet, so sehr dass sie die Zeremonie nicht durchführen konnte. Ihr seht doch noch wie krank sie jetzt noch ist!”
“Dann soll sie sich eben zusammenreißen!” herrschte die Frau sie an und holte tief Luft, wohl, um noch etwas Murixes eigenem Verhalten hinzuzufügen, verstummte aber, als ihr Gatte ihr begütigend die Hand um die Schultern legte. “Zürne nicht so sehr, mein Gänslein, du weißt, deine Leber … .“
‘Mutter sagt immer, dass sowas vom vielen Fressen und Saufen kommt …’ wollte Murixe schon sagen, besann sich aber dann eines Besseren und biss sich auf die Zunge. Die Traviageweihte schluckte, was ihr auf der Zunge lag, mit einem Gesicht, als habe sie eine gesamte Kröte ohne Salz verspeist.
“Nun gut - wenn ihr eure Faulheit ausgleichen wollt, so dürft ihr morgen anfangen und den Gänsestall ausmisten, das Geschirr spülen - und dann könnt ihr den Fatzners zur Hand gehen, das Haus putzen und die Wäsche waschen. Die arme Frau ist jetzt ja ganz allein.” Sie schnaufte unzufrieden, so dass ihre Nasenflügel bebten.
“Dann sehen wir weiter.”
“Könnt Ihr dann Ihro Gnaden etwas Stärkendes geben, dass sie auch morgen zu diesen Aufgaben in der Lage ist? Ihr seht doch wie krank und schwach sie noch ist.”
“Wer gut arbeitet, bekommt auch zu essen. Das könnt ihr morgen beweisen.” kam die schroffe Antwort der Traviageweihten.
Marbolieb tastete nach der Hand der Zwergin. “Lass’ es gut sein, Murixe.” flüsterte sie mit kratziger Stimme. “Ich danke Euch, Hochwürden.” fügte sie etwas lauter und mit pfeifendem Atem hinzu. “Wir werden morgen hier sein.” “Ja, das werden wir”, murrte die junge Angroschna und meinte leise zu Marbolieb: “Wollen wir gehen oder möchtest Du noch bleiben?”
“Dann bis morgen - möge Travia gut auf euch achten.” klang die tiefe Stimme Vater Gansliebs.
“Travia mit euch, Hochwürden.” brachte die Geweihte keuchend heraus, ehe sie sich, mühsam auf Murixe gestützt, aufrappelte. “Gehen wir.” flüsterte sie der Zwergin zu. “Angrosch zum Gruße!” verabschiedete sich Murixe und stützte die Boroni und ging dann mit ihr durch die Kälte des Abends zurück zum Tempel.
Angekommen im Tempel wickelte sich die Geweihte in ihre gesamten Decken und ließ sich auf ihren Strohsack fallen. Sie schloss die Augen, lehnte sich zurück und atmete einige Male tief durch, bis die Zwergin fast glaubte, sie sei eingeschlafen.
“Du musst morgen nicht mitkommen, Murixe.” flüsterte sie. “Fremde Geweihte grüß’ mit dem Namen ihrer Gottheit - das erfordert die Höflichkeit.” rang sie, einige Augenblicke später, um Luft. “Sonst verärgerst du sie.”
“Ich komme mit! Du bist zu krank, ich werde arbeiten und du ruhst dich dabei aus. Und ja, das mit den Göttern weiß ich und ich wollte diese aufgeblasene Gans ein wenig ärgern. Sonst wäre ich geplatzt!”
“Wenn du sie ärgerst, wird unsere Arbeit mehr. Viel mehr.” wandte die kleine Priesterin ein, ehe ein erneuter Hustenanfall sie schüttelte.
“Wenn ich sie erwürgt hätte, wäre es auch nicht besser gewesen.” “Keine Gewalt gegen Geweihte!” tadelte Marbolieb erschrocken.
“Aber die beiden sind so hochnäsig, dass ihre Nasen schon fast an der Decke kratzen! Und ich finde, sie behandeln Dich äußerst ungerecht!”
“Sie haben aber alles Recht auf ihrer Seite, Murixe.” “Aber es recht fühlt sich nicht recht an.”
“Ich müsste ja auch nicht wissentlich gegen ihre Glaubensgrundsätze verstoßen und sie damit verärgern, nicht wahr?” “Aber ist Vergebung nicht etwas, was auch die Kirche der Gänsepriester lehrt? Das versuchen die beiden nicht einmal!”
“Vergeben sollte man nur jemandem, der bereut.” Und das hatte Marbolieb in Bezug auf einen ganz besonders dickschädeligen Angroscho nicht vor.
“Gut, ich sehe es ist keiner von euch bereit den ersten Schritt aufeinander zu zu gehen. Dann werden wir wohl Morgen und ein paar Tage länger hart arbeiten müssen.”
“Das tut mir leid, Murixe. Du musst mir nicht helfen, wenn du nicht möchtest.” Ein neuerlicher Hustenanfall schüttelte die magere Geweihte. “Aber ich werde weder meine Verbindung zu Dwarosch widerrufen noch einen Dörfler ehelichen. Und wer Mirlas Vater ist, geht sie nichts an.”
“Ja, das kann ich alles verstehen”, nickte Murixe, “aber da die beiden Gänse sich auch nicht von der Stelle bewegen werden, werdet ihr hier nie eine Gemeinschaft haben.”
“Was würdest du empfehlen?” fragte die Geweihte, die sich die Lage schon um und um gedreht hatte, erschöpft. Und mit nicht allzugroßer Hoffnung. “Ich weiß es nicht, ich sehe nur, dass es schwierig ist, so wie es ist. Aber ich sehe nicht wie es gehen kann.”
Marbolieb nickte schweigend - sie hatte bislang noch keine Lösung gefunden, die beide Seiten zufriedengestellt hätte. “Dann lass uns jetzt etwas essen und dann recht früh schlafen gehen, so dass wir morgen alle bei Kräften sind, wenn wir unsere Strafe antreten.”
Am nächsten Morgen traten die beiden ihren Dienst im Gänsestall an - dort hatte gewiss seit Wochen niemand mehr sauber gemacht, und der Unrat der Tempelgänse, vermischt mit Stroh, reichte beiden bis über die Knöchel.
Die Boroni war ein weniges besser auf den Beinen als am Tag zuvor, doch schon der Weg zum Traviatempel hatte sie nachhaltig außer Atem gebracht. Sie lehnte sich, mit eingefallenen Wangen und erschöpft geschlossenen Augen, an die Wand und rang nach Luft, während die Tempelgänse, ein gutes Dutzend mochten es sein, die beiden Frauen schnatternd und mit höchst wachsamen Augen umringten - und hin und wieder mit neugierig ausgestrecktem Hals testeten, ob an beiden Frauen etwas essbar sei. Da die Tiere mit ausgestrecktem Hals noch die Zwergin überragten und auch den Kopf der Boroni erreichten, war diese interessierte Kontaktaufnahme nicht über Gebühr beruhigend.
Nach dem ersten ’Kuss’ der Gans fauchte die junge Angroschna die Gänse genauso an wie sie von ihnen angefaucht wurde. So gingen die beiden Parteien während der Arbeit auf respektvollen Abstand. Und die Arbeit war alles andere als ein Vergnügen, den immer wieder wirbelte beim Zusammenrechen des Strohs der Kots auf und verteilte sich in der Luft und wurde von den beiden Frauen eingeatmet.
Zum Glück hatte Murixe einen Schal gegen die Kälte umgebunden, den sie sich jetzt vor den Mund zog, um möglichst wenig von dem herumfliegenden Unrat einzuatmen.
Immer wieder fiel ihr Blick bei der Arbeit auf Marbolieb, die an der Wand lehnte während die Angroschna den Mist zusammen kehrte. “Geht es Dir gut?” fragte sie die zusammengesunkene Gestalt.
Die hustete, heftig und ausdauernd, und schüttelte den Kopf, ehe sie wieder zum Rechen griff und, mehr darauf gestützt als ihn ziehend, begann, auf’s Geratewohl Stroh und Luft zusammenzuraffen. “Bitte lass mich das machen, ich sehe wo der Dreck ist”, forderte sie die Geweihte auf. Sie putzte und fegte den Dreck weg bis der Boden wieder einigermaßen sauber war.
Verbissen versuchte die Geweihte, ihren Teil an der Arbeit zu leisten, kam dafür aber der Zwergin mehr vor Besen und Füße, als dass sie ihr eine Hilfe gewesen wäre. Doch irgendwann war der Stall fertig, und die beiden Frauen verteilten neues Streu für die Gänse, die sich in einer Ecke zusammengerottet hatten und schnatternd und zischend Neuigkeiten austauschten. Die Kleider der beiden Frauen waren dick mit Staub und Unrat überkleistert - eine logische Folge ihrer Putzaktion.
Erschöpft setzte sich Marbolieb auf den Boden und hustete lange und ausgiebig. “Sind wir fertig?” krächzte sie. “Der Stall ist jetzt sauber”, meinte Murixe und schaute an sich herab. “Aber jetzt sehen wir aus wie die Schweine. Sollten wir das Geschirr auch heute noch abwaschen?”
“Morgen - sonst verschmutzen wir ihre Küche.” stimmte Marbolieb dem Rückzug zu. “Müssen wir uns nicht erst verabschieden? Sonst sind die wieder sauer auf uns.”
Die Geweihte nickte und so klopften beide wenig später wieder an die Tempeltür. “Wie seht ihr denn aus?” Mutter Ganslind war nicht entzückt. “Kommt sauber wieder, wenn ihr in die Küche wollt!”
“Der Gänsestall ist sauber, wir waschen uns und kommen morgen wieder.” antwortete Murixe so höflich wie es ihr möglich war. Die Hochgeweihte rümpfte die Nase angesichts der beiden Dreckspatzen und nickte nur ungnädig. Somit waren beide - für heute - entlassen.
“Komm, Marbolieb!” zog sie die Geweihte mit sich. “Euch eine gute Nacht, Euer Gnaden!” “Boron mit Euch, Hochwürden.” setzte Marbolieb außer Atem hinzu, ehe sie sich von Murixe von dannen bugsieren ließ, heilfroh, den Weg nicht allein im Schnee suchen zu müssen.
Als sie außer Hörweite waren, fragt Murixe: “Hättest Du nicht ‘Travia mit Euch’ sagen müssen?’ Ein gewaltiger Hustenanfall antwortete ihr, der die schmale Frau vom Kopf bis zu den Zehen schüttelte. Sie wischte sich verstohlen mit dem schmutzigen Ärmel über den Mund und hinterließ einen unschönen Schmierer, ehe sie, bar aller Worte, nickte.
“Wir sollten uns jetzt waschen”, meinte Murixe als sie an Marbolieb entlang blickte. “Wollen wir einen Scheit spendieren und Wasser warm machen? Hast Du eine Wanne oder einen großen Bottich?”
“Einen Bottich - den für die Wäsche.” Wehmut lag auf dem Gesicht der Geweihten. “Das braucht viel zu viel Holz.” Hunger ließ sich einige Tage aushalten - aber Kälte war schlimm.
“Wenn wir für die beiden Gänse arbeiten, bekommen wir vielleicht auch ein wenig mehr Holz. Und Du hast die alte Gans doch gehört:’Kommt sauber wieder!’” “Ich glaube nicht, dass sie das mit ihrem Holz bewerkstelligen will.” keuchte Marblieb und ließ sich erschöpft auf einen der Hocker fallen. “Warte, ich helfe dir gleich.” bot sie müde an und versteckte ihre zitternden Hände in den weiten Ärmeln ihrer augenblicklich sehr ergrauten Robe.
“Nein, setz Dich hin”, meinte Murixe als sie sah wie die Boroni schwächelte. “Ich mach einen Eimer Wasser warm, dann brauchen wir nur ein wenig Holz und müssen uns nicht mit Eiswasser waschen.”
Wie schön war es doch, in einem Berg zu wohnen, in der Nähe heißer Quellen oder Vulkane, und immer genügend heißes Wasser zum Baden zu haben. Nachdem das Wasser heiß war, goß sie es mit zwei Eimer kalten Wassers in den Waschbottich.
“Du darfst zuerst”, forderte sie die Geweihte auf. “Dann ich und dann waschen wir unsere Sachen da drin.” “Vielen Dank!” Über Marboliebs Gesicht glitt ein Lächeln aus purem Glück. Sie zog sich ihre schmutzige Robe und ihr dünnes Unterzeug über den Kopf, offenbarte dabei kantige Knochen, tiefe, parallele Narben auf einer Schulter wie von einem besonders großen Bären und eine weitere, die ihr vom Schlüsselbein bis zum Bauch reichte.
Schlotternd vor Kälte stieg sie in den Bottich, griff nach einem Lappen und wischte sich mit einem glücklichen Seufzer mit einem heißen, feuchten Lappen den Schmutz vom Leib. Sie arbeitete zügig und gründlich und wickelte sich dann in eine ihrer geflickten Decken, ehe sie aus dem Zuber kletterte.
“Du darfst.” Lächelte sie Murixe an, während sie ihre Ersatzrobe und ein sauberes Untergewand suchte. “Es ist noch warm.”
“Prima!” freute sich Murixe, zog sich aus und kletterte dann auch in die noch warme und ein wenig verschmutzte Wanne. Auch ihr sah man die letzten Wochen der Entbehrung auch an, sie war zwar immer noch deutlich runder als Marbolieb - was für eine Angroschna auch typisch war - aber auch sie war ein wenig eingefallen.
Als sie mit dem Waschen fertig war, suchte sie Marboliebs und ihre Sachen zusammen und begann diese in dem noch handwarmen Wasser zu reinigen. Nachdem das erledigt war, hängte sie die Sachen auf und kroch dann in den Schlafsack.
“Gute Nacht, Marbolieb!”
“Boron mit Dir, Murixe. Hab’ eine gesegnete Nacht!”
Mit diesen Worten kroch die Geweihte unter ihre Decken, endlich sauber, trocken - und immer noch übel erkältet. Erst nach einem erneuten Hustenanfall fiel sie in tiefen Schlaf.
Abwasch
Am nächsten Morgen wachte Murixe auf und fühlte sich von der körperlichen Arbeit vom Vortag ein wenig erschlagen. Sie hatte einen starken Muskelkater.
Also kroch sie ein wenig schwerfällig aus dem Schlafsack und begann mit dem Tagwerk: Wasser holen, Feuer anzünden, Tee kochen und Grütze bereiten.
Es war eisig kalt, und auf dem letzten Wasser im Eimer in der Küche hatte sich eine mehr als fingerdicke Eisschicht gebildet. Die Boroni schlief lange, immer wieder unterbrochen durch einen hartnäckigen Husten, nach dem sie erneut eindöste, und schlug endgültig die Augen auf, als der Duft nach heißem Tee in ihrer Nase kitzelte.
“Ist schon morgen?” fragte sie müde. “Ja, es ist schon wieder Morgen”, antwortete die junge Angroschna und reichte der Boroni die Tasse mit dem heißen Tee. “Wie fühlst Du Dich heute? Soll ich alleine zur alten Gans gehen? Dann kannst du Dich noch einen Tag schonen. Den Abwasch schaffe ich auch alleine.”
Die Geweihte schüttelte den Kopf. “Die Arbeit ist für uns beide - sie würden es nicht mögen, wenn ich mich drücke.” Erneut schüttelte sie ein Hustenanfall und sie wischte sich mit den Handrücken über den Mund, wobei eine schmierige rote Spur auf ihrer Hand zurückblieb.
“Gehen wir?” “Du hustest Blut!” stellte Murixe mit einem entsetzten Blick auf den Handrücken der Boroni fest. “Gibt es einen Heiler hier im Dorf?”
“Die Traviageweihten.” hustete die Boroni. Mehr in dieser Richtung wies Calmir nicht auf. “Ob sie bereit sind Dir zu helfen?” fragte Murixe vorsichtig. Ein gewaltiger Hustenanfall, der die schmale Menschenfrau beutelte, war ihre einzige Antwort.
“Sie müssen Dir einfach helfen!” meinte Murixe, die der Geweihten half auf die Beine zu kommen. “Meinst Du wirklich, dass Du es schaffst?”
“Wir möchten auch nächste Woche noch essen, oder?” keuchte die Menschenfrau atemlos. “Gehen wir.” Um so schneller wäre die Schinderei vorbei. “Also gut, dann lass mich Dich führen!” Murixe half der Geweihten in den Wintermantel und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu den Gänsen. Dabei stützte sie die Boroni, damit sie nicht auf den Eis ausrutschte.
Die magere Menschenfrau stützte sich schwer auf die Zwergin, die ungleich kräftiger - und auch nur anderthalb Köpfe kleiner war. Als Murixe am Traviatempel anlangte, öffnete ein zerzaust und erhitzt aussehender Vater Ganslieb, der eine ziemlich schmutzige Schürze um seinen beachtlichen Leib geschwungen hatte und, fast wie ein Flussschiffer, eine um den Kopf geschlungenes Stirntuch trug. Sein Gesicht selbst war kräftig rot und von Schweißperlen überzogen.
“Was tut ihr denn jetzt schon hier? Den Abwasch brauchen wir erst heute Abend. Aber wenn ihr wollt, könnt ihr den Tempelraum schon einmal ausfegen.” “Euer Gnaden, guten Morgen!” grüßte Murixe freundlich - bemüht freundlich. “Euer Gnaden hat gesagt, wir sollen heute bei Euer Gnaden erscheinen. Dabei hatte Euer Gnaden nicht gesagt, wann wir kommen sollen. Aber, Euer Gnaden, wenn wir schon einmal hier sind, könntet Ihr Euch bitte den Husten von Ihre Gnaden Marbolieb ansehen.” “Warum - geht er nicht weg? Ich muss in die Küche, mein Essen brennt an. Der Besen steht hinter der Tür.” Etwas leiser fügte er hinzu. “Ich bringe euch später einen Tee.”
Damit verschwand er, für seine Körperfülle erstaunlich agil, schnell wieder in einem Nebenraum. Heiser hustend krallte die Boroni ihre dürren Finger in die Schultern der Zwergin, ehe sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte. Sie war bleich im Gesicht, und Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. “Hochwürden heißt es.” keuchte sie. “Euer Hochwürden”, rief sie halblaut hinterher, “sie hustet Blut!”
“Weißt Du wo der Tempelraum ist?” fragte sie die Boroni nachdem der Gänsevater verschwunden war. “Da wo der Herd und ihr großer Tisch sind.” keuchte die kleine Geweihte.
Murixe überlegte wo der Herd im Haus war als sie zum Essen eingeladen war, dann nickte sie und zog Marbolieb sanft hinter sich her. Als sie dann im Tempelraum angekommen war, suchte sie nach den Besen und reichte einen der Boroni und nahm den anderen für sich.
“Ich fange hier in der Ecke an und Du kannst dann zusammenfegen.” Marblieb hustete rasselnd zur Zustimmung, nahm den Besen, ging auf die Knie und versuchte, in einer Ecke anzufangen und den Unrat, der sich unter dem Tisch zusammengefunden hatte und in den sich auch die eine oder andere Gänsefeder mischte, zusammenzubekommen. Schnell war sie nicht, und noch dazu immer wieder unterbrochen von neuerlichen Hustenanfällen. Währenddessen begann Murixe deutlich schneller den Rest der Halle auszufegen und alles auf einen Haufen zusammen zu kehren.
Die Boroni mühte sich redlich, sank dann aber erschöpft auf die Bank, als das Auskehren endlich erledigt war. Sie keuchte und rang nach Luft, Hustete und wischte ihre Hände rasch wieder an ihrem Schnupftuch sauber.
Wenig später kam auch wieder die Hochgeweihte des Tempels in den Raum, musterte mit gerunzelter Stirn den wirklich sauberen Boden und stellte ein Tablett mit zwei dampfenden Bechern Tee auf den Tisch.
“Hier. Mein Gatte sagte, er habe euch das versprochen.” “Vielen Dank!” meinte Murixe aufrichtig. “Könnt Ihr Euch vielleicht Ihro Gnaden ansehen, sie hustet Blut”, fügte sie dann bittend hinzu. “Es geht schon.” wiegelte die Boroni erschrocken ab und landete in einem neuen Hustenanfall, während die Traviageweihte mit gerunzelten Brauen und schmalen Lippen sich das Schauspiel besah, aber es tunlichst vermied, die magere Südländerin zu berühren.
“Sie ist erkältet.” sprach sie mit der Zwergin. “ein paar Tage Ruhe kurieren das wieder.” Ihr Naserümpfen besagte, was sie davon hielt. “Dann kommt eben in drei Tagen zum spülen. Ich gebe euch etwas Tee mit.” “Habt Dank, Euer Gnaden!” antwortete Murixe hoch erfreut. “ich werde sie pflegen und wir werden Euch in drei Tagen wieder zu Diensten sein.” Sie nahm den Tee von der Geweihten entgegen und unterstützte Marbolieb auf dem Weg nach Hause.
“Ang… Travia zum Gruße!” verabschiedete sie sich. “Travia mit euch.” wurde sie zur Tür bugsiert und fanden sich rasch in der klirrenden Kälte wieder. “Komm, Marbolieb, wir gehen nach Hause und ich mache Dir den Tee, dann geht es Dir bald besser.”
Sie führte die Boroni heim in die Küche und machte ihr den einen Becher Tee mit den Kräutern, die sie von der Gänsepriesterin bekommen hatte. Und so gelangten die beiden Frauen wieder nach Hause - in die eiskalte Küche des längst wieder in Dunkelheit getauchten Tempels. Doch mehr Nahrungsmittel brachten auch die nächsten Tage nicht, während ihr kärglicher Vorrat Stück für Stück zusammenschmolz.
Marbolieb ließ sich dankbar wieder auf ihrem Strohsack nieder und verbrachte den Tag größtenteils schlafend, so dass Murixe viel Zeit für sich und ihre Gedanken blieb.
Nach all den Wochen lastete die Dunkelheit und die Kälte des Borontempels und der Küche nicht mehr so auf der jungen Angroschna wie in den ersten Tagen. Und so wanderte sie durch den Tempel immer darauf bedacht, dass wenn Marbolieb aufwachte ihr immer etwas von dem Tee und ein paar Happen Grütze einzuflößen. Die Boroni versuchte mehrfach mäßig erfolgreich, sich die Lunge aus dem Hals zu husten, und fiel in einen unruhigen Schlummer. In zwei Tagen stand erneut die Grützeabholung in der Gans an.
Nach drei Tagen der Ruhe und Erholung fragte Murixe Marbolieb am Morgen, ob sie in der Lage wäre aufzustehen, um mit ihr weiter die Fron im Gänsetempel abzuleisten. Die noch immer hustende Boroni nickte. Irgendwann würde sie die Bußarbeit tun müssen, und es war ihr lieber, wenn diese erledigt war.
Und es war notwendig - denn als Murixe in der Grauen Gans vorstellig geworden war, hatte der Koch ihr kurzerhand die Tür vor der Nase zugeschlagen. Ohne Grütze.
Also führte Murixe die immer noch ein wenig schwache Marbolieb abends zum Tempel der Gänsepriester und klopfte an. “Euer Gnaden, wir sind hier wie besprochen.”
“Es heißt Hochwürden.” flüsterte Marbolieb, deren Hand haltsuchend in Murixes Schulter gegraben war, ihr ins Ohr.
Mutter Ganslind dagegen musterte Murixe abfällig und drehte sich ohne ein weiteres Wort um, verharrte dann kurz und meinte über die Schulter “kommt!”. Murixe folgte der Gänsepriesterin in den Tempel und zog die hustenden Geweihte mit sich. In der Küche stapelten sich über einen halben Schritt hoch benutzte Schalen und Schüsseln. “Bein Angroschs langem Bart!” entfuhr es der Angroschna. “Wie lange stapelt sich das den hier schon?”
“Wir haben die Kinder bewirtet.” gab Mutter Ganslind knapp zur Auskunft. “Da ist Seife, im Kessel über dem Herd warmes Wasser. Hier Tücher.” Damit wandte sie sich um und ließ die beiden Frauen allein. Drei Töpfe - einer davon dick verkrustet mit getrocknetem Brei, und gut jeweils drei Dutzend Näpfe, Becher und Löffel sowie einige Schalen und Messer stapelten sich im Waschbottich und einem weiteren davor. Marbolieb rollte sich die Ärmel ihrer Robe auf, damit sie sich diese nicht besudele, und tastete mit immer erstaunteren Augen über die Berge von verschmutztem Geschirr. Dass ein Tempel überhaupt über so viel Ausstattung verfügte!
Sie schnupperte an einem der Töpfe und fuhr dann vorsichtig mit einem Finger über die Innenwand und steckte sich den Finger in den Mund. Süßer Brei. Ein wehmütiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht und ihr Magen brummte ganz vernehmlich. Sie trat an den Spülbottich und begann, das Geschirr so weit zur Seite zu räumen, dass Platz für die Arbeit blieb.
“Holst du das Wasser?” fragte sie Murixe. “Sofort”, nickte Murixe. “Sag mal bitte, warum sind die beiden ‘Hochwürden’ und nicht ‘Ihro Gnaden’?” “Sie sind die Vorsteher eines Tempels.” erklärte die Geweihte.
“Aber das bist Du doch auch!” bemerkte Murixe. “Dann hätte ich doch die ganze Zeit auch Hochwürden zu Dir sagen müssen.”
Marbolieb grinste, ein ganz kurzes Auflachen, das ihr mageres Gesicht aufleuchten ließ, und schüttelte den Kopf. “Ich bin die einzige Geweihte in meinem Tempel. Das wäre etwas sehr vermessen.”
“Das Wasser kocht schon im Kessel über den Herd”, meinte sie und goß das warme Wasser in den Spülstein. “Soll ich abwaschen oder abtrocknen?” “Lass mich waschen.” Ein erneuter Hustenfall quittierte die vielen Worte der Boroni.
“Jawohl, Hochwürden!” frotzelte die junge Angroschna und wartete darauf, dass Marbolieb die ersten Teile abgewaschen hatte - und sie dabei nicht heruntergefallen waren.
Ein leises Brummeln, das abermals in einem Hustenanfall unterging, antwortete der Zwergin, ehe die Geweihte begann, nach und nach methodisch den Berg schmutzigen Geschirrs abzuarbeiten. Murixe trocknete ab und stapelte das Geschirr sortiert auf den Tisch. Nach und nach wurde der riesige Berg immer kleiner.
Es dauerte zwei Stunden, bis der Stapel schließlich wieder sauber und trocken und gut sortiert auf dem Tisch stand.
“Hochwürden!” rief die Angroschna als alles erledigt war und auch der Spülstein gereinigt war und die Handtücher über der Leine hingen. “Wir sind fertig!” “Gut.” Der beleibte Vater des Hauses streckte den Kopf in die Küche und nickte zufrieden. “Hier. Das ist für euch.” streckte er beiden je eine Schale entgegen, in der sich ein paar Löffel Brei befanden. “Dann dürft ihr gehen.” erlaubte er.
“Hochwürden, vielen Dank!” meinte Murixe und schaute in die fast leeren Schalen. “Eure Frau Hochwürden sagte, dass ihr die Kinder verköstigt habt. Waren es die Kinder aus der Hütte?” “Alle Kinder des Dorfes.” nickte Vater Ganslieb. “Warum fragst Du, Kind?”
“Weil Ihr ihnen dann verziehen habt.” ‘Oder der Vater klein beigegeben hatte …’ Marbolieb schnupperte den köstlichen Duft, der aus der Schale aufstiegt, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Wäre Murixe nicht gewesen, hätte sie sämtliche Würde fallenlassen und die Schüssel geleert. Doch gegenüber der jungen Zwergin musste sie ein Vorbild sein - so oder so. Und dies bedeutete, abzuwarten, was sich bei dem Gespräch mit den Hochwürden ergab.
“Die Gans nimmt gerne ihre Küken wieder unter ihre Schwingen.” War die etwas zweideutige Antwort des freundlichen Travienpriesters. “Dann brauchen wir sie nicht mehr durchfüttern”, raunte die Angroschna Marbolieb zu während sie ihre Schüssel leer löffelte.
“Und dann wäre da noch das Thema mit den Rationen für Hochwürden Marbolieb”, fügte sie dann noch an. “Wir bekommen nichts mehr von der Schenke.” “Ich habe gehört, dass jemand gar nicht freundlich zu den guten Leuten dort war.” nickte der gütige Vater. “Vielleicht steht da noch eine Bitte um Entschuldigung aus?” stellte er in den Raum.
“Schließlich ist es Speisekammer und Keller der Gans, aus der alles kommt, nicht wahr?” “Oh, Hochwürden, dass hätte ich nicht erwartet, dass sich die ungehobelten Klötze bei mir entschuldigen wollen”, bedankte sich Murixe freundlich. Vater Ganslieb blickte die Zwergin traurig an und schüttelte den Kopf. “Seht, was ihr zuwege bringt.” gab er den beiden mit. “Gute Nacht, Hochwürden!” verabschiedete sich Murixe, nachdem sie noch die beiden letzten Schüsseln gesäubert hatte, und zog Marbolieb hinter sich her.
“Kommst Du mit zur Gans? Vielleicht kannst Du besser mit diesen ungehobelten Klötzen.” Die Geweihte, die sich glücklich über den Brei hergemacht hatte, wischte sich verstohlen über den Mund und nickte. So gingen die beiden Frauen vom Gänsetempel durch die kalte Nacht über den Dorfplatz zur Gans. Dort klopfte Murixe an die Hintertür und wartete auf die Reaktion von drinnen. Wieder öffnete sich die Tür einen Spalt und das ungnädige Gesicht des Küchenknechts spähte heraus. “Was wollt ihr denn schon wieder?”
Die Borongeweihte trat einen halben Schritt vor, die Hand aber noch immer auf der Schulter der Zwergin. “Wir möchten euch um Verzeihung bitten für unsere unbedachten Worte.” flüsterte sie mit rauer Stimme.
“Ach, ja …” mit einemmal wurde der Knecht unsicher und sah hilfesuchend nach hinten in den Küchenraum. “Meister?” fragte er in den betriebsamen Lärm. “Da ist die Boroni mit ihrer Begleitung für euch.”
“Der hat ja noch ein wenig Respekt” raunte ihr Murixe von hinten ins Ohr und wartete halb hinter Marbolieb stehend darauf, was sich nun ergeben würde. Nach dem knappen Essen war sie sogar bereit sich auf die Zunge zu beißen und sich zu entschuldigen - obwohl sie recht hatte! Wenig später kam der Koch, verschwitzt und abgearbeitet, und beäugte die beiden Frauen. “So, was gibt es?” So weit, dass er sie ins Haus gelassen hätte, ging er indes nicht.
“Unser Ausbruch tut uns leid.” rang Marbolieb nach Luft und begann zu husten, heftig und ausdauernd. Die Arbeit hatte sie ziemlich mitgenommen. “Wir bitten um Eure Verzeihung, Meister.”
Der beäugte die magere Priesterin und die rundliche Gestalt an ihrer Seite. “Nur ihr?” knurrte er. “Ich bitte auch um Verzeihung”, murmelte Murixe halblaut und mit Zähneknirschen. “Nun gut - die Verzeihung könnt ihr haben” schüttelte der Wirt, noch immer missbilligend den Kopf. “Aber wenn ihr wieder etwas von meine Vorräten wollt, dann geht das nur mit Gegenleistung.”
“Wir möchten doch nur unseren Teil für die nächsten Tage bekommen”, antwortete Murixe, die innerlich so langsam zu kochen begann. “Wer nicht arbeitet, braucht auch nicht essen.” knurrte der Wirt.
“Wir haben gearbeitet!” antwortete Murixe, jetzt ein wenig lauter. “Wir haben für die Hochwürden gearbeitet und sie haben gesagt, dass wir jetzt wieder unser Essen bekommen.” Gut, das war jetzt nicht ganz die Wahrheit, aber zu weiterer Fronarbeit - und dann noch für diese Kerle - war die junge Angroschna nicht ohne Versuch bereit.
“Nix da. Wenn ihr etwas wollt, werdet ihr putzen. So lange, bis ich sage, dass es gut ist. In der Küche und Latrine gibt es genug zu tun.” beschied der Wirt die beiden.
Wenn Marbolieb sehen könnte, dann würde sie jetzt sehen, dass die Angroschna rot, tief rot anlief. und sie spürte wie Murixe bebte. Sie haben jetzt für nichts und wieder nichts bei den Gänsepriestern geputzt, denn jetzt wollte der nächste sie zu weiteren Arbeiten herabwürdigen.
“Müssen wir das wirklich tun?” fragte sie leise die neben ihr stehende Geweihte. Marbolieb seufzte. Und hustete. “Ich habe Hunger.” flüsterte sie zurück. “Aye!” grummelte Murixe, aber Marbolieb hatte recht, sie waren in diesem vermaledeiten Dorf vom guten Willen des Wirtes abhängig. “Dann müsst Ihr uns auch reinlassen, sonst können wir nicht arbeiten.” war der letzte Versuch sich ein wenig aufzubäumen.
“Na, dann fangt mit der Latrine an.” Auf einen Wink des Wirtes sprang der Knecht hinzu, der feixend einen Schritt hinter dem Wirt gewartet hatte, und brachte den beiden Frauen einen Eimer, eine Bürste und einen Lappen. Sein überaus zufriedenes Grinsen besagte, an wem diese Arbeit ansonsten hängenblieb.
Murixe riss dem Burschen die Putzutensilien aus der Hand und nahm Marbolieb bei der anderen und ging dem Gestank der Latrine entgegen. Dort angekommen schob sie die Geweihte in ein Ecke der Latrine und sagte: “Du bleibst stehen, das mache ich alleine, denn ich habe uns das Ganze durch meine Unbeherrschtheit eingebrockt, jetzt werde ich es auch auslöffeln.”
Sie begann die Holzbalken der Latrine mit der Bürste zu schrubben - eine nicht wirklich angenehme Arbeit, aber zum Trost begann sie die Bürstenstriche zu zählen.
“Es ist doch nur Schmutz. Lass’ mich helfen.” bat Marbolieb. “Nein, bleib dort, Du machst Dich nur schmutzig!” hörte sie die schrubbende Murixe sagen.
“Ich bin bereits schmutzig und das lässt sich abwaschen.” beharrte die Geweihte und setzte einen erneuten Hustenanfall, der den Atem in ihren Lungen pfeifen ließ, hinzu. “Ich bin schon fast fertig, die Latrine ist ja nicht so groß!” hörte sie aus der hinteren Ecke, dann vernahm sie wie der Putzeimer in die Grube entleert wurde und Murixe seufzend zu ihr zurück kam.
“Und nun?” schlotterte Marbolieb. Es war eisig kalt in der Bretterbude, die die Latrine beinhaltete, und der Mittag war schon lange vorbei. “Fragen wir, ob wir in der Küche spülen sollen?” Mittlerweile war ihr alles egal, solange sie nur in absehbarer Zeit wieder unter ihre Decken kriechen durfte.
“Wenn wir Glück haben, dann stinken wir zu sehr, dass sie uns für heute nach Hause schicken”, überlegte Murixe und bewegte sich mit Eimer in der einen und Marbolieb in der andern Hand zurück zur Hintertür. Dort klopfte sie und hielt den Bürste, Eimer und Schrubber an den ausgestreckten Arme nach vorne.
“Pfui! Ihr stinkt!” nahm der Knecht das Zeug entgegen. “Kommt morgen wieder - aber dann sauber. Dann dürft ihr spülen.” Und übermorgen und überübermorgen und die Tage darauf ebenso.
“Wir haben gearbeitet, dann müsst Ihr uns auch Essen geben!” forderte Murixe von dem Knecht. Der Knecht rümpfte die Nase, als habe er etwas ganz besonders Unangenehmes im Kehrichthaufen entdeckt, und drückte der Zwergin eine Handvoll runzeliger Rüben in die Hand. “Die mögen uns wirklich nicht.” flüsterte die Boroni heiser, als sie auf dem Rückweg waren. “Aber wir haben einen Brei und Rüben”, bemerkte Murixe. “Aber wenn die das jetzt jeden Tag mit uns machen, dann solltest Du doch mal um eine Versetzung bitten. Die sind so respektlos.” Murixe führte die hustende Boroni zurück in den Tempel. “Ich koche Dir noch einen Tee und dann die Rüben”, schlug sie vor als sie wieder in ihrer Küche waren.
“Das braucht so viel Holz.” ein neuerlicher Husten schüttelte die kleine Frau. “Immerhin ist es in den Küchen warm.” Sie wechselte ihre stinkende, schmutzige Robe und schlang sich die Decke um die Schultern.
“Vor dem Frühling kann ich gar nichts tun. Und wenn ich um eine Versetzung bitte, wird Dwarosch mich nicht mehr finden.” Unglücklich ließ sie den Kopf sinken. Doch hier zu bleiben würde keine Lösung auf Dauer sein, da hatte Murixe recht.
“Aber wir können doch nicht bis zum Frühling jeden Tag bei den Gänsen putzen!” meinte Murixe. “Wir müssen das ein für alle Mal regeln und dann können wir bis zum Frühling überleben.” Dann überlegte sie. “Und wenn du versetzt wirst, dann kannst Du doch einen Boten nach Senalosch schicken.”
“Für eine Versetzung muss ich erst einmal mit dem Baron sprechen - und dann mit meinen Kirchenoberen in Punin.” Die Geweihte schüttelte den Kopf. “Solange wir hier eingeschneit sind, geht das nicht. Die Straßen sind erst im Frühjahr wieder offen genug, um einen Boten zu schicken.”
“Wir können zusammen gehen, wenn Du möchtest”, versprach ihr die Angroschna. “Aber bis dahin müssen wir überleben.” Und das hoffentlich nicht als Putzfrauen. Es musste doch möglich sein, diese Dörfler in ihre Schranken zu weisen. Wenn ihr doch nur etwas einfallen würde. Marbolieb hob schicksalsergeben die Schultern. “Tun wir eben, was sie wollen. Es ist nur Arbeit.” “Ja, es ist nur Arbeit, aber sie ist einer Geweihten wie Dir unwürdig!”
“Aber ich habe doch auch in Senalosch geputzt und gespült. Die arme Topaxandrina hätte sonst alles allein machen müssen.” “Aber da warst Du zu Gast, hier bist Du die Geweihte des Dorfes!”
“Die Arbeit ist aber kein Unterschied, Murixe. Weniger war es in Senalosch auch nicht.” Die Boroni hustete erneut und hielt sich den Ärmel vor’s Gesicht. Das sah müde aus - und sehr erschöpft.
Murixe reichte Marbolieb den Becher mit lauwarmen Tee und die Hälfte der Karotten. “Guten Appetit!” Dann knabberte sie an ihren Möhren und kroch in den Schlafsack.
“Schlaf gut!” “Möge Bishdariel deinen Schlaf segnen.”
Stille kroch in die dunkle Küche, und bald hatte der Herr des Schweigens und der Träume beide, Zwerg und Mensch, mit seinem schwarzen Tuch bedeckt.
Ein_neuer_Fruehling
Der Winter ging ins Land - mit viel Arbeit, doch diese immerhin auch in den warmen Küchen des Traviatempels und der ‘Grauen Gans’.
Die Nahrungsmittelversorgung geriet wieder bis fast zu dem Stand von vor des Bauern Haldan Begräbnis - und es zeigte sich auch, dass wohl der alte Burian, der Vater der Kinderschar in der Kate neben dem Boronanger, seine Wirtshausbesuche eingeschränkt haben musste, denn die Kinder waren nun deutlich öfter im Haus der Travia zugange, um dort zu speisen und die Praiostagsschule zu besuchen.
Doch wurden zum Frühling hin die Holzvorräte trotz des emsigen Sparens der beiden Frauen äußerst knapp, so dass es gut war, nicht jeden Tag einheizen zu müssen. Und hin und wieder fiel auch in der Küche der Gans noch eine Portion Brei, eine Scheibe Brot oder Gemüse ab, so dass die beiden sich ihr Leben - irgendwie - einrichteten.
Murixe war das dauernde körperliche Arbeiten zwar nicht gewohnt gewesen, aber mit der Zeit stellte sie sich darauf ein. Das was sie die ganze Zeit nur schwer überwinden konnte, war die ständige Verachtung die die Dorfbewohner Marbolieb entgegenbrachten. Aber so oft sie es Marbolieb sagte, so oft wurde sie von der Boroni zurück gepfiffen.
Doch was hätte diese auch tun sollen? Dass sie unter dieser Behandlung litt, war auch der Zwergin deutlich. Einen Ausweg hatte die Boroni indes auch nicht gefunden.
Und so taute draußen langsam, immer wieder aufgehalten von Herrn Firuns grimmem Atem, der Schnee, und mit dem Mond der Hüterin des Lebens kam auch einer allererste Ahnung von Frühling ins Land.
Murixe beobachtete die Veränderung des Wetters mit gemischten Gefühlen. Zum einen war sie froh, wieder aus diesem Dorf heraus zu kommen, zum anderen fühlte sie sich nach diesem Winter mit der Boroni verbunden und wollte sie in dieser Umgebung nicht alleine lassen.
Als sie eines Morgens aus dem Fenster blickte, sagte sie mit unbestimmten Gefühl im Bauch: “Es taut!” “Bald ist Frühling.” stimmte Marbolieb zu. “Du bist nicht glücklich darüber?” Die junge Frau verschränkte ihre Hände über ihre Knie und lauschte aufmerksam. Ihr Husten war weniger geworden, doch nicht ganz verschwunden. Nichtsdestotrotz spielte ein aufrichtiges Lächeln über ihre Lippen.
“Ich weiß nicht so recht.” kam die langsame Antwort von Murixe, die immer noch aus dem Fenster schaute. “Ich lasse Dich nur ungern alleine mit diesen Dörflern. Sie sind einfach nur gemein zu Dir!” “Du bist ja sicher noch ein paar Tage hier, oder?” tröstete die Geweihte die Zwergin und sich. Ihr war auch nicht besonders wohl bei der Aussicht, bald wieder ganz allein hier im Tempel zu sitzen.
“Und wenn wir gemeinsam nach Punin reisen?” überlegte Murixe. “Dann kannst Du Deine Versetzung beantragen und ich bezeuge, dass die hier alle frech und respektlos sind.” “Dann müssen wir aber noch ein bißchen warten, bis die Straßen alle offen sind.” Marbolieb überlegte einige Augenblicke. “Bist Du sicher, dass du die weite Reise tun willst?”
“Ich würde es für Dich tun”, nickte die Angroschna schuldbewusst, schließlich hatten ihre Äußerungen den Konflikt zwischen den Dorfbewohnern und Marbolieb erst zugespitzt. “Du musst es aber nicht tun, wenn Du nicht willst, Murixe. Ich habe schon viel zu viel von Dir verlangt.”
“Mutter hat mir geboten solange bei Dir zu bleiben wie es nötig ist”, antwortete die Angesprochene. “Und ich würde es als notwendig erachten Dich zu begleiten. Wenn ich darf … .”
“Ich würde mich sehr freuen. Außerdem finde ich den Weg allein sowieso nicht. Und mit einer Freundin ist er kurzweilig.” Die Wangen der Boroni färbten sich leicht. War die Zwergin eine Freundin? Sah sie sich selbst als eine? “Ich wäre gerne Deine Freundin!” freute sich die junge Angroschna. “Müssen wir etwas planen, bevor wir aufbrechen? Müssen wir den Gänsepriestern Bescheid sagen?”
Marbolieb strahlte. “Dann bist du meine erste.” freute sie sich, ehe sie auf die praktischen Dinge zurückkam. “Zuerst einmal müssen wir warten, bis es taut. Und dann sagen wir ihren Hochwürden Bescheid. Bei einer Reise in Kirchenangelegenheiten werden sie uns nicht hindern … können.” Auch wenn die beiden Traviapriester ganz nicht erbaut über die Aussicht sein würde, wieder einmal für die Grablege zuständig zu sein. Ganz sicher nicht.
Marbolieb konnte spüren wie Murixe aufgeregt hin und her ging. “Ich freue mich! Und kann es gar nicht erwarten, dass der Frühling kommt!” Dann drehte sie sich wieder der Geweihten zu. “Aber bis dahin müssen wir wohl noch ein wenig Arbeiten, um Essen zu erhalten.”
“Das müssen wir. Aber das schaffen wir.” lächelte Marbolieb zurück.
~
Und so verstrichen Tage und Wochen, während derer die Frau Peraine mehr und mehr Grund ihrem grimmen Bruder abrang, die Bäche anschwollen und tosend und sausend zu Tal donnerten, unvorsichtiges Vieh und die Böschungen der Ufer mit sich rissen - und die ersten mutigen Wanderer wieder ihren Weg über die von Eis, Schnee und Schmelzwasser malträtierten Straßen suchten.
Und einen weiteren Reisenden mit sich brachten.
Unter dem Getrappel von Hufen und dem Klirren von Rüstungen näherten sich drei bewaffnete Reiter dem Tempel, hielten davor an und wenige Augenblicke später bogen zweie davon in den Ort ab, während der dritte von seinem Ross, einem tiefschwarzen Tier, sprang und zielstrebig auf den Tempel zuhielt.
Als Murixe das Hufgetrappel hörte, lief sie zum Fenster und versuchte den Besucher zu erkennen. “Marbolieb, da kommt ein Reiter!”
Sie schaute weiter aus dem Fenster um den Besucher besser zu erkennen. Der Reiter, der sein Ross am Tor angebunden hatte, war gleichfalls komplett schwarz gekleidet. Er trug hohe Reiterstiefel, einen langen schwarzen Reiterumhang und darunter blitzte ein Waffengurt auf. Ein Mann war es, mittelgroß und schlank, mit bleicher Haut und schwarzem Haar - und einer Augenklappe über dem linken Auge. Er öffnete die Tempeltür und verschwand die fünf Stufen nach unten in den Tempelraum.
“Es ein Mann mit einer Augenklappe, ganz in schwarz gekleidet”, verkündete Murixe ihre Beobachtungen. “Und jetzt ist er in den Tempel getreten. Kennst Du ihn? Sollten wir ihn begrüßen?”
Die Augen der blinden Geweihten weiteten sich. “Mit einem dünnen Bart und Handschuhen?” “So schnell konnte ich das nicht sehen”, meinte Murixe schulterzuckend, um dann aufgeregt nachzusetzen: “Also kennst Du ihn? Wer ist es?”
“Der Baron.” In der Stimme der Geweihten schwang irgend etwas zwischen Entsetzen, Achtung und Schrecken. “Ein Baron?” fragte Murixe. “Dann müssen wir ihn doch begrüßen?!”
Murixe schaute an sich herunter und klopfte sich hier und da noch ein wenig Staub vom Kleid, dann wandte sie sich Marbolieb zu und machte bei ihr dasselbe. Sehr viel half es nicht - allen Kleidern sah man das Waschen in kaltem Wasser und ohne Seife und den Spüldienst in Tempel und Gasthaus an. Dennoch war es so gut, wie es die Zwergin auf die Schnelle bekommen konnte.
“Komm schnell!” drängte die Geweihte. “Wir dürfen ihn nicht warten lassen!” Murixe nickte, fuhr sich noch einmal durch die Haare und schob dann Marbolieb vor sich her in den Tempel. “Du musst reden …”
Der schwarz gekleidete Mann hatte sich vor dem Altar auf ein Knie niedergelassen und den Kopf gesenkt. Sein weiter Reitermantel war nach hinten geschwungen und der schwere, dichte Stoff lag in großzügigen Falten. Darunter offenbarte er den nachtfarbenen Habit eines Borongeweihten, der nur bedingt zu dem Wehrgehänge an seiner Seite passen wollte. Seine rabenschwarzen Haare, die sich an den Schläfen bereits grau färbten und über der Stirn eine weiße Strähne aufwiesen, trug er lang und im Nacken mit einer Schleife zu einem Almadanerzopf gebunden, was seine scharf geschnittenen Gesichtszüge deutlich hervorhob. Geraume Zeit verbrachte er mit stiller Andacht, ehe er den Kopf hob, aus seinem verbliebenen Auge die beiden Frauen fixierte und ihnen zunickte.
Mit einer geschmeidigen Bewegung, welche einen gut trainierten Kämpfer verriet, erhob er sich und schritt in Richtung des Nebenraumes, selbstverständlich erwartend, dass beide folgen würden. “Er ist auch ein Priester?” raunte Murixe der Boroni leise zu. Dann zog sie Marbolieb hinter dem Baron her. “Er will, dass wir ihm folgen.”
“Komm.” flüsterte die Geweihte zurück. “Er hat vor kurzem erst seine Weihe erhalten.” erklärte sie in einer Lautstärke wenig mehr als ein leichter Atem. Während Murixe die Geweihte führte, fragte sie noch: “Wie spreche ich ihn den an? Euer Gnaden oder Euer Hochgeboren?”
“Hochgeborene Gnaden.” Wisperte die Boroni, ehe sie beide zu einem Halt in dem Nebenraum kamen, in dem der Mann auf sie wartete. “Euer Gnaden.” grüßte er sie mit einem leichten Kopfnicken. Er hatte eine tiefe und durchaus angenehme Stimme - allerdings war irgendetwas an ihm, was dafür sorgte, dass sich Murixe die Härchen auf den Armen aufstellten.
Schüchtern begrüßte sie den Baron ebenfalls mit “Hochgeboren Gnaden” und versuchte einen Knicks. Dann zog sie sich in eine Ecke des Raums zurück. Das Auge des Mannes streifte sie kurz - ein eiskalter Blick. Murixe fühlte sich an das lidlose Starren einer Schlange erinnert.
Dann wandte er sich wieder der Boroni zu, die in Ermangelung der Zwergin an ihrer Seite mitten im Raum stehen geblieben war. Er musterte sie eingehend und zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine steile, äußerst ungnädige Falte.
“Was tut ihr hier, Marbolieb?” fragte er schließlich mit einer Stimme, die deutlich weniger Wärme besaß als das Eis der gestrigen Nacht.
Murixe konnte wachsende Verwirrung auf den Zügen ihrer Freundin lesen.
“Dwarosch hat mich im Herbst hergebracht, wie ihr es von ihm verlangt habt.” antwortete sie schließlich mit unsicherer Stimme. “Seitdem bin ich hier. Und Murixe hilft mir.”
“Eure Dienerin?” Keine gnädige Feststellung. “Hat sie der Oberst bestellt?” “Nein, Euer Hochgeboren.” Die Boroni schluckte. “Sie ist die Tochter der Bergvögtin von von Ishna Mur.”
Langsam wandte der Baron sich der Zwergin zu und musterte sie eingehend und ausdruckslos vom Scheitel bis zur Sohle. “Und du bist freiwillig hier?” “Natürlich bin ich freiwillig bei Hochwürden Marbolieb.” “Und weshalb?” Ein Freund vieler Worte war der Adlige offensichtlich nicht. “Mutter war der Meinung, dass ich hier viel lernen könnte”, war die ebenfalls nicht sehr lange Antwort Murixes, sie war immer noch von dem in schwarz gekleideten Mann eingeschüchtert. Der Adlige nickte knapp und Murixe fand sich aus seiner Aufmerksamkeit entlassen.
Er strich sich über den Bart und betrachtete die Geweihte überlegend - und mit etwas, in dem ein sehr wohlwollender Betrachter einen Hauch Mitleid hätte erahnen mögen.
“Ich habe ihm nichts dergleichen befohlen.”
Verständnislos blickte Murixe zwischen den beiden hin und her. Marbolieb stand sehr, sehr still und Murixe sah, wie ihr Stück für Stück sämtliche Farbe und alles Leben aus dem Gesicht wich. Sie schwankte, als könnten ihre Knie ihr Gewicht nicht mehr tragen, und ihre Lippen bewegten sich, ohne einen Ton hervorzubringen. Ohne weitere Vorwarnung sackte sie in sich zusammen, und ihr Bruder im Glauben schaffte es nur dank seiner raschen Reflexe, die magere Frau vor dem Sturz auf den Boden zu bewahren. Auch Murixe stürzte auf die zusammenbrechende Boroni zu, kam aber zu spät. Daher zuckte sie wieder zurück als der Priester sie anblickte.
“Hier, nimm’ sie.” reichte der die ausgemergelte Gestalt an die Zwergin weiter - in der Hoffnung, dass diese mit der kraftlosen Frau das tat, was Frauen üblicherweise so taten. Was auch immer das war.
Die schaute den Boroni nur erst fragend an und hob dann die zwar größere aber leichtere Frau vorsichtig hoch und meinte: “Ich lege sie ins Bett … Euer Hochgeboren.” Dann brachte sie die bewusstlose Priesterin in die Küche und bettete sie auf ihr Lager. Die Geweihte hatte die Augen geschlossen, doch ihre Atem verriet, dass sie wieder zu Bewusstsein gekommen war.
“Marbolieb”, raunte ihr die Angroschna zu. “Marbolieb, wach auf!” Die Angesprochene stöhnte leise und drehte sich zur Wand.
“Was ist Dir? Kann ich etwas für Dich tun? Können wir den Baron einfach so im Tempel stehen lassen?” brabbelte sie überstürzt los. “Er hat es gar nicht verlangt.” flüsterte Marbolieb tonlos. “Murixe, er wollte nicht, dass ich herkomme.” Sie starrte blicklos an die Wand vor ihrer Nase. “Er hat mich einfach fortgebracht wie einen blinden, lahmen Hund.”
Verwirrt blickte sie die traurige Boroni an. “Wer ‘er’? Der Baron oder der Oberst?” Betreten nickte die Geweihte und schluckte schwer. “Ja.” Die Verwirrung von Murixe stieg weiter, aber sie kam zu dem Schluss, dass Marbolieb in ihrem aktuellen Zustand keine besser Antwort geben würde.
Daher versuchte sie nochmal auf den Baron zurück zu kommen: “Er ist immer noch im Tempel.” “Sag ihm, er soll gehen.” flüsterte die magere Frau.
Murixe schluckte, dann nickte sie der Freundin zu und ging zögernd zurück in den Tempel. Dort hustete sie leise, um die Aufmerksamkeit des Barons auf sich zu ziehen: “Euer Hochgeboren ...” Der war scheinbar in Betrachtung der hölzernen Marbostatue neben dem Altar - ein Geschenk Dwaroschs vor einigen Jahren, wie Murixe von Marbolieb erfahren hatte - versunken und wandte sich langsam und mit vollkommen ausdruckslosem Gesicht um, als die Zwergin ihn ansprach.
Interessiert hob er eine Augenbraue, genug, dem Mädchen zu bedeuten, zu sprechen. “Ihro Gnaden Marbolieb wünscht, dass Ihr geht …”, meinte sie verlegen. Dann holte sie tief Luft und fügte noch hinzu: “Euer Hochgeboren, könnt Ihr sie von hier weg bringen, bitte!”
Der alte Baron betrachtete die Zwergin wie ein seltsames Wesen, das ihm von unter einem Stein entgegenblickte. Nun besaß sie seine volle Aufmerksamkeit. “Weshalb?” “Sie wird von allen verachtet.” antwortete die Angroschna möglichst ähnlich knapp.
“Will sie fort?” “Ja, Herr!” Der Einäugige nickte bedächtig. “So sei es.”
Er warf der Zwergin noch einen weiteren Blick zu. “Wie heißt Du?” “Murixe groscha Murloschtaxa” antwortete sie knapp. “Die Tochter des Bergvogts von Ishna Mur und Herrn von Niacebrasalm.” Der Baron nickte erneut, die junge Frau verordnet und einsortiert.
“Ich hole sie später ab.” erklärte er und wandte sich in Richtung Ausgang. “Kann ich sie begleiten?” rief Murixe leise hinterher. In der Tür verhielt der alte Geweihte und wandte sich nochmals zu Murixe. “Punin ist nichts für dich, Kind. Doch es ist ihre Heimat.” Fast warm klang seine Stimme, freundlicher allemal, als die Zwergin sie bisher erlebt hatte.
“Aber sie ist doch blind, Euer Hochgeboren.” “Ich werde sie hinbringen.” Ruhig und fast sanft, doch von einer Entschiedenheit, die keinen Widerspruch erlaubte.
“Ja, Euer Hochgeboren, wann?”
“Bald.” Mit diesen Worten verließ der schwarz gekleidete den Tempel, und die Tür schloss sich hinter ihm, das letzte Licht aussperrend.
~* Ende *~