LH9-Für Ingerimm

9. Akt: Für Ingerimm – Die Flucht

(Nacht vom 13. zum 14. Travia 1045 BF)

  • Ereignisse der Nacht in Lützeltal, darunter die Verfolgung von Gudekar und Meta.

Ein Kapitel der Lützeltaler Hochzeit


Die Flucht

Der Anconiter Gudekar von Weissenquell hatte nun endgültig mit seiner Frau Merle gebrochen und sie mit einem Zauber belegt, um seine Flucht zusammen mit seiner Geliebten, der Ritterin Meta Croy zu decken. Auf dem Weg vom Hof der Familie Borkmund zurück ins Dorf wurden sie noch von anderen Gästen der Hochzeit aufgehalten, so dass die Zeit bis zur Entdeckung knapp wurde. Dennoch, entschied Gudekar, musste er vor der Abreise noch einer Freundin in Not helfen.

Eine Gauklerin zu retten

Gudekar lenkte das Pferd, auf dem er und seine Geliebte Meta saßen, in eiligem Ritt auf den Dorfplatz zu. Gespenstische Stille war in dem Dorf eingekehrt. Alle Bewohner hatten sich anscheinend in ihre Häuser zurückgezogen und auch die Gäste der Familie Weissenquell waren nicht mehr unterwegs. Eigentlich sollte am Abend ein rauschendes Fest auf dem Dorfplatz stattfinden. Doch nach dem Sturm und erst recht nach der Entführung der Braut, waren die Feierlichkeiten abgesagt worden. Aus einigen Häusern drang Licht auf den Dorfplatz. Auch in der Zehntscheuer flackerte das Licht des Feuers und es drangen lebhafte Laute von dort auf den Platz. Die Scheune schien belebt zu sein. Dort hatten sich etliche Leute versammelt, doch wusste Gudekar nicht, dass die Vögtin Witta dort alle Bewohner und Gäste aus dem Gutshof der Weissenquells hin evakuiert hatte, nachdem sie im Herrenhaus dämonischen Einfluss fürchtete.

Auch das Haus des Dorfschulzen war noch beleuchtet, obwohl keine Wachen mehr vor dem Haus standen. Gudekar vermutete aber, dass die Zelle, in der Doratrava dort gefangen gehalten wurde, im Inneren des Hauses bewacht wurde. Auch in Doratravas Zelle leuchtete ein Kerzenlicht.

Als das Pferd den Dorfplatz erreichte, hielt Gudekar es an und ließ sich aus dem Sattel gleiten. “Von hieraus besser zu Fuß, Meta! Das Hufgetrappel ist zu laut. Wir binden das Pferd hier vor dem Gasthaus an und gehen schnell zu Doratrava, einverstanden? Danach holen wir unsere Pferde aus Vaters Stall.”

„Hoffentlich sind unsere Pferde noch da“, sagte Meta, während sie den braven Wallach anband. „Du glaubst, oder weißt, dass Doratrava im Haus des Schulzen da ist. Hm... die sind hier alle irre geworden. Sicher wird sie gut bewacht und du wirst schon als nächster gesucht.“ Sie ahnte, dass Gudekar wie immer keinen Plan hatte. „Wie sollen wir rein? Und wenn wir es schaffen, zu ihr zu kommen, wie befreien wir sie? Du wirst sicher kaum noch zaubern können. Gib mir bitte ein paar Hinweise. Bevor es losgeht.“ Doratrava könnte theoretisch als Halbelfe zaubern. Eher unwahrscheinlich, sie war verletzt und hatte sicher keine Energie mehr dazu. Aber so blöd waren ihre Wächter sicher nicht. Irgendwie hatten sie das unterbunden. „Meinst, ich könnte sie irgendwie ablenken? Die, die aufpassen? Bisher kennt man mich hier nur als deine unfähige Hure.“

Gudekar war, was Doratravas Unterbringung anging, eher optimistisch. „Ach, das wird schon. Kalman hat Doratrava vorhin in die Zelle beim Dorfschulzen gebracht. Und es wirkte nicht so, als ob sie sie da wieder rauslassen wollten heute Nacht. Ich war ja vorhin schon bei ihr, um sie zu heilen. Wir können, wenn wir vorsichtig hinschleichen, erstmal von Außen mit ihr reden. Die Zelle hat ein vergittertes Fenster zum Platz hin. Vielleicht weiß sie, welche Wachen gerade auf sie aufpassen.“ Das Problem seiner schwindenden Astralkraft hatte Meta leider richtig eingeschätzt. Einen Notfalltrank hatte er noch. Das musste reichen, wenn es sein musste. Der Magier schaute Meta etwas liebevoll besorgt an. „Du bist aber nicht unfähig. Sonst hätte dich Thymon nicht zur Ritterin geschlagen. Und du bist erst recht keine Hure. Du bist jetzt meine Frau.“

„Und du bist mein Mann. Immer.“ Mehr konnte sie nicht sagen, ihr wurde in sich so wohlig und Gudekar sah eine kleine Träne, die sich Meta etwas verschämt schnell aus dem Augenwinkel rieb.

***

Doratrava hatte es sich, so gut es ging, in ihrer Zelle bequem gemacht. Immer wieder musste sie an die furchtbaren Ereignisse des Tages zurückdenken, die letztlich in den irrsinnigen Anschuldigungen mündeten, die Eoban gegen sie vorgebracht hatte und auf die Kalman und einige wenige andere angesprungen waren. Doch es gab genügend andere Freunde, die noch immer zu ihr hielten. Dies hatte sich auch während des Verhörs gezeigt, dem sie sich stellen musste. Doratrava hoffte noch immer auf die Gerechtigkeit und ein faires Urteil von – ja von wem eigentlich? Wer würde am nächsten Tag über ihr Schicksal entscheiden? Die Vögtin? Der Edle? Das Tempelpaar aus Albenhus?

Doratrava suchte eine bequeme Stellung auf der harten Liege in der Zelle. Eigentlich sollte sie jetzt schlafen, um neue Kräfte zu schöpfen, und erschöpft genug dazu war sie auch. Sie war seit vor dem Morgengrauen auf den Beinen, hatte fast nichts gegessen, war stundenlang durch den Wald gerannt, hatte sich Sorgen um Merle gemacht und war dann ... irgendwo gelandet, um dort Angst und Schmerz, aber auch das höchste Glück zu erleben, war schwer verletzt zurückgekehrt, nur, um dann durch Eobans haltlose Anschuldigungen in dieser Zelle zu landen. Sie fühlte sich ausgelaugt, verbraucht, sowohl körperlich als auch geistig, und eigentlich hätte sie einschlafen müssen, kaum, dass sie die Augen schloss. Aber das Gegenteil war der Fall, das Schließen der Augen führte nur dazu, dass die aufwühlenden Ereignisse des Tages einen wilden Reigen durch ihren Geist tanzten, immer und immer wieder, und die Angst in ihr schürten, wie es wohl weitergehen würde.

Seufzend schlug Doratrava die Augen nach einem neuerlichen, vergeblichen Versuch wieder auf und erhob sich von der Liege, um in der kleinen Zelle auf und ab zu gehen. Kurz überkam sie der Drang, mit aller Kraft an die Zellentür zu hämmern, aber diese Anwandlung verging schnell wieder, versprach sie sich doch nichts davon. Stattdessen setzte sie sich wieder auf die Liege, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und lauschte in die Nacht hinaus.

Nachdem Meta das Pferd angebunden hatte, nahm Gudekar seinen Magierstab aus der Halterung am Sattel und führte seine Ritterin hinter Limrogs Schmiede entlang zum Haus des Dorfschulzen. Er wagte es nicht, über den Platz zu gehen,um nicht doch gesehen zu werden. Am Schulzenhaus bewegte er sich möglichst im dunklen Schatten an der Hauswand entlang bis zum Fenster von Doratravas Zelle. Der Magier flüsterte leise zu Meta: „Schatz, halt du Wache, falls jemand kommt, in Ordnung?“

Gudekar hatte Meta zuvor als seine Frau bezeichnet. Das löste ein Prickeln und Freude in ihr aus. Angespannt und schweigend war Meta ihrem Mann gefolgt bis zu dem erwähnten Fenster. Sie suchte sich einen Platz, von dem sie einen guten Überblick hatte und löste ihr Schwert. „Ja, Cariño. Aber beeil dich.“

Dann schlich Gudekar bis zum Fenster, richtete sich auf und flüsterte durch die Gitter: „Doratrava, seid Ihr noch dort drin?“

Doratrava erkannte trotz des Flüsterns die markante Stimme des Anconiters.

Unwillkürlich zuckte die Gauklerin zusammen, als sie die bekannte Stimme hörte, hatte sie doch überhaupt nicht damit gerechnet, von außerhalb der Zelle angesprochen zu werden. Doch sie fing sich schnell wieder und sprang auf, dann machte sie einen Schritt zu dem vergitterten Fenster und versuchte, irgendetwas zu erkennen. An Gudekars Flüstern erkannte sie, dass er wohl keineswegs auf einen gemütlichen Plausch aus war.

“Wo soll ich denn sonst sein?”, zischte Doratrava dann leise, aber harsch zurück, in einem Aufwallen von Ärger. Einerseits war sie irgendwie dankbar, dass da jemand war, der sie nicht aufknüpfen wollte (hoffte sie zumindest), andererseits war Gudekar auch irgendwie mitverantwortlich, dass sie hier saß. Aber er hatte ihr auch geholfen und sie geheilt. Der Magier war so … zwiespältig in dem, was er tat, so dass es ihr schwer fiel, eine bestimmte Haltung, ein bestimmtes Gefühl ihm gegenüber zu entwickeln. Dass sie aber inzwischen nicht fortgeflogen war, hätte er sich aber denken können. Oder … vielleicht auch nicht, nach dem, was im Herrenhaus passiert war.

“Was ist? Warum bist du hier?”, flüsterte sie dann, schon etwas ruhiger.

“Ich bin gekommen, um Euch da rauszuholen”, erklärte er kurz. “Wisst Ihr wie viele Wachen – und wer – auf Euch Acht geben?”

Das verschlug Doratrava erstmal die Sprache, so dass sie einige Augenblicke brauchte, bis sie antwortete: “Ich weiß nicht genau, anhand der Geräusche würde ich sagen, einer oder höchstens zwei, aber wer das ist … keine Ahnung. - Aber Gudekar …wenn du mich befreist, wird Eoban dich in der Luft zerreißen, und da hier alle auf ihn zu hören scheinen, nicht nur er. Bist du dir sicher, du weißt, was du da tust?”

Dieses Angebot kam so überraschend für Doratrava, dass sie selbst erst einmal darüber nachdenken musste. Ihre Frage diente daher neben dem Erkunden von Gudekars Absicht mindestens genauso dazu, Zeit zu gewinnen.

“Um mich macht Euch mal keine Sorgen, ich muss so oder so noch heute abreisen. Ich habe einen schlimmen Fehler gemacht. Euch zu retten und mitzunehmen macht es weder schlimmer noch besser.” In Gudekars Stimme schwang Frust, Trauer und Hoffnungslosigkeit. “So kann ich Merle gegenüber wenigstens noch das Versprechen einlösen, Euch zu helfen.”  

So schlimm konnte Gudekars Fehler wohl nicht sein, sonst säße er hier mit ihr in der Zelle, schoss es Doratrava durch den Kopf. Andererseits … war er Magier und Mitglied eines angesehenen Ordens, sie war nur eine Tänzerin. Müßige Gedanken.

“Was genau hast du Merle gesagt? Oder hat sie dich um etwas gebeten?”, wollte Doratrava nun wissen, während der Gedanke an ihre Geliebte schmerzende Sehnsucht in ihrer Brust auslöste.

„Glaubt Ihr, ich kann mich noch an den genauen Wortlaut erinnern?“ Gudekar lachte verächtlich auf. „Ich habe ihr aber versprochen, Euch zu helfen, bevor, nun, bevor sie eingeschlafen ist. Wenn Ihr wollt, nehmen Meta und ich Euch mit bis Almada. Von dort aus müsstet Ihr Euch selbst durchschlagen.

Gudekars Tonfall gefiel Doratrava nicht. Die Situation kam ihr noch immer seltsam vor, unwirklich. “Eingeschlafen?”, stellte Doratrava die nächste Frage. So spät kam es ihr noch gar nicht vor, und es waren auch noch Geräusche aus dem Dorf zu hören. “Aber ihr geht es gut?” Gleichzeitig überlegte sie fieberhaft, ob sie Gudekars Angebot annehmen sollte. Ihr war schon klar, dass man das als Schuldeingeständnis werten würde, wenn sie floh, und ob sich das wieder geraderichten ließ, zum Beispiel, weil sie sich an die Herzogenmutter wandte, konnte sie nicht beurteilen. Andererseits waren ihr hier drin die Hände gebunden und sie war den Entscheidungen der Anwesenden völlig ausgeliefert, ein unerträglicher Zustand. Was also tun?

„Ja, ja, es geht ihr gut, so weit. Sie wird sich erholt haben, wenn sie aufwacht“, wiegelte Gudekar ab. „Wie ist es, wollt Ihr uns begleiten? Dann müssen wir uns sputen. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.“

Doratrava runzelte die Stirn. Es gefiel ihr nicht, wie Gudekar von Merle sprach. Überhaupt kam ihr das Drängen des Magiers so langsam seltsam vor. “Wie willst du mich eigentlich hier herausholen?”, wollte sie nun wissen. “Ich will nicht, dass jemand dabei verletzt wird. Die Wachen, wenn es nicht gerade Eoban selbst ist, was ich nicht glaube, können ja nichts dafür, dass sie mich bewachen müssen. Und … warum hast du es so eilig? Wäre es nicht besser, zu warten, bis sich hier im Dorf nichts mehr regt?”

Fragen. Soviele Fragen auf einmal. Womit sollte er beginnen? „Keine Sorge, ich will auch nicht, dass jemand Unschuldiges zu Schaden kommt, wenn es nicht sein muss.“ Gudekar hoffte, dass die Dorfbüttel Wache hielten. Sie würde er problemlos überzeugen können. Immerhin kannte er Nerek und Hadelin schon lang genug. Sollte es jemand Fremdes sein, würde es schwieriger werden. „Ich fürchte, je länger wir warten, umso schwieriger wird es. Ich fürchte, man wird uns jagen.“

“Ist Eoban nicht dein Freund?” Doratrava hörte nicht auf mit den Fragen, immerhin konnte sie nicht ausschließen, in eine Falle gelockt zu werden. Vielleicht war Gudekar beeinflusst, so wie Eoban möglicherweise auch. “Wenn du mich hier rausholst, wird er dich ganz bestimmt jagen!”

„Man wird mich so oder so jagen.“ Gudekars Blick wurde ernst. „Wenn ich heute noch verhindern kann, dass man Euch unberechtigter Weise etwas antut, dann tue ich wenigstens noch etwas Gutes.“

“Aber warum? Warum sollte man dich jetzt plötzlich jagen? Was hast du getan? An der … Sache mit Meta kann es doch nicht liegen, das weiß doch jetzt schon jeder …”

„Ich habe etwas getan, was ich nicht hätte tun dürfen. Sobald das jemand erfährt, bin ich nicht mehr sicher“, gab Gudekar reumütig zu. Dann wurde er jedoch pampig. „Soll ich Euch nun hier rausholen oder nicht? Um lange über meine Verfehlungen zu lamentieren fehlt mir wahrlich die Zeit.“

Für den Moment blieb Doratrava stumm und überlegte. Wenn Gudekar etwas so schlimmes getan hatte, dass er nun dachte, fliehen zu müssen, würde sie ihre Situation womöglich noch verschlechtern, wenn sie mit ihm ging. Aber lange diskutieren konnte sie auch nicht mehr, irgendwann würde das Geflüstere auffallen oder jemand kam um die Ecke und entdeckte Gudekar da draußen.

Oder es war eben doch eine Falle. Oder, oder … sie musste sich entscheiden. Doratrava schloss die Augen, versuchte ihr rasendes Herz zu beruhigen und dachte nochmal über die Situation nach. Sie hatte letztendlich niemandem ernsthaften Schaden zugefügt außer sich selbst, und ohne die Beschuldigungen Eobans und die ganze Paranoia wegen dem Pruch würde sie vermutlich gar nicht in dieser Zelle sitzen. Und sie hatte Fürsprecher, mindestens Merle und Tsalinde. Bei Nivard war sie sich im Moment nicht ganz sicher, und auch Liana hatte sie enttäuscht, aber diese beiden würden sicher nicht aktiv ihre Verurteilung betreiben. Auch Rionn vertraute sie, und der Edle Friedewald hatte sich bisher ebenfalls nicht so verhalten, als würde er sie auf den Scheiterhaufen wünschen. Und Rahjel, auch dieser traute ihr zwar nicht so recht, würde sie aber eher in die Obhut der Rahjakirche geben als sie einem Prozess zu überantworten.

Alles in allem: bei nüchterner Betrachtung hatte sie eigentlich nichts zu befürchten. Nur, dass hier fast niemand mehr zu einer nüchternen Betrachtung fähig zu sein schien. Das war das Risiko, das sie einging, wenn sie hier blieb. Aber Gudekars Fluchtangebot erschien ihr zunehmend halbseiden, je länger sie darüber nachdachte, und wenn der Magier keine böse Absicht verfolgte, wenn er nicht beeinflusst war, dann war das alles zumindest sehr planlos.

“Gudekar … vielen Dank für dein Angebot”, sprach sie schließlich leise, “aber wenn ich jetzt fliehe, hat Eoban gewonnen und es sieht auch für alle anderen so aus, als hätte ich mir etwas zuschulden kommen lassen. Ich … denke, ich bleibe lieber hier und hoffe darauf, dass sich alles klärt, wenn alle mal darüber geschlafen haben.”

Gudekar verstand. “Gut, dann soll es so sein. Ich wünsche es Euch, dass es sich klärt. Für Euch. Für mich sehe ich keinen anderen Ausweg.” Gudekar machte eine kurze Pause. “Vielleicht nutzt Euch meine Tat und meine Flucht zumindest insofern, dass die Aufmerksamkeit von Eurem Handeln auf meine Taten gelenkt wird.” Wieder wartete Gudekar einen Moment, bevor er weitersprach. “Ich hoffe wir sehen uns eines Tages wieder. Und ich hoffe, das wird nicht in den Niederhöllen sein. Lebt wohl, Doratrava!”

“Ich für meinen Teil gedenke, den Niederhöllen fern zu bleiben. Leb’ wohl, Gudekar. Ich hoffe, du weißt, was du tust.” Und tust es aus freiem Willen, setzte Doratrava in Gedanken hinzu.

Wusste er, was er tat? Gudekar war sich nicht sicher.

~ * ~

Die Pferde zu holen

“Komm, Meta! Wir holen unsere Sachen!” forderte der Anconiter seine Geliebte auf, die während seines Gesprächs mit Doratrava tapfer Wache gestanden hatte. Nun griff er ihre Hand und führte sie in den Schatten der Häuser. “Geh du schnell deine Tasche aus deinem Zimmer im Brauhaus  holen, ich eile zu Vaters Hof und hole die Pferde.

Verdutzt aber nicht überrascht sah Meta Gudekar mit offenem Mund etwas verwirrt an. „Ah, sie kommt nicht mit.“ Es waren noch so viele Fragen offen, doch die mussten warten. Bis auf eine. „Du wirst sicher kommen? Du lässt mich hier nicht alleine?“ Sie wusste nicht, was er am Ende mit Merle besprochen hatte. Aber sie vertraute darauf, dass er wirklich mit ihr und nicht mit seiner anerkannten Frau alleine würde fliehen wollen. Dafür waren seine Worte zuvor zu ehrlich gewesen. Meta hasste diesen kleinen Keim Unsicherheit in sich. Sie hatte gesehen, wie sehr er Merle wollte, als diese verzaubert zu ihm gesprochen hatte.

Der Magier erschrak bei Metas zweiter Frage. Warum sollte er sie zurücklassen? Dann wurde es ihm klar. Hatte er nicht gerade Merle so hinterhältig verraten? Wie sollte Meta nicht annehmen, er könnte dies letztlich auch ihr antun. Es tat ihm leid, dass sein Handeln solche Zweifel in ihr verursachte. Das hatte Meta, die die ganze Zeit zu ihm gehalten hatte, nicht verdient. Er zog sie zu sich heran und gab ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Ich schwöre es dir bei Rahja, bei unserem Bund, dass ich dich nicht zurück lasse, mein Schatz. Aber wenn du möchtest, gehen wir zusammen. Ich dachte nur, wir würden Zeit sparen.“

„Ach, ich lasse mich von den Ängsten und der Panik wohl zu sehr anstecken.“ Sie lächelte Gudekar zuversichtlich und lieb zu und hielt ihn etwas an den Schultern. „Die Zeit läuft uns davon, und ich darf mich nicht dauernd verunsichern lassen. Ich hole mein Zeug. Wo treffen wir uns?“ Besorgt sah Meta Gudekar in die Augen. „Es wird wieder besser werden. Du wirst mir viel erzählen müssen. Ich dir auch. Ich glaub, dass zwischen uns noch zu viele Missverständnisse sind. Aber sei dir sicher. Egal, was passiert. Ich bleibe bei dir. Und du bleibst immer mein lieber, etwas schusseliger Magier, in den ich mich damals verliebt habe. Du bist nicht böse, ich werde dich und die, die du liebst, verteidigen.“

Gudekar lächelte freudig. ‘Wie süß sie doch ist’, dachte er. “Danke für dein Vertrauen. Jetzt müssen wir erst einmal uns retten. Ob ich böse bin oder nicht, müssen die Götter entscheiden. Ich habe aber vorhin Böses getan, das ist nicht zu leugnen.” Der Magier überlegte. "Wir treffen uns am Besten an der Wegkreuzung, um die Straße nach Hart nehmen zu können. Dort entlang werden sie uns nicht vermuten und wir können dann über Unkenau in den Kosch, um von dort weiter nach Almada zu reisen. Ich hole schnell ein paar Sachen und unsere Pferde aus dem Gutshof.”

Meta warf ihm einen ernsten und kritischen Blick zu. „Dann bin ich auch böse. Ich wusste, dass ich gegen Travia handle, als ich mich von dir hab in den Schuppen zerren lassen.“ Kurz umspielte ein neckisches Schmunzeln, wie früher, ihren Mund. „Ich beeile mich. Ähh… soll ich noch ein paar Decken schnappen? Du hast sicher keine Ahnung, wo wir schlafen können.“

„Ach Schätzchen, das meine ich doch gar nicht. Es war böse, Merle in den Schlaf zu zaubern. Ich habe meine Macht missbraucht.“ Gudekar schaute verzweifelt aus. „Ja, nimm zwei Decken. Ich habe eine Idee, wo wir die Nacht verbringen können.“

„In den Schlaf hast du sie gezaubert? Das wusste ich noch gar nicht.“ Viele Gedanken schossen durch ihren Kopf. Hatte sie Gudekar nicht irgendwann sogar vorgeschlagen, das bei ihr zu machen? „Na egal. Später. Ich nehme flugs die Decken mit.“ Meta fasste sich unbewusst in ihr Haar. Es war ihr eigentlich schon zu lang, dauernd hing es im Weg. Dann sauste sie davon.

Gudekar blickte noch kurz mit einem Lächeln seiner Ritterin nach, dann machte auch er sich davon in Richtung Gutshof, um die Pferde zu holen.

~ * ~

Meta betrat das Brauhaus durch den Hintereingang, um die Treppe hoch zu ihrem Zimmer zu nehmen. Sie wunderte sich, wie ruhig es hier war. Der Schankraum, der zu einem provisorischen Rahja-Schrein umgestaltet worden war schien verlassen, und auch sonst waren keine Geräusche zu hören. Das bedeutete aber auch: niemand, der Fragen stellen konnte.

Sehr gut, ging es Meta durch den Kopf. Sie huschte leise diebisch durch den Raum und sah sich nach Brauchbarem, Decken oder einer Laterne (Gudekar konnte sicher keine Lichtkugel mehr zaubern, so wie er auf sie wirkte) um.

Ihr Blick fiel zunächst auf zwei einfache Kerzenständer, in denen jeweils eine Kerze steckte. Eine davon hatte sie ganz selbstverständlich an einer Laterne entzündet, die den Flur des Brauhauses erleuchtete, um in ihrem Zimmer überhaupt etwas sehen zu können. Auf ihrem Bett lag ein Daunenkissen und eine Wolldecke. Auf einem Waschtisch stand eine mit Wasser gefüllte Schüssel, daneben eine ebenfalls gefüllte Kanne, daneben lag ein frisches Leinentuch. Ansonsten waren in dem spärlich ausgestatteten Zimmer nur Metas eigene Gegenstände.

Zu viel wollte sie nicht mitschleppen. Meta packte ihre Sachen durcheinander aber vollständig – soviel Zeit musste sein – in ihre Tasche, warf sich die die Wolldecke und das Leinentuch über die Schulter und stakste mit der Laterne in der Hand wieder aus dem Raum, dem Haus und hoffentlich bald aus diesem grässlichen Dorf.

Als Meta ihre Tasche zusammengepackt hatte, verließ sie das Brauhaus wieder. Wie gespenstisch der verlassene und mit Nebelschwaden durchzogene Dorfplatz doch wirkte, wenn man ihn allein im Dunkeln überquerte. Aus der Zehntscheuer waren viele Stimmen zu hören. Hier hatte man sich wohl versammelt. Doch zur Zeit verließ niemand das Haus und so erreichte Meta schließlich die Wegkreuzung, an der sie mit Gudekar verabredet war. Doch ihr Geliebter war noch nicht dort.

Dieses Lützeltal war ihr zuwider. Kurz dachte sie an den netten jungen Mann, der Fische züchtete. Wäre Gudekar mit Merle und seiner Tochter alleine geflohen, hätte sie dort erstmal Unterschlupf gesucht. Um die Zehntscheuer machte sie einen großen Bogen.

Dann stand sie mit ihren Habseligkeiten am Treffpunkt. Eigentlich war sie nicht überrascht, dass Gudekar noch nicht da war, aber Meta war müde und resigniert. So viele Fragen hatte sie, so ein Durcheinander im Kopf. Sie setzte sich auf den Boden und schlang ihre Arme um die abgewinkelten Beine. Er würde kommen.

So kauerte Meta eine Weile auf ihren Liebsten wartend an der Wegkreuzung.

***

Gudekar war zwischenzeitlich zum Gutshof seines Vaters aufgebrochen. Er mied es, direkt an der Zehntscheuer vorbeizugehen, aus der die Geräusche vieler Personen drangen. Über die Wiesen hinter den Häusern am Dorfplatz suchte er sich seinen Weg und kam so schließlich unbehelligt am Gutshof an. Auch aus dem Herrenhaus waren Geräusche zu vernehmen, die nichts Gutes verhießen. Doch Gudekar hatte keine Zeit, nachzusehen, was dort vor sich ging. Und noch viel entscheidender: er war astral leer gesogen, er hatte keine Kraft mehr, irgendetwas Sinnvolles zu tun, wenn es  dort Probleme gab. So entschied er sich, zu ignorieren, woher der Lärm im Herrenhaus stammte.

Stattdessen wollte er zum Gesindetrakt gehen, um seine Sachen aus Merles Kammer holen, in die sie seine Tasche am Tag hatte bringen lassen. Der Magier war dann sehr überrascht und ebenso besorgt, als er feststellte, dass irgendjemand sein Gepäck vor die Tür des Gesindehauses gestellt hatte. Aufgebracht schaute er schnell in die Tasche, doch atmete er erleichtert durch, als er feststellte, dass die Sachen scheinbar unangetastet waren und nichts fehlte. Was blieb, war die Verwunderung, wie die Tasche hierher kam. Aber er freute sich andererseits, dass ihm so Arbeit abgenommen worden war. Manchmal war Phex offensichtlich auf der Seite der Tüchtigen.

Der Anconiter nahm seine Tasche und ging zum Stall hinüber, um nun Metas und sein Pferd zu satteln. Auch hierbei blieb er ungestört, was ihm zwar einerseits gelegen kam, aber irgendwie auch beunruhigte. Warum lief ihm niemand über den Weg?

„Dankbar sein! Keine Fragen stellen! Die Gelegenheit nutzen und wegreiten!“ Das war Gudekars Konsequenz aus dem Schicksal, dass ihn hier ungestört agieren ließ. Es war gewiss ein Zeichen der Götter, dass sie seiner Abreise wohlgesonnen waren.

Nachdem die Pferde gesattelt waren, ritt Gudekar vom Hof, Metas Pferd am Zügel mit sich führend.

Ohne von irgendjemandem bemerkt zu werden, erreicht der Magier die Wegkreuzung, an der er mit Meta verabredet war. Er wunderte sich, dass die Ritterin noch nicht da zu sein schien, doch war sie zusammengekauert am Wegesrand sitzend in der Dunkelheit zuerst gar nicht zu sehen. Gudekar hielt sein Pferd an und schaute sich um.

Meta war kurz eingeknickt vor Erschöpfung, doch vom Hufgetrappel wurde sie wieder wach.

Nur kurz musste sie die Augen geschlossen haben, nur ganz kurz, sicher. Meta schrak hoch, als sie die Geräusche eines Pferdes vor sich hörte, fiel fast nach hinten und konnte sich noch mit den Armen abstützen, die wohlig warme Decke auf den Knien. Trotz der abgeblendeten Laternen erkannte sie schnell, wer es war. „Gudekar, wo warst du so lange?“ Meta rappelte sich hoch und reichte ihm das Handtuch. „Kannst das noch irgendwo verstauen? Schau her, du brauchst dich um mich nicht zu sorgen. Der Paktierer interessiert sich nicht für mich.“ Sie lächelte verschmitzt und peinlich berührt, immer war sie eben alleine im Dunkeln eine gute Beute gewesen.

Gudekar erschrak, als Meta plötzlich neben ihm aufstand und auch sein Pferd wurde kurz unruhig, bis er es wieder beruhigen konnte. „Bei Phex, hast du mich erschrocken. Wieso versteckst du dich so? Ich hab mich doch beeilt. Schneller geht das Satteln halt nicht. Der Sattel muss ja richtig befestigt sein, sonst fallen wir noch vom Pferd.“ Dann blickte er auf das Tuch, das ihm Meta reichte und zuckte mit den Schultern. „Ja, klar.“ Er verstaute es in seiner Umhängetasche. „Komm setz dich aufs Pferd. Ein wenig können wir noch im Madaschein reiten, bis der Wald jegliches Licht verschluckt. Dann suchen wir uns ein Versteck für die Nacht und reiten bei Morgengrauen weiter.“

„Ja, ja, ich komm schon.“  Meta legte die Decke zusammen und schnallte sie an ihr Gepäck. Dann stieg sie auf und folgte Gudekar.

Eine Novizin zu treffen

Gudekar und Meta ritten los, die Straße entlang in den Wald in Richtung Hart, zügig aber nicht zu schnell, denn sie wollten weder zu viel Lärm verursachen, noch wollten sie riskieren, dass ihre Pferde im Dunkeln strauchelten.

Sobald sie außer Sichtweite der Häuser im Dorfkern waren, nahm Gudekar seinen Magierstab in die Hand und ließ ihn als Fackel entflammen, um den Weg besser auszuleuchten.

Als sie eine Zeit lang schweigend geritten waren, flüsterte Meta etwas lauter zu Gudekar vor ihr: „Gschhgschh… leuchtet der Stab eigentlich auch, wenn du nix mehr richtig zaubern kannst? Und hast du wirklich eine Idee, wo wir unterkommen können oder verkriechen wir uns im Wald?“

“Ganz ohne magische Kraft kann ich sie nicht entzünden, aber wenn sie erst einmal brennt, brennt sie so lange weiter, so lange ich den Stab in der Hand halte.” Dass er nun tatsächlich endgültig leergebrannt war, musste Meta nicht wissen. Doch für den Notfall hatte er ein Fläschchen eines Elixiers, das ihm etwas Astralkraft wiedergeben sollte. Es war in seiner Tasche gewesen und als er es sah, hatte er es sofort an seinem Gürtel befestigt. Der Anconiter deutete mit seinem brennenden Stab den Weg entlang. “Weiter firunwärts gibt es eine Schutzhütte, dort können wir die Nacht verbringen und im Morgengrauen weiterreiten.

Meta war das mit dem Stab noch ein Rätsel. „Dann werde ich dir vorsichtshalber vom Pferd helfen, nicht, dass du ihn fallen lässt. Ist diese Hütte allgemein bekannt? Nicht, dass sie dort gleich suchen.“ Sie hatte noch mehr Fragen, aber momentan wollte sie Gudekar nicht überfordern. Wenn sie einen halbwegs sicheren Platz hatten, dann war die Zeit dazu.

“Hm, nun ja”, überlegte Gudekar. “Die Familie kennt die Hütte und natürlich fast jeder im Dorf, der ab und an die Wälder durchstreift. Es ist eine Schutzhütte für die Jagd. Sie liegt nicht direkt an der Straße, sondern etwas abseits im Wald. Man muss schon wissen, wo man sie suchen muss. Ich baue aber darauf, dass man uns nicht in der Nacht sucht.”

„Hmnja… Vertrauen wir darauf und auf Phex. Ist es noch weit? Wenn wir dort sind, dann wirst du mir leider ein paar Antworten geben müssen. Das heute war zu verwirrend und manches verstehe ich nicht.“ Auch sein Handeln, und was eigentlich mit Merle passiert war. Sie fühlte sich ihm näher und vertrauter als bisher. Wahrscheinlich ließ sie Gudekar deshalb noch die Ruhe des Weges, um seine eigenen Gedanken zu sortieren.

“Ja, ein wenig müssen wir noch reiten. Wir wollen ja auch nicht zu nah am Dorf rasten. Wie gesagt, es ist im Wald. Ich hoffe, ich finde in der Dunkelheit den richtigen Weg.”

Wie um seine Worte zu unterstreichen hatten sie nun die offenen Wiesen hinter sich gelassen und die Ausläufer des Haderholzes erreicht. Die Baumkronen, die noch letzte Blätter trugen, verdunkelten das Licht des noch fast vollen Madamals, so dass es nun deutlich dunkler wurde.

So ritten sie mit voller Konzentration schweigend hintereinander, der Magier mit seiner leuchtenden Fackel voraus, die Ritterin ihn beobachtend hinterher. Etwa fünf Minuten waren so vergangen, da hörten sie linkerhand vor sich ein Geräusch im Unterholz. Gudekar brachte sein Ross zum Stehen und schaute etwas genauer in die Richtung. “Bei Hesinde! Was war das?”

Noch bevor Meta irgendwie darauf reagieren konnte, hörte sie von hinten eine junge Frauenstimme: “Zuckt Eure Hand auch nur ein wenig in Richtung Eurer Waffe, wird ein Pfeil Euer Herz durchbohren! Wer seid Ihr und was wollt Ihr im Dunkeln hier im Wald meines Vaters?” Meta erkannte die Stimme nicht sofort, aber als sie ‘ihren Vater’ erwähnte, war Meta klar, dass es sich um Gudekars Schwester Mika handelte.

Metas Kopf schnellte in Richtung der Stimme, die sie vor einigen Stunden erst zuletzt gehört hatte. „Mika! Es geht dir gut, den Göttern sei Dank. Wir sind’s, Gudekar und Meta.“ Schnell nannte sie ihre Namen, wer weiß, wieviel Mika von dem Unheil mitbekommen hatte oder was noch geschehen war. Sie hatte sowieso vorgehabt, Gudekar nach seiner kleinen Schwester zu fragen. „Es sind schlimme Dinge geschehen, sehr schlimmes, unheiliges Zeugs. Gudekar muss fliehen, sie sind wie irre und wollen ihm was anhängen. Er sucht nach so einer Hütte hier.“ Nach vorne zischte sie: „Gudi, nun sag doch was, Mika wirst du trauen können, frag sie was, das nur sie weiß.“

„Mika?“ fragte Gudekar überrascht. „Was machst du hier allein im Wald?“

Als sich Meta und Gudekar umblickten, sahen sie die junge Jägerin neben einem Baum stehen, den Bogen auf sie gerichtet, doch den Pfeil nur mit zwei Fingern haltend und die Sehne kraftlos gespannt. „Ich habe mit Borix und Murla die Jagdbeute geborgen und wollte nun zu seiner Gnaden zurück. Eigentlich. Aber sagt, was ist geschehen?“

Gudekar schluckte. „Pruch hat zugeschlagen. Er hat Gwenn geholt und ihre Begleiter getötet.“

„WAS? Getötet? Bernhelm und Marno sind tot?“ Mika ließ den Bogen zu Boden sinken, ging auf die Knie und fing an, bitterlich zu weinen. „Gwenn? Lebt sie?“

Meta lenkte ihr Pferd so nahe zu Mika, wie es möglich war. „Wir wissen es nicht. Es ist ziemlich sicher, dass sie lebt und von diesem Kerl, Gudekar vermutet persönliche Rache, da er sich mit seiner Gruppe schon lange auf der Jagd nach dem befindet, irgendwohin durch ein... Tor im Limbus verschleppt wurde. So wie der Geweihte damals vor zwei Götterläufen.“ Meta wollte Mika etwas Zeit geben, diese Information aufzunehmen. „Es gibt noch viel zu berichten, wir müssen dringend einen Platz für die Nacht finden. Willst du uns begleiten? Dann versuchen wir, Licht ins Dunkel zu bringen. Ich bin in der Sache sowas wie Gudekars Buhle, außer ihm vertraue ich niemandem mehr hier. Wir müssen fliehen, da in dem Chaos, der Angst und Hilflosigkeit teils falsche Schlüsse gezogen werden.“ Scharf sah sie ihren Erwählten an. „Ich weiß auch noch nicht alles, aber dein Bruder wird es mir an sicherer Stelle erklären und ehrlich meine Fragen beantworten. Wenn sie ihn jetzt erwischen, dann sind wir verloren. Es geht ums Überleben. Wie es später ausgehen wird, das ist noch nicht klar, aber jetzt müssen wir hier weg.“

Gudekar nickte zu Metas Worten zögerlich, als wäre er nicht bei allen Punkten sicher, ob er der gleichen Zuversicht war. Dennoch versuchte er Mika zu überzeugen. “Mika, der Paktierer Pruch hat in Lützeltal gewütet. Er hat nicht nur Tod und Verderben gebracht, auch die Gemüter der Lebenden hat er vergiftet. Es hat eine wahre Hexenjagd begonnen. Die arme Gauklerin Doratrava wurde bereits unschuldig der Paktiererei bezichtigt und eingesperrt – von Kalman! Stell dir das vor!” Gudekar ließ sich aus dem Sattel gleiten und kniete neben Mika, legte ihr den Arm über die Schulter. “Und du weißt, dass meine Liebe zu Meta schon länger von einigen als Frevelei vor der guten Mutter gesehen wird. Ich bin mir sicher, dass ich just in diesem Moment ebenfalls der Paktiererei bezichtigt werde. Und man wird glauben, Beweise dafür zu haben. Ich habe gezaubert, um mich und Meta zu schützen. Und auch das wird man mir zur Last legen. Du weißt, wie man in den Nordmarken über die hesindianischen Künste denkt. Mit mir wird man nicht so nachsichtig umgehen, wie es Doratrava hoffen darf. Mich wird man sofort der heiligen Inquisition überstellen und dann dem reinigenden Feuer übergeben. Ohne Fragen zu stellen. Mika, ich habe Angst! Ich habe Angst vor Pruch, aber fast noch mehr Angst habe ich vor meinen eigenen Freunden, ja, sogar vor der Familie. Bitte, hilf uns! Wir sind doch die Weissenquells!”  

Mika schaute besorgt zu Gudekar. Sie verstand, dass jetzt keine Zeit zum Trauern war. Es musste gehandelt werden. Ihr Bruder war in Not und sie konnte helfen. “Wir sind die Weissenquells!” stimmte die Novizin verunsichert im Flüsterton ein. Sie erhob sich langsam und wischte die Tränen aus ihrem Gesicht. Dann nickte sie. “Ich weiß nicht, was geschehen ist. Und ich weiß nicht, ob ich wirklich wissen will, was du getan hast, WAS du gezaubert hast. Aber ich glaube dir, dass du in Not bist. Ich führe Euch zur Schutzhütte. Aber nicht zu der an der Straße, dort wird man Euch leicht finden. Ich bringe Euch zu der im Haderholz. Der Weg ist beschwerlicher und kaum jemand wird es wagen, ihn bei Nacht zu gehen. Folgt mir!”

Metas Herzschlag setzte kurz aus, als Gudekar vom Pferd stieg, doch war er stark genug, den Stab nicht fallen zu lassen. Sie selbst blieb zunächst sitzen. „Ist es noch weit? Dann führen wir die Pferde.“ frug sie umgestimmt. Gudekar schien schon in besserer Verfassung zu sein als zuvor. „Mika, ich wollte Gudekar unter anderem fragen, was aus dir wird und ob er dich später in Sicherheit bringen will. Das hat sich Phex sei Dank, erübrigt.“

“Mich in Sicherheit bringen?” Mika lachte in ihrer unbeschwerten Art auf. “Es scheint, als müsse eher ich euch in Sicherheit bringen.”

Im Dunkeln sah man Metas Lächeln leider nicht, man konnte es erahnen. „Gudi, trotzdem wirst du mir mehr Rede und Antwort stehen. Und, ähm, Mika, wenn du das mit dem Zauber nicht hören willst, dann finden wir dafür eine Lösung. —- Sein Schicksal wird auch das meine sein. Ich bin nicht böse, es ist nicht falsch. Und ich fühle mich ihm so nah, wie noch nie.“ Meta spürte, dass Gudekar sich entschieden hatte. Sie war sehr stolz und erleichtert, dabei klammerte sie jeden Zweifel aus. Es gab nun kein Zurück mehr.

Gudekar lächelte Meta bei ihren Worten an. Doch als ob er Metas Worte widerlegen wollte, erklärte er sogleich an Mika gewandt: “Weißt, du, Mika, ich wollte herausfinden, was Merle von der Idee hielt, uns, also Meta und mich, nach Almada zu begleiten, wo wir für ihre und Lulus Sicherheit hätten sorgen können. Und um ihre ehrliche Meinung zu erfahren, habe ich Merle kurzzeitig mit einem Beherrschungszauber belegt. Und anschließend habe ich sie in einen ruhsamen Schlaf versetzt, um unsere Abreise zu decken. Ich weiß, dass dies falsch war und ich das niemals hätte tun dürfen. Doch ich habe im Affekt gehandelt, ohne nachzudenken. Und ich habe Merle nicht wirklich Schaden zugefügt, außer ihren Stolz zu verletzen. Ich habe es nur aus Liebe getan, um uns alle zu schützen.”

Nun schaute Mika ihren Bruder ernst an. “Aber manchmal sind die Wunden, die der Seele und dem Herzen angetan werden, schlimmer als ein Pfeil, der das Fleisch durchbohrt. Gudekar, du hast einen bösen Frevel begangen! Doch ich spüre keine Boshaftigkeit in dir, keine Falschheit. Ich bin davon überzeugt, dass du es im Glauben getan hast, das Richtige zu tun. Darum kann ich dir verzeihen und werde euch helfen. Folgt mir. Es ist noch ein Stück Weg. Wäre es zu nah, könntet ihr zu leicht gefunden werden.”

„Ihr war der Ernst der Lage nicht klar. Auch nicht, dass es sich lediglich um eine Übergangslösung handeln sollte. Ich wollte mich in der Eile nicht schon auf alles festlegen, was unsere gemeinsame Zukunft betreffen würde.“ Meta schüttelte ärgerlich und hilflos den Kopf. „Wir mussten weg. Du kennst Merle besser, sie wollte eine lange Diskussion beginnen und hat dann alles abgelehnt. Schade, wir hätten jetzt Zeit gehabt, alleine und in Ruhe nochmal mit ihr zu reden. Ich will nicht, dass Lulu in Gefahr ist und auch um Merle wollte ich mich ehrlich kümmern. Aber wir werden wohl nie zusammenkommen.“

Gudekar hörte Meta interessiert zu. Er war froh, wie realistisch sie die Situation beurteilte und wie sachlich sie es Mika erklärte. Eine bessere Fürsprecherin hätte er sich wohl kaum  wünschen können. Er hatte das Gefühl, Meta war auf dem richtigen Weg, Mika für ihre Sache zu gewinnen. So ließ sich der Anconiter zurück fallen und lief wortlos hinter den beiden jungen Frauen her, den Stab jedoch so haltend, dass das Licht seiner Fackel ihnen den Weg ausleuchtete ohne sie zu blenden.

Mika hörte sich Metas Worte interessiert an und dachte eine Weile darüber nach, bevor sie antwortete. “Meta, würdest du dir denn ein ausgiebiges Gespräch mit Merle wünschen? Ich meine, wenn die Brücken jetzt nicht eingerissen wären?” Dies war die erste Frage, die sie stellte. Es war nicht die einzige, die ihr unter den Nägeln brannten. Doch die anderen hob sie sich zunächst auf.

Nur das Knacken der Zweige war einige Schritte lang zu hören. Angespanntes Schweigen. „Ja, das will ich. Wir müssen einen Weg, nein, eine Einigung finden, mit der wir auch später leben können. So war es versprochen und die Beiden, also Lulu und Merle werden zu meinem Leben gehören. Ich wollte mich unter dem Druck aber einfach nicht so weit fügen, alles hinnehmen, nur damit Merle bereit ist, mit uns zu fliehen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „So bleibt mir immerhin das Gespräch mit Verema erspart. Sag, ist es denn noch weit?“

Sie kamen an eine Stelle, wo ein kleinerer Pfad die Straße verließ. Hätte Mika nicht darauf gedeutet, wären Meta und Gudekar im Dunkel der Nacht glatt daran vorbei gelaufen. Mika deutete in die Richtung. “Dort entlang. Es ist so weit, wie es weit ist.” Vorsichtig ging Mika voraus und drückte einige Äste zur Seite. Dann sprach sie weiter. “Ich verstehe. Aber sagt, wenn ihr es als so gefährlich anseht, Merle und Lulu zurück zu lassen, was fürchtet ihr? Und wieso seid ihr nun bereit, sie doch diesem Risiko auszusetzen?”

Meta wüsste es selbst gerne, schwieg und drehte sich zu Gudekar um.

Als Gudekar merkte, dass Meta auf diese Frage nicht antworten wollte oder konnte, ergriff er selbst das Wort. „Pruch, der elendige Paktierer hat zugeschlagen und Gwenn geholt. Doch nicht allein Gwenn wurde Opfer. Tabea von Flusswacht, die Verlobte von Radulf von Grundelsee wurde ermordet. Der Bruder von Nivard von Tannenfels ebenfalls. Das sind die Opfer, von denen ich weiß. Es hat begonnen. Die Botschaft: wenn wir ihn nicht in Ruhe lassen, tötet er unsere Familien, er trifft uns an der Stelle, die uns am meisten schmerzt. Dies ist schlimmer, als würden er uns selbst holen. Denn wir müssen mit der Schuld leben, ihren Tod verantwortet zu haben. Doch kann ich aufhören, ihn zu jagen, wenn ich hierbleibe? Nein, nun erst recht nicht. Und das weiß er. Er wird wieder zuschlagen und holen, was mir das Wichtigste ist. Deshalb muss ich fort. Und ich hätte Merle und Lulu gern mitgenommen, um sie vor ihm zu verstecken. Nicht nach Tälerort. Denn ich kann sie ja nicht vor Dämonen retten, indem ich sie in Dämonenlande führe. Wir hätten sie an einem sicheren Ort zurückgelassen. Aber Merle wollte das nicht. Sie sah es als Verrat an ihr und war bereit mich dafür der Frevelei zu bezichtigen. Ich kann sie ja nicht zwingen, uns zu begleiten. Gut, ich hätte es gekonnt, doch wäre dies noch schlimmer gewesen. Denn entweder hätte ich sie einsperren und fesseln müssen, oder ich hätte sie irgendwann gehen lassen müssen, damit sie uns erst recht anklagt. Deshalb tue ich schweren Herzens das, was sie will. Ich lasse sie zurück.“

„Gudi, es gibt noch Hoffnung. Wenn wir in der Hütte miteinander reden können, da wollte ich dich das auch fragen. Mal angenommen, Merle würde klar denken, ja das ist schwer, das anzunehmen, besonders für mich, aber dazu nachher mehr, mein Schatz.“ Ihr Tonfall weckte das ungute Gefühl in Gudekar, dass Meta noch unangenehme Fragen stellen würde. Sie war sehr entschlossen. „Ich werde wohl nie mit ihr auskommen, aber… ach, später. Das Kind, das kann doch gar nichts dafür, wir können sie nicht einfach so hier lassen. Ich weiß doch, wie du sie liebst.“ Wen Meta mit sie meinte war nicht ganz klar, so wie sie es betonte. „Aber es ist grausam, die Kleine von der Mutter zu trennen. Grausam für die Mutter. Wenn es irgendwie geht, müssen wir Lulu aus der unmittelbaren Gefahr bringen. Bei den Göttern, das ist schwierig. Warum musstest du dir gerade Merle aussuchen? Ich dachte vorhin, ihr drei, als Familie, ihr wärt ohne mich besser dran. Ich komme alleine durch, an mir hat dieser blöde Bäcker doch kein Interesse.“ Meta war wie früher in einen Wortschwall gefallen und begann, zu gestikulieren. „Aber ich ..., also du bist so lieb zu mir. Ich kann und will nicht mehr anders. Ich will bei dir bleiben. Und ich weiß genau, wie du jetzt schaust. Ja, Cariño, du hast mich seit heute früh oft zweifeln lassen, als könntest du dich nicht entscheiden, als würdest du überlegen, wie du uns beide haben kannst. Das hat mir sehr weh getan, auch, wenn du lieber die arme Merle trösten wolltest… Was soll’s. Das besprechen wir in der Hütte. Tut mir leid, Mika, ich… also, das musste raus.“ Sie sah wieder zu Mika.

Diese hatte nun angehalten und blickte besorgt zu Meta. Plötzlich schloss sie Meta in den Arm. “Hast du wirklich an Gudekars Liebe zu dir gezweifelt? Er redete doch von nichts anderem mehr, wenn wir uns gesehen haben.” Mika ließ Meta wieder los und lachte kurz. “Auch, wenn das in den letzten Jahren nicht sehr oft der Fall war.”

Überrascht hielt Meta inne und flüsterte traurig. „Ja, er hat sich so benommen. Ich dachte ja auch, dass der Bund mit Merle nur noch besteht, weil er ewig gilt. Er wollte noch eine Nacht mit Merle verbringen und ich Depp hab sogar zugestimmt.“ Meta wandte sich nun an Gudekar. „Außerdem hab ich Augen im Kopf und gesehen, wie du sie anschaust. Und du, Gudi, du meinst, sowas tut nicht weh, nur, weil ich nicht rumheule und mich jeder als deine Hure sieht, die nur das Glück der armen Merle zerstört. Ich bin nicht böse.“

„Ganz genau!“ Mika war etwas verwundert und gleichzeitig tat ihr Meta leid. „Gudekar, du kannst nicht länger beide Frauen hinhalten und glauben, sie würden deine Spielchen mitmachen, nur um es dir leicht zu machen. Du musst dich endlich entscheiden!“

Gudekar nahm eine abwehrende Haltung ein. „Aber Mika, die Entscheidung ist doch heute gefallen. Endgültig. Das, was ich getan habe, ist unumkehrbar.“

„Dann vollführe diese Trennung auch endlich in deinem Herzen, Bruder!“ schimpfte Mika. „Du kannst doch nicht hingehen und von deiner Geliebten verlangen, dass sie ruhig zusieht, wenn du mit deiner Frau das Lager teilst. Oder umgekehrt.“

„Aber“, setzte der Magier zu einer Erklärung an.

„Ach, sei still“, unterbrach ihn Mika sofort. „Wir sind hier im Wald und der will deine Ausflüchte nicht hören! Ehrst du noch immer die Götter? Dann erzähl uns keine Ammenmärchen!“ Mika hatte sich langsam in Rage geredet. Dann blickte die Novizin noch strenger zu Gudekar. “Sag mal, gelehrter Herr Bruder. Wenn du wirklich Sorge um deine Liebsten hast und dieser Pruch es gleichermaßen auf Eheweiber wie auf Geschwister abgesehen hat, wie hast du dir denn dann vorgestellt MICH zu beschützen? Wie passe ich in deine Pläne?”

Gudekar schaute Mika sprachlos an. Er hatte keine Antwort darauf.

„Dich wollte ich auch retten, wir mussten aber einfach schnell weg. Und leider musstest du jetzt recht viel mithören.“

„Um mich mach dir mal keine Sorgen, Meta“, wiegelte Mika ab. „Ich komme schon zurecht. Ich habe den Herrn Firun, der auf mich Acht gibt. Und was deine Sorgen angeht: es tut gut, wenn man diese einmal aussprechen kann. Ich weiß, wie das ist, wenn man niemanden hat, um miteinander zu sprechen.“

„Gudi, seitdem wir uns nach Gwenns Verschwinden getroffen haben, da warst du so lieb zu mir. So, wie es zwischen uns sein sollte. Voller Vertrauen, Liebe und Verständnis, das keine Worte braucht. Vieles, was so weh getan hat, war davor.“ Sie seufzte hilflos. „Aber auch da, gerade, als Merle im Zauber dir ihre Gefühle offenbart hat, da hab ich etwas in dir gesehen, was mir Angst macht. Du liebst sie noch. Ich habe Angst, dass früher oder später, wenn es zwischen uns mal Ärger gibt oder der Alltag sich einschleicht, du zu ihr zurück willst. Sie ist die Mutter deines Kindes und mit ihr ist der Bund ewig. Ich werde dir keine Kinder schenken können. Ich weiß nicht, ob du das überhaupt mitbekommen hast, als ich es gesagt habe. Jetzt will ich noch keine, aber später. Auch das sticht mir ins Herz, wenn ich dich glücklich mit deiner Familie sehe. Aber wir gehören zusammen. Wohin du gehst, werde ich auch gehen.“

„Oh, Meta, es wäre wunderschön, wenn wir einst eigene  Kinder haben werden“, versuchte Gudekar Meta zu beruhigen. Mika setzte inzwischen den Weg zur Hütte fort. Die Liebenden folgten ihr. „Wenn dies Tsas Wille ist, wird sie einen Weg finden, dir ein Kind von mir zu schenken. Doch, wenn nicht, werde ich dich nicht minder lieben. Aber du musst Vertrauen in mich haben. Ich kann dir nicht garantieren, dass mein Herz stets dir gehören wird und nicht eines Tages den Weg zurück zu Merle sucht. Denn auch der Weg zu deinem Herzen war vor zwei Götterläufen nicht vorhersehbar. Da musst du mir vertrauen, wie auch ich dir vertrauen muss, dass du nicht bald schon dein Herz an einen anderen verschenkst. Dies ist die Angst, die stets einen Schatten auf mein Herz wirft.“

„Ich dachte, die Sache mit meiner Unfruchtbarkeit hättest du gar nicht richtig gehört. Oder überhaupt der Rede wert gefunden. Außerdem schienst du kein Interesse an weiteren Kindern zu haben.“

Gudekar war sehr überrascht von Metas Einschätzung, hatten sie doch erst am Mittag schon darüber gesprochen und er ihr gesagt, dass er sich über eine gemeinsame Zukunft mit Kindern von ihr freuen würde. Aber so war sie, seine kleine, tapfere Ritterin, manchmal ein wenig unstet, doch das liebte er an ihr. Es machte sie so menschlich. Und schließlich war Meta während ihres Gesprächs erschöpft in seinen Armen in den Schlaf gefallen, vielleicht hatte sie seine Worte gar nicht mehr wahrgenommen.

Meta war ruhiger geworden, als ein Teil dessen, was sie bisher schweigend unterdrückt hatte, endlich ausgesprochen war. Gudekar spürte förmlich ihren skeptischen Blick, als sie ihn mit schräg gelegtem Kopf skeptisch von der Seite her ansah. „Natürlich gibt’s für nix Garantie. Und Vertrauen muss die Basis unserer Beziehung sein. Es geht viel weniger um Sex, wie Imelda vorhin dachte, es geht um etwas, das tiefer liegt. Aber mal ehrlich. Du bist eifersüchtig? Ich weiß, dass du immer wieder wie beleidigt schaust, wenn mal ein Mann nett zu mir ist. Aber das ist was anderes. Merle ist jetzt schon real und du gibst zu, dass dein Herz sich wieder ihr zuwenden könnte. Das kalkulierst du jetzt schon ein. Bei mir handelt es sich um reine Fiktion. Es kann sein, die Zukunft kennen nur die Götter, aber es gibt niemanden, an den ich im Moment schon denken würde. Verstehst du das? Merle ist eine Frau, die anderen sehr schnell sympathisch ist. Ich bin das nicht. Und gerade jetzt denke ich nur an uns, unsere Zukunft und an ein Leben, in dem du einen Platz hast. Du weißt, wie selten ich mein Herz verschenke. Verstehst du den Unterschied? Erzähl mir etwas über diesen Schatten und die Angst. Und dann stell dir vor, ich hätte einen Mann, so wie du an eine Frau gebunden bist.“ Meta hoffte, dass Gudekar ihrem Gedankengang folgen konnte.

“Ob ich eifersüchtig bin? Wie ein glühender Pfeil bohrt es sich in mein Herz, wenn ich mir vorstelle, du könntest mit einem anderen Mann zusammen sein. Wenn ich dich zusammen mit dem Sohn deines Schwertvaters sehe.” Gudekar holte tief Luft und ergriff Metas Hand. “Du weißt, ich bin kein Mann der Worte und manchmal fällt es mir schwer, die richtigen Worte zu finden, um auszudrücken, was ich wirklich sagen will. Doch ich will versuchen, es dir zu erklären.” Gudekars Daumen streichelte sanft über Metas Handrücken, während er mit ihr sprach. “Ich weiß, du sagst, Linnart sei wie ein Bruder für dich. Doch ist er mehr. Ich weiß, du wärst früher bereit gewesen, dein Leben mit ihm zu verbringen. Streite dies nicht ab! Und ich weiß, er ist nun seit eineinhalb Götterläufen selbst im Bund. Und er wird niemals bereit sein, diesen Bund zu brechen, wie ich es bereit war, den Bund mit Merle zu brechen. Nicht nur, weil er ein Bannstrahler ist, Praios nahesteht und einen gegebenen Eid niemals brechen würde, nein auch, weil er ein Machtmensch ist und ein Eidbruch einen Machtverlust für ihn bedeuten würde. Etwas, an dem mir nichts liegt. Und dennoch muss ich stets fürchten, dass ihn der Bund nicht daran hindert, sich zu erinnern, welch gute Zeit ihr miteinander hattet. Er könnte dich erneut umgarnen und ich weiß, wie sehr du ihn noch immer liebst. Ich denke, das, was du für ihn empfindest, ist in etwa das Gleiche, was ich stets für Merle empfinden werde. Du sagst, und vermutlich bist du dir dessen jetzt auch sicher, dass du diesbezüglich nichts mehr für Linnart empfindest. Doch kann ich mir sicher sein, dass sich dies nicht eines Tages wieder ändert? Kannst du mir garantieren, dass nicht irgendwann der Tag kommt, an dem dein Herz erneut für ihn entflammt? Nein, dies ist nicht möglich. Und genauso ist es bei mir mit Merle. Ich empfinde noch viel für sie, doch nicht diese Begierde, die ich für dich empfinde. Fragst du mich jetzt, sage ich dir ohne ein Wort der Lüge zu verbreiten, dass ich davon überzeugt bin, den Rest meiner Tage mit dir und nur mit dir verbringen zu wollen.”

Mika, die vorneweg durch den Wald lief, hörte jedes Wort, das Gesprochen wurde genau an und wog schweigend ab, was dies zu bedeuten hatte.

Meta ließ die Zügel des Pferdes länger und hatte genug Bewegungsfreiheit um Gudekar fest zu umarmen. „Ich hab einfach Angst, dich zu verlieren. Du bist mein Mann und ich gehe mit dir, egal, wohin sie dich bringen.“ Gudekar spürte eine Träne an seiner Wange, Meta wollte ihn noch nicht loslassen und drückte ihn fest. „Ich vertraue dir, es ist nur diese Angst tief in mir. Ab jetzt stehen wir das gemeinsam durch, ja? Ich will mit dir sein, irgendwann ein Kind haben, am besten, wenn es uns vergönnt sein sollte, mit dir alt werden. Höhen und Tiefen durchstehen. Gemeinsam lachen und einfach so sein, wie wir sind.“

“Weine nicht, meine tapfere Ritterin!” Gudekar wischte mit seinem Ärmel Metas Tränen weg. “Nichts anderes ist es, was auch ich mir wünsche. Morgen reisen wir ab nach Almada und dann haben wir die nächste Zeit nur für uns, bis wir in Tälerort sind. Und auch dort. Dann bauen wir uns ein gemeinsames Leben auf.”

Mika hielt plötzlich an. Sie drehte sich zu den beiden um und schaute Gudekar zweifelnd an, was jedoch im Dunkeln nicht zu erkennen war. Dann rief sie: “Kommt ihr? Wir sind gleich da. Dort hinter der nächsten Wegbiegung ist die Hütte.”

Meta waren ihre Tränen diesmal nicht peinlich. „Es ist so viel geschehen und wir gehören zusammen. Da musste ich einfach weinen. Bei Linny wusste ich immer, wie ich dran bin. Du hast mir heute Angst gemacht, aber das ist jetzt vorbei.“ Sie drehte sich vage in die Richtung, die Mika beschrieb. Zwar konnte sie nichts erkennen, die Kleine würde aber schon recht haben. „Oh, ah, genau, da ist es ja schon. Na, die Zeit verging ja doch wie im Flug. Lass uns die Pferde versorgen und dann gehen wir rein.“

„Darf ich euch noch eine Frage stellen?“ fragte Mika, ohne eine Antwort abzuwarten. „Wie habt ihr eigentlich eure Reise vorbereitet? Habt ihr zu essen und zu trinken dabei? Habt ihr Hafer für die Pferde? Ich vermute, ihr wollt Gasthäuser erst einmal vermeiden, wo man euch erkennen könnte?“

Gudekar stutzte. „Ähm, ehrlich gesagt, nein.“

„Dein Bruder hat mich mit seinem plötzlichen Aufbruch ebenso überrascht wie dich. Essen haben wir für uns, meine Sachen habe ich und ein paar warme Decken. Die Pferde werden es bis zur nächsten Ortschaft ohne Hafer aushalten müssen, wir lassen sie grasen.“ Sie wusste selber nicht, was sie noch sagen sollte. „Gudekar hat Angst um sein Leben, die Leute, die ihr kennt, die sind nicht mehr zurechnungsfähig. Sie wollen ihn brechen und verurteilen. Und natürlich spiele ich dabei eine große Rolle, da sie nicht an unsere wahren Gefühle glauben. Entweder hat dieser Paktierer ihn verleitet, mit mir zu sündigen oder ich, die ich sowieso nur Sex im Sinn habe und Familien zerstören will. Vor allem ist Merle das Opfer, um das sich alle kümmern und deren Wort man glauben wird, ohne unsere Sicht der Dinge überhaupt hören zu wollen.“ Sachlich resigniert sprach Meta vor sich hin und versuchte nebenher, einen Blick auf ihre Unterkunft zu erhaschen. „Er konnte nicht viel planen, wir werden so durchkommen müssen. —- Ähm, Mika, glaubst du, es wäre möglich, noch einmal mit Merle zu sprechen? Nur wir drei, die das persönlich angeht. Es sollte nicht so enden. Sie ist so anders als ich und wir werden wohl nie Sympathien füreinander empfinden, auch, wenn die Sache mit Gudi nicht wäre. Sie ist jemand, den mögen die Menschen. Aber sie hat es verdient, meiner Meinung nach, dass wir uns noch einmal ernsthaft und ruhig aussprechen.“ Sensorisch sah sie zu Gudekar, dessen Zustand schien sich zu verbessern. „In der Hütte werden er und ich auch noch etwas reden. Ich bin in vieles nur durch Zufall eingeweiht.“ Sie schmunzelte und sah Mika an. „Und auch wir hatten keinen guten Start. Ich polarisiere. Du liebst Gudekar und er dich, ich wollte dich immer auch nur retten. Vielleicht schaffen wir eine bessere Basis zwischen uns.“

Mika schmunzelte und schüttelte den Kopf. “Meta, du magst zwar älter sein als ich, aber auch du hast noch viel zu lernen! Ich glaube, du hast noch nicht verstanden, wie die Zwölfgöttliche Ordnung geschaffen ist. Aber sei unbesorgt, ich mag dich. Ich glaube, hätten wir uns an anderen Tagen, unter anderen, nicht so schwierigen Gegebenheiten kennengelernt, wir hätten schon längst beste Freundinnen werden können. Du bist doch auch eine Freundin von Imelda. Und Imelda ist meine Freundin. Wir drei wären ein lustiges Gespann. Aber Gudekar ist nun einmal im Bund mit Merle, und dieser ist unauflöslich. Das heißt ja nicht, dass das Herz deshalb nicht anders lieben darf. Aber achten muss man den Bund. Und die Trennung, die Gudekar deinetwegen von Merle vollziehen will, ist ein Frevel gegen die göttergewollte Ordnung. Ich glaube, ihr habt das oft genug gehört, deshalb werde euch nicht noch einmal belehren. Und, ja, Gudekar ist mein Bruder und ich liebe ihn. Deshalb ist mir sein Seelenheil auch wichtig. Doch weiß ich, dass es an seiner Liebe zu dir nichts ändern wird, wenn sein Frevel vor die Kirche gebracht wird. Ich kenne Gudekar doch”, sie schaute ihren Bruder an, der fassungslos Mikas Worten lauschte, und gab ihm dann einen schwesterlichen Schmatzer auf die Wange. “Allein die Drohung einer Untersuchung durch die Kirche, würde dich weiter von uns weg treiben, stimmt’s nicht, Gudekar?” Der Anconiter nickte langsam mit dem Kopf. “Ich meine nicht nur derographisch, sondern vor allem im Herzen. Deshalb werde ich euch gehen lassen, werde euch helfen, bei Firun. Und hoffe, ich bete zu dem Gerechten, dass auch ihr eines Tages versteht, welchen Frevel Gudekar hier begeht. Und dann hoffe ich, nein, ich bin mir sicher, Gudekar wird zurückkommen und sich seiner Verantwortung stellen. Das wirst du doch, Bruder?” Gudekar zuckte mit den Schultern, woraufhin Mika ungläubig den Kopf schüttelte. “Ich denke, das werdet ihr. Und dann bete ich zu den Schwestern, dass sie sich einig werden und euch einen Weg zeigen, der Travia und Rahja gleichermaßen gerecht wird.” Sie schaute nun wieder Meta an. “Dass du noch einmal das Gespräch mit Merle suchen möchtest, werte ich als gutes Zeichen. Willst du das auch, Gudekar?”

Wieder zuckte der Anconiter mit den Schultern. “Ich weiß nicht. Wie ich von Merle gegangen bin, lässt wohl keinen Spielraum für ein erneutes Gespräch. Wir hatten dies ja schon versucht. Es dauert mich zutiefst, wie ich Merle zurückgelassen habe, doch sah ich keinen Ausweg, Lützeltal anders zu verlassen. Ein erneutes Gespräch brächte uns an den selben Punkt, an dem wir bereits waren. Nur schlimmer.”

Meta hatte Mika skeptisch gelauscht. Natürlich wusste sie, was sie hier für einen Frevel begang. „Mika, ich weiß Bescheid, was ich alles falsch mache. Imelda ist nicht mehr meine Freundin, es fehlt das Vertrauen. Und wir kennen uns leider kaum.”

“Das ist sehr schade!”, warf Mika ein. “Imelda ist eine unheimlich lustige Frau, ich mag sie sehr. Und sie hatte so sehr von euch als Paar geschwärmt, dass ich gewiss war, sie würde auch zu euch stehen.”

„Sie hält mich für seine Buhle, die nur an Sex denkt und nicht wert ist, Ritterin zu sein“, antwortete Meta kurzangebunden.

“Gudi hat mir viel von dir erzählt, nur im Guten, aber zwischen uns hat es entweder an Zeit oder an Harmonie gefehlt.“ Würde sie Mika mehr trauen, hätte sie ihr Zaina gezeigt. So fremd war Meta den Göttern nicht. „Jeder scheint dich zu mögen und du magst auch jeden. Das ist nicht meine Art. Ich kann hier nur noch Gudekar vertrauen und ich bleibe dabei, dass ich ihn mit meinem Leben verteidigen werde. Und ich werde die schützen, die er liebt.“ Sie sah kurz zu ihrem Mann. „Gudi, wir werden in der Hütte noch etwas reden müssen.“ Wieder an Mika gewandt, fuhr sie fort. „Ich würde immer noch versuchen, Lulu und Merle mitzunehmen. Dich auch, du bist ja jetzt im Bilde. Die Trennung von Merle müssen wir nicht so durchziehen, wie es in der Anspannung des Tages gesagt wurde. Sie bleibt seine Frau. Offiziell und zu offiziellen Anlässen. Aber ich kann mir kein Leben vorstellen, in dem sie täglich als seine Frau präsent ist. Na, überlege doch mal. Wie oft sehen die Gattinnen anderer Adliger ihren Mann? Selten, ich sag’s dir. Gudekar muss hier weg, wir brauchen Ruhe. An seiner Liebe zweifle ich nicht. Wir gehören zusammen. Rahja mag dies gelenkt haben, wer weiß. Wirst du mit uns kommen oder lieber hier bleiben? Du bist doch natürlich auch nur mit Merle, der armen Merle, gut befreundet. Vielleicht schaffst du es, dass sie nochmal zu einem Gespräch kommt.“ Meta grinste seltsam. „Ich bin die Hure, die Buhle. Merle ist das reine Weiß. Aber vergiss nicht die vielen Grautöne dazwischen. Lass uns in die Hütte gehen.“

“Ich gehöre nicht zu euch. Mein Platz ist hier, ich komme schon zurecht.” Gerne hätte sie gesagt, Firumar würde schon auf sie acht geben, bei ihm fühlte sie sich sicher und geborgen. Doch war sie sich nicht mehr sicher, ob sie nicht an Firuns Prüfung gescheitert war und Firumar sie verstoßen würde. Doch wenn nicht, wollte nicht sie davon laufen. “Der grimmige Jäger wird auf mich Acht geben!” Mika schritt auf Meta zu. “Rede nicht so abfällig von dir.” Sie legte ihr die Hände auf die Oberarm, zug dann aber schnell die Linke zurück, als sie sich mit den unbeweglichen Fingern irgendwo verfangen hatte. “Du magst nicht Gudekars Frau vor Travia sein, doch du bist die Frau seines Herzens. Du bist die Frau, die Gudekar glücklich macht. Und darum bist du wichtig für ihn. Du machst für ihn das graue Leben bunt. Auch das ist ein Teil des Lebens, ein Teil dieser Welt. Wäre es nicht der Wille der Götter, hättet ihr nicht zueinander gefunden und hättet dann nicht so lange zueinander gestanden. Ihr habt den Bund vor Rahja geschlossen. Wäre es nicht der Wille der Götter, so hätte Rahja euch diesen Wunsch verwehrt. Vergiss das nicht. Die Götter erlegen uns viele Prüfungen auf. Jeden Tag aufs Neue. Es ehrt euch, dass ihr noch immer an Merle denkt, dass ihr mit ihr sprechen wollt, dass ihr sie mitnehmen wollt. Da ich dies als göttinnengefällig vor der guten Mutter sehe, naja, ein wenig zumindest, werde ich euch helfen, diesen Weg zu gehen. Ich werde euch helfen. Geht in die Hütte und richtet euch dort für die Nacht ein.” Mika blickte auf das Gepäck der beiden. “Ihr wirkt nicht so, als hättet ihr genügend Proviant dabei, um euch bis nach Unkenau oder gar bis in den Kosch durchzuschlagen, ohne euch irgendwo sehen zu lassen.“

„Mierda, que hijo… ach ich dachte, Gudi, du hättest die Verpflegung mitgenommen.“

Gudekar schüttelte den Kopf. „Das habe ich vergessen.“

„Mika, wenn du uns da helfen könntest und es bei Merle, sollte es unauffällig möglich sein, versuchst, bin ich dir zu großem Dank verpflichtet.“ Angestrengt rieb Meta sich die Schläfen mit den Fingern. „Dann bleib du hier. Du weißt jetzt immerhin Bescheid. Lulu bereitet mir noch Sorgen. Wenn sie und ihre Mutter beide hier sind, hätte dieser Paktierer schnell zwei von Gudekars Liebsten. Wenn Merle mit Lulu mitkommen sollte, wäre es am besten… glaub aber nicht, dass sie dazu differenziert genug ist. Zumindest unter Druck nicht. Wir werden in der Hütte über Lulu sprechen.“ Sie stöhnte vor Hilflosigkeit. „Und wir werden rechtzeitig weg sein. Hoffentlich sehen wir uns davor nochmal.“

Mika seufzte. „Ich besorge euch Proviant für die Reise. Vielleicht kann ich Merle überreden, noch einmal mit euch zu reden. Aber spätestens bei Anbruch des Tages werde ich euch abholen, um euch noch ein Stück durch den Wald zu führen, bis ihr fliehen könnt. Vertraut ihr mir?”

“Was bleibt uns anderes übrig? Du weißt eh, wo wir jetzt sind”, gab Gudekar zu bedenken.

In der Hütte zu warten

Während Meta und Gudekar ihr Gepäck von den Pferden nahmen und in die kahle Schutzhütte gingen, machte sich Mika zurück auf den Weg ins Dorf. Sie hatte noch überlegt, ob sie Gudekar um eines der Pferde bitten sollte, doch dann dachte sie, es wäre besser, sie hätten beide, falls sie unerwartet aufbrechen mussten.

Die Hütte war spärlich eingerichtet. Nein, sie war kahl. Lediglich eine schmale Sitzbank stand an einer Wand, daneben ein kleiner Tisch mit wackelndem Bein, sowie ein einfacher Stuhl. Neben einer kleinen Feuerstelle war etwas Brennholz aufgeschichtet. Dieses war jedoch mit Spinnenweben überzogen. In einer Ecke war Stroh für ein unbequemes Nachtlager angehäuft, zudem lag hier ein Stapel Decken.

Gudekar setzte sich erschöpft auf die Bank und klopfte auf den Platz neben sich. “Komm her Meta, setz dich bitte zu mir. Ich brauche jetzt deine Nähe.”

Meta setzte sich neben ihn auf die Bank, umarmte Gudekar und zog ihn so nah zu sich, dass er seinen Kopf halbwegs bequem an ihr betten konnte. Sie strich ihm beruhigend über Gesicht und Haar. Lange und schweigend.

Gudekar legte seinen Kopf auf ihre Schulter und ließ sich von ihr umarmen. Dann fing er an zu weinen. All die Anspannungen des Tages, all die Sorgen, Ängste, der Kummer, die Selbstvorwürfe, die Enttäuschungen, selbst der Schrecken des Verlustes, all dies fiel mit einem Mal von ihm ab und hinterließen nur Leere in seinem Geist. Und mit ihnen verschwanden auch die Barrieren, die ihn davon abhielten, zu weinen, und er ließ seinen Tränen freien Lauf. Eine ganze Weile saß er so schweigend in Metas Arm. Dann schniefte er und wischte sich mit dem Daumenballen die Tränen aus den Augen. „Meta, du bist die Stärke, die mir fehlt. Ich danke den Göttern, dass sie dich mir an die Seite gestellt haben. Ohne dich würde ich das hier alles nicht durchstehen.“

Liebevoll und zärtlich barg Meta Gudekar weiter in ihren Armen und gab ihm Halt. Endlich löste sich seine Anspannung etwas, sie selbst war gespannt, müde, verdrängte die Angst und mit ihm bei sich, nach einer gefühlten Ewigkeit, in der sich die Ereignisse überschlagen hatten und sie keinen Freund mehr traute, waren sie alleine zusammen. „Gudi, auch wenn es falsch sein sollte und alle anderen uns verurteilen bleibe ich bei dir. Ich gebe dir den Halt, den du brauchst, die Ruhe, wenn wir in Sicherheit sind und unsere Wege gehören zusammen. Was dir geschieht, das wird auch mit mir geschehen.“ Sie wuschelte durch sein Haar und wischte lächelnd auch über sein Gesicht. „Gemeinsam stehen wir das durch. Ich hatte so viele Fragen, meine Angst, dass du mich hinhältst und zu Merle zurück willst, eines Tages, wenn sie wieder lieb zu dir ist..., das ist jetzt unwichtig, ich weiß, dass es nicht stimmt. Mach dir bitte auch wegen Linny keine Gedanken, er ist da anders. Wir werden nie mehr als geschwisterliche Freunde sein.“ Das Thema wollte sie noch einmal ansprechen, um es zu beenden. „Ich bleibe bei dir, du hast mir weh getan, aber das ist jetzt nicht wichtig. Sollen mich die anderen als Hure sehen, die es nicht wert ist, Ritterin zu sein. Rahjel hat unserem Bund erneuert und ich hab mich während des Sturmes und der Suche tapfer verhalten. Auch liegt mir die Sicherheit deiner Familie am Herzen. Merle haben wir, fürchte ich, verloren. Sag, wie willst du mit Lulu verbleiben? Soll sie bei ihrer Mutter und Ciala bleiben, Menschen, die sie kennt, oder willst du sie an einen anderen Ort bringen. Sie kennt dich kaum, wäre zwar sicherer, aber sie würde leiden. Ich weiß es selbst nicht. Aber du wirst immer auf mich zählen können.“

Gudekar hatte sich soweit wieder gefangen und saß nun vollkommen entspannt in Meta Armen, den Kopf auf ihre Schulter gelehnt. Sanft und über seine eigenen Worte nachdenkend, versuchte er, sich über die Zukunft Gedanken zu machen. „Lulu gehört zu ihrer Mutter. Es ist jetzt an Kalman und Ciala, auf die beiden aufzupassen. Ich werde das Kind nicht seiner Mutter entreißen. In Tälerort ist nicht der richtige Ort für ein Kind. Anders wäre es, wenn wir für immer in Almada bleiben würden, dann könnten wir dort eine Familie sein. Aber dort sind wir beide nicht auf Dauer sicher. Man wird uns jagen und suchen. Und wenn sie uns finden, können wir mit Lulu nicht schnell fliehen.“

Tief und entspannt atmete seine Freundin, endlich kam etwas Entspannung, und Meta kraulte Gudekar liebevoll vertraut weiter. „Das sehe ich genauso. Wenn Merle uns nicht folgen will, werden sie beide hier bleiben müssen. Aber ich hätte dir geholfen, wenn du zufällig einen genialen Plan gehabt hättest.“ Er konnte ihr verschmitztes Lächeln nicht sehen aber spüren. „So viele Fragen hatte ich vorhin. Jetzt sind mir die meisten entfallen. Ach wart, Ich war ja nicht dabei. Ich sollte gehen, als Merle unter dem Bannbaladin dir ihre Liebe gestanden hatte und du so gerührt warst.“ Sie gab ihm mit dem Fuß einen leichten Tritt gegen das Bein. „Als wäre es der Traum, den du dir gewünscht hast. Was ist danach geschehen?“

“Ich wollte doch nur, dass du unseren Abmarsch vorbereitest”, beschwerte sich der Anconiter. Dann wurde er ernst. “Ich… ich habe ihr heilenden Schlaf geschenkt.”

„Das wollte ich, dass du es mal bei mir machst“, entfuhr es Meta spontan. „Das muss ein besonderes Erlebnis sein. Ich will auch mal glücklich und tief schlafen und mich dabei erholen.“

Gudekar lächelte. “Ja, stimmt. Heute nicht, aber wenn wir in Almada sind und Ruhe finden, können wir noch einmal darüber reden. Aber glaube mir, du würdest wenig davon spüren.”

Dann wurde sie wieder ernst. „Hm, ja. Das war wohl die einzige Möglichkeit. Ach was für ein Mist. Warum wollte sie nicht mitkommen? Es liegt an mir, das ist klar. Ich kann aber grad, wenn’s ernst wird, höchstens blöde Sprüche machen, aber nicht so reden wie, wie Mika, oder Doratrava, Tsalinde und wer weiß wer noch alles. Außerdem bin ich ihre Feindin.“ Meta runzelte die Stirn. „Warum eigentlich? Das verstehe ich nicht ganz. Will sie dich zurück oder nicht? Auf der Suche hatte ich kurz die Gelegenheit, mit Kalman zu reden. Er würde das zwischen uns akzeptieren, so hab ich das verstanden. Aber ich, also wir, sollten es so handhaben wie die anderen Adligen. Nach außen hin ist sie deine Frau, das hatte ich ja irgendwann erwähnt, dass sie neben dir auf offiziellen Anlässen wäre. Repräsentativ. Oder? Ich weiß den Wortlaut nicht mehr genau. Jedenfalls war ich von deinem Bruder überrascht.“

Gudekar zuckte mit den Achseln. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Bruder so etwas gesagt haben sollte. Das passte so gar nicht zu seiner nach außen getragenen Traviatreue. Aber das war nun eh einerlei. “Merle wird mich niemals teilen wollen. Sie, mit ihrer traviatreuen Erziehung, wird es niemals akzeptieren, dass wir uns lieben. Und ich bin es leid, eine Maskerade zu spielen. Ich möchte mit dir zusammen sein.”

Meta drehte ihren Kopf zu seinem und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. „Du hast mich vor zwei Götterläufen verzaubert und mir das Herz gestohlen. Böser Mann.“ Ihr Lächeln und der Glanz in ihren Augen verrieten den Scherz sofort. „Seitdem will ich mit dir zusammen sein und habe gewartet. Weißt du eigentlich, wie stolz ich bin, dass du unsere Liebe zugibst? Ich weiß, das darf man nicht, aber du hast so lange getan, was die anderen von dir wollten. Und ein kleiner Kreis wird auch in anderen Häusern über die Verhältnisse Bescheid wissen. Felina hat mir das gesagt, als Zofe merkt man sowas.“ Sie schob Gudekar so weit in sitzende Positionen, dass sie einander direkt ansehen konnten. „Nach den Ereignissen der letzten Tage, die das Schlechte in den Menschen hervorgebracht haben, ich dachte, du würdest mich gerade mal als Zweitfrau, Konkubine, haben wollen, ist mir vieles einerlei. Gudekar, ich will auch mit dir zusammen sein.“ Erwartungsvoll sah Meta ihn an und kicherte. „Ich rede schon wieder zu viel. Willst du mich auch was fragen oder was genauer wissen?“

Gudekar dachte eine Weile nach. “Weißt du, ich habe dir immer gesagt, dass ich nur dich will. Ich fürchtete schon, selbst du glaubst mir nicht mehr. So wie mir immer alle mit Skepsis begegnen. Eine Frage habe ich tatsächlich an dich. Heute früh, als wir den Rahjabund durch Rahjel schließen ließen, da war so ein Mädchen. Sie schien eine Novizin zu sein, doch wusste ich nicht, dass Rahjel eine Novizin hat. Und Rajalind hat ja einen anderen Novizen. Doch dir schien sie vertraut. Wer war sie?”

„Der Rahjabund heute… das scheint mir eine Ewigkeit her.“ Meta errötete und griff unbewusst nach ihren beiden Anhängern. „Sie ist dir aufgefallen?“ Sie lächelte verlegen und seufzte. „Wo warst du Peraine 43? Wahrscheinlich mit deiner Bäckersache beschäftigt. Die ist streng geheim und ich hab erst heute davon erfahren. Ach, wie erkläre ich das?—- In der Zeit als Knappin hatte mich Thymon alleine auf eine Mission geschickt, damit ich Erfahrung sammle. Genauer will ich das gar nicht ausführen, es ist das Ergebnis, das zählt. Am Ende einer nicht ungefährlichen und spektakulären Reise..., da kam ich quasi zu einer Schwester.“ Sie lächelte, da Gudekar natürlich noch nichts verstehen konnte. „Das ist diese Novizin, Zaina. Ich bin für sie verantwortlich und gebe ihr ein Heim. Hm... in Tälerort werde ich mir etwas einfallen lassen müssen. Hoffentlich finde ich einen Rahjatempel, wo sie in Sicherheit ist. Zaina ist kein Mensch, sie ist sowas wie ein Funken Rahjas. Jetzt gerade trage ich sie hier in meinem Amethysten. Aber sie nimmt manchmal menschliche Gestalt an. Bisher war sie im Tempel von Linnartstein Novizin. Ich lasse sie aber nicht alleine, sie muss bei mir bleiben. Verstehst du? Sie ist göttlich. Sagt dir der Begriff Zelot etwas? Sowas bin ich seitdem. Und Zaina verändert mich. Ich bin viel offener und fühle mich Rahja sehr hingezogen seitdem.“ Hilflos, da sie es nicht besser beschreiben konnte, blickte sie Gudekar an.

Gudekar schaute seine Geliebte staunend und fragend an. “Das… das sagt mir nichts. Zelot? Das habe ich noch nicht gehört. Dann trägst du etwas, etwas Göttliches mit dir? Und du kannst sie jeder Zeit rufen, deine, wie heißt sie? Deine Zaina? Du könntest sie jetzt, hier rufen?”  

Unsicher druckste Meta herum und knetete erst ihre Hände, massierte dann ihre beiden Anhänger. „So einfach ist das nicht. Sie ist ein Funke Rahjas und hat mich irgendwie der Schönen näher gebracht. Ich muss sie schützen, ich bin für sie… es verantwortlich, bis die Zeit reif ist.“ Jetzt lachte sie einen Moment niedlich, fast mütterlich. „Zaina kann auch störrisch sein. Das heute verstehe ich nicht. Normalerweise ist sie tagsüber bei mir, in dem Stein. Ich lege ihn nie ab, als würde ich ein Kind bei mir haben, sie braucht mich. Nachts nimmt sie Gestalt an. Ich gebe sie als eine Schwester aus und sie braucht einen sicheren Ort, wo sie sein kann, was sie ist. Bisher war das der Rahjatempel bei Alegretta. Eine Novizin ist sie dort. Aber ich werde sie nie alleine lassen. Wir werden, egal, wohin wir gehen, einen Platz für sie finden. Es ist meine Verantwortung.“ In der Hoffnung, er würde nicht zu detailliert fragen und dennoch langsam verstehen, sah sie Gudekar an. „Du hast mir dein Geheimnis gegeben. Das ist meines.“ In ihren Augen sah er, was sie nicht, noch nicht aussprach. Die Verantwortung für ein Kind, das sie nie haben würde, da es nicht möglich war und ihr Erwählter keine mehr mochte. Meta war gereift.

„Weißt du, was das bedeutet?“ Obwohl er selbst nicht überzeugt war von seinen Gedanken, versuchte Gudekar den Eindruck zu vermitteln, als gäbe es keine Zweifel daran, was er jetzt sagen würde. „Sie alle liegen vollkommen falsch! Wenn du Göttliches in dir trägst und dennoch meine Gegenwart, meine Liebe zu dir, erträgst, dann kann ich nicht der Verdammnis anheim gefallen sein. Dann ist es göttlicher Wille, dass wir zusammen sind. Denn nur deine Liebe gibt mir die Kraft, all das, all die Schrecken durchzustehen, die ich in den letzten zwei Jahren erfahren habe. Doch nun weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin, dass meine Taten von den Göttern gesegnet sind.“ Ein strahlendes Lächeln voller Liebe ging von ihm aus und traf Meta ins Herz.

„Aber das wusste ich doch schon immer“, lachte Meta mit ihm. „Die anderen sind nur so verbohrt.“ Ernst zog sie dann wieder die Augenbrauen hoch. „Niemand. Wirklich niemand darf von Zaina wissen.“

Gudekar nahm Metas Hände und schaute sie ernst an. “Du kannst mir vertrauen, Meta. Dein Geheimnis ist bei mir sicher.” Gudekar bereute fast schon, dies gesagt zu haben. Denn die Existenz von Zaina an Metas Seite könnte ihn tatsächlich von jedem Verdacht reinwaschen. Aber er hatte ihr sein Wort gegeben und das würde er nicht brechen.

„Danke, mein Kleiner“, sagte Meta und gab ihm einen Schmatz auf die Backe. „Vertrauen. Deshalb hab ich es dir gesagt. Ich vertraue dir voll und ganz.“ Ihre Miene verdüsterte sich etwas. Sie hatte seine Hände in die ihren genommen, ließ ihn nicht los, sondern schien die Farbe seiner Iris zu studieren. „Was war heute los? Du hast mir oft weh getan. So sehr, dass ich an uns gezweifelt habe. War das ein Spiel? Ich glaube nicht. Waren es die Gefühle für Merle und der Wunsch, zwei Frauen zu besitzen? Wir sind niemandes Besitz. Du nicht und ich auch nicht. Das macht uns anders. Aber auch, wenn ich nicht so emotional wie deine offizielle Frau reagiert habe, so hat es mich oft getroffen. Mit der Ablehnung aller anderen, die die Wahrheit kennen und wissen, dass ich aus reiner Sexsucht und Boshaftigkeit dich und Merle, das schöne Paar mit Kind, trenne, damit komme ich klar, auch, wenn es zehrt. Aber du hast auch mitgemacht. Warum auch immer.“ Neugierig und erwartungsvoll sah Meta Gudekar einfach nur an.

Gudekar schüttelte langsam den Kopf, denn er wusste selbst keine Antwort darauf. “Es ist kein Spiel. Und es geht mir auch nicht darum, eine von euch beiden oder sogar euch beide zu besitzen. Ganz sicher nicht. Mein innigster Wunsch ist es, mein bisheriges Leben zurückzulassen und ein neues mit dir zu verbringen. Und doch, als mir Merle gegenüberstand, da spielten meine Gefühle verrückt, es war als ob zwei unterschiedliche Seelen in mir gegeneinander kämpften, die, die fest zu dir steht, und die, die Merle nicht verletzen wollte. Sie tat mir leid. Ich habe ihr zwei Jahre lang weh getan, ihr das Herz gebrochen und sie dennoch, genauso wie dich, im Ungewissen gelassen. Es hat so geschmerzt, sie so zu sehen. Denn auch, wenn ich nur noch mit dir zusammen sein mag, muss ich sagen, dass Merle keine Schuld daran trifft, dass ich mich von ihr abgewendet habe. Sie ist eine gute Frau, sie war immer gut zu mir. Und dennoch berührt sie plötzlich mein Herz nicht mehr so, wie du es tust. Doch verdient hat sie den Schmerz nicht, den ich ihr angetan habe. Genauso, wie du es nicht verdient hast, so von den anderen behandelt zu werden. Oder von mir. Denn auch du kannst nichts dafür, dass Rahja uns zusammengeführt hat, obwohl mir bereits die Fesseln Travias auferlegt wurden. Es wäre an mir gewesen, frühzeitig für Klarheit zu sorgen. Doch dazu war ich stets zu feige, war ich am Ende doch oft zu sehr um meine Reputation besorgt. Bitte verzeihe mir!”

Gerührt blickte Meta ihn an und schluckte, presste kurz die Lippen aufeinander. „Ich mag Merle nicht, sie versucht nicht einmal, zu verstehen. Du hast dich doch schon seit zwei Götterläufen mehr und mehr von ihr distanziert.“ Sie hob die Hand, er sollte sie jetzt nicht unterbrechen. „Mir gegenüber hast du behauptet, das Lager nicht mehr mit ihr geteilt zu haben. Das mag stimmen, oder auch nicht. Jetzt bist du erst wirklich ehrlich, so scheint es mir. Es ist egal, wenn es passiert ist.” Gudekar dachte nach, ob er wirklich das Lager nicht mehr mit Merle geteilt hatte. Es stimmte wohl nur fast. Da war dieses eine Mal, vor einem Götterlauf zum Tag der Heimkehr, nach den Vorfällen zum Efferdfest in Albenhus, als sie alle an seiner Traviaredlichkeit gezweifelt hatten, nachdem die Dreifelds ihm den Eintritt in den Tempel verwehrt hatten, als dann Eoban und Nivard ihn aufgefordert hatten, nach Lützeltal zu gehen und seine Familie zu besuchen. Ja, da gab es wohl diese eine Nacht mit Merle. Na gut, es waren zwei Nächte. Aber es war ja der selbe Besuch. Das zählte dann doch wie einmal. Und das musste er ja Meta sowieso nicht sagen. Nicht jetzt. “Ich hatte wirklich niemanden”, erklärte Meta, “aber das spielt jetzt keine Rolle. Merle hat es wirklich nicht verdient, da hast du Recht. Sie braucht eine Möglichkeit, ohne dich Glück zu finden.

Ich fühle mich dir näher, als zuvor. Du bist mein Mann.“ Meta schloss kurz die Augen, ihr Gudi war manchmal einfach begriffsstutzig und verstand nicht richtig. Es war ihre Aufgabe, so intelligent er auch war, manchmal die Initiative zu ergreifen. „Gudi, ich will später ein Kind von dir. Wirklich. Aber… du weißt ja…“ Sie schluckte wieder, diesmal einen Schmerz, den sie noch nicht kannte. Dann sprach sie schnell weiter, Gudekar war nicht der Mann, der so etwas tun würde. Fest drückte sie seine Hände und zog ihn näher zu sich. „Du bist vor Travia im Bund, aber vor Rahja gehören wir zusammen. Gudekar, ich will vor der schönen Göttin deine Frau werden. Unbegrenzt. Ja, das schließt Techtelmechtel nicht aus, das ist in Ordnung. Aber … sag, willst du vor Rahja unbegrenzt der meine werden?“

„Mein Herz wird eh immer dir gehören, Meta. Da brauche ich so einen Bund nicht, um mir das bewusst zu machen.“ Dann fiel Gudekar auf, wie seine Worte für Meta klingen mussten, und er beeilte sich, zu ergänzen: „Aber ich weiß, wie viel dir solch ein Bund bedeutet. Und deshalb werden wir ihn gemeinsam ablegen. Dann aber vor einer vertrauenswürdigen Geweihten, die nicht noch ungeladene Gäste dazu einlädt.“ Er zog seine Ritterin noch weiter zu sich heran und küsste sie auf den Mund. „Und eines noch: ich wünsche mir nichts sehnlicher, als einen strammen Jungen mit dir.“ Er lächelte verschmitzt.

Obwohl er eigentlich auf ihre Wünsche eingegangen war, sah Gudekar, dass er Meta erneut verletzt hatte und sie konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Seinen Kuss erwiderte sie nicht. „Ja, wir werden sehen. Mir bedeutet der Bund nun mal was, aber du brauchst mir keinen Gefallen tun, wenn du selber nicht willst.“ Sie ließ seine Hände los und nestelte verlegen an ihren Haaren. „Klar, einen Jungen. Du bist so ein Idiot.“ Meta schalt sich selbst dafür, was sie getan hatte und der innige Moment war vorbei. Sie drehte sich etwas von ihm weg, er sollte nicht sehen, wie dämlich sie war und sich fühlte. „Lass uns auf Mika warten und ruh dich noch etwas aus.“ Kurz darauf stand sie auf und richtete sich ein kleines Lager auf dem Stroh. „Und damit das klar ist, Gudekar. Ich werde dich nie wieder nach einem gemeinsamen Kind oder einem längeren Rahjabund fragen. Ich vertraue dir jetzt am meisten, jetzt hatte ich dir geglaubt und sehe nun, wie du wirklich denkst.“ Jetzt bin ich wirklich alleine, dachte Meta und diese furchtbare Stelle in ihr, die so schmerzlich pochte, schien sich mit Eis zu überziehen.

Gudekar wurde bleich und ihm wurde mit einem Mal bitterkalt, als sich bei Metas Reaktion sein Herz zusammenzog. Eben noch waren sie so glücklich und zuversichtlich, und plötzlich war sie kalt und abweisend. Was hatte er nur getan? Was hatte er bloß gesagt? Wie konnte ihm das passieren? Ihm wurde bewusst, wie seine Worte gewirkt hatten. Doch waren es nicht die Worte, die er sagen wollte. Irgendetwas in ihm hatte seine Antwort auf Metas Frage vergiftet, die Worte vertauscht, ausgetauscht. Er hatte nicht das gesagt, was er sagen wollte. Seine Worte mögen vielleicht für einen Außenstehenden rational und vernünftig geklungen haben, aber genau das war das Gift dieser Worte. Natürlich wollte er den gemeinsamen Rahjabund. Und nichts wünschte er sich sehnlicher, als mit Meta eine Familie zu gründen. Aber wie sollte er es ihr jetzt richtig sagen? Welche Worte konnten sie wieder besänftigen, ihr das Vertrauen zu ihm zurückgeben? Und wie konnte er verhindern, dass das, was er sagen wollte, nicht erneut verdreht wurde?

Der Anconiter saß geknickt auf der Bank. Er hatte die Füße auf die Sitzfläche gestellt und umklammerte mit gesenktem Kopf seine Knie. Er schüttelte den Kopf. Kleinlaut sprach er aus, was ihn beschäftigte. “Meta, es tut mir leid! Ich habe gerade etwas gesagt, was ich nicht so gemeint habe. Es ist, als hätte jemand anderes mir die Worte in den Mund gelegt. Ich weiß, egal, was ich jetzt sage, es wird wie billige Ausflüchte klingen. Meine Worte haben in einem Augenblick mehr zerstört, als ich so einfach wieder aufbauen kann. Dennoch versuche ich es noch einmal, dir zu erklären, was ich eigentlich sagen wollte. Ich meinte, meine Liebe zu dir ist so unermesslich groß, dass es für mich eigentlich keines Schwures vor Rahja oder irgendeiner anderen Göttin bedarf, um diese Liebe zu festigen. Auch ohne göttliches Wirken wird meine Liebe und Leidenschaft für dich ewig währen. Doch zu gerne möchte ich mit dir den Bund eingehen, um dir und der Welt zu zeigen, dass unsere Herzen zusammengehören. Doch sollte der Bund anders sein, als der, den wir heute geschlossen haben. Rahjel hat ihn uns verdorben, indem er Merle dazugebeten hat. Das darf niemals wieder geschehen. Deshalb möchte ich ihn anders. Nicht durch Rahjel, nicht so hektisch, nicht so heimlich. Nicht unter Stress. Wenn wir zwei seelisch eins miteinander sind. Wenn wir mit vollem Herzen und ausgeglichenen Seelen zusammen sind und uns dafür nicht verstecken müssen.” Er wischte sich Tränen aus den Augen. “Und so möchte ich wirklich Kinder mit dir. Es muss kein Junge sein. Das hatte ich nur gesagt, weil es dann anders wäre als bei Merle. Ich liebe Lulu und ich würde auch jedes Kind von dir lieben, egal ob Junge oder Mädchen. Ja, glaube mir, ich würde selbst dann deine Kinder lieben, wenn nicht ich der Vater wäre.” Gudekar machte eine Pause, weil sein Hals trocken war und er schlucken musste. “Ich weiß, wie verlogen das nun nach meinen ersten Worten klingen muss. Doch waren es davor nicht meine Worte, die ich gesprochen hatte. Das jetzt, das ist es, was ich empfinde. Doch ich verstehe, wenn du mich nun hasst.  Ich habe es geschafft, mit wenigen Worten mein Lebensglück, nein, unser Lebensglück zu zerstören. Ich schäme mich so sehr dafür.”

Zornig, wie ein verletztes Tier drehte sich Meta zu Gudekar. „Du verstehst es nicht mal jetzt. Ich kann keine Kinder bekommen. Das hast du wohl vergessen oder es war dir egal. Du hast ja schon welche. Und… und das mit dem ewigen Rahjabund. Wie blöd bist du. Das hätte ich mir von dir gewünscht. Es war für mich grad wie ein Heiratsantrag, den du abgelehnt hast.“ Sie verbarg ihr Gesicht hinter den Händen und setzte sich dann mit angezogenen Knien, die Arme darum geschlungen hin. „Dein Schweigen hat mehr gesagt, als dir bewusst ist. Wie konnte ich so dumm sein und glauben, ein Mann könne den Reizen einer Frau wie deiner widerstehen? Musst du auch nicht, du kannst vögeln, wen du willst, aber grad Merle… wir werden uns nie leiden können. Egal, ob ich mich sorgte oder nicht. Ach… ich wünschte, ich hätte auch einen Mann, der mich hält, Rahja opfert und für mich da ist, wenn du wieder zu ihr läufst. Ich hab es doch gesehen. Aber ich bin zu anders, als Frauen wie sie. Zu mir wird niemand kommen, also werde ich jemanden suchen. Das eben, das traf mich dort, wo der Schmerz am größten ist. Du tust mir weh, Gudi. Du hast meinen Antrag abgelegt und nicht verstanden, was es für ein Gefühl ist, später keine Kinder bekommen zu können. Dass ich mich auch auf die Suche nach einem Mann, der mich mag und befriedigt, mache, das ist nur gerecht. Du wirst dich immer nach Merle sehnen. Und das kann ich dir nicht geben.“

Gudekar stand nun auf und ging zu Meta hinüber, kniete sich neben sie und bot ihr seine Hand an. Er traute sich jedoch nicht, sie von sich aus in den Arm zu nehmen, sie festzuhalten und zu streicheln. Eigentlich war es das, was er jetzt am meisten wollte, doch war seine Angst zu groß, sie würde ihn von sich stoßen. Und so zögerte er.

“Du, Meta”, begann er in leisem Tonfall, “ich weiß nicht warum ich unfähig bin, dir zu sagen und zu zeigen, was ich wirklich für dich empfinde. Ich will doch nur dich, und doch mache ich es immer wieder kaputt. Ich weiß doch, dass du wohl keine Kinder bekommen kannst. Aber vielleicht geschieht ja dennoch ein Tsawunder. Ich werde jeden Abend dafür zur jungen Göttin beten, glaube mir. Und genauso musst du mir glauben, dass ich nicht mehr bei Merle liegen werde. Egal wie sehr sie darum bittet. Das ist vorbei. Ich will mein Leben doch nur mit dir verbringen. Das war doch ein Grund, warum ich überhaupt zugesagt habe, nach Tälerort zu gehen. Damit wir beisammen sein können, weit weg von Merle.”

Nun konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Er schlang seine Arme um sie, schneller und überraschender, als dass sie reagieren konnte, zog sie an sich heran und drückte sie so fest, wie es ging, ohne ihr weh zu tun. Dann fing er an zu weinen. “Wirst du mir je verzeihen können, was ich dir angetan habe? Werden wir je wieder so unbeschwert und glücklich sein, wie damals in Linnartstein, als ich zu dir zu Besuch kam? Ich vermisse unsere frische Liebe so sehr. Ich vermisse meine tapfere kleine Knappin.”

Obwohl sie so verletzt, enttäuscht und zornig gewesen war, stieß sie ihn nicht weg. Ihre Hände hielt Meta an seinen Rücken und wollte am liebsten immer in dieser Umarmung bleiben. Dann ließ sie sich gehen. Sie schniefte und Tränen quollen aus ihren Augen. Doch niemand außer ihm würde hier ihre Schwäche sehen. „Gudi… was ist nur los mit dir? Warum machst du das? Es tut so weh und … ich weiß nie, ob ich nun endlich sicher bin bei dir.“ Sie legte ihre Backe an die seine und atmete hektisch. „Es ist egal, was war. Du hättest es mir nur sagen können. Sowas zerstört Vertrauen, es bringt Misstrauen unter uns. Ich wünsche mir dich genau so, wie du bist. Seit wir in Lützeltal sind, scheinst du dich zu freuen, mich unerwartet zu quälen. Schatzi, warum?“

Der Magier verharrte in dieser Umarmung, genoss ihre Nähe, ihre Wärme. Ihren warmen Atem auf der Haut zu spüren und ihre Stimme direkt in seinem Ohr zu hören, gab ihm Ruhe und Geborgenheit. “Ich weiß es nicht, Meta, Ich weiß es einfach nicht. Manchmal fühlt es sich an, als ob zwei Seelen in mir um mich kämpften. Eine dunkle Seele, die alles zerstören will, was mir lieb und teuer ist, und eine, die mich ins Licht führen möchte. Wenn ich allein mit dir zusammen bin, behält stets das Licht die Oberhand. Doch seit ich hier in Lützeltal bin, falle ich immer wieder in die Dunkelheit. Hier mehr als sonst irgendwo. Deshalb müssen wir fort, fort von der Dunkelheit. Ich weiß, sobald wir weg sind, wird das Licht wieder scheinen. Es wird für dich scheinen. Nein, es wird durch dich scheinen. Du bist mein Licht.”

„Unbedingt, das halte ich nicht aus. Es ist jedesmal, als hätte man mir einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet.“ Ihre Stimme war noch brüchig und Gudekar spürte ihren Schmerz, die Enttäuschung war noch nicht überstanden. „Es ist dir wahrscheinlich gar nicht bewusst, wie oft du mir heute ins Herz gestochen hast. Hoffentlich bleibt keine Narbe.“ Ihre Hände zitterten leicht. „War das auch der Grund, warum du unbedingt nochmal mit Merle schlafen wolltest? Ich Depp hab dir zuliebe auch noch zugestimmt. Aber… ach, wie soll ich denn merken, wer du da gerade bist? Was ist und war echt, was nicht?“ Erschöpft sackte Meta in sich zusammen.

“Ich weiß es einfach nicht.” Meta spürte, wie eine Träne von seinen Augen auf ihre Wange lief. “Anders kann ich es mir nicht erklären, wie ich auf diese dumme Idee kommen konnte. Es klang vorhin so logisch, als wäre es das natürlichste der Welt. Einmal noch bei ihr liegen als Abschiedsgeschenk, so mit den Worten: ‘Hier hast du noch was, um dich an mich zu erinnern!’, und dann abreisen. So eine dumme, dumme Idee. Wie konnte ich nur glauben, irgendjemand wäre glücklich damit, irgendjemandem würde es danach besser gehen? Glaube mir, das ist das Letzte, was ich wirklich will.”

„Ich glaub’s dir. Du scheinst bei Sinnen zu sein.“ Mühsam stand Meta wieder auf. „Du weißt ja, dass sollte es dich überkommen oder auf Reisen geschehen, Techtelmechtel vorkommen können. Aber sag mir dann bitte, wenn es geschehen ist. Ich werde das auch so machen. Und denke daran, gegen eine Schwangerschaft etwas zu tun. Ich wollte eigentlich mit Rionn mal darüber sprechen. Glaubst du, es würde Hoffnung für mich geben?“

“Ich weiß nicht, was die Geweihten der ewig Jungen zu leisten vermögen, aber ich bete dafür. Auch du solltest es eines Tages erfahren, was es bedeutet, ein eigenes kleines Geschöpf in den Armen zu halten, das deiner Leidenschaft entsprungen ist.” Gudekar lächelte Meta liebevoll an. In seinen Augen war der Wunsch, dieses Gefühl mit Meta zu teilen, deutlich zu erkennen.

„Es hat ja noch Zeit. Wir hatten bisher kaum Zeit für uns.“ Wenn sie endlich weg wären. Egal, wohin. „Was meinst du, wie lange wird Mika brauchen? Was, wenn Merle gar nicht mehr mit uns reden will? Wir sollten uns ausruhen. Abwechselnd. Wenn es zu lange dauert, dann hauen wir ab, sobald es die Sicht zulässt.“

“Ja, ruhe dich ruhig aus, ich halte so lange Wache. Ich bin noch viel zu aufgekratzt, um zu schlafen.” Der Magier ging zu dem Lager, das sich Meta hergerichtet hatte und setzte sich auf das Stroh. Dann deutete er Meta an, sich neben ihn zu legen und ihren Kopf auf seinen Schoß zu betten.

Gudekar merkte, dass die letzte Verletzung Metas doch Spuren hinterlassen hatte. Etwas zu lange überlegte sie. „Gudi, ich hab Angst. Was, wenn ich aufwache und du mich wieder verletzend behandelst? Dann sagst du, dass du es nicht wolltest, es nicht verstehst, aber es bleibt immer in meiner Erinnerung.“ Dann legte sie sich doch auf das Stroh und versuchte, Ruhe zu finden. „Hoffentlich ist das vorbei, wenn wir hier weg sind. Schad, dass du keine Kraft mehr hast, mich eine Stunde einfach unbeschwert schlafen zu lassen.“ So gut es ging, rollte sie sich ein. „Übrigens, der Lützelfisch, der junge, der ist nett. Zu dem wäre ich gegangen, wenn ich alleine geflohen wäre.“

Gudekar schluckte, als Meta den Sohn des Fischers, Bernhelms Neffen erwähnte. Doch er wollte deshalb keinen Streit beginnen, und so ignorierte er, was Meta da gerade gesagt hatte. Stattdessen ging er auf ihre Angst ein. „Du musst mir vertrauen, dass ich dir nicht mehr weh tue. Ich werde dich nicht mehr verletzen, das verspreche ich dir bei meiner Seele!“ Er streichelte sanft über ihr Haar. „Du willst, dass ich dich in den Schlaf führe? Hast du keine Angst, dass ich dich verzaubere, wie ich Merle verzaubert habe?“

„Nein, das hatte ich nie. Weißt nicht mehr? Beim ersten Mal in der Hütte?“ Sie lachte und zwickte ihn in die Flanke. „Seitdem glaub ich, dass du grad mal eine Kugel Licht machen kannst. Und ich hatte dich auch schon gefragt, ob du mich nicht in einen schönen Schlaf schicken willst. Da warst aber dagegen.“ Sie kuschelte sich wieder an ihn und schloss die Augen. Kleine Fältchen an ihren Mundwinkeln verrieten ihm, dass sie noch wach war.

„Ich weiß das noch sehr gut. Aber einen Zauber auf jemanden zu wirken, sollte man nicht aus Spaß machen.“ Gudekar fiel etwas ein, und er fasste sich kurz an den Gürtel, um sich zu vergewissern, dass dort noch das kleine Gläschchen hing. „Warte mal, wenn ich jetzt noch genügend Kraft hätte, würdest du dann wollen, dass ich dich wie Merle in den Schlaf bringe?“

„Das ist lieb. Heb es dir aber auf und wir machen das, wenn wir in Sicherheit sind.“ Meta lächelte, die Geste alleine war viel wert. „Kraul mich so, wie ich dich vorhin, das ist schön.“

Gudekar lächelte zufrieden, nun konnte er sich wieder entspannen. Eine Weile streichelte er noch über ihr Haar, dann gingen seine Bewegungen sacht in ein Kraulen über, mit dem er zuerst nur ihre Kopfhaut zärtlich massierte, bevor er langsam über ihren Nacken den Rücken hinunterwanderte. Eine wohlige Gänsehaut bildete sich dort, wo seine Finger hinwanderten. "Es ist wohl besser, wenn du normal einschläfst, sonst kann ich dich nicht wecken, falls wir plötzlich aufbrechen müssen. Aber schlafe nun, ruh dich aus. Ich bleibe hier und halte dich.“

Er war sich nicht sicher, ob sie seine Worte überhaupt noch gehört hatte. Gudekar, wie er sie hielt und streichelte, war für Meta der sichere, friedliche Ort, wo sie sich völlig hingab und fallen lassen konnte. All die Sorgen, Ängste, Schmach und Ärger des Tages verschwanden für den Moment und sie sank tief in Borons Arme.

Der Anconiter war beruhigt, als er spürte, dass Meta auf seinem Schoß eingeschlafen war. Noch eine sehr lange Zeit behielt er die kraulenden Bewegungen bei, immer wieder durch sanftes Streicheln abgewechselt. So wachte er über ihren Schlaf und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Wie würde es nun weiter gehen? Er hoffte auf das Beste.

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Eine interessante Begegnung

Nachdem Meta eingeschlafen war, nahm Gudekar ein paar Blatt von Kräutern aus seiner Tasche und kaute genüsslich auf ihnen herum. Dann saß er eine lange Zeit still und regungslos da und beobachtete seine Geliebte, während er sich auf sein Innerstes konzentrierte. Er spürte, wie in dieser Zeit ein Teil seiner astralen Kräfte in ihn zurückkehrten. Dann nahm er sich viel Zeit zum Nachdenken. Immer wieder gingen ihm die Ereignisse des Tages durch den Kopf, und er fragte sich, warum es so geendet hatte, wie es geendet hatte. Musste es zwangsläufig so enden? Oder an welcher Stelle hätte er anders handeln können? Hätte es den Lauf der Dinge irgendwie ändern können? Wollte er die Dinge ändern? Sein Ziel war es doch, seine Beziehung mit Meta ein für alle Mal bekannt zu machen, zu ihr zu stehen, Merle Lebewohl zu sagen und dann mit Meta zusammen abzureisen. Und genau dies ist doch auch gekommen. Und dennoch fühlte es sich falsch an. So unglaublich falsch. Ja, er wollte mit Meta fortgehen und mit ihr glücklich sein. Aber er wollte Merle niemals verletzen. Welch ein Narr er war, zu glauben, das eine ginge ohne das andere! Wie konnte er je annehmen, Merle würde ihn einfach so fortziehen lassen und ihm noch alles Glück auf Dere wünschen. Und dennoch hatte er genau dies gedacht. Zumindest war der Gedanke in seinem Kopf. Nun, sein Entschluss, mit Meta fortzugehen, stand unumstößlich fest. Aber warum musste er Merle dabei so unglücklich machen? Dies wollte er nicht. Dies zerriss ihm das Herz. Er durfte Merle nicht weh tun. Und dennoch hatte er es getan. Er hatte das Schlimmste getan, was er sich vorstellen konnte. Er war in Merles Geist eingedrungen, um seine Abreise mit Meta zu decken. Unverzeihlich! Nein, unvermeidbar. Es war das Einzige, was er tun konnte, um zu gehen. Und was spielte es für eine Rolle, er wollte Merle doch eh nie wieder sehen. Sein Leben gehörte nun Meta, für immer. Unveränderlich. Nein, unumkehrbar. Wie sollte er je wieder zurückkehren können? Wie sollte er sich je seiner Verantwortung gegenüber Merle und Lulu und der Familie stellen? Merle war vor Travia seine Frau, unauflöslich. Und Lulu sein Kind, sein ein und alles. Unzweifelbar. Nein, unsinnig! Merle würde schon darüber hinwegkommen. Und Lulu war doch hier bei der Familie. Niemand brauchte ihn. Er konnte tun, was er wollte. Er war sein eigener Herr. Merle und Lulu waren versorgt. Die Familie würde sich um sie kümmern. Vater, Kalman, Ciala, selbst Mika. Mika! Wie ein Blitz durchfuhr es Gudekar. Was hatte er getan? Er hatte Mika benutzt, um seine Fluchtpläne umzusetzen. Natürlich war Mika nur zu gerne bereit, ihm zu helfen. Sie waren doch die Weissenquells. Doch er war seit heute ein Schwerverbrecher auf der Flucht. Wenn Mika ihm half und das irgendjemand herausfand, dann war auch Mika geliefert. Ihr Traum, einst eine Geweihte zu werden, wäre geplatzt wie eine Seifenblase. Wie konnte er ihr das antun. Ach, papperlapapp!  Sie ist bereit uns zu helfen, also sollten wir das auch nutzen. Sonst kümmert sich doch niemand um uns. Sie werden ihr schon verzeihen. Und wenn nicht, dann wird sie halt nicht geweiht, wen interessiert es schon… Sei still! Gudekar schüttelte den Kopf, um die Gedanken aus seinem Kopf zu bekommen. Vorsichtig legte er Metas Kopf von seinem Schoß auf den Boden, zog seinen Umhang aus und faltete diesen, um ihn Meta als Kissen unter den Kopf zu legen. Dann stand er auf und lief in der Hütte auf und ab. Er durfte Mikas Hilfe nicht annehmen. Sie mussten den Weg allein schaffen. Weg sein, bevor Mika zurückkehrte. Am besten weckte er Meta sofort. Mit diesen Gedanken schaute aus dem Fenster in die Schwärze der Nacht.

Da hörte er hinter sich ein Geräusch. Als er sich umdrehte, sah er ein junges Mädchen in dem Raum stehen und ihn anstarren. Gudekar erkannte sie. Er hatte sie am Vormittag schon einmal gesehen. Es war Zaina.

“Zaina?” fragte Gudekar erstaunt. “Was machst du denn hier?

Wieder fiel dem Magier auf, was für ein sinnlicher, nicht aufdringlicher Duft nach Rosen den Raum erfüllte und es scheinbar trotz aller Umstände etwas ruhiger, etwas harmonischer und etwas exotischer wurde, als die junge Novizin staunend zu ihm ging. Völlig natürlich sanft schritt sie zu der schlafenden Meta, warf sich in einer kindlich natürlichen und dadurch umso faszinierend und liebreizend, nahezu verführerischen Art ihre langen Haare in den Nacken. „Meta schläft. Sie schaut so friedlich aus und mit sich im Reinen. Gudekar, du kennst mich noch? Du wirkst so bedrückt. Der Schönen so fern. Was ist geschehen?“

Gudekar schaute das Mädchen überrascht an. Sie besaß ein hohes Maß an Empathie, wenn sie so schnell seine Gefühle lesen konnte. Tief sog er den betörenden Duft ein und erinnerte sich an den Morgen, an die Begegnung in der Schankstube, an den missratenen Bund mit Meta. Bis dahin war alles gut, doch dann kam Merle und ab da lief alles schief, ab da wurde es der schlimmste Tag in seinem Leben. Nein, das war vielleicht übertrieben. Er hatte schlimmere Tage hinter sich, vielleicht. Doch dieser Tag stand auf der Liste weit oben. “Ja, ich erinnere mich an dich. Du warst da, als Meta und ich den Bund vor der lieblichen Göttin schließen wollten. Du wolltest uns begleiten, stimmt es nicht? Doch dann ist alles schief gegangen. Fast hätte ich deine… deine Schwester verloren. Doch am Ende habe ich einen Verrat begangen, um bei Meta zu sein. So habe ich sie halten können, doch der Verrat, den ich gegen…, nun, gegen meine Frau begangen habe, wiegt schwer und wird immer als ein dunkles, schweres Schwert über Meta und mir hängen.” Gudekar schaute das Mädchen an. “Du bist Zaina, doch wer bist du? Wer bist du wirklich?”

Ehrlich verwundert sah Zaina ihn an. „Wer soll ich sein? Ich bin eine Novizin Rahjas.“ Ihr Gesicht, ihre Bewegungen und der Blick, mit dem sie ihn ansah, waren hypnotisierend. „Das ist nicht gut. Es ist gegen die Freude und den Gleichklang, den Rahja liebt. Der Verrat, das Dunkle. Es wird immer zwischen euch stehen, denn das ist nicht im Sinne der Göttin.“ Zaina schien wirklich nicht mehr über sich jetzt und hier zu wissen. „Erst, wenn du die Schatten von dir genommen hast, wirst du frei genug sein, um SIE wirklich zu fühlen. Es steht irgendwie jetzt schon zwischen euch. Hoffentlich kannst du es vertreiben. Die Kluft wird sonst immer größer. Verrat, Misstrauen, das soll nicht sein.“ Sie beugte sich zu Meta und summte leise vor sich hin, während sie, die fast noch ein Kind war, Meta streichelte.

„Das ist wahr!“ Gudekar wirkte geknickt. Langsam ging er zu Meta und Zaina hinüber und hockte sich zu ihnen. Sacht streichelte er über Metas Haar. „Ich liebe sie wirklich. Ich begehre sie, nicht rein körperlich, ich begehre ihre reine Anwesenheit, dass sie in meiner Nähe ist. Doch ich kann nicht vorhersagen, was uns die Zukunft bringt.“ Der Magier beobachtete Zaina, wie sie sich liebevoll um seine Geliebte kümmerte. „Zaina, kannst du mir einen Gefallen tun?“

„Gerne, wenn ich es vermag. Du musst wieder den richtigen Weg finden, die Harmonie in dir ist zerrissen. Zwischen euch steht auch etwas, das sollte nach dem Bund, den ihr in Leidenschaft und Freude geschlossen habt, nicht sein.“

Der Magier nickte. „Ich habe meine Harmonie verloren. Doch ich weiß, mit Meta kann ich sie wiederfinden. Doch dafür müssen wir fort. Dieser Ort hat jegliche Harmonie verloren. Und ich weiß nicht, ob dies gelingen wird.“ Sanft küsste er Metas Stirn, und Zaina spürte die unverfälschte Liebe, die er für sie empfand. „Ich weiß nicht, was heute Nacht geschehen wird. Doch ich habe eine dunkle Ahnung. Vielleicht werden wir heute noch getrennt. Und wenn das geschieht, darf Meta mir nicht folgen, sie muss mich zurücklassen und sich und dich in Sicherheit bringen. Sie darf nichts Dummes tun. Meta soll unseren geplanten Weg nehmen, über Hart bis zum großen Fluss. Dann über den Kosch nach Almada. Ich werde versuchen, euch zu folgen. Wartet in Pfortenstein auf mich, aber nicht länger als zwei Nächte, dann reist weiter. Ich werde euch finden. Ich hoffe, dass es nicht soweit kommt, doch, falls doch, richte ihr das bitte aus! Und sag ihr, dass ich sie liebe, egal, was geschieht. Wir werden einen Weg finden.“

Traurig sah Zaina den Magier an. „Es muss schlimm sein. So weit fort von ihr und das zu wissen. Gut, dass du selbst zu ihr zurück willst. Was auch immer euch getrennt hat, meine Herrin wird sich deiner in ihrem Schoße annehmen, dich aufnehmen, wenn deine Seele wieder Harmonie und Einverständnis mit ihren Werten trägt.“ Meta schien zu erwachen, so fügte Zaina noch etwas hinzu. „Ich verstehe es nicht, aber ich spüre das Gefühl, das du zu meiner Freundin und Schwester hast. Ich werde es ihr genau so sagen. Du musst es nicht nochmals wiederholen, ich habe es mir gemerkt.“

“Danke Zaina!” Gudekar lächelte das Geschöpf dankbar an. “Ich hoffe, dass es nicht nötig sein wird. Doch ich fürchte Schlimmes.”

Von draußen war leise der Ruf einer weiblichen Stimme zu hören, die Gudekar aufhorchen ließ…

~ * ~

Totenwache

Im ansonsten verlassenen Herrenhaus der Familie von Weissenquell hielt ein Teil des Gefolges des Ritters Rondrard von Storchenflug tapfer die Stellung, um ihren bei der Jagd tödlich verwundeten Gefährten Yendan Zerf mit einer Totenwache die letzte Ehre zu erweisen. An den vier Ecken des Tisches, auf dem er aufgebahrt lag, standen der Kämpfer Nivard Mittelreicher, der Schütze Prikt Praddel, der Koch Dorcas Lausinger und die Schreiberin Wiltrud Dorschau. Yendans treuer Hund Celio lag halb auf dem Tisch und halb auf dem Körper seines verstorbenen Herrn. Wer ihn dort entfernen wollte, wurde bedrohlich angeknurrt. Seine traurigen Augen schienen auszudrücken, dass er wusste,  dass Yendan tot war, aber er die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, dass sein Herrchen gleich wieder aufstehen und mit ihm herumtollen würde.

So war es auch nicht möglich, die verstorbene Kriegerin Herlinde von Kranickau, ermordete Geleitschützerin der entführten Braut Gwenn, neben Yendans Körper zu legen, als diese von den Brautsuchern ebenfalls hierher gebracht worden war. An der der Tür gegenüberliegenden Wand hatte man deshalb einen zweiten Tisch aufgestellt, auf dem die Plötzbogenerin nun lag. Neben sie hatte man schließlich auch die kleine Truhe gestellt, in der Pruch den Kopf von Rondrard von Tannenfels an dessen Bruder Nivard “geschickt” hatte, nachdem man ihm diese schließlich entreißen konnte. Aus der Totenwache für das Opfer eines Jagdunfalls war so nun auch die Totenwache für zwei Opfer des Paktierers geworden.

***

Nachdem sich die angespannte Lage in der Zehntscheuer durch das gemeinsame Singen des Yalsicor-Chorals etwas beruhigt hatte, entschied sich Nivard von Tannenfels, noch einmal zu dem Kopf seines Bruders zu sehen. Er wusste, alle Anwesenden in der Scheune würden ihm das auszureden versuchen. So nutzte er einen unbeobachteten Moment, um die Scheune durch eine Hintertür zu verlassen. Zielstrebig ging er zum Herrenhaus der Weissenquells und betrat die Eingangshalle. Als er die Eingangstür wieder geschlossen hatte, hörte er aus dem Nebenraum, in dem die Totenwache abgehalten wurde, einen lauten Ruf: “VORSICHT!” Dann, kurz hintereinander zwei dumpfe Aufschläge, als ob etwas großes und etwas kleines zu Boden fiel. Ein Bellen begann und das Geräusch von etwas Schwerem, das umgeworfen wurde, folgte.

Aller seine Sinne betäubenden Trauer zum Trotze schlugen Nivards Instinkte sofort an. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wie er es an der Kadettenschule gelernt und geübt hatte, ließ er die Blutrinne seines Nordmärker Langschwertes beim Ziehen nahezu lautlos zwischen Daumen und Zeigefinger hindurch gleiten. Seine Waffe gezückt, eilte er mit leisen Schritten in Richtung Nebenraum. Zeigte sich Pruch etwa doch noch?

Der Tannenfelser hörte ein knackendes und schmatzendes Geräusch aus dem Zimmer. Dann, als er die geschlossene Tür erreichte, endete plötzlich das Bellen von Celio abrupt.

Als Nivard (nach kurzem Lauschen) die Tür öffnete, bot sich ihm folgendes Bild: der Tisch, auf dem Yendan aufgebahrt war, war umgestoßen worden. Der Leichnam war an die Wand zu Nivards Linken gerollt. An der Stelle, wo der Tisch vorher stand, lag der Winhaller Wolfsjäger Celio mit zerschmettertem Rückgrat. In der Ecke, der Tür gegenüber, lag eine Frau mit zerschmettertem Schädel. Über ihr stand ein Krieger mit blutigem Rabenschnabel. Ein weiterer Krieger, der einen Streitkolben trug, hatte den anderen fast erreicht und Nivard konnte sehen, dass dieser den Träger des Rabenschnabels angreifen wollte. Links neben Nivard, aber auch schon dabei, die Waffe zu ziehen, war ein dritter Mann. Dieser hatte einen Brabakbengel bei sich. Alle drei waren gerüstet und Nivard konnte sich erinnern, die vier Personen schon einmal gesehen zu haben, als er vorhin die Kiste mit dem Kopf seines Bruders hierher gebracht hatte. Selbige stand offen.

Kein Pruch, so schien es, wenigstens auf den ersten Blick. Aber der Alptraum ging trotzdem weiter. Die Kiste! DIe verdammte Kiste...

"Bei allen guten Göttern! Hört auf! Sofort!" Noch während der Tannenfelser die Streitenden zum Einhalt rief, erkannte er, dass er wenigstens den Kerl mit dem blutigen Rabenschnabel mit seinem Ruf nicht erreichte. Er musste eingreifen. Nivard spurtete los.

Trotz Nivards Rufen traf der Streitkolben den Krieger mit dem Rabenschnabel leicht. Im Gegenzug fand der Rabenschnabel sein Ziel. Das Brechen von Knochen war zu hören.

"Auseinander! Hört Ihr nicht? AUSEINANDER!" Nivard war nun fast heran. "Und Waffen herunter! SOFORT" Drohend richtete er sein Schwert gegen den Kämpfer mit dem Rabenschnabel, den er als Aggressor auszumachen glaubte - dieser war es, dessen Waffe blutüberströmt war, und der seine Hiebe mit aller Brutalität durchzog, als wolle er töten und nicht nur überwältigen. Als dieser keine Anstalten machte, die Waffen zu senken, holte Nivard gegen den Waffenarm aus.

Der Krieger hatte wohl nicht mit Nivards Eingreifen gerechnet und konnte dem Schlag wenig entgegensetzen. Von der Wucht seines Hiebes mit dem Rabenschnabel wurde Nivards Schwert jedoch abgelenkt, streifte den Arm nur sacht und traf den wahnsinnigen Krieger stattdessen in der Seite.

Durch die Umlenkung entfaltete Nivards Treffer nicht die volle Wucht, die der Krieger in den ursprünglichen Hieb gelegt hatte. Der Ambelmunder hoffte dennoch, seinen Gegner durch diese Warnung zur Vernunft zu bringen. Er wollte nicht, dass dieser Mann sterben musste, nur weil sie und besonders er in seiner Trauer und seinem Schmerz um Rondrard verabsäumt hatten, das Haupt seines Bruders eingehend zu untersuchen und zu sichern. Sie hätten es doch eigentlich besser wissen müssen. Gleichwohl blieb er in Kampfposition, bereit zum nächsten Hieb oder zu einer Parade, sollte diese erforderlich werden. Auch wenn ihm davor graute - es musste getan werden, was erforderlich war, Pruchs Wirken aufzuhalten.

Doch ließ sich der Krieger nicht davon abhalten, erneut den Rabenschnabel gegen seine Gefährten zu schwingen, doch die Treffer, die er gerade einstecken musste, hatten zur Folge, dass er seinen Schlag nicht so präzise ausführen konnte wie zuvor. Der Mann mit dem Streitkolben konnte den Schlag abwehren und holte nun selbst zum Gegenschlag aus. Sowohl der Streitkolben als auch der Brabakengel trafen den irren Krieger und Blut spritzte durch den Raum, als sie ihm Wunden zufügten. Doch noch stand der Mann.

Und seine wilden Augen richteten sich nun auf den Tannenfelser. Weit holte er aus und hätte mit einem wuchtigen Schlag getroffen, wenn Nivard den Hieb nicht gekonnt zur Seite weg pariert hätte. Die kraftvolle Kampfweise kannte er - wenngleich in überlegterer Manier - gut von seiner Dienstherrin, mit der er oft auf dem Übungsplatz stand.

Kurz schien die ohnehin bestenfalls halbherzige Deckung des Gegners entblößt. Da dieser trotz der schweren Treffer, die er hatte einstecken musste, keinerlei Tendenz zur Aufgabe zeigte, beschloss Nivard, die sich bietende Gelegenheit zu einem gleichsam wuchtigen Gegenschlag zu nutzen.

Tatsächlich fand die Klinge unpariert ihr Ziel und verrichtete ihr blutiges Werk.

Der Getroffene schwankte einen Moment nachdem der Tannenfelser ihm eine blutige Wunde geschlagen hatte. Doch noch immer kam er nicht zur Vernunft und holte zu einem Schlag gegen den Kämpfer mit dem Brabakengel aus, der diesen jedoch problemlos parieren konnte. Dieser holte sofort zum Gegenschlag aus, traf jedoch von dem Schlag zuvor überrascht ins Leere. Dafür traf ihn der Streitkolben des anderen Kriegers empfindlich, so dass der vom Blutrausch befallene Krieger ins Schwanken kam.

Kam er jetzt endlich zur Vernunft? Noch immer stand der Wahnsinn auf das Antlitz des Gegners geschrieben. So lange der Kerl noch kampffähig wäre, würde er kämpfen, soviel war Nivard klar. Der Tannenfelser zögerte nicht lange - er durfte nicht riskieren, dass hier noch mehr Menschen zu Schaden kamen. Auch sein nächster, kraftvoll geführter Hieb fand sein Ziel, wenngleich knapp. Schwankend konnte der Wahnsinnige den Schlag nicht parieren und steckte erneut eine Verletzung ein. Langsam schien ihn die Kraft zu verlassen, doch wieder schwang er den Rabenschnabel durch die Luft, doch blieb der Angriff ziellos und brachte den Angreifer eher weiter ins Schwanken, als dass er für einen der Verteidiger gefährlich wurde. Die beiden Verteidiger aus dem Gefolge der Storchenflugs holten abermals zum Gegenschlag aus und trafen den Besessenen fast zeitgleich von zwei Seiten, woraufhin dieser tot zusammenbrach.

Nivard und die beiden überlebenden Kämpfer hatten das Gefühl, dass etwas Körperloses den zusammensackenden Körper verließ, noch ehe dieser auf dem Boden aufschlug. Dieses Etwas schwebte zu der geöffneten Kiste und verschwand dann durch einen winzigen Riss in den Limbus, der sich danach sofort schloss.

Nivard stürzte sofort zu der Kiste und schlug deren Deckel zu. "Bei den Göttern", keuchte er. "Wie konnten wir nur so leichtfertig sein... wie konnte ich..." Statt seinem Bruder durch die Wache an dessen Haupt zu ehren, hatte er mitgeholfen, diesen weiter zu schänden, indem sein Kopf zum Werkzeug des Erzfrevlers wurde. Entsetzt ging sein Blick zu dem gefallenen Krieger, der vermutlich gar nichts für seinen Tod konnte, sondern nur in den letzten Augenblicken seines Lebens ohne eigenes Zutun eine missbrauchte und nunmehr weggeworfene Puppe Pruchs geworden war.

Nivard nickte zu dem blutüberströmten Leichnam. "Wie war sein Name?" fragte er die anderen mit leiser Stimme.

Die beiden Überlebenden, aber schwer Verwundeten stellten sich als Prikt Praddel und Dorcas Lausinger vor. Der Angreifer hieß Nivard Mittelreicher und die erschlagene Frau hieß Wiltrud Dorschau. Sie alle waren Mitglieder der Lanze des Ritters Rondrard von Storchenflug und Gefährten des Gefallenen, Yendan Zerf.

Bevor die drei Überlebenden noch etwas anderes tun konnten, öffnete sich die Tür zum Herrenhaus.

~ * ~

Rückkehr ins Dorf

Auf dem Hof Borkmund kehrte langsam Ruhe ein. Jorgast war im Ehebett erschöpft neben seiner Frau Isfried eingeschlafen, die am Abend mit Hilfe von Ardare von Kaldenberg, Rionn, Merle Dreifelder von Weissenquell und ihrem Mann, dem Anconiter Gudekar nach einer schweren Geburt Zwillinge zur Welt gebracht hatte. So hatte er auch nicht mitbekommen, als seine Frau schließlich wie von Zauberhand oder einem göttlichen Wunder (oder beidem?) aufwachte und die Kraft hatte, ihre beiden Kinder das erste Mal zu stillen. Die Dorfhebamme Perainhulda Waldgrun jedoch hatte es mitbekommen und Ardare, Merle und Rionn noch einmal kurz zu Isfried gerufen, damit diese sich bei den Helfern bedanken konnte, bevor diese aufbrechen wollten. Isfried verkündete ihren Rettern noch, welche Namen sie für die Kinder gewählt hatte: Das Mädchen sollte Ardare und der Junge Eoinbaiste genannt werden.

Der Heilmagier jedoch war bereits mit seiner Geliebten Meta Croy aufgebrochen.

In der Küche warteten auch Imelda von Hadingen, Hesindiard Zerf, Rahjel und Alana von Altenberg und Jartgar von Immergrün auf den baldigen Aufbruch zurück ins Dorf. Die Magd Durinja spannte derweil den Esel der Borkmunds vor einen kleinen Karren, auf dem man die Leichen des Bäckergesellen Brun und des Stallburschen Marno zu ihren Familien transportieren wollte. Letzterer musste jedoch auf dem Weg zurück noch am Bachufer geborgen werden.

Schließlich brachen die Gäste im Schutz der Gemeinschaft auf, sammelten Marnos  Leiche ein und liefen weiter zum Dorf. Es herrschte eine bedrückte Stimmung, keiner von ihnen hatte Lust, sich groß zu unterhalten. Zwei junge Männer lagen tot auf dem Wagen. Merles Gatte war mit seiner Geliebten geflohen, nachdem er seine Frau zunächst mit einem Beherrschungszauber gefügig und dann mit einem Schlafzauber handlungsunfähig gemacht hatte. Und Rionns Novize Eoinbaiste war vermutlich vom Paktierer Pruch entführt worden, so wie Merles Schwägerin Gwenn. Kurz vor der Brücke über den Bach, erreichten sie die Stelle, an der Imelda die Entführung des Novizen vermutete. Die abklingende dämonische Präsenz eines Sphärentores war für die drei Geweihten in der Runde deutlich spürbar. Doch wurde auch schnell deutlich, dass Eoinbaiste hier nicht mehr zu finden war, auch keine weiteren Spuren von ihm.

So erreichten sie schließlich den Dorfplatz, auf dem eine gespenstische Leere herrschte. Der Platz, auf dem am Tag zuvor noch fröhlich gefeiert und getanzt worden war, lag verlassen und in Dunkelheit gehüllt vor ihnen. Nebelschwaden waren vom Bachlauf hochgezogen und ließen auch die wenigen Lichter in den Häuser verschwimmen und die fernen Geräusche gedämpft an ihre Ohren dringen. Sie standen am bachseitigen Zugang zum Platz. Linker Hand war das Gasthaus “Zur Weißen Quelle” zwar beleuchtet, doch war es ungewöhnlich still darin. Niemandem war wohl zu Feiern zumute. Rechter Hand stand die Schmiede des Zwergs Limrog. Daran schloss sich das Haus der Dorfschulzen an, in dem in einer Zelle im Erdgeschoss vermutlich noch immer die Gauklerin Doratrava gefangen saß. Zumindest hatte Merle sie dort zuletzt schweren Herzens verlassen.  Diesem Gebäude folgte die Bäckerei der Familie des toten Brun.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes stand die Zehntscheuer, eine große Scheune, die man tagsüber nach dem Sturm für die Feierlichkeiten hergerichtet hatte. Sie war hell beleuchtet und es drang ein feierlicher Gesang aus ihren Fenstern. Wohin sollte man sich nun zuerst wenden? Nach der Gefangenen Doratrava schauen? Brun zu seiner Familie bringen? Zum Herrenhaus weiterziehen, um den Edlen zu informieren? Dort hielt das Gefolge von Rondrard Storchenflug auch die Totenwache für Hesindiards Bruder Yendan ab. Oder war die Neugier so groß, dass man zunächst nachschauen wollte, was in der Zehntscheuer vor sich ging? Oder sollte man etwas ganz anderes tun?

“Also ich wäre ja dafür, zunächst zur Scheune zu gehen. Je mehr Leute wir informieren, desto besser. Außerdem erfahren wir dann, was sich hier im Dorf alles zugetragen hat. Was meint ihr?”, rief Imelda fragend in die Gruppe.

Merle nickte. “Kalman und Vater Friedewald sollten Bescheid wissen, dass es noch einen Toten und einen weiteren Vermissten gibt.” Nachdenklich blickte die junge Frau zwischen dem Herrenhaus und der Scheune hin und her. “Ich hätte eigentlich gedacht, dass sie im Gutshaus sind… aber in der Zehntscheuer scheinen mehr Leute zu sein.”

Rionn hatte den ganzen Weg vom Bauernhof ins Dorf nur wie abwesend gewirkt. Die liebe Nachricht, dass Isfried ihre Kinder nach Ardare und Eoinbaiste benannt hatte, nahm er lediglich zur Kenntnis, konnte sich aber nicht darüber freuen. Als sie unterwegs den Ort untersucht hatten, wo mutmaßlich das Sphärentor gewesen war, durch das der Novize entführt worden war, hatte er nur teilnahmslos daneben gestanden und geschwiegen. Nun waren sie im Dorf angekommen und es schien dem Tsageweihten alles egal zu sein. Er war nicht zu einer Entscheidung fähig.

Von einer gewissen Entschlossenheit und Unternehmungslust beschwingt, lief Arda neben dem Wagen her. Sie hatte ihre Miederweste wieder angelegt und die Kleidung lag nicht mehr nass, sondern nur noch klamm an ihrem Körper an. Ihre Waffe trug sie gegürtet an der Seite.

"Gehen wir zur Scheune und legen unsere Fracht ab. Dem Edlen können wir auch später berichten…", schlug sie vor, doch mit einer Bestimmtheit, die ersichtlich machte, dass sie keine Gegenvorschläge erwartete.

Von der Ferne, von Richtung Gasthof, erklang kurz ein Gebell, das Arda unter Hunderten von Hunden wiedererkannt hätte. Sie lächelte.

Je länger der Rahjageweihte Rahjel neben Rionn herlief, desto mehr ärgerte er sich über ihn. Auch wenn er die Geweihten der göttlichen Schwester Tsa respektierte,  wurde ihm wieder bewusst, dass es oft so war, als ob man mit einem Kleinkind agierte. Wie konnte Rionn sich ausgerechnet jetzt so hängen lassen? Die Harmonie war gestört, Menschen tot und entführt, eine Gauklerin brauchte Hilfe. Die Gläubigen brauchten jetzt ihre Stärke. Doch was machte er?

Verliert sich im Selbstmitleid. Mit einem Stöhnen schüttelte er den Kopf. Wo waren nur seine Glaubensschwestern und Brüder? Zumindest hoffte er, dass es ihnen gut ging. Glücklicherweise gab es noch eine weitere Dienerin der Zwölfe. Sein Blick wanderte zu Imelda, Gesellin des Ingerimm, oder wie sie zu betonen pflegte: Ingra. “Meisterin Imelda, habt Ihr einen Augenblick?”, sprach er sie an.

“Selbstverständlich!”, erwiderte Imelda und trat mit einem höflichen Lächeln näher an den Diener der Schönen Göttin heran. “Wo brennt es denn?”

“Hoffentlich wird es dazu nicht kommen. Ich habe der Gauklerin Doratrava versprochen, sie unter den Schutz der Rahja zu stellen. Doch in meiner Abwesenheit ist genau das eingetroffen, was ich befürchtet hatte. Sie wurde festgesetzt. Würdet Ihr mich unterstützen? Sie gehört zur Untersuchung in einen Tempel, nicht vor ein Gericht oder reinigendes Feuer.” Ernst und mit gesenkter Stimme schaute er Imelda an.

“Aber selbstverständlich helfe ich. Doratrava ist auch eine Freundin von mir”, flüsterte Imelda gut hörbar und sah verschwörerisch den Geweihten der Schönen Göttin an. “Sagt mir, wie ich Euch unterstützen kann. Was ist denn überhaupt passiert?”

“Sie wurde verhaftet, aufgrund ihrer Andersartigkeit. Wir sollten mehr herausfinden, was man ihr vorwirft”, flüsterte er und versuchte seinen Blick wieder auf die Anderen zu richten. “Ich bin froh, dich an meiner Seite zu wissen.”

Zu gerne hätte die Geweihte weiter nachgefragt, doch war hierfür nicht der richtige Moment. Sie nickte entschlossen und sah aufmerksam in die Runde.

“Ich werde nach meiner Mutter sehen, sie müsste ja im Herrenhaus sein”, sagte der ältere Ritter Jartgar. “Möchte jemand mit?”

Merles braune Augen weiteten sich ängstlich, als sie sich zu dem Ritter drehte. "Sollten wir uns wirklich aufteilen, wenn hier im Dorf Leute verschwinden?" Sie zog Gudekars Mantel enger um ihren schlanken Körper. Auch wenn der daran anhaftende, unterschwellige Geruch ihres Mannes ihr keinen Trost mehr zu spenden vermochte, würde sie das Ding behalten, zusammen mit Gudekars restlichen Sachen. So war alles, was ihr nach zehn Jahren blieb, ein schmutziger alter Mantel und ein bisschen Krimskrams. Was damals am Ufer des Großen Flusses so wunderschön, liebevoll, zauberhaft begonnen hatte, war auf ewig verloren, von ihm mutwillig zerrüttet und zerstört. Die junge Frau presste die Lippen schmerzerfüllt zusammen und versuchte, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. "Hoher Herr Jartgar, ich für meinen Teil würde mich sicherer fühlen, wenn wir zunächst gemeinsam in die Zehntscheuer und danach ins Herrenhaus gehen.”

Die Geweihte des Feuergottes nickte entschlossen. “Wir bleiben beieinander! Hoher Herr Jartgar”, sie sah den erfahrenen Ritter ungewohnt ernst an. “Wir zählen auf Euren Schutz. Eins nach dem Anderen; so ist es für uns alle am Sichersten!”

Ein Schatten kam in weiten Sätzen vom Gasthof her auf die Gruppe zugelaufen. Die Gestalt war schnell und dabei fast geräuschlos, nur das Tapsen von Pfoten auf dem Boden war zu hören.

"Oha, was ist das denn?" fragte Merle leicht alarmiert und rückte näher an Ritter Jartgar heran. "Einer der Jagdhunde?"

Rionn fuhr aus seinen Gedanken hoch, als er wahrnahm, dass sich da mutmaßlich eine Gefahr näherte. Auch Merles alarmierte Stimme hatte dazu beigetragen, dass er ins Hier und Jetzt zurückkehrte. Rionn konnte es nicht kontrollieren, wenn er in seinen Erinnerungen versank, die eigentlich keine Erinnerungen waren. Denn es waren nur Bilder, Fetzen von einer Vergangenheit, die ihm entglitten war. Er konnte die Bilder nicht zuordnen, nur mutmaßen, was es sein könnte. Auch kamen die Bilder offensichtlich nicht in einer chronologischen Reihenfolge und er vermochte es nicht, sie zu sortieren. All das überforderte ihn. Es schmerzte. Die Bilder erzählten von schlimmen Verlusten. Und er spürte, dass diese Menschen ihm sehr nahe gestanden haben mochten. So war er jetzt auf eine gewisse Weise froh, dass er wieder zurück in die Gegenwart glitt. Aufmerksam sah er sich um, noch ein wenig desorientiert. Ein Hund? Er versuchte die Gefahr einzuschätzen, die von dem Tier ausging.

Die leicht schwerhörige Geweihte bemerkte den heraneilenden Hund erst auf Merles Nachfrage. Schnell erkannte sie, dass es sich um ein sichtlich aufgewecktes Tier handelte. "Ja hallo? Wer bist du denn?" fragte sie freudig und hielt dem großen Vierbeiner zur Begrüßung die Hand hin.

Der große, schwarzbraun gezeichnete Hund rannte schnurstracks an Imelda vorbei und tanzte freudig japsend um die Baroness von Kaldenberg herum, bis diese den Zeigefinger hob und das Tier eindringlich ansah. Der Hund wusste den Befehl wohl zu deuten und setzte sich ab, auch wenn es ihm sichtlich schwer fiel ruhig sitzen zu bleiben. Es war ein großes, prächtiges Tier, welches selbst sitzend mehr als einen Schritt groß war. 50, 60 Stein Körpergewicht, offensichtlich ganz überwiegend Muskelmasse, verteilten sich auf einer elegant-kraftvollen Statur. Aufmerksam musterte der Hund - oder vielmehr eine Hündin, wie Leute mit grundlegenden tieranatomischen Kenntnissen erkennen konnten -  seine Herrin. Ein Schnipsen mit der Finger der Baroness ließ das Tier wieder aufstehen. Neugierig schnupperte es zuerst am Karren mit den Leichen, dann wandte es sich schnaubend ab und trabte zu der Priesterin, die ihm zuvor die Hand zum Schnuppern dargeboten hatte.

Auch Arda war es nicht entgangen, dass Imelda Interesse an der Hündin gezeigt hatte, und das wiederum weckte die Aufmerksamkeit der Baroness für die Geweihte. Prüfend blickte sie auf die Begegnung zwischen Imelda und dem Tier.

Merle hielt weiterhin respektvoll Abstand zu dem großen Hund, lächelte jedoch zart, als sie die Begeisterung und Freude des Tieres bei der Begrüßung der Baroness beobachtete. Die reine, unverbrüchliche Liebe und Treue der Hündin rührten sie. Niemals würde so ein Tier einen in der Weise täuschen, betrügen und verletzen, wie es die Menschen taten, dachte sie wehmütig, während sich ihr Herz schmerzvoll zusammenzog.

“Na, du bist ja eine ganz Brave, wie?” Imelda freute sich sehr, dass das schöne Tier zu ihr kam und sich für sie interessierte. Eifrig begann sie die Hündin hinter dem Ohr durchzukraulen. Neugierig wandte sich die junge Ingrageweihte an die Baroness: “Wie heißt denn Eure Gefährtin?”

Als die große Hündin die Liebkosungen völlig schamlos und mit genießerisch geschlossenen Augen in Anspruch nahm, verlor die Baroness unvermittelt ihre Selbstbeherrschung und prustete los: "Tharga heißt sie", lachte Arda. "Es scheint mir, als hätte ich die junge Dame heute insgesamt vernachlässigt." Der Blick, mit dem die Kaldenbergerin ihr Tier bedachte, war von aufrichtiger und unverstellter Liebe gekennzeichnet.

"Ja, wer ist die beste, feinste Hündin des Dererunds? Wer?", fragte Imelda kichernd, während sie versuchte, sich von der schlabbernden Zunge in der Nähe ihres Gesichtes zu schützen. "Du, Tharga! Du bist die beste, ja, ganz fein!"

Laut lachend wandte sie sich an die Baroness. "Tharga ist ja bestimmt eine der schlausten Jagdhündinnen, die es gibt, nicht wahr?"

~ * ~

Vor der Zehntscheuer

Langsam kehrte Ruhe ein in der Zehntscheuer, nachdem die Geweihten Rajalind und Grimmgasch das gemeinsame Gebet und den kleinen Götterdienst beendet hatten. Endlich schliefen die Kinder ein und auch viele der Erwachsenen legten sich auf den improvisierten Lagern zur Ruhe. Es war ein langer und anstrengender Tag für alle gewesen und die Ereignisse der letzten Stunden forderten ihren Tribut.

Rondrard von Storchenflug und Kalman von Weissenquell hatten sich für die erste Nachtwache einteilen lassen und standen an der halb geöffneten Tür des Hauptzugangs vom Dorfplatz aus.

Das Geräusch eines Eselkarrens und einer Gruppe von Fußvolk samt großem Hund, die sich vom Gasthaus her über den Dorfplatz näherten, schreckte die beiden Ritter auf. Im nebligen Dunkel der Nacht war nicht zu erkennen, wer dort auf die Scheune zugelaufen kam.

Ankunft

Über den Dorfplatz kam die Gruppe, die auf Gut Borkmund bei der Geburt der Zwillinge geholfen hatte, und die nun den Eselkarren mit den Leichen vom Bäckergesellen Brun und dem Stallburschen Marno mit sich führte. Merle Dreifelder von Weissenquell, die Geweihten Rionn, Imelda von Hadingen und Rahjel von Altenberg, die Ritter Jartgar von Immergrün und Alana von Altenberg, der Krieger Hesindiard Zerf sowie die Baroness Ardare von Kaldenberg mit ihrer Bluthündin Tharga näherten sich den beiden Wachen vor der Scheune, aus der der Gesang inzwischen verstummt war. Auch sie hatten Probleme zu erkennen, wer dort vor der Zehntscheuer stand.

Kalman zog sein Schwert und rief: “Ihr da! Bleibt sofort stehen und gebt Euch zu erkennen! Sprecht, wer Ihr seid!”

Rondrard legte seine Hand auf den Schwertknauf, bereit, den Stahl jederzeit aus der Scheide gleiten zu lassen.

Reflexartig ging Ardas Hand an das Halsband ihrer Hündin - und keinen Wimpernschlag zu spät: schon begann Tharga sich nach vorne zu stemmen, um sich demjenigen zu nähern, der ihre Herrin und ihre Begleiter so feindselig anrief, und ihn tüchtig zu verbellen. Der Zug am Halsband verhinderte ersteres und die Hündin beließ letzteres bei einem kurzen Aufbellen.

Als niemand der anderen sofort antwortete, trat Merle zögerlich in Richtung des Eingangs. Sie glaubte die Stimme ihres Schwagers zu erkennen und es war wohl ihre Pflicht als Weissenquellerin, das Wort für die Gruppe zu ergreifen. "Hier, ähm, ist… Merle", brachte sie leise und etwas krächzend heraus, räusperte sich und fuhr lauter und deutlicher fort: "Zusammen mit Waffenvolk und den Geweihten. Wir, ähm… wir haben Brun und Marno dabei." Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie Kalmans Miene in der Dunkelheit besser zu auszumachen.

“Merle? Du bist es! Komm her!” Der Weissenqueller öffnete die Arme, um Merle zu begrüßen, hielt das Schwert dabei jedoch weiter fest. “Ihr habt Marno gefunden? Wo ist er?” Nun schaute Kalman intensiver zu der Gruppe und realisierte, dass sein Bruder nicht zu sehen war. “Wo ist Gudekar? Ist er noch bei Isfried?”

Gudekars Schuld

Obwohl sie wegen Kalmans Umgang mit Doratrava im Zwist auseinander gegangen waren, floss Merles Herz über vor Erleichterung, ihren Schwager wohlbehalten wiederzusehen. Sie drückte ihn kurz an sich, dann erstattete sie bemüht ruhig Bericht: "Die Baroness hat Marno im Lützelbach gefunden, nicht weit vom Borkmundshof. In einem… Mehlsack." Sie schluckte und hob den Blick, um Kalman direkt und ernst in die Augen zu schauen. Auch wenn es entsetzlich weh tat, musste es gesagt werden. Sie musste die Wahrheit jetzt über die Lippen bringen. "Gudekar hat Isfried geholfen, doch danach hat er mich und die Familie verraten. Er hat seine Magie gegen mich eingesetzt und ist mit seiner Buhle geflohen. In seinem Mantel haben wir außerdem einen Hinweis gefunden, dass er im Austausch mit dem Paktierer stand", sie blickte schwer atmend an dem Kleidungsstück herunter, das noch immer schwer auf ihren Schultern lag, bemühte sich aber um eine feste und klare Stimme. "Ich bin bereit, all dies zu bezeugen und zu beeiden, sowohl vor der derischen als auch der kirchlichen Gerichtsbarkeit."

Wäre es heller gewesen, hätten die Umstehenden gesehen, wie das Blut aus Kalmans Gesicht wich. Die Nachricht über den Fund von Marnos Leiche, so schlimm dies auch war, rückte plötzlich ins Unbedeutende. Was hatte Merle da gerade gesagt? “Er hat was?”, fragte Kalman nach, der Merles Worte nicht glauben wollte, während er den Schwertarm sinken ließ.

Merle schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln. Ja, ihr Herz war gebrochen, ihr Urvertrauen erschüttert - und obwohl sich ihre dumme, schwache Seele noch immer nach Gudekar verzehrte, nach dem alten, liebevollen, gutherzigen Gudekar, musste sie jetzt hart und kalt sein; eiskalt und gefasst, an sich selbst denken und an Lulu. Ihr Ehemann war verloren; sie musste überleben und tun, was richtig und notwendig war. "Gudekar hat mich erst mit einem Beherrschungszauber gefügig gemacht und dann im Haus der Borkmunds in Schlaf versetzt. Er will mit seiner Geliebten nach Almada fliehen."

Kalman schluckte. Er legte Merle die linke Hand auf die Schulter und blickte seiner Schwägerin eindringlich in die Augen. Merle fiel auf, wie ähnlich seine Augen denen von Gudekar waren, waren die beiden Männer doch sonst von Grund auf verschieden. Aber ihre Augen glichen sich fast. Nur wusste sie, dass von Kalmans Blick keine Gefahr ausging. “Das sind schwerwiegende Anschuldigungen, die du gegen Gudekar hervorbringst. Ich hoffe, sie sind nicht unbedacht gesprochen. Wenn sie in die falschen Ohren gelangen, ist dein Mann, mein Bruder, für immer verloren.” Sie nickte ernst und fest entschlossen. Kalman wandte seinen Blick in Richtung der Zelle, in der Doratrava saß, um Merle deutlich zu machen, dass Gudekar ein ähnliches, wenn nicht sogar weitaus schlimmeres Schicksal drohte. “Lass uns bitte erst miteinander reden, bevor du deine Anschuldigungen öffentlich machst!” Dann richtete er seine Worte an Merles Begleiter. “Wer von Euch kann etwas zu Merles Anschuldigungen gegen meinen Bruder sagen?”

“Ich weiß nicht viel über Magie”, log die Baroness von Kaldenberg, die nun näher getreten war, “und ich kenne Euren Bruder erst seit dem gestrigen Abend. Daher fehlt mir der Vergleich. Doch ich kann bezeugen, dass sein Verhalten heute Abend bereits für sich genommen höchst seltsam war. Höchst… erratisch. Und die Art und Weise, wie er Frau Merle hier… nun, ich kann es nicht anders sagen, demütigte… Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass der Bäckerpruch einen dunklen Einfluss auf Gudekar ausübt. Gleichzeitig glaube ich nicht, dass sich Gudekar des Einflusses bewusst ist oder gar wissentlich eine Komplizenschaft mit dem Dämonenbündler eingegangen ist.” Sie wandte sich an Merle: “Ich glaube, für die Wunden, die Euch heute - nicht nur heute - geschlagen worden sind, spielt es keine Rolle, ob sie willentlich, versehentlich oder unter fremdem Einfluss geschlagen worden sind.” Sie rang kurz nach Worten. “Ich gebe Euch nur zu bedenken, dass Euer Mann möglicherweise als Mirhamionette nach dem Spielbuch jenes Götterfrevlers tanzt. Tut dem Pruch nicht den Gefallen, Euch nun auch noch in seinen Reigen des Zwistes einzufügen. Führt Ihr hier und jetzt Klage gegen Euren Mann, tut Ihr vermutlich genau dies.”

Arda kam noch näher und tastete nach Merles Hand: “Ich habe Euch als Frau mit einem großen Herzen kennengelernt. Zeigt IHM, dass Ihr besser, dass Ihr größer seid als er.” Bewusst vermied sie es zu erläutern, ob sie mit “ihm” den Bäckerpruch oder diesen Hallodri von einem Mann meinte, der vor seiner Frau mit einer anderen herumhurte. Arda war klar, Merle hatte das alles mit einer bewundernswerten Gelassenheit ertragen. Gemächt und Hoden einzubüßen, wie die Baroness Gudekar angedroht hatte, wäre das Mindeste gewesen, was ein Mann hätte erleiden müssen, der ihr, Arda, auch nur die Hälfte der Dinge angetan hätte, die Merle widerfahren waren.

“Lasst uns jetzt mit dem Dorf und dem Gut zusammenstehen gegen die Bedrohung. Alles zu seiner Zeit. Was Euch angetan wurde, ist nicht vergessen. Wir werden höchstens genauer wissen, was passiert ist, und weiser sein, als wir es jetzt sind.”

Merle wog nachdenklich den Kopf zur Seite. "Noch vor einem Stundenglas wäre ich bereit gewesen, alles für Gudekar zu tun. Ich hätte mein Leben gegeben, um ihn zu schützen, hätte mich weiter von ihm demütigen und verletzen lassen, wäre ihm und seiner verdammten Buhle sogar bis nach Almada gefolgt - alles für ein bisschen Freundlichkeit und Aufmerksamkeit von diesem Mann." Ihre Stimme klang brüchig und gepresst; sie schluckte erneut und versuchte die Fassung zu bewahren. "Indem ich seine Frevlerei und Eidbrüchigkeit sehenden Auges toleriert hätte, wäre auch ich in den Augen der Gütigen Mutter schuldig geworden. Ich hätte alles ertragen für ihn. Doch das ist jetzt vorbei. Ich werde mich nicht mehr schützend vor ihn stellen. Und nicht mehr schweigen oder für ihn lügen. Ich werde die Wahrheit aussprechen über alles, was mein Mann gesagt und getan hat. Auch vor der Inquisition, wenn nötig." Entschlossen blickte sie zwischen Ardare und Kalman hin und her, dann seufzte sie leise. "Aber ich weiß natürlich, dass es im Moment dringendere Sorgen und Nöte gibt."

Kalman nahm Merle tröstend in den Arm, während er sehr aufmerksam den Worten der Baroness lauschte. Was die Frevelei mit dieser Buhle anging, stimmte er ihr zu. Dafür sollte Gudekar büßen und Merle sollte Wiedergutmachung erhalten, wenn die anderen Gefahren gebannt waren. Doch eine Aussage der Baroness ließ ihn nachdenklich werden. Die Möglichkeit, dass dieser madaverfluchte Hund sogar mit diesem Abschaum vom Pruch in Komplizenschaft stehen konnte, war ihm zuvor nie in den Sinn gekommen. Doch nun, einmal ausgesprochen, war er sich nicht sicher, ob dies nicht doch der Fall sein könnte. “Merle, niemand erwartet von dir, dass du dich schützend vor diesen …, diesen …, ach, mir fehlen die passenden Worte für ihn, stellst und weiter so tust, als wäre nichts gewesen. Doch sollten wir die nächsten Schritte gut überdenken.” Dann wandte er sich an Ardare. “Wartet, Euer Wohlgeboren! Seid Ihr sicher, dass mein Bruder wirklich nicht unter Pruchs, nun, Kontrolle steht und ihm zuarbeitet?”

Arda schüttelte den Kopf: “Im Gegenteil. Ich halte es sogar für äußerst sicher, dass Euer Bruder dem Pruch zuarbeitet. Ich glaube aber auch, dass er es nicht willentlich tut. Bei Travia, vielleicht war das nicht einmal Pruchs Plan. Und doch ist dieser der größte Nutznießer von Gudekars Verhalten.”

Kalman nickte verstehend. Doch war er nun noch mehr verunsichert, was zu tun war. “Baroness, Ihr wart doch, wenn ich recht im Bilde bin, damals beteiligt, als der Pruch beinahe gefasst worden wäre. Ich vertraue Eurem Urteil. Denkt Ihr, wir sollten Gudekar jagen, festsetzen und der Inquisition der heiligen Praioskirche überstellen, damit über ihn gerichtet wird?”

Arda lachte freudlos: “Was, bitteschön, lässt Euch glauben, dass wir gerade die Jäger seien?” Um ihre Worte zu unterstreichen, wies sie ohne hinzusehen nach hinten, wo sie den Karren mit den beiden Toten wähnte, und dann auf die Scheune. “Mit Verlaub, wir haben in meinen Augen weit größere Probleme. Es ließe sich nicht bewerkstelligen, es ist der falsche Zeitpunkt und zerfasert unsere Kräfte und unsere Aufmerksamkeit.”

Mit einem schiefen Lächeln ergänzte die Baroness: “Also, im Grunde genommen sage ich Euch dasselbe, was ich mit anderen Worten Eurer Schwägerin gesagt habe.”

Kalman blickte die Baroness fragend an. “Was habt Ihr Merle gesagt?”

Arda runzelte die Stirn: “Ihr standet doch gerade dabei?!”

Kalman runzelte kurz nachdenkend die Stirn. “Ach so, das meint Ihr.” Dann wandte er sich an die drei Geweihten. “Eure Gnaden, wie denkt Ihr darüber? Ist es empfehlenswert, Gudekar nachzujagen, um ihn der Kirche zu übergeben? Oder sollten wir unsere Kräfte auf andere Gefahren konzentrieren?”

Die Hadinger Geweihte knabberte während dieser Unterhaltung schon die ganze Zeit unruhig auf ihrer Unterlippe. "Beide Wege sind die richtigen", erklärte sie mit fester Stimme. "Es gilt zu verhindern, dass heute Nacht hier in Lützeltal noch mehr Personen unnötiger Gefahr ausgesetzt werden. Aber selbstverständlich muss im Namen der Götter auch Gerechtigkeit walten. Gudekar muss für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden."

Sie sah seufzend zu Rionn und dann in die gesamte Runde. "In der Nacht können wir ihnen nicht mehr folgen, doch bei Sonnenaufgang könnte man die möglichen Wege in Richtung Almada absuchen. Bis dahin sollten wir unsere Kräfte sammeln, uns schützen und planen, wie wir weiter vorgehen. Was die Inquisition angeht, so habe ich da hervorragende Kontakte. Ich werde noch heute Nacht ein Schreiben verfassen. Hoher Herr Kalman?" Sie sah den Angesprochenen auffordernd an. "Bitte organisiert einen Boten mit Eurem schnellsten Pferd. Mein Brief geht nach Linnartstein in der Baronie Kyndoch."

Der Tsageweihte war dem Gespräch noch recht benommen gefolgt. Doch er spürte, dass dies alles eine Richtung annahm, bei der er großes Unwohlsein spürte. Hatte der Bäckerpruch neben den offensichtlichen Opfern dieses Tages doch auch noch die Saat der Zwietracht in ihre Herzen gesät? Dann hätte er auf perfide Weise gewonnen. “Nein, Imelda!”, wandte er ein. “Lass uns ruhig und besonnen nachdenken und beraten, was wir tun!” Ja, Gudekar hatte Merle übel mitgespielt. Aber Rionn wollte den Anconiter noch nicht aufgeben. Noch nicht. “Vordringlich erscheint mir die akute Bedrohung. Und wenn wir sicher sind, dann lasst uns in Ruhe dem nachgehen, was dort vorhin in dem Bauernhaus geschehen ist. Ich sehe sehr wohl, dass er dir Schlimmes getan hat, Merle. Und doch: Lasst uns besonnen bleiben. Der Widersacher der Gütigen Mutter ist der Herr der Ruhelosigkeit, der Zwietracht und der Rastlosigkeit. Wenn wir jetzt übereilt handeln, dann hat er schon gesiegt: Pruch und sein Herr, dem er sich verschrieben hat.”

Leicht verwundert sah Imelda zu dem Tsageweihten. “Genau deshalb habe ich vorgeschlagen, bis zum Morgengrauen zu warten. Und gerade, um Licht ins Dunkel zu bringen, sollten wir doch den Herrn Praios um Beistand bitten, oder etwa nicht? Die Bannstrahler zu rufen, heißt ja nicht, dass Gudekar bereits schuldig gesprochen würde. Zunächst einmal ist Aufklärung vonnöten.”

Auch Arda hatte ihre Unterlippe malträtiert, als sie dem Gespräch weiter gefolgt war. Als Imelda auf die Bannstrahler zu sprechen kam, verzog sie den Mund zu einem spöttischen Lächeln. "Mit Verlaub, Euer Gnaden", wandte sie sich an Imelda. "Die Bannstrahler sind streitlustige Hitzköpfe und sicherlich keine gute Lösung. Sie haben sich in letzter Zeit alles andere als mit Ruhm bekleckert, und nach den Exzessen in der Grafschaft Elenvina, die gar einen Edlen aus seinem eigenen Gut fliehen ließen, sollte sich der Herr von Weissenquell gut überlegen, wen er sich hierher nach Lützeltal holt." Die Baroness hatte ihre Rede leidenschaftlich vorgetragen. Sie neigte den Kopf, um etwas moderater anzufügen: "Praios ist in seiner Gerechtigkeit unfehlbar, doch manche seiner 'Diener' führen uns nur allzu deutlich vor Augen, wie fehlbar wir Menschen im Angesicht göttlicher Ideale sind."

Natürlich hatte Arda ureigenste Motive, eine eingehende praioskirchliche Untersuchung zu vermeiden, doch ihre tiefe Abneigung gegen die Bannstrahler war echt und nicht von eigennützigem Kalkül geprägt.

Die Baroness hob stolz das Kinn, als sie sich an Kalman wandte: "Außerdem sind wir" - aus ihrer Gestik wurde klar, dass sie den Herrn von Weissenquell, vor allem aber sich selbst meinte - "der Adel des Raul'schen Reiches. Wenn wir uns stets schutzsuchend an die Kirchen wenden, können wir uns gleich die Priesterkaiser zurückwünschen. Das weltliche Zepter MUSS in der Lage sein, jeder Unbill in den ihm anvertrauten Landen auch aus eigener Kraft die Stirn zu bieten!"

Merle hob abwehrend die Hand. "Ich für meinen Teil hatte nicht daran gedacht, zunächst die Bannstrahler einzuschalten. Aber ich werde morgen früh sehr wohl mit meinen Eltern sprechen, dem Tempelpaar aus Albenhus. Denn zunächst einmal betrifft es die Kirche der Gütigen Mutter, wenn Gudekar seinen Eid bricht und unseren Bund mit Füßen tritt, indem er öffentlich frevelt, mich demütigt und verstößt. Das werde ich meinen Eltern sagen dürfen, oder etwa nicht?" Mit fester, entschlossener Miene blickte sie Kalman in die Augen. "Meine Eltern werden wissen, was zu tun und zu veranlassen ist."

Kalman nickte. “Ja, Vater Reginbald und Mutter Liudbirg werden wissen, was zu tun ist. Ich werde mit Vater reden und ihn bitten, einen Rat der Geweihten einzuberufen, um über Gudekars und Doratravas Schicksal entscheiden zu lassen. Und auch auf unser aller Herzen sollen sie blicken, wie es Ihre Hochgeboren von Dürenwald vorgeschlagen hat, um auszuschließen, dass der Schatten bereits auf unsere Seele gefallen ist.” Der Ritter blickte seine Schwägerin eindringlich an. “Und doch oder gerade deshalb bitte ich dich, mit deinen Anschuldigungen gegen den Hund zurückhaltend zu sein. Es hat bereits viel Unruhe gegeben, auch nachdem ihr gegangen seid. Das Gift des Paktierers reicht bereits weit. Schwester Rajalind hat es gerade geschafft, dass in der Scheune etwas Ruhe eingekehrt ist, und die ersten sind am Einschlafen. Ich denke auch, heute können wir Gudekar eh nicht mehr suchen, wenn er aufgebrochen ist. Jetzt die Pferde scheu zu machen bringt wenig.”

“Ich denke auch, dass es gut ist, wenn wir zunächst das Tempelpaar fragen, bevor wir weitere Schritte einleiten”, bestätigte Rionn. “Darüber hinaus erkläre ich meine Bereitschaft, Gudekar zu suchen und ihn zur Rede zu stellen. Ich bin mir sicher, dass ich mehr erreichen werde, als ein Bannstrahler…” Der Tsageweihte blickte ernst und überzeugt. “Nun sollten wir aber hier erst einmal schauen, wie die Lage ist und was wir tun müssen, um die Menschen hier zu schützen!”

"Ich danke dir, Rionn", sagte Merle eindringlich. "Ich möchte nur, dass Gudekar zur Rechenschaft gezogen wird. Er soll damit nicht durchkommen. Und für seine Taten gerade stehen."

“Glaub mir”, versicherte Rionn, “das möchte ich auch. Ich werde jeden verfolgen und zur Rechenschaft ziehen, der sich mit den falschen Mächten einlässt. Doch will ich erst noch prüfen, ob das bei Gudekar der Fall ist. Er wird auf jeden Fall Buße tun. Dafür werde ich sorgen.”

Merle nickte nur. Es tat so weh. Unerträglich weh. Sie verstand noch immer nicht, wie ihr Mann ihr so hatte wehtun können. Und tief in ihrem Inneren wusste die junge Frau, dass sie vor allem wollte, dass Gudekar diesen, ihren Schmerz nachempfinden konnte - selbst wenn sie ihn dazu verletzen musste. Er sollte es verstehen. Es fühlen. Doch war ihr klar, dass sie diese dunklen Gedanken nicht aussprechen konnte, weder gegenüber Rionn noch jemand anderem. Mit zusammengekniffenem Mund schloss sie kurz die Augen, dann blickte sie wieder zu Kalman und Arda.

Trotz ihrer inneren Anspannung und Wut aufgrund der Anschuldigungen und der darauf folgenden Gefangenschaft war Doratrava ein wenig eingedöst, bis laute Stimmen vom Dorfplatz sie hochschrecken ließen. Sie stellte sich auf die Liege und schaute zu dem kleinen, vergitterten Fenster hinaus, wo sie eine ziemlich große Gruppe beim Diskutieren sah. Auch Merle war darunter, was ihr Herz höher schlagen ließ, wenn ihre Geliebte auch sichtlich aufgebracht war. Irgendetwas hatte Gudekar ihr angetan, und nun sollte er auch mit dem Pruch direkt im Bunde sein, hatte sie das richtig verstanden?

Als dann die Diskussion wegen der Bannstrahler aufkam, wollte sie sich schon bemerkbar machen. Ausgerechnet Imelda wollte diese holen? Aber zum Glück waren die meisten der Anwesenden dagegen, so dass Doratrava sich wieder leicht entspannte.

Doch irgendetwas war geschehen, was sie nicht ganz mitbekommen hatte, außerdem wollte sie nichts lieber tun, als nochmal mit Merle zu sprechen, aber am liebsten allein. Daher versuchte sie, dieser unauffällig Handzeichen zu geben, wenn sie gerade in Richtung ihrer Zelle schaute, wobei sie allerdings fürchtete, nicht gesehen zu werden, weil in der Zelle ja kein Licht brannte. Aber vielleicht ... sie presste ihr Gesicht an die Gitterstäbe, so dass es hoffentlich ein wenig vom spärlichen Licht draußen beleuchtet wurde.

Die Lage in der Scheune

Die Baroness hob die Arme und ließ sie wieder fallen, in einer Geste der Frustration und Verzweiflung. Tja, Niederadel halt! Und NATÜRLICH würden sich Priester erstmal bei der Kirche Rat und Hilfe holen, wenn man sie ließe… Es wurde Zeit, dass sie, Arda, hier erst einmal für etwas Führung und Ordnung sorgte, wenn alle anderen weltlichen Stellen versagten. Und zuallererst war dies hier eine weltliche Angelegenheit.

“Wohlan. Lasst uns in die Scheune!”, verlangte die Baroness von Kalman in einem bestimmten Ton. “Und sagt uns, was sich hier zugetragen hat.”

„So wartet! Bevor wir eintreten, will ich zunächst Euren zweiten Wunsch erfüllen, Euer Wohlgeboren. Ihr alle solltet wissen, was Euch erwartet.“ Kalman blickte sich unter den Umstehenden um. „Was von den Ereignissen im Dorf ist Euch, Wohlgeboren von Kaldenberg und Euer Gnaden Rionn, bereits zugetragen worden? Auf welchen Wissensstand kann ich aufbauen?“

"Nun, ich wurde aus der Versammlung gerufen, nachdem Doratrava und Merle und… noch jemand verschwunden waren. Seitdem war ich auf dem Bauernhof der Borkmunds und habe geholfen, zwei Kinder zu entbinden. …und ich habe den Toten im Bach gefunden und herausgezogen." Sie zog die Augenbrauen hoch: "Was hat sich denn noch zugetragen? Hier im Dorf?"

Merle schaute kurz fragend zu Rahjel, nickte dann aber nur, um auszudrücken, dass sie ebenfalls nicht mehr wusste.

Kalman nickte verstehend. “Nun, ich, also wir”, er schaute zu Imelda, Jartgar und Alana, “waren bei der Suche nach Gwenn unterwegs. Wir dachten, es wäre die traditionelle Brautentführung, die Gwenn geplant und organisiert hat. Doch als wir dem letzten Hinweis folgten, stießen wir auf die Spuren eines Kampfes und fanden die Leichen von Bernhelm und Brun. Schnell wurde klar, dass aus dem Spiel blutiger Ernst geworden war. Am Quellfluss haben wir dann auch noch die Leiche von Gwenns Bedeckung gefunden. Also, eigentlich hatten Merle, Seine Gnaden Rahjel und Doratrava sie gefunden, ebenso einen der Paktierer.” Kalman deutete auf seine Schwägerin und den Geweihten. “Es gab Spuren, dass Gwenn durch ein magisches Tor in den Limbus entführt wurde.”

"Und bei dem Toten war ein Pergament mit den Plänen der Schergen", ergänzte Merle. "Kalman, hast du das noch?" Sie dachte daran, wie sie vor gar nicht langer Zeit mit Gudekar über diese Zauberglyphe gesprochen hatte, dass er sich das Zeichen unbedingt ansehen sollte… Da hatten sie trotz allem noch ruhig, fast harmonisch miteinander sprechen können. Jetzt war alles zwischen ihnen zerbrochen. Sie ignorierte den schmerzhaften Dolchstich in ihr Herz und blickte ernst in die Runde. "Außerdem fanden wir die Kiste mit dem Kopf von Nivards armem Bruder."

Pruchs Plan

„Das Pergament, ähm ja, das ist im Trubel ganz untergegangen!“ Kalman öffnete seine Gürteltasche und holte das zusammengefaltete Pergament hervor. „Der ganze Ärger wegen Doratrava, der Vögtin, Vater. Dann der Reiter, der weitere schlechte Nachrichten brachte. Am Ende waren fast alle am Durchdrehen.“

Wie um Kalmans Worte zu bestätigen, gab der Esel vor dem Karren unvermittelt ein lautes „Iih-Aah“ von sich.

Imelda wurde bleich, als sie erfuhr, dass sich der Kopf von Nivards Bruder in der Kiste befunden hatte. “Wie? Was? Rondrard ist tot? Ermordet?!”, fragte sie ungläubig. Die junge Geweihte hatte den edlen jungen Mann bei der Schweinsfolder Hochzeit kennenlernen dürfen, hatte mit ihm ausgiebig beim Junggesellenabschied getanzt, wollte ihn eigentlich während ihrer Walz in seiner Heimat besuchen, was sie jedoch versäumt hatte und nun… würde es wohl nie wieder eine Gelegenheit dazu geben. Schwindel umfing sie und die Schwärze vor ihren Augen nahm zu. Hilfesuchend und um sich tastend versuchte sie bei Rionn Halt zu finden.

Als Rionn merkte, dass Imelda unsicher wurde und zu taumeln begann, trat er schnell zu ihr und stützte sie. Es waren schlimme Nachrichten, mit denen sie alle konfrontiert wurden. Der Tsageweihte konnte gut verstehen, wie es Imelda traf. Darum nahm Rionn die Ingrageweihte tröstend in den Arm und gab ihr Sicherheit.

Dann hob er den Kopf - Imelda immer noch haltend - und fragte Kalman: “Was steht denn auf dem Pergament geschrieben?”

Kalman faltete das Pergament auseinander und zeigte es Rionn.

Aber Merle schien Doratrava nicht zu bemerken. Die Gauklerin überlegte, ob sie rufen sollte, aber irgendetwas hielt sie davon ab. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit. Jetzt war es gut, dass in ihrer Zelle und direkt davor kein Licht war. Sie griff unter ihre Kleidung und holte eines der Messer hervor, welches sie dort versteckt hatte, dann schlug sie einmal schnell mit dem Knauf gegen einen der Gitterstäbe, so dass ein helles, metallisches Geräusch ertönte. Schnell steckte sie das Messer wieder fort und presste ihr Gesicht erneut an die Stäbe.

Die junge Baroness hatte ebenfalls schon ihren Hals nach dem Pergament gereckt - wohlweislich ohne dieses anzufassen. Insbesondere interessierte sie die Glyphe, von der die anderen gesprochen hatten.

Der Tsageweihte las die Notizen auf dem Pergament, das Kalman ihm zeigte, mehrfach durch. Seine Gedanken wirbelten und seine Gefühle wechselten einander in raschen Zügen ab. Fragen schossen durch seinen Verstand. Warum war Gudekar mit dem Pruch unterwegs? Ist das alles bereits geschehen? Dafür sprach das Datum und die erwähnte Kiste für Nivard. Wo war dieser See mit dem Portal? War der Pruch im Körper eines anderen getarnt? Oder wusste Gudekar, mit wem er unterwegs war? Hat Gudekar das Portal durchschritten? War das mit dem Seil, mit der Falle bereits geschehen? Rionn merkte, dass er von all dem, was am Tage geschehen war, nur einen Bruchteil wusste, um das einzuordnen. Die weiteren Fragen sprach er dann laut aus: “Ist das alles bereits geschehen? Was wisst ihr von dem gespannten Seil? Haben Merle, Rahjel und Doratrava die Kiste für Nivard gefunden? Wo war das? Am See?”

Merle nickte und schaute Rionn prüfend und sehr besorgt an. Auch wenn der Geweihte Imelda stützend hielt, schien er selbst ziemlich neben sich zu stehen. "Ja, das hatte ich vorhin im Borkmundshof schon gesagt… Nachdem du mich… geweckt hattest", erklärte sie zögernd. “Als Doratrava, Rahjel und ich am Quellsee waren - da wo der Lützelbach entspringt - haben wir Gwenns Pferd und den toten Körper der Frau Herlinde von Kranickau gefunden, die Gwenns Bedeckung war. Ein sterbender Mann lehnte an einem Baum; hat er uns höhnisch verspottet und damit geprahlt, dass sein Herr Gwenn hätte. In der Hand hielt er diese Kiste, darauf war geschrieben: 'Für Nivard von Tannenfels', mit Blut…", sie schluckte mühsam und räusperte sich, "...und darin befand sich ja, wie wir später erfahren haben…", mit Rücksicht auf Imelda, die den Toten offenbar gekannt hatte, brach sie ab. “Der Scherge hatte außerdem das Pergament in der Tasche. Also offenbar haben sie so ein unheiliges Tor im See geöffnet. Dadurch haben sie Gwenn in den Limbus verschleppt. Ihre Gnaden Imelda hat die Stelle im Wasser später noch spüren können.” Sie schaute Imelda um Bestätigung bittend an.

"Die Glyphe des Lolgramoth", kommentierte die Baroness. "Weiß man eigentlich, ob es sich bei den Schergen um Frevler handelt oder 'nur' um gedungene Verbrecher?"

Merle dachte kurz nach und nickte. "Ich glaube, der Sterbende, den wir am See fanden, war tatsächlich ein Paktierer. Rahjel wollte ihn dazu bringen, im Angesicht Golgaris auf den Pfad der Zwölfgötter zurückzukehren. Doch er hat nur gehöhnt, wir wären so blasiert zu glauben, unsere Götzen seien besser als die Herren der siebten Sphäre. Da hat Rahjel sein heiliges Tuch über ihn geworfen und der Scherge ist laut schreiend gestorben."

Während Merle sprach, hörte sie aus der Richtung des Hauses der Waldgruns ein klapperndes Geräusch, Metall auf Metall. Die anderen schienen keine Notiz davon genommen zu haben, doch Merle schaute in diese Richtung und konnte dann schemenhaft Doratravas Gesicht erkennen, das die Gauklerin gegen die Gitterstäbe drückte.

Als sie stirnrunzelnd versuchte, sich an die Begegnung mit dem finsteren, boshaften Mann zu erinnern, erregte das seltsame Geräusch Merles Aufmerksamkeit und sie sah in Richtung des Dorfschulzenhauses, wo sie hinter den Gitterstäben Doratravas bleiches Gesicht bemerkte. Sie schaute unwillkürlich weg und konzentrierte sich darauf, Ardare anzusehen, um nicht die Blicke von Kalman und den anderen auf ihre Freundin zu lenken. Erst nachdem einige Augenblicke vergangen waren, versuchte sie Doratrava mit einer dezenten Handbewegung zu signalisieren, dass sie sie gesehen hatte. Dennoch wusste sie jetzt keine Möglichkeit, sich von der Gruppe zu entfernen, um zu ihr zu eilen. Vielleicht würde sie sich später davonschleichen können, überlegte sie.

Doratrava überlegte gerade, ob sie ein zweites Mal gegen die Gitterstäbe schlagen sollte, da erkannte sie Merles Handbewegung in ihre Richtung, zumindest interpretierte sie es so. Sie presste die Lippen aufeinander, aber hatte sie selbst nicht gerade daran gedacht, Merle lieber allein sprechen zu wollen?

Sie wich von den Stäben in den Schatten ihrer Zelle zurück, damit nicht doch noch jemand anderes auf sie aufmerksam wurde. Kurz wanderte ihr Blick dabei zu Alana, aber mit der Kriegerin hatte sie seit ihrer Ankunft hier noch nicht ein Wort gewechselt, möglicherweise wusste diese auch gar nicht, was vorgefallen war, und ein gezischtes Gespräch durch Gitterstäbe hindurch wäre wohl kaum geeignet für langatmige Erklärungen, so war es schon besser, wenn nur Merle ihren Kontaktversuch bemerkte.

“Gwenn”, sprach Rionn einen Gedanken laut aus. “Es war Gwenn. Das Pergament zeigt also den Plan, wie Gudekars Schwester entführt werden sollte. Daher müssen wir annehmen, das alles war auf lange Hand geplant. Gwenn ist durch den Limbus entführt worden. Alle anderen sind nur `Kollateralschäden´, wie es die Krieger gerne nennen.” Bei den letzten Worten verzog er verächtlich das Gesicht, weil er nichts davon hielt, Menschen, die Opfer von Gewalt geworden sind, mit solch verharmlosenden Bezeichnungen zu deklassieren.

Dann schaute er Imelda an und versicherte sich, dass es ihr besser ging. Vorsichtig und sacht entließ er sie aus der stützenden Umarmung.

Gudekars Schuld?

Die leicht schwerhörige Ingrageweihte war tief in Gedanken versunken und dankbar für die helfende Hand Rionns. Sie versuchte sich von den Erinnerungen an den ermordeten Rondrard für einen Moment zu lösen, was ihr jedoch schwer fiel.

“So viel Leid und Tod. Sollten wir denn nicht versuchen, alle Hilfsmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen, die uns zur Verfügung stehen?” Sie sah stirnrunzelnd zu Kalman. “Morgen nach den Bannstrahlern zu schicken, wäre sicherlich nur eine von vielen Möglichkeiten. Aber es ist etwas, das Ihr angesichts des Ernstes der Lage nicht so einfach abtun solltet. Ich kann Euch verstehen, dass Ihr, wie Ihr sagtet, die Pferde nicht scheu machen wollt. Doch hier geht es um mehr als nur Euren guten Ruf. Jeden weiteren Tag, den Ihr ins Land ziehen lasst, werden mehr Menschen ins Unglück gezogen. Könnt Ihr das tatsächlich mit Eurem Gewissen vereinbaren? Könnt Ihr ruhig schlafen, wenn Ihr wisst, dass Ihr nicht alles Erdenkliche getan habt, um diesen Paktierer mit all seinen Helfern zu stoppen?”

Kalman wog Imeldas Worte ab. “Natürlich müssen wir den Paktierer und seine Schergen fassen. Doch sehe ich noch nicht, dass mein Bruder einer der ihren ist. Er hat gefrevelt, das wohl. Und was er dir, Merle, angetan hat, ist unverzeihlich. Doch sehe ich es in erster Linie als eine Angelegenheit der Traviakirche. Es sei denn, deine Eltern werten es anders. Doch letztlich muss auch Vater entscheiden. Er ist der Herr über diese Ländereien, nicht ich. Und auch die Vögtin hat ein Wort mitzureden. Sie ist übrigens überraschend schon heute eingetroffen.”

“Oh, sehr gut!”, erklärte die Geweihte. “Das Wichtigste ist jedoch, dass wir verhindern, dass noch mehr Menschen durch den Paktierer zu Schaden kommen.” Sie nickte entschlossen dem Herrn Kalman zu. “Schlafen wir heute Nacht und schauen morgen, wen wir alles informieren und um Hilfe bitten sollten.” Ungewollt hatte Imeldas Stimme einen durchdringenden Ton angenommen, der vermutlich im halben Dorf zu vernehmen war.

"Ich weiß, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist… Aber dass Gudekar seine Magie gegen mich eingesetzt hat, ist meiner Meinung nach keine reine Angelegenheit der Traviakirche. Ist das kein Verbrechen, das vor ein Gildengericht müsste?” In Merles Augen stand eine unerbittliche Entschlossenheit, für ihr Recht einzutreten und zu kämpfen. “Und in Gudekars Manteltasche war ein Pergament, das er offenbar länger mit sich rumgetragen hatte. Darauf stand in einer Handschrift, die der auf der Kiste ähnelt: 'Was glaubst du, verbindet uns?' Das deutet für mich darauf hin, dass er mit dem Paktierer in einer Art Briefwechsel stand. Und dass er der Ansicht war, ihn und diesen Frevler wider der Gütigen Mutter würde etwas verbinden.” Sie zuckte mit den Schultern. "Ich will Gudekar nicht vorverurteilen, glaub mir. Aber ich denke, das müsste untersucht werden, glaubst du nicht auch, Kalman?"

Kalman blickte schockiert. “Hast du das Beweisstück? Es sollte sofort von einem Magier untersucht werden!”

Merle seufzte müde. "Wir haben das Pergament aus Angst vor einem erzdämonischen Fluch schnell den Flammen übergeben. Du wirst auf die Zeugenaussagen von der Baroness, zwei Geweihten und mir vertrauen müssen."

“Natürlich glaube ich dir. Doch sollten wir mit Bedacht handeln. Und ohne dieses Schreiben wird es schwer, die Wahrheit dahinter herauszufinden. Ich möchte nicht, dass Gudekar wegen eines Missverständnisses auf dem Scheiterhaufen landet. Trotz allem, was er ist und je getan hat, er ist noch immer mein Bruder und es würde Vater das Herz brechen, wenn wir ihn wegen etwas anklagen, das vielleicht einen anderen Hintergrund hat.” Kalman wusste aber auch, dass es seinem Vater das Herz brechen würde, sollte Gudekar tatsächlich mit dem Paktierer zusammenarbeiten, der seine Schwester entführt hatte.

Merle schien sich etwas beruhigen, sie nickte. “Ich denke auch nicht, dass er bewusst mit dem Feind zusammengearbeitet hat. Aber er sagte selbst, dass er Pruch retten und zurück ins Licht holen wollte… irgendwie hat er wohl wirklich geglaubt, er und dieser Paktierer hätten etwas gemeinsam.” Sie hob kraftlos die Schultern. “Und das ist schon schlimm genug, oder?”

Kalman nickte. “Schlimm genug. Ich hoffe, ihre Gemeinsamkeiten sind geringer, als Gudekar glaubt.”

Doratravas (Un-)Schuld

“Jedenfalls, Baroness”, wobei er nun zu Arda blickte, “als wir ins Dorf zurückkamen, trafen wir auf andere Gäste des Hauses, unter anderem meinen Freund Eoban. Sehr schnell kamen mir Anschuldigungen gegen Doratrava zu Ohren, die mir keine Wahl ließen, als Doratrava festzusetzen.”

“Ihr wart das?”, fragte Imelda verblüfft und sah erwartungsvoll Kalman an, was dieser dazu zu sagen hatte.

“Natürlich!” bestätigte Kalman aus voller Überzeugung mit geschwellter Brust. “Die Anschuldigungen, die Eoban vorgebracht hat, waren überzeugend und deckten sich mit dem, was wir am See vorgefunden hatten, ähm wie wir euch gefunden hatten, Merle, Rahjel. Es steht der dringende Verdacht im Raum, dass Doratrava mit dem Paktierer zusammenarbeitet. Sie hat einen Geweihten angegriffen, ihn und Merle in den Limbus entführt und dabei einen ehrbaren Krieger verletzt. Das Wort des Ritters Eoban, vor Zeugen gesprochen und von Zeugen bestätigt, reicht für eine Anklage. Über ihr Schicksal wird ebenfalls morgen entschieden.”

Als Doratrava Kalmans Worte hörte, und vor allem den Tonfall, verdrehte sie zum wer-weiß-wievielten Mal heute die Augen und ließ sich leise seufzend wieder auf die Liege unter dem winzigen, vergitterten Fenster sinken. Das Problem mit solcherart ständig wiederholten Anschuldigungen war ihrer Erfahrung nach, dass es keine Rolle spielte, wie sehr diese an den Haaren herbeigezogen waren oder der Wahrheit widersprachen, denn Menschen neigten dazu, das zu glauben, was ihnen “vertraut” vorkam, und spätestens nach der dritten unwidersprochenen Wiederholung kam ihnen jede Anschuldigung “vertraut” vor, vor allem wenn solche Vorwürfe auch noch ihre unterschwelligen - oder auch nicht so unterschwelligen - Vorurteile bedienten. Sie war eben doch nur die seltsam aussehende, halbelfische Gauklerin, an deren Kunst man sich zwar kurzfristig erfreuen konnte, aber ansonsten brachte sie wahlweise Unglück, schlechtes Wetter, Unfruchtbarkeit, Alpträume oder was den Leuten sonst gerade Unangenehmes widerfuhr. Sündenböcke waren eigentlich überall “beliebt”.

Merle rollte mit den Augen und wirbelte zu ihrem Schwager herum. "Kalman, merkst du nicht, wie sehr du mit zweierlei Maß misst? Die Anschuldigungen Eobans, Doratrava würde mit dem Pruch im Bunde stehen, die erscheinen dir überzeugend und stichhaltig? Obwohl ich als die angeblich 'Geschädigte' bezeugen kann, dass Doratrava mich nicht in den Limbus 'entführt' hat, sondern im Gegenteil versuchte, mich - ja, durch einen instinktiv gewirkten Zauber - zu beschützen?! Zählt mein Wort für dich so wenig? So wenig, dass du im Gegenzug meine Anschuldigungen gegen Gudekar, der mich ganz gezielt mit seiner Magie angegriffen hat und einen Brief des Pruchs mit sich rumträgt, lieber abtun würdest, von wegen 'bloß nicht die Pferde scheu machen'?" Aufgebracht begann sie auf der Stelle herumzugehen, wobei sie Kalman immer wieder vorwurfsvolle Blicke zuwarf. "Eoban hat vorhin im Herrenhaus von Gudekars zweijähriger Untreue gehört. Er stand daneben, als Gudekar öffentlich verkündete, dass er mich verlassen will, um mit seiner Buhle fortzugehen. Aber der Herr Eoban wollte das alles nicht wahrhaben und hat weiter zu Gudekar gehalten. Das ist auch ein Grund, warum ich so zusammengebrochen bin. Weil ich das verzweifelte Gefühl hatte, Gudekar kann mich vor aller Augen wie Dreck behandeln und kommt trotzdem damit durch - was wiederum dazu führte, dass Doratrava glaubte, sie müsste mich retten, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Trotz Gudekars offenem Eidbruch sieht Eoban lieber Doratrava, die unermüdlich und tapfer gegen den Paktierer kämpft und auch dir am See mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung zur Seite stand, als die Hauptverdächtige in dieser Sache… während Gudekar zwei Götterläufe lang schamlos lügt, frevelt und sein Eheweib mal eben verstoßen will? Mein Mann hat mich kalt lächelnd betrogen, während ich schwanger mit seinem Kind war, hat mich zum Narren gehalten und noch verlogene Briefe geschrieben! Er präsentiert seine Geliebte auf einem Traviafest, als wäre es das Normalste auf dem Dererund, demütigt mich öffentlich und verlangt allen Ernstes, ich müsste nett zu seiner blöden, zartbesaiteten Buhle sein! Aber das ist aus Eobans Sicht anscheinend alles ganz normal! Da soll sich die kleine, gehörnte Ehefrau mal nicht so haben! Als wir vorhin zurück ins Dorf kamen, da wollte Eoban mir noch nicht einmal zuhören!" Wütend und verzweifelt stieß Merle die Luft aus und blieb direkt vor Kalman stehen. Für ein paar Atemzüge schien sie darum zu kämpfen, sich etwas zu beruhigen. "Siehst du nicht, wie irrational und verblendet dein Freund die Welt sieht?" fuhr sie leiser und ruhiger fort. "Aber auf ihn hörst du ohne Zögern, während ich lieber nicht so übertreiben oder besser ganz die Klappe halten soll, wenn es nicht um irgendeine Gauklerin, sondern um deinen werten Bruder geht?"

Betreten blickte Kalman in die Richtung von Doratravas Zelle. Dann sprach er mit sanfter Stimme. “Merle, glaube nicht, ich wolle deinen Schmerz verleugnen oder das abtun, was dir angetan wurde. Doch geht es hier um zwei verschiedene Dinge. Eine Frevelei vor der guten Mutter ist eine furchtbare Sache, die nicht ungesühnt bleiben darf. Wir werden dies vor deine Eltern tragen. Doch so sehr sein Verhalten der göttergegebenen Ordnung lästert, ist dies noch keine Paktiererei. Der Vorwurf, bewusst für den Widersacher Travias gehandelt zu haben, wiegt schwer. Er wurde öffentlich gegen Doratrava ausgesprochen und dem muss nachgegangen werden. Du hast den Vorwurf auch gegenüber Gudekar geäußert. In Verbindung mit dem, was er dir angetan hat, ist die Strafe für ihn fast unabwendbar. Sollte all dies stimmen, was zu sein scheint, dann soll es so sein. Doch möchte ich dich bitten, dass erst wir der Sache nachgehen, bevor wir deinen Fund der Praioskirche melden. Ohne das Pergament scheint es schwer zu sein, seine Schuld darzulegen. Doch in Wahrheit wird es nun viel schwerer, seine Unschuld zu belegen, sollte der Brief nicht das bedeuten, was er zu bedeuten scheint. Nur deshalb bitte ich dich, nicht unbedacht wider deinen Gemahl zu sprechen. Denn solltest du dich irren, und ich bete zu den Zwölfen, dass dies so ist, dann wäre es letztlich deine Anschuldigung, die Travia jedwede Möglichkeit nimmt, euren Bund vor ihr doch noch zu bewahren.” Kalman holte tief Luft, bevor er weiter sprach.

“Und was die Gauklerin angeht: deine Worte stellen die Sache in einem anderen Licht dar. Letztlich steht hier Aussage gegen Aussage. Ich war nicht dabei, ich weiß nicht, was geschehen war. Wir sollten auch die Aussagen weiterer Zeugen hören. Rahjel?” Er blickte zu seinem Vetter. “Nivard. Wer auch immer noch anwesend war. Und wenn sich dann ein Bild ergibt, das zeigt, dass es Gudekars Untaten waren, die Doratrava in ihr Handeln trieben, dann bin ich guter Dinge, dass die Vorwürfe gegen sie fallen gelassen werden. Wir alle wollen uns morgen von den Geweihten segnen lassen. Wenn Doratrava unschuldig ist, wird sie gewiss danach freigelassen.”

"Welche 'Beweise' hat Eoban denn bitteschön für seine Vorwürfe gegen Doratrava?" beharrte Merle. "Ja, sie hat einmal gezaubert. Weil sie eine Halbelfe ist und dies in ihrer Natur liegt! Was deutet darauf hin, dass sie mit dem Pruch im Bunde ist? Was, Kalman?" Verständnislos kniff sie die Augen zusammen. "Du sagst, gegen Gudekar läge eigentlich nichts stichhaltiges vor, und vielleicht hast du damit recht - doch gegen Doratrava gibt es noch viel weniger Beweise, nicht einmal Indizien für eine Zusammenarbeit mit dem Paktierer! Du warst nicht dabei, nein, aber Eoban doch auch nicht! Wieso hat seine Aussage gegen Doratrava dann so viel Gewicht? Er war nicht dabei!!! Du bittest mich, nicht unbedacht gegen Gudekar zu sprechen, während du Eobans unbedachten Vorwürfen so extrem viel Gewicht einräumst, dass du sie verhaften, anklagen und als Sündenbock vorverurteilen lässt?! Warum bist du bei Doratrava nicht so bedacht und zurückhaltend, wie du es jetzt bei Gudekar bist? Das verstehe ich nicht!"

“Das kannst du auch nicht verstehen”, antwortete Kalman kleinlaut. Er wusste, dass die Antwort Merle nicht gefallen würde. “Du bist auch keine Ritterin.”

Merle lachte bitter auf. “Vielleicht will ich es auch nicht verstehen. Wie viel die Rede, die Tugenden und die angebliche Rechtschaffenheit der Ritterschaft heutzutage wert sind, sieht man ja an Gudekars dreister, schamloser Buhle. Die ist gestern noch zu mir gekommen und hat ganz scheinheilig freundlich getan, während sie gleichzeitig meine Familie zerstört! Stell' dir das mal vor!" Erbost presste sie die Lippen zusammen. "Wenn mein Wort für Doratrava soviel weniger wert ist als das eines hohen Herrn Ritter, der bei dem Vorfall überhaupt nicht anwesend war, dann will ich jetzt lieber schweigen."

In ihrer Zelle ballte Doratrava die Fäuste und presste die Augenlider aufeinander, als sie dem nicht gerade leisen Gespräch weiter zuhörte. Merles Seele war eine offene Wunde, und ständig wurde der Dolch erneut darin herumgedreht. Und dennoch kämpfte Gudekars verstoßene Frau nicht nur für sich, sondern auch für sie, obwohl sie dabei ständig gegen Wände lief. Die eigene Wut, Mitgefühl für Merle und die Rührung wegen deren Einsatz für sie drohten ihr erneut Tränen in die Augen zu treiben, aber sie versuchte sich zu beherrschen so gut es ging, denn sie hatte Angst vor dem, was vielleicht erneut geschehen mochte, wenn sie ihrer Wut freien Lauf ließ.

Rionn verfolgte den Disput von Merle mit ihrem Schwager stumm. Er verstand sehr, wie verletzt Merle war. Jedoch verstand - und hoffte - er auch, dass durch das Vertagen des Urteilens über Doratrava Ruhe einkehren konnte in die aufgebrachte Situation. Wenn hier so emotional und aufgebracht über Doratrava geurteilt wurde, wie Merle gerade gegenüber Gudekar urteilte, dann könnte es schlimm für die Gauklerin ausgehen. Und Rionn war fest überzeugt, dass Doratrava unschuldig war. Aber das musste besonnen geklärt werden. Allerdings war der Tsageweihte auch nicht willens Gudekar aufzugeben. Auch hier brauchte es Besonnenheit. Rionn seufzte. “Komm zur Ruhe, Merle”, versuchte er sanft auf die Dreifelderin einzuwirken. “Wir kommen hier mitten in der Nacht nicht mehr zu einer gerechten Lösung.” Und dann setzte er leise nach: “Wir werden uns für Doratrava einsetzen. Sie ist unschuldig. Und wir werden erwirken, dass sie freigelassen wird.”

Kalman wurde langsam immer nervöser. Natürlich wusste er, dass Merle nicht vollkommen Unrecht hatte. Und dennoch, von Politik verstand sie nichts. Aber es dauerte ihn, was die junge Frau durchmachen musste. “Hebe dir deine Worte für morgen auf. Ich werde darauf achten, dass auch du gehört wirst, wenn das Schicksal der Tänzerin besprochen wird. Und deine Worte sollen genau so viel Gewicht erhalten, wie die jedes anderen, der oder die sachliche Argumente hervorbringen kann.” Mehr konnte er seiner Schwägerin nicht zusagen.

"Gut. Hab Dank, Kalman." Merle atmete einmal tief durch und seufzte resigniert, dann nickte sie auch Rionn dankend zu. Sie wusste, im Moment konnte sie nichts weiter tun.

Rahjel war die ganze Zeit still gewesen, doch nun erhob er seine Stimme. “Doratrava steht unter dem Schutz der Rahja-Kirche. Ich stehe mit meinem Namen für sie ein. Sollte sie sich eines weltlichen Verbrechens schuldig gemacht haben, muss die Verurteilung warten, bis ihr Seelenfrieden erreicht ist… nach einem Aufenthalt im Rahjatempel zu Eisenstein.”

Merle blickte Rahjel zart lächelnd in die Augen. “Danke”, sagte sie schlicht, aber voller Überzeugung. Sie und der Geweihte hatten durchaus ihre Meinungsverschiedenheiten gehabt, dennoch vertraute sie ihm und war ihm ehrlich dankbar für seinen Einsatz für Doratrava. Sie schaute Kalman an. “Wird Eoban dem zustimmen?” fragte sie besorgt nach und runzelte die Stirn. “Wirst du dem zustimmen?”

„Ich kann damit leben. Was Eoban dazu sagt, weiß ich nicht. Aber letztlich müssen die Vögtin und Vater entscheiden.“

“Könnte Rahjel Doratrava so etwas wie… Tempelasyl gewähren, um sie zunächst dem Zugriff der weltlichen Gerichtsbarkeit zu entziehen?” Fragend blickte sie zwischen dem Rahjageweihten und ihrem Schwager hin und her.

“Wenn Doratrava unter dem besonderen Schutz der Rahja-Kirche steht”, unterstützte der Tsageweihte die Idee von Rahjel und Merle, “dann müsste sie so behandelt werden, als wenn sie zur Geweihtenschaft der Schönen Göttin gehört. Dann darf kein weltlicher Richter oder jemand einer anderen Kirche…” - bei diesen Worten hob Rionn seine Augenbrauen, an die Bannstrahler und die Inquisition denkend - “...über sie urteilen. Der Tempelvorsteher in Eisenstein scheint ein verständiger Mensch zu sein. Ich glaube, Bader heißt er, oder so. Wir werden der Vögtin mitteilen, dass Doratrava unter das Urteil des Baders zu stellen ist.”

Merle nickte. “Ihr Tanz, ihre Kunst ist auf jeden Fall rahjagefällig. Zumindest den Status einer Akkoluthin müsste sie erhalten können, oder?”

“So machen wir das, unsere Worte in Rahjas Ohren!”, sagte Rahjel und schenkte allen ein zufriedenes Lächeln.

“Ein Tempelasyl war mir zwar bisher nur von der Traviakirche bekannt”, überlegte Kalman, “aber wenn sie von der Rahjakirche in Obhut genommen wird, sollte dem stattgegeben werden. Unter Vorbehalt. Wie eine Geweihte zu behandeln ist sie jedoch keinesfalls, denn das ist sie definitiv nicht. Und auch ein rahjagefälliger Tanz macht sie nicht zur Akoluthin. Schon gar nicht, wenn Seine Gnaden Rahjel selbst sagt, sie sei gefährlich. Und dennoch, ich wäre damit einverstanden, wenn sie der Rahjakirche, diesem Bader, übergeben wird, wenn er versucht, ihre Dämonen auszutreiben.”

"Dämonen austreiben?!" ereiferte sich Merle. "Ich dachte, du wolltest mit den haltlosen Unterstellungen aufhören, Kalman!"

“Verzeih die unpassende Metapher”, korrigierte sich Kalman, “ich meinte es im übertragenen Sinne. Seine Gnaden sprach davon, ihr Seelenheil müsse wiederhergestellt werden.”

“Ich glaube nicht, dass ihr Seelenheil in Gefahr ist. Aber ich bin einverstanden, dass sich die Rahjakirche um sie kümmert”, gab Merle mit sanfterer Stimme nach und schaute ihren Schwager auffordernd an. "Du wolltest noch erzählen, was im Dorf geschehen ist, nachdem wir zu Borkmunds sind."

Friedewalds Angst

„Ähm, ja, richtig.“ Die Diskussion mit Merle hatte Kalman aus dem Konzept gebracht und langsam hinterließen die Anstrengungen des Tages auch bei ihm ihre Spuren, eine Müdigkeit überkam ihn. „Wo fange ich an? Nun, als die Vögtin Kunde von den Vorfällen im Herrenhaus bekam“, er schaute Merle eindringlich an, „und von Eobans Anschuldigungen, ließ sie umgehend das Herrenhaus räumen und alle Gäste und die Familien in die Zehntscheuer bringen, weil wir sie hier besser vor den dämonischen Einflüssen im Herrenhaus schützen können. Lediglich die Totenwache für Yendan Zerf - und den Tannenfelser - verblieben im Gutshof. Doch der Umzug hat viel Unruhe in die Gesellschaft gebracht, insbesondere bei den Kindern.“

“Ist Lulu auch hier?” fragte Merle alarmiert nach. “Geht es ihr gut?”

„Ja, Lulu geht es gut“, bestätigte Kalman. „Sie ist mit Madalin in Cialas Armen eingeschlafen. Ciala hat sich die ganze Zeit rührend um Lulu gekümmert.“ Kalman versuchte ein gewinnendes Lächeln aufzusetzen. „Sie hat sich Sorgen um dich gemacht. Wir alle haben uns gesorgt um eu… um dich.“

Sie unterdrückte aufsteigende Tränen und schluckte. "Ich würde sie jetzt gerne sehen", sagte sie mit leiser und verhaltener Stimme. "Kalman, bring mich zu meiner Kleinen, ja?"

“Natürlich, Merle, du kannst jeder Zeit zu Lulu”, gab Kalman nach. “Jetzt, nach dem Gebet, das Rajalind gesprochen hat, haben sich ja alle beruhigt und die meisten sind nun wohl endlich eingeschlafen. Selbst Vater und der Mersinger haben vorerst ihre Ruhe gefunden.”

“Vater? Was war denn mit Vater?” horchte sie auf.

Kalman blickte ernst. “Er ist Opfer des Fluchs geworden, den der Rastlose über uns gebracht hat. Gudekars Gefährten sagen, es müsse wohl an dieser Kiste liegen, die ihr gefunden habt. Sie hätten etwas Vergleichbares schon einmal vor etwa einem Götterlauf erlebt, nur sei es diesmal viel schlimmer. Es hat von dem Geist einiger Männer und Frauen Besitz ergriffen und Ängste geschürt und das klare Denken verhindert. Du weißt, wie sehr Vater die Dunkelheit verabscheut. Doch heute hat ihn die angebliche Dunkelheit in der Scheune fast in den Wahnsinn getrieben. Immer mehr Lichter, Kerzen, Fackeln, Feuerscheite wollte er entzünden. Um ein Haar hätte er die Scheune in Brand gesetzt. Doch Morgan, Praios sei Dank, war aufmerksam und hat Vaters ungewöhnliches Verhalten rechtzeitig bemerkt. Zusammen mit Ihrer Hochgeboren von Rodaschquell, die Vater schließlich als Lichtgestalt entgegengetreten ist, konnte er ihn beruhigen.”

“Ein Fluch?!” entwich es geschockt aus Merles Kehle. “Warum hat nur keiner aufgepasst, dass Rahjels heiliges Tuch auf der Kiste bleibt…” Aus ihrer bestürzten Miene war zu lesen, dass Merle sich vor allem selbst Vorwürfe machte, Nivard nicht am Öffnen des unseligen Kästchens gehindert zu haben. Es hätte zuerst untersucht werden müssen, da waren sie sich am See alle einig gewesen. Sie war nach der Rückkehr ins Dorf für einen Moment unachtsam gewesen, wegen Eobans plötzlicher Anklage gegen Doratrava - und schon war es geschehen. Sichtlich zerknirscht biss sie sich auf die Unterlippe.

“Eine Kiste?”, fragte der Tsageweihte entsetzt. “Ach, das ist die Kiste mit dem Ko…” Rionn brach ab, weil er sich erinnerte, dass Imelda geschockt war. “In Schneidgrasweiler hatten wir auch eine Kiste erhalten. Der Bäcker hatte darauf einen Fluch gelegt. Zuerst Tsalinde und danach Eoban ergriffen die Panik, Unrast und Unruh. Sie flohen. Tsalinde konnten wir einfangen. Doch Eoban haben wir nicht mehr eingeholt…” Der Geweihte sah Kalman eindringlich an. “Hast du die Kiste irgendwo gelagert, wo sie keinen Schaden mehr anrichten kann?”

“Ja”, bestätigte Kalman. “Sie wurde ins Herrenhaus zur Totenwache des Kriegers Zerf gebracht und dort aufbewahrt. Rondrards Mannen passen darauf auf.”

“Aber… sollte die Kiste dann nicht durch einen Geweihten gesegnet werden, damit sie keine schädliche Wirkung mehr hat?” gab Merle zögernd zu bedenken und blickte die anwesenden Geweihten fragend an.

“Das sollten wir ganz dringend machen. Ich würde sogar sagen, dass dies von höchster Wichtigkeit ist!”, erklärte Imelda zustimmend.

“Wir sollten auf jeden Fall nach der Kiste schauen”, bestätigte der Tsageweihte, “und überlegen, wie wir den Fluch unschädlich machen können.”

“Oder das heilige Tuch des Lehrers der Leidenschaft wieder um die Kiste wickeln. Es hätte nie entfernt werden dürfen”, sagte Rahjel bitterernst.

Kalman zog die Augenbrauen hoch und zuckte resigniert mit den Schultern. “Doratrava hat dem Herrn von Tannenfels die Truhe übergeben und er hat sie geöffnet, bevor irgendjemand reagieren konnte. Es war ein Fluch, er war wie von Sinnen.”

Auch Arda hatte dem Gespräch schweigend gelauscht. In ihr hatte sich ein Entschluss geformt. Sie wandte sich an Kalman: “Wenn Doratrava morgen eine Anhörung vor Eurem Vater erhält, und jener Ritter Eoban Klage führen wird, dann benötigt sie einen gebührenden Rechtsbeistand. Ich werde diese Aufgabe übernehmen.” Selbstbewusst hob die junge Baroness das Kinn, als hätte sie die Tänzerin, die sie seit heute ihre Freundin nannte, bereits von allen Anschuldigungen befreit. “Und jetzt lasst uns endlich das Elend sehen, das uns in der Scheune erwartet.”

Merle warf ihr ein dankbares Lächeln zu. Ja, sie bewunderte Ardare. Die Baroness war nicht nur anbetungswürdig schön, sondern auch mutig, entschlossen und souverän - wie die Heldin aus einer Geschichte. Vorhin, als sie aus dem Dorf zurückgekehrt waren, hatte es sich angefühlt, als ob sie verzweifelt gegen eine Wand angelaufen wären, als ob fast alle Anwesenden auf Eobans Seite und gegen Doratrava waren. Dass Doratrava neben Rahjel auch in Arda so eine starke Verbündete hatte, ließ Merle einen kleinen Stein vom Herzen fallen und sich ein wenig erleichtert fühlen.

Lares’ Besessenheit

Kalman lachte kurz auf. “Da seid Ihr nicht die Einzige, da müsst Ihr Euch wohl hinten anstellen, Euer Wohlgeboren. Ihre Wohlgeboren von Kalterbaum hat sich ebenfalls dafür angeboten.” Nun schaute er wieder sehr ernst zu der Baroness. “Wohlgeboren, Ihr habt ein besonderes Verhältnis zum Herrn von Mersingen, wenn ich mich nicht täusche?”

“Ihr täuscht Euch insofern, als dass sich eine von Kaldenberg nicht ‘hinten anstellt’”, gab Arda spitz zurück. “Aber gut. Wenn die Kalterbaum sich bereits auf die Verteidigung Doratravas vorbereitet und das für diese so in Ordnung ist, soll mir das recht sein.” Sie rümpfte die Nase. “Doch Ihr habt insofern recht, dass den Herrn von Mersingen und mich einige… Ereignisse verbinden, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem verdammten Pruch. Das hat ein gewisses Vertrauensverhältnis entstehen lassen. Warum fragt Ihr?” Kurz mischte sich etwas Sorge in die Stimme der Baroness.

“Ihr habt seinen Zustand in den letzten Tagen wahrgenommen? Es ist schlimmer geworden. Er spricht nur noch wirr und ruft den Rastlosen an. Wir mussten ihn, ähm, außer Gefecht setzen, zum Schweigen bringen.” Kalman sah Arda besorgt an. Dann wandte er sich an Merle. “Auch das ist ein Grund, warum ich dich bitte, mit den Anschuldigungen gegen Gudekar vorsichtig zu sein. In dem Mersinger haben wir jemanden, der wahrlich Travias Gegenspieler angerufen hat. Doch auch bei ihm möchte ich nicht glauben, dass er dies im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte tut.”

Hier wurde Rahjel hellhörig. Nun ging es um seinen Freund Lares.

“Der Herr von Mersingen hat den Gegenspieler der Gütigen Mutter angerufen?” fragte Merle entsetzt. “Das kann ich nicht glauben! Er ist doch einer der rechtschaffensten und götterfürchtigsten Männer überhaupt!”

“Doch, doch, doch. Seine Worte hallen mir noch im Ohr, als würde er sie weiter sprechen. Doch wage ich es nicht, diese hier wiederzugeben.” Kalman schüttelte sich vor Abscheu.

“Ich muss Merle Recht geben. Der Hohe Herr Lares und ich stehen uns sehr nahe”, mischte sich der Rahjageweihte ein.

Kalman schüttelte vehement den Kopf. „Jemand, der den Herrn der Rastlosigkeit als seinen Gebieter bezeichnet und beim Namen anruft, hat seine Rechtschaffenheit und Göttergläubigkeit hinter sich gelassen.“

“Es ist völlig ausgeschlossen, dass Lares bei klarem Verstand ist”, kommentierte die Baroness mit dem Brustton der Überzeugung. “Ich habe seiner Schwester angeboten, ihn morgen zum nächsten Praiostempel fahren zu lassen. Wie habt Ihr ihn ‘außer Gefecht gesetzt’?”

“Das waren nicht wir”, erklärte Kalman. “Als der Herr Lares anfing immer und immer wieder von seinem Gebieter, dem Herrn der Rastlosigkeit zu sprechen - und wie gesagt, ich wage nicht, seinen genauen Wortlaut wiederzugeben - da ist der Bote aus Liepenstein auf ihn losgegangen, Burian von Hohensprötzingen, ein Gesandter der Baronin von Liepenstein, und fing an, auf den Herrn Lares einzuprügeln. Lediglich dem beherzten Eingreifen des hohen Herrn von Sturmfels ist es zu verdanken, dass der Bote den Ritter nicht totgeprügelt hat. Schließlich brachte die Baronin von Rodaschquell den Herrn Lares mit einem Zauber zum Schweigen.”

Imelda räusperte sich und erhob ihre durchdringende Stimme. “Bevor wir uns zur Ruhe begeben, würde ich noch sehr gerne dafür sorgen, dass diese Kiste keinen weiteren Schaden anrichtet. Euer Gnaden Rahjel, Rionn, wollt Ihr mich zum Herrenhaus begleiten?”

“Ja, das sollten wir tun”, stimmte der Tsageweihte zu.

Der alte Ritter zog überrascht die Augenbrauen hoch. “Wenn das von Wichtigkeit ist … nun gut. Ich werde euch zum Herrenhaus begleiten”, sagte Jartgar.

“Und Lares ist hier zu finden? Ich sollte unbedingt zu ihm.” Nun stellte sich Rahjels Zwillingsschwester Alana neben ihn und nickte. “Doch Doratrava steht unter meinem Schutz. Alana, Herz, würdest du zu ihr zum Haus des Dorfschulzen gehen?” Die Ritterin schaute zu Jartgar, dann wieder zu ihrem Bruder. “Ich gehe zu ihr. Doch solltet ihr mich brauchen, werde ich zu euch kommen.”

Merle schaute zu Rahjel. “Wenn du hier bei den Herrn Lares in der Zehntscheuer bleibst, solltest du dein heiliges Tuch vielleicht Ihrer Gnaden Imelda oder Rionn geben, damit sie es um die unselige Kiste wickeln können?”

“Gut mitgedacht, Merle.” Der Geweihte band das Tuch von seinen Hüften und reichte es Rionn. “Möge die Herrin der Leidenschaft für Harmonie sorgen.”

Merle schaute die Ritterin Alana an. “Bitte sagt Doratrava, dass ich zu ihr kommen werde, sobald es mir möglich ist, hohe Dame. Doch zunächst muss ich nach meiner kleinen Tochter und meinem Schwiegervater sehen.”

“Jawohl”, sagte Alana und verneigte sich dienstbeflissen. Rahjel und Jartgar warteten, dass alle ihrer Wege gingen.

Derweil nickte Imelda entschlossen und trat an den Tsageweihten heran. “Herr Rionn, dann werden wir jetzt ins Gutshaus gehen. Hoher Herr Jartgar…”, sie lächelte verbindlich zu dem erfahrenen Ritter, “...habt Dank, dass Ihr uns begleitet. Durch Euren Schutz fühlen wir uns gleich sicherer.” Bevor sie sich zum Gehen wandte, winkte sie Rahjel kurz zu und lächelte flüchtig. “Bis gleich! Kümmert Euch gut um den Herrn Lares.”

“Rionn”, kommentierte der Tsageweihte. "Einfach nur Rionn, Kein `Herr´ oder sonstwelchen Unsinn…”

Nachricht aus Trackental

“Wartet, Eure Gnaden!” rief Kalman die Geweihten noch einmal zusammen. “Es gibt noch eine schlimme Nachricht, die Ihr wissen solltet. Es geht um den Boten aus Liepenstein. Er brachte Kunde aus Trackental, dem Lehen, das einst von der Familie von Pruchs Vater geführt wurde. Dort sind seit seinem Mord an seinem eigenen Vater Bannstrahler postiert. In Weilheim seien nun vier der Bannstrahler verschwunden, und fast zeitgleich sei ein wohl kleiner Drache aufgetaucht. Selbst vor den Dienern des Herrn Praios scheint der Paktierer nicht zurückzuschrecken.”

“Waaas?” Überraschung und Entsetzen war dem Tsageweihten anzusehen. Er grummelte unzufrieden. “Mmmh. Das Drachenei. Also doch…”

"Trackental…? Nicht Talwacht? Und was hat es mit dem Drachenei auf sich?" schaltete die junge Kaldenbergerin sich wieder ins Gespräch ein.

„Ja, Trackental in der Baronie Liepenstein“, bestätigte Kalman. „Das war das Lehen des Hauses Limburg, aus dem Pruchs Vater stammte. Mein Vater und mein Bruder waren damals dort, als der Edle von seinem eigenen Sohn ermordet wurde. Das war im Firun 1043. Sie kamen jedoch zu spät, die Bluttat zu verhindern. Pruch hatte damals seinem Vater ein altes Familienerbstück gestohlen, ein Artefakt, ein Drachenei. So hat es mein Vater mir erzählt. Nach den dortigen Vorfällen hatte der ansässige Praiosgeweihte eine Schar Bannstrahler in das nun verwaiste Lehen gerufen, und unter diesen soll Pruch nun wohl selbst Opfer gefordert haben. Wo soll das nur enden, wenn nicht einmal mehr die Streiter des Herrn Praios uns schützen können?“

“Ein Drache? Ein echter Drache?!” stammelte Merle mit weit aufgerissenen Augen. “Und der ist dem Pruch zu Willen?”

“Wenn es tatsächlich stimmt, was der Reiter zu berichten hatte, dann ist das zu befürchten.” Kalman war anzusehen, dass selbst ihm die Kunde Angst machte.

Ungläubig schüttelte Merle den Kopf. "Ein Drache greift Bannstrahler an, Menschen werden entführt, so viele Tote! Die Leute werden reihenweise wahnsinnig... und dennoch stürzen sich alle auf eine kleine Gauklerin, nur weil sie anders ist." Sie seufzte erschöpft. "Ich weiß einfach, dass der hohe Herr Lares unschuldig ist, genauso wie Doratrava oder Vater Friedewald. Der Herr von Mersingen muss unter einem Zauber oder Fluch stehen, das ist die einzige Erklärung.” Eindringlich schaute sie Kalman in die Augen. “Glaub mir, ich musste eben erst erfahren, wie es ist, wenn jemand im eigenen Verstand herumpfuscht und man nicht mehr Herr seiner Sinne ist… So muss es auch bei Vater und Herrn Lares sein. Haben die Geweihten oder die Baronin von Rodaschquell das überprüft?” Merle straffte sich und schaute zum Eingang der Zehntscheuer. “Und gibt es noch mehr schlechte Neuigkeiten oder können wir nun hineingehen?”

Kalman hob mit seinem Zeigefinger Merles Kinn und schaute ihr in die Augen. Eine Geste, die sie von seinem Bruder kannte. “Merle, du bist schnell darin, anderen Menschen, die du nicht kennst, zu vergeben, die Schuld für ihre Missetaten von ihnen zu weisen. Das ist gut, denn du bist reinen Herzens und siehst stets das Gute in den Menschen. Doch zu deinem Mann bist du hart. Ich will nicht schönreden, was er dir die letzten zwei Götterläufe angetan hat. Aber blenden wir dies einmal aus. Die Taten, die er heute begangen hat, wieso zweifelst du an, dass er da nicht ebenfalls unter dem Fluch stand, der von dieser Kiste ausging. Auch er war dabei, als die Kiste geöffnet wurde. Könnte es nicht sein, dass auch er ungewollt unter dem Einfluss des Paktierers steht? Sollte dann nicht auch ihm geholfen werden, statt ihn zu verdammen?” Kalman machte eine Pause und blickte Merle stumm an.

Rionn kniff die Lippen zusammen. So einfach war es wohl leider nicht. Bei Gudekar musste der Pruch bereits von langer Hand her sein übles Gift in seine Seele und sein Herz geträufelt haben. Er hatte sich verändert und er merkte es selbst nicht. Für ihn war alles schlüssig, was er tat. Das war nicht der kurzfristige Einfluss einer verfluchten Kiste. Um Gudekar zu helfen, bedurfte es viel Geduld. Aber der Tsageweihte sagte nichts. Beide - sowohl Merle als auch Gudekars Bruder - waren auf ihre Weise emotional nicht frei in ihrem Urteil über den Anconiter. Rionn hoffte sehr, dass sich die Gelegenheit ergeben würde, dem Magier zu helfen. Er brachte im Stillen ein kleines Gebet vor die Ewigjunge, dass sie Gudekars Leben erneuern möge.

"Kalman, ich wurde von meinen Eltern in dem Sinne erzogen, dass die Gütige Mutter dem ehrlichen, reuigen Büßer niemals Vergebung und Gnade vorenthalten wird", erwiderte Merle mit nachdenklicher Miene. "Und du weißt gar nicht, was ich Gudekar alles vergeben hätte. Nach allem, was er mir angetan hat, nachdem er mich zwei Jahre lang belogen und betrogen hat, mich öffentlich gedemütigt und bloßgestellt  - ich hätte ihn immer und jederzeit wieder in meine Arme geschlossen! Doch tatsächlich war sein Verhalten lange Zeit vor Öffnung dieser Kiste höchst bedenklich", sie blickte um Bestätigung heischend zu dem Tsa-Geweihten, "Rionn erzählte vorhin, wie Gudekar an Brot gewürgt hat, das Travia gesegnet war. Er hat sich mit Händen und Füßen gegen eine Seelenprüfung gesträubt. Er war vor der Schweinsfolder Hochzeit stets liebevoll und zärtlich zu mir, danach - ganz plötzlich - kalt und abweisend. Und er hat mir gegenüber nicht einen Funken Reue und Mitleid gezeigt, keinerlei Schuldgefühle für sein Tun. Da war keine Bereitschaft zur Buße. Am Ende besitzt er noch den Nerv mir zu sagen, dass ich nicht so boshaft und bissig zu seiner armen kleinen Geliebten sein soll, weil sie ja so eine zarte und empfindsame Seele wäre! Er schleppt seine Buhle zu einem Traviafest und verlangt, dass ich nett zu ihr sein soll!" Sie schluchzte leise auf und bemühte sich erfolglos, die ihr in die Augen schießenden Tränen zurückzuhalten. "Glaub mir, ich will ihm helfen! Ich will ihn ja retten! Aber ich habe lernen müssen, auf sehr, sehr schmerzhafte Weise, dass er sich nicht mehr helfen lassen will! Weder von mir noch von irgendeinem Geweihten."

Kalman schloss nun seine Arme um Merle und zog sie an sich heran. Sanft strich er über ihr Haar. “Ich weiß, Merle, ich weiß. Und dennoch möchte ich seine Seele noch nicht verloren geben. Ich möchte nicht glauben, dass er ein Paktierer sein soll.” So standen sie einen Moment gemeinsam vor der Zehntscheuer. “Vielleicht solltet ihr doch endlich hinein gehen, es ist kalt geworden hier. Ich werde weiter Wache halten.”

Derweil machte sich die Baroness daran, in Begleitung ihrer Hündin die Scheune zu betreten.

Merle erwiderte Kalmans Umarmung mit einem traurigen Lächeln, dann machte sie sich wortlos von ihm los und folgte der Baroness.

“Halt, Baroness! Wollt Ihr allen Ernstes mit Eurer Hündin in die Zehntscheuer gehen?” Kalman schaute besorgt auf Tharga. “Es ist ziemlich voll dort, die Kinder und auch viele Erwachsene schlafen inzwischen, aber die Stimmung war bis zuletzt angespannt. Wenn Euer Tier das spürt und zu bellen anfängt, könnte dies eine Panik auslösen.”

Leicht irritiert musterte Merle den großen Hund. "Sie scheint mir eigentlich ganz ruhig zu sein."

“Sie kann keiner Seele was zuleide tun”, log Arda, ohne sich dabei sonderlich Mühe zu geben. Dazu machte sie eine wegwerfende Bewegung, die sich wohl auf Kalmans Einwand bezog. Damit war die Angelegenheit für sie erledigt und sie schickte sich an, die Scheune zu betreten.

Kalman war noch nicht überzeugt. Aber er war es leid, weiteren Streit auszutragen. Es war genug Streit für ihn für diesen Tag. Deshalb rief er der Baroness lediglich hinterher: “Euer Wohlgeboren von Kaldenberg! Ich hoffe, Ihr habt Eure Hündin unter Kontrolle."

“Meine Hündin ist sicherlich das geringste der Probleme, die dieses Dorf hat!” gab die Baroness nicht ohne Schärfe zurück.

Darauf antwortete Kalman nichts, gab ihr aber innerlich recht.

“Seid unbesorgt, Herr Kalman. Tharga ist eine Schmuse-Hündin und folgt ihrer Herrin aufs Wort.” Stolz sah Imelda auf das artige Tier und schmunzelte zufrieden.

“Wenn Ihr es sagt, Euer Gnaden, dann vertraue ich Eurem Urteil”, gab Kalman nun endgültig nach.

Merle lächelte leicht über Imeldas Begeisterung für Tharga und nickte der Ingra-Geweihten zum Abschied kurz zu, bevor sie ins Innere der Scheune trat.

In der Bäckerei

Der Bäckermeister Ulfried Runkler, der Dorfschulze Praiogrimm Waldgrun und Limrog saßen gemeinsam schweigend am Knettisch der Backstube. Ulfried hatte eine Flasche Branntwein aus einem Schrank geholt und vor sie gestellt, doch war diese inzwischen fast leer. Erneut ergriff Limrog die Flasche und verteilte den Rest ihres Inhalts auf die Tonbecher, die vor den Männern standen.

Aus dem Nachbarraum, der Wohnstube der Runklers, war das klägliche Weinen von Mengarde zu hören, die um ihren ermordeten Ehemann Brun trauerte. Ihre Schwiegermutter Wiltrud hatte die Kinder endlich zum Schlafen gebracht und versuchte nun vergebens, der jungen Frau Trost zu spenden.

Wütend über die eigene Ohnmacht, etwas tun zu können, schmiss Limrog die leere Flasche mit voller Wucht gegen die Wand, so dass sie mit lautem Klirren zerbarst. “Wir müssen doch irgendetwas tun können, um Brun zu rächen und Gwenn wiederzufinden, während die hohen Herrschaften dort drüben nur große Reden schwingen. Ich nehme jetzt meine Axt und ziehe los, und suche dieses Schwein, zur Not allein. Und wenn ich ihn finde, dann schlage ich ihm den Schädel ein, bevor er auch nur einen seiner verdammten Dämonen rufen kann!”

Praiogrimm, der vornübergebeugt auf seine Ellenbogen gestützt da saß, versuchte den Tonbecher zu seinem Mund zu führen, was ihm nur in Schlangenlinien gelang, wobei er einen Teil des Schnapses verschüttete. “Das hat doch keinen Zweck”, lallte er. “Du hast doch gehört, was die feinen Herrschaften gesagt haben, seine Wohlgeboren und dein Angro…angro..angroschgeweihter. Wir sollen nach Hause gehen und wachsam bleiben. Wachsam bleiben! Und nicht in Panik verfallen! Sie kümmern sich darum! Wären die mal wachsam geblieben und hätten sich früher darum gekümmert, dann hätte es keine Toten gegeben.”

Bei Praiogrimms letzten Worten drückte Ulfried seinen Becher derart stark zusammen, dass er in Scherben zerbrach und dem Bäckermeister die Hand aufschnitt. Doch er spürte nicht, wie ihm das Blut aus der Hand lief. “Mein Junge! Einfach abgeschlachtet! Und alle sitzen nur rum und tun nichts!”

Limrog fiel ihm ins Wort. “Grimmgasch ist nicht ‘mein’ Angroschgeweihter. Ich komme aus dem Kosch, nicht aus Xorlosch. Ich hab’ Hartuwal damals versprochen, auf Friedewald und seine Brut aufzupassen. Und das mach’ ich auch! Ich geh’ jetzt los.” Mühselig versuchte der Schmied, seine Beine unter dem Tisch zu sortieren, um aufzustehen.

“Lass es lieber, Limrog”, versuchte Praiogrimm ihn aufzuhalten. “Die Herrschaften haben ziemlich deutlich gesagt, wir sollen Ruhe geben. Ich weiß nicht, wenn du jetzt noch mal losziehst, bist du der nächste, der in der Zelle landet.”

“Das sollen sie mal versuchen!”, erwiderte Limrog beleidigt und verschränkte die Arme vor der Brust.

~ * ~

Besuch bei der Gauklerin

Die Ritterin Alana von Altenberg hatte ihrem Bruder Rahjel versprochen, nach der Gauklerin Doratrava zu sehen, die in eine Zelle im Haus des Dorfschulzen gesperrt worden war.

Als Alana die Eingangstür des Hauses öffnete, trat ihr der Dorfbüttel Nerek Bertenschlag mit einer Pike in der Hand entgegen, während Hadelin Borkmund weiter vor der Zelle Wache hielt. “He da! Haltet ein!” rief Nerek der Ritterin entgegen. “Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr?”

Doratrava hatte die Diskussion draußen, nicht zuletzt über ihr Schicksal, in weiten Teilen mitbekommen, was gemischte Gefühle in ihr ausgelöst hatte. So war ihr aber auch gewahr, dass man Alana geschickt hatte, um nach ihr zu sehen. Als sie nun die Geräusche und Stimmen vor der Zellentür hörte, wartete sie erst einmal ab, ohne etwas zu sagen. Die Büttel hatten offenbar nicht zugehört, was draußen gesprochen wurde, sie schienen Alana sogar nicht einmal zu kennen, obwohl diese ihres Wissens nach auch schon seit gestern im Dorf weilte. Nun, nicht ihr Problem, und die Ritterin würde sich schon in Szene zu setzen wissen.

“Rondra in Ehr und Wehr, werter Herr und werte Dame. Ich bin Alana von Altenberg, Ritterin zu Schweinsfold. Im Namen des Hohen Herrn Kalman von Weissenquell und seiner Gnaden Rahjel von Altenberg wurde ich geschickt nach der Gauklerin Doratrava zu schauen und zu wachen.” Die schlanke Frau ließ ihre Stimme wirken.

Nerek schaute die Ritterin skeptisch an. Die Frau sah ehrbar aus und sie sagte, sie sei von dem jungen Herrn und einem Geweihten geschickt? Nerek kratzte sich die Wange unterhalb des Ohrs. Er schien nicht sicher zu sein, ob er die Dame wirklich eintreten lassen durfte. “Woher weiß ich, dass Ihr die Wahrheit sprecht?”

Aus dem hinteren Raum kam der Ruf der zweiten Wache. “Nerek, wer ist denn da? Brauchst du Hilfe?”

Doratrava verdrehte die Augen. Einer der beiden Trottel musste doch nur nach draußen rufen, wenn sie schon nichts mitbekommen hatten. Kalman und Rahjel waren doch nur ein paar Schritte entfernt.

“Ihr könnt gerne den Herrn befragen, bevor er weg ist. Doch ich habe einen Eid vor den Zwölfen geschworen, in ihren Tugenden zu streiten. Im Namen der Zwölfe, voran die Sturmbringerin Rondra, ich spreche die Wahrheit”, sagte Alana und legte ihre rechte Hand aufs Herz.

Nerek nickte. “Das wohl!” ‘Ich werde doch keinen Schwur auf die Zwölfe anzweifeln’, dachte der Büttel. “Gut, tretet ein. Ich lasse Euch zu ihr.” Nerek führte Alana in den Vorraum der Zelle, wo sich die beiden Wachen es sich an einem kleinen Tisch gemütlich gemacht hatten und sich die Zeit mit einem Würfelspiel vertrieben hatten. “Hadelin, das ist die hohe Dame Alana. Sie wurde von Herrn Kalman geschickt, um nach Doratrava zu schauen.”

“Gut, dann schließe ich ihr auf”, entgegnete die junge Wachfrau und erhob sich von ihrem Schemel. “Wollt Ihr etwas zu trinken, hohe Dame?” fragte sie an Alana gewandt.

Alana hob die Hand. ”Nein danke und spielt ruhig weiter.” Vorsichtig wartete sie, bis aufgeschlossen wurde.

“Bitte entschuldigt, hohe Dame, aber wir haben die Anweisung, die Tür geschlossen zu halten, auch wenn jemand eintreten sollte”, entschuldigte sich Nerek. “Wenn Ihr wieder hinaus wollt, klopft an die Tür. Und dürfte ich Euch bitten, Eure Waffen hier abzulegen?”

“Sicherlich.” Sie gürtete ihr Schwert ab und gab es der Frau. Mit zaghaftem Lächeln betrat sie die ´Zelle´.

Doratrava saß auf der Liege unter dem kleinen, vergitterten Fenster, die Beine angezogen, die Arme um die Knie geschlungen, und sah Alana an. Ihr Gesicht lag im Schatten, da es kein Licht in der Zelle gab und von draußen fast nichts hereinfiel, aber als die Tür kurz geöffnet worden war, hatte die Ritterin durchaus erkennen können, dass Doratrava hier sicher nicht saß, um Seelenfrieden zu finden. Auch Spuren von Tränen waren zu sehen gewesen.

“Alana”, sprach Doratrava nun, fast tonlos, im Versuch, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, Merle wäre ihr im Moment zwar lieber gewesen, aber dennoch war sie irgendwie erleichtert, ein freundliches Gesicht ohne Gitterstäbe dazwischen sehen zu können.

Die Zellentür öffnete sich und Hadelin trat mit einem Kerzenleuchter in die Zelle. “Ich denke, Ihr fühlt euch wohler, wenn Ihr bei Eurem Gespräch etwas sehen könnt, hohe Dame.” Sie stellte die Kerze auf einen Schemel und verließ den Raum, ohne eine Antwort abzuwarten.

“Meine kleine Tänzerin.” Alana schritt hinein und ging in die Hocke. Vorsichtig betrachtete sie Doratrava. “Wie geht es dir? Ist noch alles an dir dran?” Alana war blass, fast so wie die Gauklerin. Ihre Feenküsse umrahmten ihr feines Gesicht und ihre blauen Augen wirkten tiefgründig. Ihre kastanienroten Haare waren kurz geschnitten und ließen sie von weitem wie ein Jüngling erscheinen. Dass der Tag lang war, zeigten die dunklen Spuren unter ihren Augen.

“Bis jetzt schon”, antwortete Doratrava mit einem Anflug von bissigem Sarkasmus. “Aber du siehst ja kaum besser aus, als ich mich fühle. Was habe ich denn verpasst?” Sie behielt den Tonfall bei, vielleicht, weil sie keine Schwäche zeigen wollte, auch wenn das blödsinnig war. Oder vielleicht, um die Distanz zu wahren, denn irgendetwas in ihr würde sich der Ritterin nun liebend gerne um den Hals werfen, denn vielleicht war es das letzte Mal, dass sie das tun konnte.

“Das reinste Chaos. Ein plötzlicher Sturm, Verletzte, Entführte und nun viele Tote. Der Pruch, munkelt man. Und wie es scheint, sind Leute von seinem Fluch betroffen, so wie der Magier Gudekar und Lares von Mersingen. Und du wirst ja auch verdächtigt. Mein Bruder ist sich aber sicher, dass du mit dem Frevler nichts zu tun hast. Und deswegen bin ich hier. Er hat dich unter den Schutz der Rahja gestellt, damit du sicher zu diesem Bader kommst und nicht vor irgendein Strafgericht oder die Inquisition. Ich pass auf dich auf.” Ihrer Intuition folgend umarmte Alana die Gauklerin.

Eigentlich wollte Doratrava antworten, doch dann umfingen sie Alanas Arme und erstickten jegliche Äußerung. Zuerst versteifte sich sich, aber nur ganz kurz, dann ließ sie sich in die Umarmung hineinfallen und schlang die Arme ihrerseits um die Ritterin wie eine Ertrinkende. Ihr entrang sich ein Aufschluchzen, während sie ihren Kopf an Alanas Schulter und Wange presste. Bebend versuchte sie, die Selbstbeherrschung zurückzugewinnen, sie hatte doch schon wahrlich genug geheult heute.

Alana strich ihr über den Kopf. “Lass ruhig alles raus, kleines Herz. Du bist stark, doch auch die Starken haben Grenzen. Ich bin bei dir und beschütze dich.” Die Ritterin hielt sie fest.

Ein Teil ihres Verstandes fragte sich, wie Alana sie wohl beschützen wollte, wenn Eoban mit seinen wahnwitzigen Anschuldigungen durchkam, aber Doratrava wollte daran jetzt nicht denken, sondern gab sich dem angebotenen Trost hin und kämpfte nicht weiter gegen die Tränen an. Sie umklammerte Alana umso fester und schluchzte hemmungslos so lange, bis keine Tränen mehr übrig waren. Erst dann lockerte sich ihr Griff und sie erschlaffte in Alanas Armen, für den Moment nicht fähig, etwas zu sagen.

“Schlaf ruhig ein wenig, sammle ein wenig Kraft”, flüsterte Alana.

Das war vermutlich nicht die schlechteste Idee, zumal Doratrava dann nicht die ganze Nacht mit Grübeln verbrachte, wie es weitergehen würde. Sie ließ sich also auf die Liege zurücksinken, die leider viel zu schmal für zwei Personen war, und schloss die Augen, um sich der vor allem geistigen Erschöpfung hinzugeben, während sie Alanas Hand festhielt. Doch es dauerte nicht lange, da kündeten regelmäßige Atemzüge davon, dass die Gauklerin tatsächlich eingeschlafen war.

~ * ~

Das Gutshaus befrieden

Die Geweihten Imelda von Hadingen und Rionn hatten vom Kalman von Weissenquell erfahren, dass die unheilige Kiste, die am See gefunden worden war, trotz vielfacher Warnungen unvorsichtiger Weise geöffnet worden war. Die Kiste enthielt den abgetrennten Kopf von Rondrard von Tannenfels, dem Bruder des Kriegers Nivard, der ebenfalls Gast dieser Hochzeitsfeier war. Und tatsächlich war die Kiste wohl verflucht und hatte Streit und Unfrieden über die Menschen in Lützeltal gebracht. Inzwischen war die Kiste ins Herrenhaus der Weissenquells gebracht worden und sollte bei der Totenwache für den bei der Jagd verstorbenen Yendan Zerf aus der Lanze des Ritters Rondrard von Storchenflug aufbewahrt werden. Imelda und Rionn wollten nun zu der Kiste, um diese zu untersuchen und gegebenenfalls durch einen göttlichen Segen zu reinigen. So hatten sie sich auf den Weg zum Gutshof gemacht. Begleitet wurden sie von dem Ritter Jartgar von Immergrün sowie Yendans Bruder Hesindiard Zerf, der sich der Totenwache anschließen wollte. Kalman von Weissenquell hatte die Gruppe gebeten, auch den Wagen mit den Leichen des Bäckergesellen Brun und des Stallburschen Marno mitzunehmen, um die Toten gemeinsam aufzubahren.

Als sie das Herrenhaus betraten, bot sich ihnen ein Bild des Schreckens, denn neben den erwarteten Toten Yendan und der Geleitschützerin Herlinde von Kranickau lagen die zerschmetterten Körper eines Hundes und zweier weiterer Leute aus dem Gefolge des Storchenflugs. Blutverschmiert standen Nivard von Tannenfels, Prikt Praddel sowie Dorcas Lausinger zwischen den Leichen, die Waffen gesenkt und hatten gerade noch Worte ausgetauscht.

Der Ritter Jartgar zog sein Schwert und gab den Anderen ein Zeichen, hinter ihm zu bleiben. “In Rondras Namen! Erklärt euch!”, rief er in die Stube.

"Er… er hat sie einfach erschlagen", sagte der Krieger mit dem Streitkolben erschüttert. "Ich hab noch versucht, sie zu warnen, aber…", er schüttelte traurig den Kopf. "Dann hat er den Tisch umgeworfen und auch Celio zerschmettert. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist. Wären wir doch bloß nicht in dieses vermaledeite Lützeltal gereist!"

“Wer hat wen erschlagen?”, fragte Rionn entsetzt, aber auch ein wenig neugierig nach. “Nivard! Was ist geschehen? Erzähl du doch bitte.” Vom Tannenfelser erhoffte sich der Tsageweihte eine etwas sortiertere Aussage. Das vorgefundene Gemetzel war schlimm. Aber offenbar war der Tsageweihte solche Anblicke aus seiner Heimat gewöhnt. Wo war denn seine Heimat? Rionn wusste es nicht. Nicht mehr.

Misstrauisch schaute der alte Ritter die Verdächtigen an, doch wartete er auf die Antwort.

"Nivard ist tot", sagte der Krieger dumpf und deutete auf seinen Gefährten, der mit gebrochenem Blick zusammengesackt war. "Er hat seine Wacht beendet, ging auf Wiltrud zu und erschlug sie einfach. Warum, weiß ich nicht."

Verwirrt schaute Rionn den fremden Krieger an. Dann begriff er, dass der Tote wohl auch Nivard heißen musste, so wie der Tannenfelser. Merkwürdiger Zufall.

Die Ingrageweihte war einen solch schauerlichen Anblick nicht gewohnt. Obwohl sie mit ihrer heiligen Laterne tapfer in den Raum leuchtete, hielt sie die andere Hand abwehrend vor ihre Augen. Immer wieder lugte sie skeptisch dahinter hervor und versuchte die Szenerie nicht allzu genau zu betrachten.

"Der andere Nivard kann nichts dafür, fürchte ich. Er war wahrscheinlich nicht er selbst, als er zu morden begann." fing Nivard an, mit ausdrucksloser Stimme. "Der Kopf meines Bruders..." fuhr er dumpf fort, "auf ihm muss ein Fluch Pruchs gelegen haben… Er ist nicht dessen erstes 'Geschenk'. Wir hätten es ahnen können..." Nivard schüttelte konsterniert den Kopf. "Nein. Wir hätten es wissen müssen. Wir tragen Mitschuld am Tod dieses - gewiss untadeligen - Kriegers. Mögen die Götter seiner Seele gnädig sein. Und uns unsere Nachlässigkeit vergeben... nein...” Nivard ballte die Faust, die er voll Selbstvorwurf am liebsten gegen sich selbst gewendet hätte: “mir die meine. Auch wenn Rondrard mein eigener Bruder war, hätte ich meine Sinne beisammen halten müssen! Das war ein unverzeihlicher Fehler."

Besorgt und mitfühlend sah Imelda den Krieger an. “Es tut mir so unendlich leid, das mit Eurem Bruder, Herr Nivard.” Sie trat traurig an den jungen Mann heran und nahm ihn nach einem kurzen Zögern liebevoll in den Arm. “Das ist nicht gerecht… ich kann gar nicht glauben, dass das passiert ist.”

Imelda konnte deutlich spüren, wie angespannt, wie versteift Nivards ganzer Körper war, ja, bereits gewesen war, als sie ihn in den Arm nahm. Es brauchte einige Atemzüge, bis er die Nähe der Geweihten wirklich wahrnahm und sich etwas entspannte. Er nickte zögerlich. Ja, es war nicht gerecht… es war einfach nicht gerecht, dass so viele Unschuldige sterben mussten durch die Hand des Frevlers.

Dann löste Imelda sich von dem Tannenfelser und sah ihn fragend an. “Was macht Euch glauben, dass ein Fluch auf seinem… Kopf lag und warum wirkt er jetzt nicht länger? Meint Ihr, das Unheil ist nun wirklich verflogen?”

Rionn räusperte sich. “Ich glaube”, mischte sich der Tsageweihte ein, “der Fluch liegt auf der Kiste, nicht auf dem Kopf.” Das sagte er auch, um Nivards Leid nicht noch zu vergrößern. “Wir sollten das Heilige Tuch über beides legen.”

"Du hast Recht", nickte Nivard. "Wir dürfen ihm nicht noch eine Gelegenheit geben, Unheil anzurichten. Und schon gar nicht durch meines Bruders Haupt... oder die Kiste, in der er liegt. Bitte, legt das Heilige Tuch rasch darüber. Auch, damit Rondrard Frieden findet." Zu Imelda fügte er hinzu: "Ich weiß nicht, ob das alles gewesen ist. Bereits einmal ging in unserer Gegenwart Böses von einer Kiste aus Pruchs Hand aus. Damals endete die ganze Sache aber glimpflicher. Vielleicht, weil wir die Kiste zerstört haben, bevor es zum Äußersten gekommen ist. Wahrscheinlich haben wir die Warnung deshalb nicht hinreichend verinnerlicht."

“Also, dann sollten wir vielleicht das Haupt Eures lieben Bruders in das heilige Tuch Rahjas wickeln und das Kästchen hier und jetzt zerstören?” Obwohl der Krieger, zu dem sie sprach, ein Schwert in der Hand hielt, wanderte die Hand der Geweihten instinktiv zu ihrem eher kleinen Schmiedehammer, dann zu ihrer Laterne. “Am besten überantworten wir die Kiste den reinigenden Flammen des Feuers. Und dann bringen wir Rondrard zum nächstgelegenen Boronsanger, damit er auf geweihtem Boden ruht und Frieden im Namen der Götter erfährt.” Sie blickte fragend in die Gesichter der Anwesenden. "Wisst Ihr, ob es in Lützeltal einen Boronsanger gibt?"

"Nein!" insistierte Nivard eilig. "Rondrards Haupt soll seine letzte Ruhe in heimischer Erde finden. Das bin ich ihm schuldig. Und meine Familie soll von meinem Bruder Abschied nehmen können. Aber ich wäre sehr dankbar, wenn jemand seinen Kopf untersuchen könnte, damit wir sicher sein können, dass der Fluch nicht durch ihn weitergetragen wird."

"Ich könnte prüfen", erklärte der Tsageweihte, "ob ein Einfluß auf sein Haupt gelegt worden ist. Aber das Ritual dauert eine Weile."

Imelda nickte verstehend auf die Worte des Tannenfelsers. Es würde ihr ähnlich gehen, wenn es sich um einen nahen Verwandten von ihr handeln würde. Sie wandte sich an den Tsa-Geweihten. “Ich kann Euch, also dir, gerne zur Hand gehen… ähm… Rionn.” Sie wog ein wenig den Kopf hin und her. “Allerdings kann ich kein Blut sehen! Und schon gar nicht von dem Herrn Rondrard. Der war nämlich ein ganz passabler Tänzer. Und er war sehr höflich und zuvorkommend und… nett.” Hilflos schaute sie um sich und versuchte nicht zu lange mit dem Blick auf den Leichen zu verharren.

Kein Blut zu sehen gestaltete sich in diesem Raum jedoch als eine Unmöglichkeit. Das unbändige Wüten des Besessenen hatte nur zu deutlich überall seine Spuren hinterlassen. Nicht nur die Toten hatten ihre inneren Körpersäfte im Raum verteilt, auch aus den Wunden der Verletzten trat das Blut noch immer aus.

"Ja, all das war er. Und nicht nur das. Er war auch mutig, und er hatte ein großes Herz. Zuletzt schienen es die Götter gut mit ihm zu meinen..." Nivards Augen glänzten. Doch er wollte nicht weinen. Stattdessen verhärteten sich seine Züge. "Rondrard hatte nichts mit der Sache zu tun. Er ist Pruch nie in die Quere gekommen, wusste von alldem nicht mehr, als im Greifenspiegel steht. Er musste wahrscheinlich nur sterben, um mir Schmerz zuzufügen. Was für ein verabscheuungswürdiger Unmensch muss man sein, um so zu handeln? Pruchs Seele ist nicht mehr zu retten. In die Niederhöllen soll er fahren!”

Rionn war geneigt, in Nivards Zorn mit einzustimmen. Auch er spürte einen tiefen Groll gegen den Bäckerpruch. So wie er wider alle Paktierer stets einen heiligen Zorn spürte. Doch nach den Ereignissen der letzten Stunden war sein Groll gegen den Pruch besonders stark. Allerdings schaffte er es, sich zusammenzureißen. "Bevor ich mit dem Ritual beginne: Nivard? Bist du verletzt? Was ist mit deinen Wunden?" Nivard schüttelte den Kopf. “Noch alles dran und heil. Um die anderen hier…” er deutete zu den anderen im Raum, denen der andere Nivard in seiner Raserei weit mehr zugesetzt hatte. “steht es schlimmer.” Rionn wandte sich an den fremden Krieger. "Wir sollten erst die Wunden versorgen. Dann werde ich die Auraprüfung vollziehen."

Der Krieger nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht, während der andere Krieger neben der erschlagenen Frau kniete, ihren Kopf hielt und ihr sanft das blutverschmierte Haar aus dem Gesicht strich und ihr die Augen schloss. "Da… Da kam irgendwas aus Nivard raus, als… als er tot war. Es flog in einen… Riss, oder sowas, über der Kiste", keuchte er Rionn entgegen.

"Oha!", kommentierte Rionn die neue Information. "Dann ist eine Auraprüfung wohl nicht mehr notwendig." Der Tsageweihte hob beide Augenbrauen. "Ich werde jetzt erst die Wunden versorgen und dann werde ich die Ewigjunge bitten, diese unheilige Kiste von ihrem dämonischen Einfluß zu befreien." Gesagt. Getan. Rionn machte sich ohne zu zögern ans Werk. Nachdem er die Verletzten versorgt hatte, bereitete der Exorzist alles für das entsprechende Ritual vor und begann zu beten.

Die Hadingerin fühlte sich nicht wohl bei dem Anblick, welcher sich ihr darbot; das ganze Blut und die schlimmen Verletzungen zu ignorieren war nicht möglich. Sie traute sich kaum, einen der anderen im Raum näher anzusehen, als ihr Blick auf den Hund fiel. Das Fell war nass, von Blut durchtränkt und Imelda spürte, wie sie unweigerlich aufstoßen musste. Nur mit größter Mühe schluckte sie das aufkommende Unwohlsein herunter. ‘Nur nicht unangenehm auffallen. Wenn ich mich hier jetzt erbreche, dann wäre ich nur eine Bürde für die Anderen’, ging es ihr durch den Kopf. ‘Ich muss mich zusammenreißen!’, nahm sie sich vor, doch sie spürte, wie ihr immer schummriger wurde. “Es tut mir leid!”, rief sie plötzlich, kreidebleich im Gesicht. “Aber ich muss mal ganz schnell raus.” Imelda riss die Tür des Raumes auf, stürmte aus dem Gutshaus hinaus, um im Hof die frische Nachtluft einzuatmen.

Nivard sah der Geweihten hinterher. Ja, der Anblick hier war nichts für Zartbesaitete, und selbst ihm als Krieger, der er noch in keinem der zurückliegenden Kriege hatte kämpfen müssen, hätte er zweifelsohne schlimm... sehr schlimm zugesetzt, steckte ihm nicht bereits dieser fürchterliche Tag in den Knochen. Wer erst vor wenigen Stunden ein "Geschenk" geöffnet und aus diesem den Kopf seines eigenen Bruders ausgepackt hatte, dessen Inneres lag bereits derart in Trümmern, dass es nicht mehr viel zum Erschüttern gab. "Wenn die Verletzten alle versorgt sind und der Riss geschlossen wird, müssen wir die Toten bergen und wenigstens in etwas Würde herrichten." Zumindest das waren sie diesen Leuten schuldig.

Als Imelda völlig kopflos hinauseilte, die Hand verkrampft an ihren Mund gepresst, stieß sie auf ihrem Weg plötzlich sehr unsanft gegen etwas… besser gesagt gegen jemanden. Es war Hesindiard, in den sie mit voller Wucht hineingerannt war. Sie spürte noch, wie sie das Gleichgewicht verlor und fiel; mit jedem Herzschlag erwartete sie den harten Aufprall auf den Dielenboden des Flurs.

Doch dieser reagierte sofort und fing sie auf.

Verdutzt nahm die Geweihte Hesindiard wahr, der sie in seinen starken Armen hielt, während sie irgendwie schräg in der Luft hing. “Äh… hallo. Mir ist schlecht”, gab sie, immer noch kreidebleich um die Nase, von sich und spürte, wie der Magensaft ihr hochkommen wollte, “...oje… ich… ich glaube…” Panisch sah sie den Krieger an, versuchte erneut, das aufsteigende Übel herunter zu schlucken und an etwas angenehmes zu denken. Dann spürte sie jedoch, wie es ihr unweigerlich die Kehle hochkam.

Der Krieger schnallte nicht, was die Geweihte von ihm wollte und blickte sie verdutzt an. Erst, als ein Schwall ihres Mageninhalts versuchte, sich durch die Finger zu pressen, welche sie sich fest auf den Mund drückte, begriff er und rannte mit ihr zur Haustür und stieß diese auf.

Gerade noch im letzten Moment schafften es die beiden bis vor die Tür, als Imelda sich vorbeugte und ihr ein kleiner Schwall hochkam, der sich vor ihr auf den Boden ergoss. “Es tut mir so leid”, brachte sie keuchend heraus, als sie wieder etwas Luft bekam. “Das war eben alles etwas viel da drin. Tut mir wirklich total leid! Du hast doch nichts abbekommen, Hesindiard?”

"Nein, alles gut", beschwichtigte der Krieger. "Eine Geweihte sollte so etwas nicht zu Gesicht bekommen.  Das ziemt sich nicht. Von Rondra-Geweihten einmal abgesehen."

“Ein mutiger Krieger, wie du es bist, sollte ja auch nicht aus nächster Nähe ansehen müssen, wie eine Geweihte ihr Frühstück… Eier und Speck… und Käsewürfel…”, schluchzte Imelda leicht wehleidig in sich hinein. “Und im Rahjaschrein gab es echt leckere Kekse, aber davon hatte ich nur einen, na ja, vielleicht auch zwei…” Die Hadinger Geweihte sah traurig und beschämt zu Hesindiard. “Verzeih’, ich sollte mich nicht so gehen lassen.” Imelda räusperte sich und wischte sich mit der einen Hand eine Träne und mit dem anderen Ärmel den Mund ab. “Hast du zuvor schon einmal ansehen müssen, wie jemand, ähm… erschlagen vor dir lag?”

Schmerz verhärtete seine Gesichtszüge. "Ich war in Mendena und habe 34 die Stadt verteidigt. Ja, ich habe so etwas schon gesehen… und Schlimmeres. Aber es ist immer wieder etwas anderes, die eigenen Kameraden so auffinden zu müssen."

Imelda, die sich am Boden des Hofes zusammengekauert hatte, nickte verstehend. “Ja, so etwas sollte niemand zu sehen bekommen. Entsetzlich, nicht wahr?” Traurig und immer noch sichtlich neben sich stehend versuchte Imelda ein melancholisches Lächeln aufzusetzen. “Also, ich denke, mein Magen ist leer. Da kommt nichts mehr raus. Würdest du mir aufhelfen, Hesindiard?”

Der Krieger reichte ihr eine Hand. "Soll ich Euch zur Scheune bringen? Ihr müsst da nicht wieder rein, wenn Ihr nicht wollt."

Die junge Hadingerin zog sich an der Hand des Kriegers hoch und sah ihn nachdenklich an. “Ich weiß… und mir ist jetzt schon wieder schlecht, wenn ich nur daran denke, was ich da drin gesehen habe, aber… ich sollte wieder reingehen. Es ist meine Pflicht als Geweihte der Zwölf.” Tapfer lächelte sie ihn an und hakte sich dann bei Hesindiard unter. “Geleitest du mich bitte hinein? Ich sollte seiner Gnaden Rionn jetzt bei seinen Gebeten zur Seite stehen.”

“Aber gewiss”, sagte er und legte seine Hand auf ihre, “ich werde mich dann um meinen Bruder kümmern.”

“Euren Bruder?”, fragte Imelda, noch ein wenig geistesabwesend, als sie sich, bei Hesindiard unterhakt, von diesem zurück ins Herrenhaus führen ließ.

"Ja, Yendan, der Jäger, der sich schützend vor einen Adligen stellte, als eine wütende Bache ihn ins Visier nahm. Sein Leichnam liegt nun achtlos im Staub dort drinnen."

"Es tut mir sehr leid, dass das geschehen ist." Die junge Ingra-Geweihte legte, im hilflosen Versuch ihn zu trösten, dem Krieger sachte die Hand auf den Oberarm. "Wir werden uns gleich um deinen lieben Bruder kümmern. Versprochen."

Hesindiard nickte nur.

Still und leise betrat Imelda mit dem Krieger Hesindiard den Raum, in welchem der Geweihte der jungen Göttin alles für sein Ritual vorbereitet hatte. Obwohl Imelda nach dem langen Tag erschöpft war, trat sie an Rionn heran und flüsterte mit sanfter Stimme: “Darf ich dir helfen und dich unterstützen, Rionn?”

Zusammen mit Nivard von Tannenfels und Jartgar von Immergrün sowie den beiden Recken hatte der Tsageweihte den Raum einigermaßen wieder in Ordnung gebracht. Zuvor hatten sie die Verwundungen versorgt. Danach wurden die Verstorbenen möglichst würdevoll aufgebahrt. Während die anderen den Raum in Ordnung brachten und die Spuren des Kampfes zumindest grob entfernten, hatte Rionn im Haus Kerzenleuchter und Rauchwerk besorgt. Er hatte auch seine Tasche wiedergefunden, die er zurückgelassen hatte, als er zur Familie Borkmund gerufen worden war. Offensichtlich hatte es Eoinbaiste nicht bis hierher geschafft, die Tasche zu holen. Nun hatte der Tsageweihte mit all den Hilfsmitteln in dem Raum, in welchem die Verstorbenen aufgebahrt wurden und sich die besagte Kiste mit dem Kopf von Nivards Bruder befand, so gut es ging alles hergerichtet für das Ritual. Der Tsageweihte war es gewohnt, dass es für einen Exorzismus oft nicht die idealen Umstände gab, da es oft notwendig wurde, wenn durch unheiliges Wirken bereits viel Chaos entstanden war, denn die Mächte der Niederhöllen liebten es, die göttliche Ordnung durcheinander zu bringen: ´diabolisch´ - so hatte es einmal eine Geweihte im Drei-Schwestern-Orden genannt. Das kam von einem Wort aus dem Alt-Güldenländischen, dem Aureliani, ´διαβάλλω´ - `alles durcheinander werfen´. Warum sich Rionn ausgerechnet an so etwas erinnern konnte, verstand er nicht. Doch half ihm nun die Sicherheit eines erfahrenen Exorzisten, der er wohl dort gewesen sein musste, woher er herkam. Auch wenn er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Der Tsageweihte hatte die Kerzen rund um die Kiste aufgestellt. Dann hatte er sein Prisma vor einer der größeren Kerzen so platziert, dass das Spektrum des Kerzenlichtes auf die Kiste fiel. Besser wäre es mit dem Licht der Praiosscheibe gewesen. Doch dies stand zu dieser Stunde nicht zur Verfügung. Das Kerzenlicht warf deutlich stärkere Rottöne durch das Prisma, während das reine Tageslicht stärker in den Blautönen war. Es würde aber dennoch helfen, davon war Rionn überzeugt. Er hatte sich zwischen die Kerzen auf den Boden gesetzt und meditiert. Dabei betrachtete und musterte er die Kiste intensiv.

So hatte der Tsageweihte gerade begonnen mit der Zeremonie, als Imelda von Hadingen mit Hesindiard zurückgekehrt war. Auf Imeldas Frage und Angebot hin machte Rionn nur eine schlichte, einladende Geste. Wortlos bat er die Ingrageweihte, sich mit in den Kreis zu setzen und im stillen Gebet den Exorzismus zu unterstützen.

Als Imelda sich gesetzt hatte, sprach der Tsageweihte die rituellen Worte.

“Gepriesene Herrin des Lebens, o Ewigjunge, Lebendige, Lebenspendende,

sieh diesen unheiligen Ort, dieses Gefäß, auf das die Mächte der Finsternis ihren Fluch gelegt haben. Befreie diesen Ort von aller Unheiligkeit, wirf das Wirken der Widersacher zurück in die Niederhöllen. Weise alles Lebensfeindliche zurück und stelle die göttergefällige Ordnung wieder her!

O Ewigjunge, ich bitte dich um deine Gnade!”

Die noch sehr junge Geweihte des Feuergottes war mit Ritualen und Gebeten zur Austreibung nicht vertraut. Daher beließ sie es dabei, sich still neben Rionn zu setzen. Feierlich stellte sie ihr kleines heiliges Licht in die Mitte des Raums, welches anfangs schwach flackerte und im Laufe des Rituals immer mehr an Kraft zu gewinnen schien. Der Schein von Imeldas Laterne brach sich im Prisma des Tsageweihten, intensivierte und vertiefte die davon ausstrahlenden Gelb-, Orange- und Rottöne, die Imeldas Gesicht und den ganzen Raum nun in ein warmes, tröstendes Licht tauchten. Die Geweihte konzentrierte sich beim Gebet auf ihre Umgebung und die göttlichen Kräfte, die um sie herum wirkten, auf die Macht des Weltenschöpfers Ingra und der Alles-Gebärenden Tsa, die gegen das schwelende Übel und die Verderbnis um sie herum ankämpften.

Für Außenstehende war keine Veränderung in dem Raum sichtbar, doch während ihrer Meditation und des Gebets nahmen die beiden Geweihten ein schimmerndes Leuchten in dem Raum war. Es war ein dunkles, fast schwarzes Rot, das nichts wärmendes, heimeliges aufwies wie das rote Leuchten eines Kaminfeuers oder einer Esse. Es war nicht einmal so beruhigend wie das Leuchten eines Lavasees, wie es Imelda so liebte. Nein, dieses Rot war das Rot des Hasses, der Zerstörung, der Wut. Und es lag in diesem Raum. Es quoll aus der Kiste, die sie im Wald entdeckt und die nun ihren Weg hierher gefunden hatte, doch es hatte sich in dem Raum ausgebreitet. Und besonders stark hatte es sich über den Körper des gefallenen Kriegers Nivard hergemacht. Rionn und Imelda konnten es deutlich sehen, am intensivsten mit geschlossenen Augen. Doch sie sahen auch, dass diese Präsenz sich nur auf jenen Raum erstreckte. Die Räume hinter den Wänden waren rein. Das sahen sie ebenso deutlich, wie sie das Rot in diesem Raum sahen. Das galt auch für das Kaminzimmer, aus dem vor einigen Stunden Doratrava mit Merle und Rahjel verschwand. Dort gab es keine dämonische Präsenz, war sich Rionn nun sicher. Und auch diese hier wurde schwächer, je länger die Meditation und das Gebet dauerte. Es fing an zu flimmern und zu verblassen. Als Rionn schließlich die Ewigjunge anrief, sammelte das Rot noch einmal all seine Leuchtkraft um die Kiste, um schließlich mit einem stummen Knall zu zerbersten in tausend kleine Splitter von dunkelrotem Licht und dann endgültig zu entschwinden. Diese Explosion ließ die beiden für einige Augenblicke das Bewusstsein verlieren und sie sahen nichts mehr. Doch dann flammte Imeldas Laterne auf und ihr Licht schien in ihrer beider Geist und ließ die Geweihten zu sich kommen.

Als der Tsageweihte wieder zu sich kam, konnte er seine Verblüffung nicht verbergen. Mit einer so starken dämonischen Präsenz hatte er nicht gerechnet. Erleichtert atmete er auf. Die Zwölfe meinten es gut mit ihnen, allen voran Tsa. Jetzt konnten sie mit neuem Lebensmut die gegenwärtigen Herausforderungen angehen: die Menschen hier schützen, Gwenn und Eoinbaiste suchen, Doratrava in die Freiheit bringen, Gudekar auf den guten Weg zurückholen, den elenden Bäckerpruch zur Strecke bringen.

Langsam kam auch Imelda wieder zu sich. Sie fasste sich an den Kopf; ihr Haar stand wild in alle Richtungen ab. “Rionn?”, flüsterte sie zunächst halb blind in die Dunkelheit. Dann erkannte sie ihr heiliges Licht, welches wild und intensiv flackerte. “Du hast es geschafft, Rionn!”, brachte sie sichtlich mitgenommen heraus und rappelte sich wieder ein wenig auf. “Vielen Dank; das hast du wirklich gut gemacht!” Sie griff zu ihrem Gürtel und öffnete die Flasche, welche sich daran befand. “Kleiner Schluck süßer Honigwein?”

Rionns verblüfftes Gesicht wandelte sich und es erstrahlte ein zuversichtliches und freundliches Lächeln. Eigentlich zeigten die Falten und Grübchen in seinem Gesicht, dass es gewohnt war, sehr häufig ein Lächeln oder gar ein Lachen zu tragen. In den letzten Stunden war das Lachen in Rionns Gesicht aufgrund der Erlebnisse und Umstände hier in Lützeltal immer mehr gewichen und Sorgen und Entsetzen hatten sich in seinem Antlitz breit gemacht. Doch jetzt war es zurückgekehrt. Der Tsageweihte antwortete der Ingrageweihten mit einem Lachen: “Doch, Imelda! Das kann ich jetzt gebrauchen. Ein Schluck von deinem Honigwein.”  

Imelda nickte Rionn ernst zu und prüfte den Flacheninhalt. Es war nicht mehr allzuviel drin. Sie beschloss, den Met brüderlich zu teilen, goss einen guten Schluck in ihr Trinkhorn und reichte dann die Flasche an den Tsageweihten. “Der hat extra viel Honig…”, erklärte sie schmunzelnd.

"Ist es vorbei? Wenigstens mit diesem Geschenk des Vermaledeiten?" vergewisserte sich Nivard, der das Ritual zwar beobachtet hatte, aber dennoch allenfalls aus den Handlungen und Reaktionen der beiden Geweihten abzuschätzen versuchte, was geschehen war. Dass sie sich nun gemeinsam über den Met hermachten, mochte kein schlechtes Zeichen sein. "Ist mit Euch... alles in Ordnung?" erkundigte er sich dennoch. In diesem Moment wurde die Tür jäh von außen geöffnet.

~ * ~

Gespräch vor der Scheune

Kalman von Weissenquell und Rondrard von Storchenflug standen noch immer vor der Zehntscheuer Wache, als sich deren Eingangstür von innen öffnete und Eoban von Albenholz, ein weiterer Jugendfreund Kalmans, hinaus zu ihnen trat.

"Herr von Albenholz", nickte Rondrard grüßend.

„Eoban!“ grüßte Kalman ihn. „Wie ist die Lage drinnen? Haben sie sich ein wenig beruhigt?“

~ * ~

In der Zehntscheuer

Nach dem Austausch über die Geschehnisse der letzten Stunden, ließen die Ritter Rondrard von Storchenflug und Kalman von Weissenquell schließlich Merle von Weissenquell, die Baroness Ardare von Kaldenberg sowie den Rahjageweihten Rahjel von Altenberg in die Zehntscheuer. Rondrard und Kalman blieben am Eingang stehen, um die Gesellschaft, die sich in der Scheuer versammelt hatte, vor unerwünschten Eindringlingen zu beschützen.

Den drei Ankömmlingen eröffnete sich ein erschreckendes Bild, die Zehntscheuer wirkte wie ein Lager voll Flüchtlingen. Eigentlich war die Scheune feierlich geschmückt, mit orangefarbenen und roten Bändern und Girlanden. Überall waren Kerzenleuchter aufgestellt, von denen nur wenige noch leuchteten. Diese tauchten die Scheune in ein wohlig warmes, schummriges Licht. Doch überall auf den Bänken und auf provisorischen Lagern aus Heuballen und Decken saßen und lagen die Familien und Gäste der Hochzeitsgesellschaft.

Um die Familien besser schützen zu können, hatte die Vögtin Witta von Dürenwald angeordnet, das Herrenhaus der Familie Weissenquell zu räumen und alle in der Scheune zu versammeln. Nach den Unruhen und dem Unfrieden, der die Gesellschaft am Abend heimgesucht hatte, hatten die Geweihten Grimmgasch und Rajalind von Zweibruckenburg sowie ihr Novize Leander eine Andacht abgehalten, um die Gemüter zu beruhigen und die Leute zur Ruhe zu bringen. Nun waren die meisten Menschen eingeschlafen, insbesondere die Kinder waren inzwischen ruhig geworden. Die noch wachen Personen saßen in kleinen Gruppen an den Tischen und unterhielten sich in gedämpftem Flüsterton.

Die Baronin von Rodaschquell, Liana Morgenrot, saß zusammen mit ihrer Zofe Eduina und dem Ritter Darian von Sturmfels an einem Tisch. An einem anderen Tisch saßen die Angroschim Borix und Murla, die inzwischen ebenfalls in die Scheune eingekehrt waren, zusammen mit dem Angroschgeweihten Grimmgasch sowie Erbosch, dem Schatzmeister aus Rosenhain, und tauschten sich aus. Borix und Murla hatten am späten Nachmittag noch der Firunnovizin Mika von Weissenquell, jüngste Tochter des Edlen, geholfen, die Beute der Jagdgesellschaft ins Dorf zu bringen. So waren sie erst nach dem Ende der Unruhen in die Scheune zurückgekehrt und wirkten erschöpft und abgekämpft. Zu den vier Angroschim hatte sich auch der Edle Friedewald gesetzt, der ein alter Freund des Edlen von Ishna Mur war. Gemeinsam tauschten sie sich über die Ereignisse aus.

An der Rückseite der Scheune und auf dem oberen Zwischenstock waren Schlaflager für die Familien mit Kindern eingerichtet worden. Hier lagen unter anderem auch Ciala von Weissenquell mit ihrer Tochter Madalin und Merles Kind Lulu. Cialas Söhne Morgan, der Magiernovize, und der Knappe Lukardis saßen in ihrer Nähe und bewachten ihre Familie. Auch sie unterhielten sich im Flüsterton, hatten sich die Brüder schon lange nicht mehr gesehen.

Etwas abseits in einer Ecke des Hauses und durch aufgehängte Decken von den anderen getrennt hatte auch der Junker Lares von Mersingen ein Lager gefunden. Auch er hatte einen tiefen und ruhigen Schlaf gefunden. Seine Schwester Miranda und die Akoluthin Vinja sorgten sich um ihn und bewachten seinen Schlaf, auch wenn es ihnen schwer fiel, die Augen noch weiter offen zu halten. Lares’ Pagin Basilissa hingegen war in der Nähe der Familie Weissenquell eingeschlafen.

Merle, Ardare und Rahjel schauten sich am Eingang der Scheune stehend um.

Am Tisch der Elfen-Baronin

Die Baronin wechselte nur einige wenige Worte mit ihren beiden Vertrauten. Sie bat Darian, ein wachsames Auge zu haben. Es war schließlich nicht auszuschließen, dass es weitere Angriffe oder dergleichen gab. Eduina indes bat sie, hier und da nach den Lagern zu sehen und zu schauen, ob noch irgendetwas benötigt wurde. Mit einem kurzen Nicken machte sich die Zofe auf, um nach Decken und Kerzen zu sehen. Ab und an ging sie mit einem Krug Wasser umher, um hier und da leere Becher zu füllen. Es tat ihr gut, etwas tun zu können.

Die Baronin selbst indes erhob sich ebenfalls, um nach dem Herrn von Mersingen zu schauen…

Am Lager des Mersingers

Rahjel strich noch einmal Merle fürsorglich über ihre Schulter und ging dann ohne zu zögern zu Lares' Lager. “Miranda, wie geht es ihm?”, fragte der Geweihte direkt, doch ließ er seinen Blick nicht von seinem Freund.

Die Baroness von Kaldenberg stand mit verschränkten Armen schräg hinter dem Rahjapriester. Sie wirkte deutlich weniger besorgt, sondern hatte einen prüfenden, fast kritischen Blick, als machte sie dem jungen Ritter einen Vorwurf wegen des Zustandes, in dem er sich befand.

Die große, schlank-kräftige Hündin hielt sich bislang an das Versprechen, welches ihre Herrin ausgesprochen hatte. Sie hatte wohl irgendeine Fährte aufgenommen und schnüffelte an einer nahebei stehenden Kiste.

Nach einer Weile trat die Baronin von Rodaschquell leise hinzu und betrachtete den ruhenden Mersinger besorgt, aber ebenso seine Schwester.

Sie hielt sich zunächst bewusst etwas im Hintergrund, ehe sie näher an das Lager herantrat.

Ganz sachte legte sie ihre Hand auf die Schulter Mirandas.

“Ich weiß, dass es schwer ist, worum ich Euch nun bitte. Aber dennoch hoffe ich, dass Ihr selbst etwas Ruhe findet. Ich werde gern an Eurer statt weiter über Euren Bruder wachen. Darauf habt Ihr mein Wort.”

Ohne Mirandas Antwort abzuwarten, ließ es der Geweihte der Rahja sich nicht nehmen und hockte sich neben Lares. Vorsichtig strich er ihm eine Haarsträhne von der Stirn. “Bei Rahja, was ist dir nur zugestoßen, alter Freund?” wisperte er vor sich hin. "Ihr könnt euch alle ausruhen. Ich wache weiter über seinen Schlaf”, sagte er nun zu den Herumstehenden.

"Soll mir recht sein", beschied Arda mit einem Anflug von Patzigkeit.

Es war nicht der einzige Anflug, der sie ereilte: Ihre Kleidung, mit der sie heute eine Geburt begleitet und die sie anschließend in den Bach getaucht hatte, um mit ihnen kreuz und quer in der Nacht spazieren zu gehen, hatte einen Zustand erreicht, der den Stoff hart und unbequem werden ließ. Außerdem fühlte sie die Kälte eines gehörigen Schnupfens in ihre Glieder kriechen. Und Hunger hatte sie - und Lust auf Süßes! Ein Stück Kuchen, vor allem aber ein heißes Bad, danach sehnte sie sich. Und es war ausnehmend unwahrscheinlich, dass sie heute Abend auch nur eins von beiden bekam…

Die Umstände schlugen ihr zunehmend aufs Gemüt. Tharga spürte den Stimmungsumschwung ihrer Herrin sofort und ließ von der Kiste ab. Stattdessen sah sie sich im Raum um und ließ ein leises Knurren hören.

„Danke. Danke Euch allen. Baronin, Baroness, Rahjel.“ Miranda schluckte die Tränen und die Sorgen hinunter, die unaufhörlich durch ihren Kopf rasten. „Ich werde versuchen, ein wenig zu rasten. Rahjel, ich glaube… naja… Es ist gelungen, ihn zu beruhigen. Aber: Das ist nicht mein Bruder“, konstatierte sie mit einer ungeahnten Gewissheit. Vinja bekräftigte dies: „Den Herrn Lares habe ich schon mal wütend gesehen und in letzter Zeit war er häufiger besorgt - aber dieser Zustand erinnert mich eher an seinen Va…“ Gerade noch verkniff sich die Akoluthin, was sie beinahe Lästerliches ausgesprochen hätte. Mirandas Kopf ruckte herum. Ihr Mund war aufgeklappt, die Backen auf einen Schlag feuerrot. „Bitte, oh bitte Frau Miranda, verzeiht mir! Ich, es, ist… mir so… ich habe nicht nachgedacht!“

“Es IST Herr Lares”, fuhr Liana schnell dazwischen.

“Doch es liegt übles Taubra auf ihm. Es verdunkelt seinen Geist, besudelt seine Seele. Und es bekümmert mich, ihn so zu sehen.”

Einmal mehr betrachtete die Baronin von Rodaschquell Miranda, sah sie gütig und mitfühlend an.

“Ich kenne Euch und Euren Bruder, seid ihr beide geboren wurdet. Ich sah Euch und ihn aufwachsen und im Hof der Rodaschblick spielen, wenn Euer Vater Euch und Lares mitbrachte und die Burg so mit Leben füllte.”

Sie strich vorsichtig und sanft über Mirandas Schulter.

“Und so hoffe ich, dass Ihr mir glaubt, wenn ich sage, dass ich tun will, was in meiner Macht steht, um Eurem Bruder Frieden zu schenken.”

Ihr Blick wurde eindringlicher - und zugleich ernster.

“Ich weiß sehr wohl, dass der Herr von Mersingen die Zauberei nicht schätzt. Und doch … es ist dunkler Zauber, der ihn gefangen hält, und vielleicht liegt es in meiner Macht, diesen üblen Zauber zu bannen. Doch werde ich dies eingedenk des Herrn Lares nur versuchen, wenn Ihr, als seine Schwester, mir vertraut und mir Eure Zustimmung gebt, den daimonischen Einfluss, der über seinem Geist liegt, zu vertreiben. Und selbst wenn ich Erfolg habe, wird es noch an ihm zehren: Das Wissen, von übler Magie eines finsteren Schwarzkünstlers besudelt worden zu sein.”

Sie wartete einen kleinen Moment, ehe sie fortfuhr.

“Oder aber Ihr mögt warten, bis Diener der Zwölfe eintreffen, um ihm zu helfen. Die Wahl liegt bei Euch.”

Abwartend blieb ihr Blick auf Miranda gerichtet.

Arda, die sich bereits an der magischen Heilung des Mersingers versucht und sich daran erschöpft hatte, blickte verkniffen drein. Sie wollte der elfischen Baronin den Erfolg nicht gönnen, der ihr selbst vorenthalten geblieben war.

"Ich habe bereits mit der Dame von Mersingen vereinbart, dass Lares morgen mit meiner Kutsche in die Obhut der Praioskirche verbracht wird", merkte die Baroness in bemüht neutralem Tonfall an.

Die Herrin von Rodaschquell warf der Baroness einen kurzen Blick von der Seite zu, der schwer zu deuten war. War es Gleichgültigkeit, die darin lag? Ein Hauch von Hochmut? Oder nur schieres Bedauern?

Dieser Blick, er währte nur einen Moment. Dann wandte sie sich wieder Miranda zu. “Nun, dann eröffnet sich Euch eine neue Möglichkeit, die vielleicht noch heute Abend Wirkung zeigen und helfen mag, die gepeinigte Seele Eures Bruders von der Dunkelheit zu befreien, die über ihr liegt. Die Obhut der Kirche, die ihm besonders nahe steht, wird ihm darüber hinaus helfen können, seinen Frieden wiederzufinden, wenn er erkannt hat, was ihm durch den Paktierer widerfahren ist. Es liegt an Euch, zu entscheiden, Miranda. Wie auch immer diese Entscheidung aussehen mag.” Ihre Augen waren wieder sanft geworden, und sie lächelte der jungen Mersingerin zu.

Die Ablenkung verhalf Vinja, sich aus der Schusslinie zurückzuziehen - und offenbar hatte niemand die Dreistigkeit, auf ihren Faux-Pas einzugehen. Desgleichen war Mirandas Aufmerksamkeit gebunden - und mit einer schwierigen Entscheidung konfrontiert. „Oh Baronin, Baroness, mein Bruder wäre sicher nicht begeistert, mit Madas Macht geheilt zu werden. Andererseits geht ihm nichts darüber, dem Herzog zu Diensten sein zu können. Stellte man ihn vor die Wahl, würde er sich immer für die Loyalität entscheiden. Wenn es Euch gelingen kann, Frau Liana, dann mögt ihr es probieren.“ Entschuldigend sah sie zu Ardare - als ob diese an ihres Bruders Statt stünde.

Diese setzte ein nachsichtiges Lächeln auf, welches ihre Augen nicht erreichte, und schüttelte den Kopf. “Ich wäre die glücklichste Person, wenn es Eurem Bruder alsbald besser ginge. Ihr kennt ihn besser als ich. Wenn Ihr wirklich meint, dass Euer Bruder diese Entscheidung treffen würde, müsst Ihr sie an seiner statt treffen. Ich glaube, er wird Euch verzeihen.”

“Niemand anderes als Euer Bruder wird besser verstehen, dass Ihr das Leid so schnell wie möglich beenden wollt, das ihm widerfahren ist”, sagte Liana leise - und darauf bedacht, der jungen Mersingerin ihre Sorge zu nehmen. Die Ärmste war schon aufgewühlt genug.

“Ich bin sicher, dass er zudem weiß, dass ich ihm niemals würde schaden wollen. Und dass es ebenso wie der Eurige auch mein Wunsch ist, ihn von dem dunklen Zauber zu befreien, der auf ihm liegt.”

Sie lächelte ihr einmal mehr zu. Aufmunternd. Innere Zuversicht ausstrahlend.

Einige in dieser Halle waren von diesem dunklen Taubra erfasst worden. Sie hatte es bei Friedewald gespürt. Den daimonischen Pesthauch gespürt, der ihr so zuwider war.

Hier, bei Lares, schien er sogar stärker zu sein. Sie würde sich gut vorbereiten müssen, wenn sie den Bann brechen wollte …

Mit einem lauten Knarren öffnete sich die Vordertür der Zehntscheuer, vor der Rondrard und Kalman Wache hielten. Herein trat eine junge Jägerin, die erschöpft und abgekämpft aussah. Es war Mika von Weissenquell, die jüngste Tochter des Edlen und Firunnovizin.

“Ich denke, Ihr wisst mich aufzuspüren, sollte… solltet Ihr DOCH meine Kutsche benötigen.” beschied Arda mit spöttisch verzogenem Mund in Richtung Miranda. Mit der geringstmöglichen Deferenz gegenüber der elfischen Baronin, die vonnöten war, um einen Eklat zu vermeiden, rauschte Arda davon.

Die Hündin beschnüffelte noch eine Weile die Holzkiste, bevor sie aufmerkte, sich nach ihrer Herrin umsah, und dieser dann mit weiten Sätzen quer durch den Pulk der Menschen in der Scheune nacheilte.

Was in der jungen Baroness wohl vor sich gehen mochte? Liana wusste es nicht. Aber so genau wollte sie es auch gar nicht wissen. Die Dame schien ihr eigenes Scherflein zu tragen - wie so viele andere dieser Tage …

Sie nickte Arda kurz zu, ehe sie sich wieder dem vor ihr liegenden Lares zuwandte - und seiner Schwester sowie Rahjel.

“Selbst wenn ich erfolgreich sein sollte, wird seine Wohlgeboren zweifellos noch Beistand benötigen. Beistand, wie sie ihm seine Schwester zu geben vermag.  Ich weiß nicht, wie nahe Junker Lares der Kirche Eurer Herrin steht. Aber vielleicht vermögt auch Ihr ihm etwas Trost und Ruhe zu geben, Euer Gnaden.“

„Mein Bruder steht jedenfalls seiner Gnaden Rahjel nahe. Das ist das Einzige, das jetzt zählt“, sagte Miranda, wobei neue Zuversicht aus ihren Worten sprach.

Der Geweihte nickte und blieb an der Seite Lares’. Die Nähe der elfischen Baronin schien ihn nicht zu stören und er ließ sie gewähren.

Sie wandte sich wieder Lares zu. Schloss ihre Augen. Besann sich der Melodie, die Reinheit zu geben vermag. So, wie es ihre Lehrerin ihr einst beigebracht hatte. Strich mit ihrer Hand vorsichtig über seine Stirn. Dachte an den klugen, beherrschten und willensstarken Junker, nicht die besessene Person, die vor ihr lag. Die Melodie und die Gedanken, die sie in sich spürte, halfen ihr dabei, sich auf das Werk zu konzentrieren, den dunklen Einfluss zu bannen, der Lares befallen hatte.

Entsetzt ließ sie plötzlich von ihm ab. Fast glaubte sie, den Ursprung erkannt zu haben. So, wie schon viele Male zuvor, als sie das üble Zauberwerk sinistrer Magier zu bannen vermochte. Doch diesmal war es anders. Viel tiefer saß der Keim der Finsternis in ihm. Hatte sich festgesogen. Schien fast Teil von ihm zu sein.

Sie erbleichte, als sie erkannte, dass sie ihm nicht zu helfen imstande war. Gleichsam bezweifelte sie, dass es überhaupt noch Hilfe für ihn gab bei dem, was sie sah und spürte.

Sie wich abrupt zurück und hatte schon einen Bann parat, um sich selbst zu schützen vor dem Übel, das ihn befallen hatte.

“Es liegt jenseits meiner Macht, ihm zu helfen”, sagte sie bleich. Und der Stein in ihrem Diadem war so schwarz wie Obsidian.

Miranda hatte sich an der Schulter der Baronin eingehalten und ließ die kühle Haut der Elfin los, als sie diese letzte Hoffnung fahren lassen musste. „Das ist schrecklich. Dann können nur noch die Götter helfen. Die Seele meines Bruders muss gerettet werden. Sie muss!“ Als die junge Frau sah, wie es um Liana bestellt war, fügte sie noch hinzu: „Und Eure unsterbliche Seele auch, Euer Hochgeboren. Ihr seid stark - dass diese Düsternis Euch zurückweist, macht mich schaudern.“

Ein langer Moment verstrich. Zeit, die die Herrin vom Quell des Rodasch benötigte, um sich wieder zu sammeln, sich zu fassen. Die Götter?, dachte sie, und Zweifel lag in ihren Gedanken. Nach allem, was sie über diese Art Taubra wusste - oder eher zu wissen vermeinte -, war es mehr als bloß ein übler Bann. Eine solche daimonische Macht konnte sich einen freien Geist nur dann derart Untertan machen, wenn dieser sich freiwillig öffnete und sich ihr hingab. War es - wie so oft - das Versprechen von Macht? Macht über sich selbst? Macht über andere? Macht über den Tod?

Was hast du nur getan?

Furcht, Bekümmerung, aber auch Enttäuschung lagen in ihren Augen.

Dann wurde sie wieder der jungen Frau an ihrer Seite gewahr. Ihrer Worte und der Sorge, die daraus sprach.

Konnte sie übers Herz bringen, ihr zu sagen, was sie vermutete?

Durfte sie es, wenngleich sie es doch nicht wusste?

Sie wandte sich ihr zu.

“Ich bin mir nicht im Klaren darüber, was ihm widerfahren ist. Dies müssen jene ergründen, die mit Übeln dieser Art vertrauter sind.”

Ihre Stimme klang müde. Resigniert.

So viele Jahre nun schon weilte sie in den Landen der Menschen. Manche Dinge änderten sich nicht. Aber sie veränderten sie …

Miranda nickte stumm. Diese Aufgabe lag nicht mehr in ihrer kleinen Hand - da halfen nur noch die Götter und ihre Geweihten selbst. "Seid nicht traurig, Hochgeboren. Die Geweihten des Sonnengottes werden meinem Bruder sicherlich beistehen können", sagte sie und kam sich gleich darauf dumm vor. Vor wenigen Minuten war noch sie es, die Tränen vergossen hatte und jetzt wollte sie der Baronin Vorschriften über ihre Gefühle machen?

Rahjel zeigte keine Gefühlsregung. “Ich werde ihn wieder zu uns holen, bei Rahja, das kann ich Euch versprechen”, sagte er ruhig. “Die Liebholde vermag Herz und Seele zu heilen. Ich würde vorschlagen, ihn in einen Rahjatempel zu bringen. Dort kann ich besser helfen. Seine Hochwürden Rahjan Bader kennt Lares ebenfalls. Zusammen würde uns die Göttin erhören.” Nun strich er über Lares’ Stirn.

Die Erwähnung der Priesterschaft des Sonnengottes riefen gemischte Gefühle in der Baronin hervor. Sie selbst empfand meist nur wenig Zuneigung für die in ihren Augen oft engstirnigen und überheblichen Menschen, die zu einem Gott beteten, der angeblich Magie verdammte. Das zu glauben erschien ihr nicht sehr klug - und in gewisser Weise anmaßend. Mada habe den Menschen die Magie gebracht, sagen sie, und das sei ein Frevel gewesen. Doch Magie war schon lange vor den Menschen dagewesen. Und warum sollten nicht auch Menschen sich ihrer bedienen dürfen?

Gleichwohl kam sie nicht umhin, sich selbst gegenüber einzugestehen, dass der Glaube vielen Menschen Halt und Kraft gab. Vielleicht vermochten die Priesterinnen und Priester, Lares’ zu erreichen. Etwas, das ihr selbst verwehrt blieb.

Seid nicht traurig, Euer Hochgeboren, hatte Miranda zu ihr gesagt - und es zweifellos gut gemeint. Nein, sie war nicht traurig. Sie war besorgt.

“Dann hoffe ich inständig, dass ihm Hilfe zuteil werden kann, er den üblen Brodem, der ihn berührt hat, abstreifen kann und so wieder zu sich selbst findet.”

***

Am Tisch der Angroschim

Friedewald hatte sich mit Borix und Murla über die Ereignisse des Tages unterhalten. Die beiden alten Freunde kannten Friedewald nun schon sehr lange (gemessen an der kurzen Lebensspanne eines Gigrim) und hatten ihm schon durch so manche Krise geholfen. Doch einen Schicksalsschlag wie heute hatte das Haus Weissenquell noch nie erlebt. Dennoch tat es dem Edlen gut, mit den beiden zu reden. Auch dank Grimmgaschs Beistand war es den beiden gelungen, den Edlen von Lützeltal zu beruhigen. Nun saß er über einen Krug Bier gebeugt und dachte über die Ereignisse des Tages nach.

Nachdem Friedewald tief in Gedanken versunken war, tauschten sich die drei Angroschim aus Ishna Mur erst einmal über das Geschehen aus. Das Auftauchen Grimmgaschs hier im Lützeltal bedurfte einiger Erklärungen des Angroschgeweihten, denn als Borix und Murla abgereist waren, war Grimmgasch noch in der Bergwacht gewesen und hatte nichts von einer weiteren Reise erzählt.

***

Schließlich straffte sich Friedewald wieder. Er war der Edle von Lützeltal. Er war der Lehensherr dieses kleinen, idyllischen Landstrichs. Ja, das Tal war heute in eine Krise gefallen. Doch umso mehr musste er stark sein, er durfte sich nicht in Selbstmitleid aufgehen lassen. Die Anwohner, die Gäste, alle brauchten nun seine Führung, eine starke Hand. Das galt nicht zuletzt für die Familie. Er musste der Familie zeigen, dass er für sie da war. Er musste ihr zeigen, dass die Weissenquells auch in ihren schwersten Stunden zusammenhielten.

Als er Merles Blick sah, die zu ihm hinüber schaute, wurde ihm dies noch einmal mehr bewusst. Merle schaute verunsichert, verletzt, verzweifelt. Er spürte, wie sie Halt suchte. Halt, den ihr Ciala gerade nicht geben konnte, da sie selbst fest schlief. Halt, den ihr Kalman nicht geben konnte, denn er war mit der Verteidigung der Familien, die hier in der Zehntscheuer untergekommen waren, beschäftigt. Halt, den ihr weder Lukardis noch Morgan geben konnten, fehlte ihnen doch die Lebenserfahrung und die damit verbundene Feinfühligkeit. Halt, den ihr zu geben wohl auch Gudekar nicht mehr zu geben bereit war, hatte er sie doch vorhin im Herrenhaus öffentlich derart bloßgestellt und verleugnet, dass  man fürchten musste, dass Travia das Haus für immer meiden würde. Nun war es an ihm, seiner Schwiegertochter, der Mutter seiner jüngsten Enkelin, den Halt zu geben, den sie brauchte, den sie verdient hatte.

Friedewald wechselte noch ein paar kurze Worte mit den Angroschim, um sich zu entschuldigen. Dann stand er auf und ging hinüber zum Schlafplatz seiner Familie.

Nachdem sich Murla, Borix und Grimmgasch ausgetauscht und Friedewald gegangen war, meinte Murla zu den beiden: “Im Moment sieht es danach aus als hätte Angrosch sein Antlitz von den Weissenquells abgewandt.”

Grimmgasch nickte bestätigend. “Aber wir sehen nur, dass sich manche Dinge bei den Kurzlebigen in viel kürzerer Zeit abspielen als bei uns.”

Borix wandte sich an den Schatzmeister: “Wie seht Ihr das, Meister Erbosch? Auch im Hause Mersingen scheinen sich ja die Dinge zu überschlagen, oder?”

Erbosch verzog die Mundwinkel und gab ein missmutiges Grollen von sich. „Die Langen stecken ihre ganze Lebenszeit in ihre spindeldürren Glieder. Da bleibt keine Zeit, um nachzudenken und zur Ruhe zu kommen. Immer auf der Hast. Der Herr Lares in letzter Zeit ganz besonders. Das ist schlecht fürs Geschäft - und wenn jetzt auch noch Meister Rhodan durch die Lande hetzt, kann das nur im Chaos enden.“ Augenbrauen und Bart näherten sich gefährlich an, während der Erzzwerg hinterhersetzte: “Väterchen Angrosch scheint fürwahr gerade in seine Esse zu starren, wenn ihm all das Drachenwerk entgeht! Vielleicht sollten wir den Rat eines Geweihten einholen?“

“Dann, Meister Erbosch, fragt mich, dann kann ich Euch vielleicht raten”, meinte Grimmgasch mit einem breiten Lächeln. ‘Hat mich der Schatzmeister denn nicht als Geweihten wahrgenommen. Oder bin ich in seinen Augen zu unreif …’ ging es Grimmgasch durch den Kopf.

Erbosch sah nach links, dann nach rechts. Dabei kräuselte sich sein Bart. Mit merklicher Unzufriedenheit in der Stimme sagte er: „Gut, bei Angrosch. Sei gefragt, Bruder.“

“Wobei soll ich Dir denn genau den Rat Angroschs darlegen?” fragt Grimmgasch, der von Borix und Murla nur deren Sicht auf die Dinge mitbekommen hatte und selber erst am heutigen Tag in Lützeltal angekommen war.

„Hier geht doch ganz offensichtlich das Werk des Drachens um! Der Herr Lares ist nicht mehr bei Sinnen, wildgewordene Eber schlachten arme Jagdburschen ab und überhaupt - diese spitzohrige Gauklerin! Wir müssen diesem Unwerk Einhalt gebieten.“

Der Angroschgeweihte nickte. “Da hast Du in bestimmten Teilen Deiner Aussage recht. Die Jagd stand sicherlich unter einem schlechten Stern, denn das, was Herrn Lares passierte, passierte auf Grund der Jagd.

Aber ich kenne die Gauklerin schon ein wenig länger, die ist nicht voller Drachenwerk.

Nur wie können wir dem anderen Übel begegnen …”

„Du musst doch eine Idee haben. Schließlich hat Väterchen Angrosch immer einen Bauplan.“

“Oh ja, natürlich hat das Väterchen einen Plan”, antwortete Grimmgasch. “Sonst wären wir alle heute nicht hier. Aber der Plan ist, wie die meisten Pläne des Weltenbauers nicht sofort für uns Sterbliche ersichtlich.

Aber ich denke, dass wir dem Ziel Schritt für Schritt näher kommen, der heutige Tag mit seinen Wirrnissen uns aber nur wenig weitergeholfen hat und wir von dem eigentlichen Ziel durch das unheilige Drachenwerk nur abgelenkt werden sollen.”

Die buschige Augenbraue des Erzzwergen wanderte im Takt eines Vinsalter Eis nach oben. Er schenkte dem Geweihten einen durchdringenden Blick, der alle Zweifel in sich trug, die ein Graubärtiger hegen konnte. „Aha“, konstatierte Erbosch. „Ich habe das Ziel hinter den Wirrnissen des heutigen Tages jedenfalls noch nicht erkannt. Wenn Herr Lares in dem Zustand verweilt, fürchte ich, gibt es in naher Zukunft jedenfalls in Rosenhain auch keine Pläne mehr - jedenfalls keine des Hauses Mersingen.“

“Das was Herr von Mersingen passiert ist”, belehrte Grimmgasch, “ist sicherlich nicht das Entscheidende im Plan des Allvaters. Für Dich mag es vielleicht das wichtigste Ereignis des Tages sein, aber für den Konstrukteur des Weltenmechanismus ist es nur eins der vielen kleinen Rädchen, die zwar alle ineinandergreifen, die aber als einzelnes für sich ganz unbedeutend sind.

So hat er auch mich heute hierher geführt und wird mich auch weiter leiten.

Du musst Vertrauen haben, dass das Große Väterchen in seiner umfassenden Weisheit für sein Volk weise und richtig plant.”

Erbosch nickte. Das leuchtete ihm ein, wenngleich es das Drachenproblem nicht beseitigte. Der Schatzmeister grübelte noch eine Weile über seinem Bier. Die braune, mittlerweile schale Oberfläche spiegelte nur schwach sein Ebenbild. Ihm sah ein ratloser, grimmiger Zwerg entgegen, der seine Stimmung kaum aufzuhellen vermochte. „In der Zwischenzeit, also bis uns das große Väterchen seinen Plan enthüllt, sollen wir warten?“, frug er nur zaghaft, denn er schien die Antwort schon zu kennen.

“Ja, Garoscho”, antwortet Grimmgasch leise. “Auch wenn wir nicht verstehen, warum es so ist, können wir den Plan Angroschs nicht ändern.”

"Hm", grummelte Erbosch und starrte verdrießlich in seinen Bierhumpen.

***

Am Lager der Weissenquells

Nach einem dankbaren Nicken zu Rahjel schaute sich Merle sogleich nach ihrer kleinen Tochter um. Sie wollte mit der einen oder dem anderen der Anwesenden gerne sprechen, doch das musste warten, bis sie Lulu gefunden hatte. So ging sie schnell an den Gruppen der lagernden Leute vorbei und nickte nur einigen kurz zu, bis sie endlich das Schlaflager von Ciala, Lulu und Madalin entdeckt hatte.

Nach den nervenaufreibenden Ereignissen hatte Ciala bei der Umquartierung wie eine Henne auf die Kinder geachtet. Lulu hatte die Panik und Angst der Erwachsenen gespürt und auf dem Arm ihrer Tante bitterlich geschluchzt, nach ihrer Mutter, die sie schon so lange nicht mehr gesehen und gerochen hatte. Beide hatten sich in einem Eck ein provisorisches Nest aus Mänteln und Decken gebaut, lange hatte Ciala die Kleine gewiegt und ihr beruhigende Lieder vorgesungen. Es lag wohl an der Andacht der Rahjani, dann fanden sie Ruhe und schliefen nun. Lulu wollte auf keinen Fall den Körperkontakt zu Ciala verlieren, diese natürlich auch nicht und so lagen sie eng aneinander gekuschelt in scheinbar friedlichem Schlaf. Lulus Beinchen zuckten ab und zu, anscheinend träumte sie gerade rege.

Vorsichtig trat Merle näher und sprach Morgan und Lukardis leise wispernd an: "Schlafen sie?"

Morgan wandte sich um, als er eine vertraute Stimme hörte. “Tante Merle! Schön dich zu sehen! Ja, sie sind endlich zur Ruhe gekommen."

Merle eilte zu ihrem Neffen und drückte ihn in eine gefühlvolle Umarmung, strich sanft über sein Haar und küsste ihn schnell auf die Wange, dann wandte sie sich zu Lukardis und umarmte diesen ebenso herzlich. Es war ihr egal, ob die beiden Burschen das als peinliche Gefühlsduselei empfinden mochten; sie war einfach unendlich erleichtert, sie wohlbehalten vorzufinden. "Wie geht’s euch?" fragte sie flüsternd. "Seid ihr in Ordnung?"

“Es ist alles gut, Merle”, erklärte Morgan. “Mach dir keine Sorgen!”

Zärtlich blickte Merle zu Ciala, Madalin und ihrer Kleinen, die eng aneinander gekuschelt schliefen und sich nur gelegentlich sachte bewegten. Wie sehr sehnte sie sich danach, Lulu endlich an sich zu drücken, sie festzuhalten und nie wieder loszulassen. Doch wusste sie, wie dringend alle jetzt die Ruhe und den wertvollen Schlaf benötigten. So rückte sie kniend, ganz vorsichtig, an ihre Tochter heran, streichelte ihr feines helles Haar und hauchte Lulu einen sanften Kuss auf die Stirn. "Wie geht es Vater Friedewald?" flüsterte sie den beiden Jünglingen zu, während sie weiter Lulus Köpfchen streichelte. "Ich habe gehört, dass er... sehr aufgebracht war."

“Er hat sich beruhigt”, erklärte Morgan. “Aber er war auch sehr… verwirrt. Doch das kann Lukardis besser erklären, er hat Großvaters Zustand als erster bemerkt."

Ohne von der Seite ihrer Tochter zu weichen, blickte Merle fragend zu dem jungen Knappen.

Bei dem Wort verwirrt schien sich Basilissa kurz zu regen, doch war das Mädchen so abgekämpft, dass es sich nur kurz regte und mit einem Schmatzen weiterschlief.

“Ich sah, wie Großvater die Stiege nach oben nahm, gerade als es etwas hitziger wurde. Er schien besorgt zu sein und ging einfach. Keiner bemerkte ihn und ich dachte, na ja, vielleicht braucht er ja Hilfe. Also bin ich hinterher und habe ihn angesprochen. Er wollte mehr Fackeln holen, weil es in der Scheune ja schon ein bisschen dämmrig war. Ich wollte ihm zur Hand gehen und fragte, wie viele Fackeln ich denn mitnehmen solle. Ich mein, die sind ja nun nicht ganz billig. Da wurde er grantig und meinte, ich solle sie alle nehmen. Und das tat ich dann. Aber trotz jeder weiteren Fackel, die den Schein heller werden ließ, wollte er immer mehr Fackeln entzünden. Ich hatte schon Angst, die Scheune würde Feuer fangen, weil es schon so viele waren. Aber er wollte mehr. Immer mehr. Stimmt was nicht mit Großvater?”

“Ich fürchte, Lukardis”, versuchte Morgan seinem älteren Bruder zu erklären, “es hat etwas mit dieser unheiligen Mission zu tun, in die Onkel Gudekar seit zwei Götterläufen verstrickt ist. Wahrscheinlich hast du das nicht mitbekommen, du bist ja noch seltener zu Hause als ich, aber unser Onkel ist zusammen mit einigen Gefährten auf der Jagd nach einem gefährlichen Paktierer. Meister Adelchis von Pfaffengrund, den kennst du bestimmt auch noch von früher, und Vaters Freund Eoban gehören auch zu der Gruppe.”

Merle wog den Kopf nachdenklich hin und her und beobachtete mit besorgtem Blick Ciala und die schlafenden Kinder. Sie überlegte, was sie den Jungs sagen und was sie weglassen sollte. Nach kurzem Zögern entschied sie sich für die Wahrheit. Die beiden mussten hier sehr erwachsen sein und auf die Jüngeren und ihre Mutter aufpassen - da sollten sie auch wissen, mit was sie es zu tun hatten. "Es stimmt. Dieser Paktierer hat uns, hat Lützeltal heute angegriffen. Es sind sehr schlimme Dinge passiert", zischte sie ihren Neffen zu. "Ihr wisst schon von Gwenn?"

Morgan wurde blass. “Ja, die Erwachsenen haben ja den ganzen Abend von kaum etwas anderem geredet. Und dass die Tänzerin mit dem Paktierer gemeinsame Sache macht. Wegen ihr mussten wir ja auch Großvaters Haus räumen. Das hätte ich ihr nicht zugetraut. Sie sah so harmlos aus und hat so schön getanzt gestern.” Bei den letzten Worten stieg ihm die Röte ins Gesicht, was aber bei dem abgedunkelten Licht kaum zu erkennen war.

"Doratrava ist nicht mit dem Paktierer im Bunde, Morgan", beschwor sie ihren jungen Neffen mit leiser, aber eindringlicher Stimme. "Ich kann dir versichern, dass sie ein guter und reinherziger Mensch ist. Na ja, Mensch nicht ganz", Merle lächelte sanft, "sie ist eine Halbelfe und trägt magische Kraft in sich. Deshalb verdächtigen Eoban und einige andere sie. Aber ich hoffe sehr, dass sich morgen alles aufklärt und sie freigelassen wird."

“Dann ist ja gut. Das wäre furchtbar gewesen, wenn ihr etwas geschehen würde.” Aber ganz überzeugt war Morgan noch nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Vater so falsch lag. Und dennoch hoffte er sehr, dass der Tänzerin nichts geschah. Er wollte sie unbedingt noch einmal tanzen sehen. Und wenn sie ihn dabei verzauberte mit ihrer Elfenmagie, dann sollte sie das nur tun. Es würde ihm wohl recht sein.

"Ja, das wäre es." Merle schwieg für einen Moment und hing ihren Gedanken nach. Hoffentlich ging das morgen wirklich alles gut aus und löste sich in Wohlgefallen auf. Prüfend musterte sie ihren Neffen und trotz der ernsten Lage musste die junge Frau angesichts von Morgans offensichtlicher Schwärmerei ein wenig grinsen. Oh ja, Doratrava war wundervoll… Merle versuchte nicht an den schlanken, nackten Körper der Tänzerin zu denken und blickte fragend zwischen den beiden Burschen hin und her. "Und eure Mutter?" Sie betrachtete ihre schlafende Schwägerin und strich dieser liebevoll das Haar aus dem Gesicht. Was hätte sie heute - und in den vergangenen zwei Götterläufen - nur ohne Cialas selbstlose, unermüdliche Unterstützung getan? "Geht es ihr einigermaßen? Wie hat sie das alles überstanden?"

„Mutter geht es gut. Sie hat sich jetzt den Schlaf verdient. Sie hat sich den ganzen Abend um die Kinder gekümmert, nicht nur um Madalin und Liudbirg, nein auch um andere, wie der Pagin des Mersingers. Sie hat sie abgelenkt, dass die Kinder nichts oder möglichst wenig von den Schrecken mitbekommen haben, und hat sie schließlich zur Ruhe gebracht.“

“Liebe, tapfere Ciala”, murmelte Merle und küsste ihre Schwägerin sanft auf die Wange, dann rückte sie ein Stück von den Schlafenden ab und setzte sich näher zu Lukardis und Morgan. Abwesend ließ sie ihren Blick über die spärlich beleuchteten provisorischen Lager unter den feierlichen Girlanden schweifen und dachte daran, wie begeistert sie und Ciala in den letzten Wochen auf die Hochzeit hingefiebert und das Fest vorbereitet hatten. Sie war voll unbändiger Vorfreude und Spannung gewesen, nicht nur wegen Gwenns anstehendem Traviabund, sondern auch, weil Gudekar endlich, endlich nach Hause kommen würde. So sehr hatte sie sich an die Hoffnung geklammert, dass zwischen ihnen alles wieder gut werden würde, dass die Zeit der Entfremdung und Trennung nur eine Phase gewesen wäre, die bald schon vergeben und vergessen sein würde. Jetzt lag nicht nur ihre Ehe in Trümmern, sondern ganz Lützeltal. So viele gute Menschen waren tot und Gwenn, deren glücklichster Tag dies hätte werden sollen, in der Gewalt eines brutalen, wahnsinnigen Mörders. Die junge Frau verzog schmerzerfüllt das Gesicht, atmete langsam aus und blickte die zwei Burschen aus ernsten braunen Augen an. "Lasst uns als Familie zusammenhalten und füreinander da sein, ja? Wir haben nur uns und die Güte der Götter - doch ist das immerhin etwas, was wir haben." Traurig, aber voller Wärme lächelte sie ihnen zu. "Ihr seid gute Jungs, ihr beide. Ich weiß, dass eure Eltern sehr stolz auf euch sind."

Morgan lächelte Merle an. “Tante Merle, natürlich halten wir zusammen. Wir sind doch eine Familie. Wir sind die Weissenquells, wir sind immer füreinander da.”

Merle nickte, legte ihrem jungen Neffen den Arm um die Schulter und drückte ihn kurz an sich, fragte sich aber in Gedanken, ob das wirklich stimmte. War sie eine Weissenquell? Oder am Ende doch nur Merle Dreifelder, einfache Magd und Waise? An ihrem Hochzeitstag, vor fast auf den Tag genau sieben Götterläufen, hatten Friedewald, Kalman und die anderen sie im blumengeschmückten Traviatempel von Albenhus trotz allen Zwists in die Familie aufgenommen. Doch wie viel würde das noch zählen, wenn sie Gudekar erst ans Messer geliefert hatte? Wäre dann Blut dicker als Wasser? Würde Morgan sie immer noch mögen, wenn sie versuchte, seinen verehrten Magier-Onkel zur Strecke zu bringen? Um sich von diesen Gedankengängen abzulenken, blickte sie zum Nachtlager des Mersingers hinüber. "Habt ihr mitgekriegt, was dem hohen Herrn Lares zugestoßen ist?"

Morgan beugte sich zu seiner Tante und flüsterte ihr ins Ohr: “Der ist ganz sicher von Dämonen besessen. Er hat die ganze Zeit vor sich hingebrabbelt, sein Gebieter sei Lolgramoth und so. Der muss ganz dringend vor die Praioten gebracht werden. Bevor die womöglich noch herkommen.”

Lukardis schlug Morgan auf den Arm und zischte: "Nennen heißt Rufen! Und das gilt doch besonders jetzt, wenn wir hier schon von Handlangern des Bösen umgeben sind."

"Ja, lasst uns dies lieber nicht aussprechen", stimmte Merle dem Knappen mit matter Stimme zu, auch wenn sie im Grunde ihres Herzens Gudekars Ansicht teilte, dass die Nennung des bloßen Namens allein das Unheil noch nicht heraufbeschwor. Dennoch, den Leuten tat es nicht gut, das Wort zu hören, sei es noch so leise geflüstert. Sie drückte Morgans Hand, um ihm zu vermitteln, dass sie ihm nicht grollte, und schaute stirnrunzelnd in Lares' Richtung. "Die Baronin von Rodaschquell scheint sich um ihn zu kümmern…“

„Aber Lukardis, ich hab doch nur wiedergegeben, was der Herr Lares gesagt hat, und noch nicht einmal alles. Du hast es doch auch gehört“, protestierte Morgan in Richtung seines Bruders. Aber dann blickte er zu Merle und sprach sanfter: „Aber vermutlich hast du Recht, Tante. Wir sollten nicht zu viel über diese Vorfälle reden.“

„Morgan, es gibt doch Möglichkeiten, jemanden von einer Besessenheit zu befreien, nicht wahr?" Unwillkürlich fragte sich Merle, ob Gudekar auch besessen sein könnte. Doch eigentlich glaubte sie das nicht. Trotz seines unverständlichen Verhaltens, trotz des Eindrucks, dass ein dunkler Schatten auf seiner Seele lag, der ihn getrieben, kalt und rücksichtslos agieren ließ - fremdgesteuert wirkte ihr Mann nicht. Nein, Gudekar wollte, was er tat, im Gegensatz zu Lares, Friedewald und anderen Opfern dieses Fluchs. Er war verantwortlich für seine Taten. Entschlossen presste Merle die Lippen zu schmalen Strichen zusammen. Und ja, zur Verantwortung würde sie ihn ziehen.

Morgan nickte. „Das hängt natürlich davon ab, in welchem Kreis der Verdammnis sich die Seele bereits befindet. Manchmal hilft eine arkane Austreibung, manchmal müssen die Geweihten einen Exorzismus vornehmen, manchmal hilft nur noch das reinigende Feuer. Und manchmal ist die Seele gar nicht mehr zu retten.“ Morgan versuchte, die Sache möglichst einfach zu erklären, so dass auch seine Tante es verstehen konnte. Sie hatte ja keine akademische Ausbildung.

“Ich hoffe so sehr, dass dem Herrn Lares geholfen werden kann”, sagte Merle und versuchte Vertrauen und Hoffnung in die Gnade der Götter zu setzen. Sie schaute sich nach ihrem Schwiegervater um. “Eigentlich wollte ich noch mit Vater Friedewald sprechen. Aber ich möchte sein Gespräch mit den Angroschim nicht stören…” Unentschlossen beobachtete sie die ruhigen Atemzüge der Schlafenden. “Vielleicht sollte ich versuchen, etwas Ruhe zu kriegen. Auch wenn ich nicht weiß, ob ich jetzt schlafen kann.”

Lukardis nahm Merle in den Arm und strich ihr sanft übers Haar: “Natürlich kannst Du das. Wir passen schon auf Dich auf.” Er klang müde, doch meinte es ernst. Er würde wach bleiben, bis sie eingeschlafen war.

Seufzend erwiderte sie seine Umarmung und sah Lukardis fast erstaunt an. Er war kein Junge mehr, sondern ein tapferer junger Mann, der ein guter und ehrenvoller Ritter werden würde. “Danke, Lukardis. Danke, ihr beiden.” Sie griff nach einer Wolldecke, um sich ein notdürftiges Nachtlager neben Ciala, Madalin und Lulu zu bereiten und schenkte ihren Neffen ein sanftes Lächeln. “Seht zu, dass ihr auch etwas Schlaf bekommt, ja?”

„Ich werde über Mutter und die Mädchen wachen. Und auch über dich, Merle. Sollte dieser Abscheuliche noch einmal kommen und versuchen, eine von euch zu holen, dann werden wir sehen, ob wir nicht noch ein paar Überraschungen für ihn parat haben.“ Morgan war bereit, seine Familie bis zum letzten zu verteidigen, wenn dies notwendig werden sollte. „Schlafen kann ich auch morgen am Tag noch.“

"Wir stehen das durch", bekräftigte Merle mit Blick zu ihrer Tochter. Sie drückte Morgans Schulter. "Was bleibt uns auch anderes übrig."

"Keine Sorge, Tantchen. Du hast nichts falsch gemacht. Die Familie wird schon für Euch sorgen, falls Gudekar nicht zur Vernunft kommt."

Friedewald von Weissenquell hatte Merles suchenden Blick kurz zuvor gesehen und dann beschlossen, zu ihr und den anderen Familienmitgliedern hinüberzugehen. So verließ er seinen Platz am Tisch der Angroschim und lief hinüber zu den Schlafplätzen. Leise genug, um die Schlafenden nicht zu wecken, ließ er sich auf einem Stuhl zwischen Merle und seinen beiden Enkelsöhnen nieder. Mit dem Handrücken streichelte er Merle über die Wange. Er wusste nicht, was er ihr sagen sollte. Deshalb stellte er eine einfache, aber gleichzeitig dumme, hilflose Frage: “Geht es dir gut?”

Merle kniete sich neben seinen Stuhl, ergriff seine Hand, drückte diese und führte sie aus dem Impuls heraus an ihre Lippen, um sie zu küssen. Sie ließ Friedewalds Hand nach unten sinken, ohne sie loszulassen, schaute ihren Schwiegervater resigniert an und schüttelte dann matt den Kopf. "Eigentlich nicht." Es hatte keinen Sinn, ihn anzulügen. "Was ist mit dir?"

Friedewald schüttelte ebenfalls den Kopf. „Mit mir ist alles in Ordnung. Wieder. Sei meinetwegen unbesorgt. Du weißt, wie sehr ich schon immer die Dunkelheit verabscheut habe. Doch die Dunkelheit, die heute über uns kam, war unerträglich. Ihre Hochgeborenen von Rodaschquell hat mir jedoch geholfen, wieder einigermaßen zu mir zu finden. Sei unbesorgt.“ Friedewald machte eine Pause und genoss es, die Nähe seiner jungen Schwiegertochter an seiner Hand zu spüren. Eine gefühlte Ewigkeit herrschte vertrautes Schweigen. Dann ergriff der Edle erneut das Wort. “Er hat dir heute sehr weh getan. Uns allen, doch du bist diejenige, die am meisten darunter leiden muss, Merle.“

Sie nickte, auch wenn sie nicht vollends verstand, was eigentlich geschehen war, schwieg eine ganze Weile, um ruhig zu atmen und nicht wieder zu weinen zu beginnen. "Gudekar ist fort", sagte sie schließlich leise. "Er kommt nicht mehr zurück."

Friedewald schluckte, dann nickte er. Er wusste nicht, was wirklich zwischen Merle und Gudekar vorgefallen war, aber das, was er gesehen hatte, was er miterleben musste, reichte aus, um zu verstehen. „Dann ist er nicht länger mein Sohn. Nun also endgültig.“

"Ich wünschte, ich könnte das Rad der Zeit zurückdrehen", murmelte sie kaum hörbar zu sich selbst. "An irgendeinem Punkt etwas anders machen, etwas anderes sagen. Ihn irgendwie... festhalten." Nun sammelten sich doch wieder Tränen in Merles Augenwinkeln.

„Satinavs Lauf ist nicht aufzuhalten. Manchmal können nicht einmal die Zwölfe verhindern, dass wir Sterblichen die falschen Entscheidungen treffen.“ Der Edle wusste, dass die Probleme von Merle mit Gudekar viel tiefer saßen, und dass seine Worte lächerlich klingen mussten, doch vielleicht versuchte er auch nur, sich mit ihnen selbst zu trösten.

"Wie konnte unser Leben, das eben noch glücklich, friedlich und voller Hoffnung war, so schnell in tausend Scherben zerbrechen?" fragte sie mit schwacher Stimme. "Wie konnte Gudekar mir, uns das antun? Das frage ich mich immer und immer wieder und finde keine Antwort darauf."

Friedewald hatte selbst auch keine Antwort darauf. Auch für ihn war Gudekars Verhalten unerklärlich. „Ich weiß es nicht. Aber es kann nicht an dir liegen, du darfst dir keine Schuld geben. Du bist eine wundervolle Frau. Irgend etwas hat ihn verändert. Eigentlich hatte ich es bereits damals in Liepenstein bemerkt, doch wollte ich es einfach nicht wahrhaben. Und nun ist es zu spät.“

"Was hast du in Liepenstein gemerkt?" fragte sie automatisch nach, schüttelte dann jedoch gleich abwehrend den Kopf. "Egal. Sollen Gudekar und seine Buhle in die Niederhöllen fahren und dort langsam und qualvoll vergehen." Merle schluckte bitter und verzog vor Wut, Schmerz und Enttäuschung das Gesicht. Doch als sie Friedewald ansah, ihren liebenswürdigen, herzensguten Schwiegervater, wurde ihr bewusst, dass er heute nicht nur einen Sohn verloren hatte, sondern mit Gwenn auch seine Tochter und mit Bernhelm seinen Freund. Sie stieß einen gepressten Schluchzer aus und zog Friedewald in eine verzweifelte Umarmung zu sich heran. "Das Wichtigste ist, dass wir Gwenn wiederholen, nicht wahr?" murmelte sie mit tränenerstickter Stimme an seinem Ohr. "Gwenn. Und dass dieser verfluchte Pruch aufgehalten wird."

Friedewald erwiderte die Umarmung, als er neben Merle auf die Knie ging. Mit voller Kraft drückte er sie an sich heran, streichelte ihr über den Hinterkopf, hielt sie einfach nur fest. “Gemeinsam stehen wir das durch. Ich weiß nicht, was kommen wird, was wir erreichen können. Aber eines ist gewiss: wir sind eine Familie und wir werden gemeinsam durch die dunklen Stunden gehen. Wir haben vermutlich alle irgendwelche Fehler gemacht, hätten das Unheil kommen sehen müssen. Aber wichtig ist, dass wir davon nicht die traviagefällige Gemeinschaft zerstören lassen. Dann hat der Feind bereits gewonnen. Was auch immer kommen wird, wir sind eine Familie, wir sind die Weissenquells!” Bei diesen Worten schaute er auch auffordernd zu Lukardis und Morgan, worauf der Novize zu den beiden kam und nun ebenfalls Merle und seinen Großvater umarmte.

Der Knappe tat es ihm gleich.

Merle ließ ihren Tränen nun doch freien Lauf, als sie ihr Gesicht gegen Friedewalds Schulter presste. "Ich würde auch verstehen, wenn ihr sagt, dass ich nicht richtig dazugehöre zur Familie", schluchzte sie schwach. "Weil ich das ja eigentlich auch nicht tue… Blut ist dicker als Wasser…"

Nun löste sich Friedewald doch aus ihrer Umarmung, ergriff ihre Hände und schaute ihr tief in die Augen. “Merle, natürlich gehörst du zur Familie! Für mich bist du meine Tochter. Du bist die Mutter meiner Enkeltochter. Dein Blut in Liudbirg ist auch mein Blut. Daran wird sich nichts ändern. Niemals.”

Insgeheim glaube Merle immer noch, dass es für die Familie besser gewesen wäre, wenn Gudekar und sie nie geheiratet hätten, doch wagte sie es nicht, den Gedanken auszusprechen. "Ich hab dich so lieb, Vater…" Auch ihre Neffen drückte sie eng und liebevoll an sich, dann wischte sie sich verlegen die Tränen von der Wange. "Euch alle."

“Wir dich doch auch, Tante Merle!” stimmte Morgan zu, woraufhin Friedewald bestätigend lächelte.

Während die anderen in ihr Gespräch vertieft waren, kam langsam Bewegung in das Ciala-Lulu-Knäuel. Die Kleine wetzte mit dem Kopf hin und her, streckte ihre Beinchen und richtete, halb im Traume noch, sich kurz auf, um dann wieder ins Lager zu plumpsen. Ciala drehte sich verschlafen zur Seite, blinzelte und legte ihre Decke über die noch dösende Lulu, die bald erwachen würde. Sie selbst sah erst etwas desorientiert aus, streckte sich und fuhr sich mit den Händen über Gesicht und Haare. „Merle. Merle!“ In lauter werdenden Flüsterrufen versuchte sie, die Aufmerksamkeit der jungen Mutter auf sich zu lenken. Sie selbst fühlte sich miserabel, verschwitzt und vor allem durstig. „Friedewald, Merle!“ Beide schienen in ein emotionales Gespräch verwickelt zu sein, doch was würde es wichtigeres für Merle geben, als ihre Tochter. Gerade nach dem, was geschah. Was musste sich ihre Schwägerin unentwegt um das kleine Bündel gesorgt haben. Ciala war es ähnlich ergangen, doch sie hatte sich bezähmt, ihre großen Kinder zu mütterlich zu behandeln. Ab einem gewissen Alter wollten sie lieber beschützen, als behütet zu werden.

Merle rutschte auf dem Fußboden von Friedewald zu Cialas Schlaflager und streichelte ihrer Schwägerin liebevoll über den Oberarm. “Oh Ciala, Liebes, du bist wach? Ich wollte dich nicht wecken… Tut mir leid”, flüsterte Merle schuldbewusst. “Wie geht es dir? Der Abend war schrecklich, nicht wahr…” Zärtlich blickte sie zu ihrer kleinen Tochter und strich dieser hauchzart übers Haar, dann betrachtete sie die noch immer schlafenden Mädchen Madalin und Basilissa und versuchte die Tränen herunterzuschlucken. “Die armen Kinder… Die Kleinen verstehen noch viel weniger als wir, was hier passiert. Sie müssen furchtbare Angst gehabt haben, oder?”

Morgan winkte ab. „Es ist wohl eher gut, dass sie noch nicht verstehen, worum es hier geht. So sind sie tapfer geblieben und haben das alles mehr wie ein großes Abenteuer gesehen.“

Ciala war nun völlig erwacht und rutschte zu Friedewald und Merle. „Liebes, Lulu wird gleich aufwachen. Sie braucht dich. Mehr, als alle anderen jetzt. Leg dich zu ihr und streichle sie.“ Sie selbst sah sich um, auf der Suche nach etwas zu trinken. „Sie wissen nicht genau, was los ist, aber sie spüren, wie sich die Erwachsenen verhalten. Auch die Kleinen fühlen die Angst und Hilflosigkeit, die von denen, die sie als ihre Stütze halten, ausgeht. Sie braucht ihre Mutter. Du bist der Mittelpunkt Deres für sie.“

"Ja, ich wollte mich gerade zu euch hinlegen", flüsterte Merle mit einem sanften Nicken und griff nach der Decke, die sie sich schon bereit gelegt hatte. Eindringlich schaute sie Ciala in die Augen und zog ihre Schwägerin in eine schnelle und stürmische Umarmung. “Ciala, du hast mir so viel geholfen”, wisperte sie ihr ins Ohr. “Nicht nur heute… sondern immer, die ganze Zeit, seit Lulu da ist. Ich glaube, ich hab meine Kleine viel zu oft vernachlässigt, weil ich ständig über Gudekar gegrübelt habe… warum er fort ist, warum er mich nicht mehr mag, warum er dann doch wieder lieb war, was ich alles falsch gemacht habe, wie ich ihn zurückgewinnen kann… Aber du hast immer zuerst an die Kinder gedacht und darauf geachtet, die Familie zusammenzuhalten. Du warst stets für mich da. Und für Lulu. Dafür bin ich dir so, so dankbar!”

„Ach Merle…“  Ciala hielt in der Umarmung fest und zwei dicke Tränen suchten sich den Weg über ihre Backen. „Das ist doch selbstverständlich. Wir sind eine Familie und müssen zamhalten. Du bist so stark. Da draußen geht Unheiliges um...“ Sie senkte die Stimme aus Angst, die kleinen Kinder würden Fetzen verstehen und mit einem seltsamen Gerücht mehr würde Unfrieden und Angst verbreitet. „Was du wegen diesem Unhold von Mann unternimmst, das überlasse ich dir. Die arme Lulu, meine arme Merle…” Erschöpft seufzte sie. Gab Merle unwillig frei, damit diese zu ihrer Tochter konnte. „Ich hab so Durst. Gibt’s hier irgendwo Wasser?“

Mit einer hauchzarten Bewegung ihres Fingers strich Merle ihr die Tränen aus dem Gesicht, dann setzte sie einen sanften Kuss auf Cialas Wange und schüttelte langsam den Kopf. "Ach, Ciala, ich bin nicht stark. Ich war es noch nie, obwohl ich manchmal so tue als ob. Aber es tut einfach so weh… Ich meine, ich werde kämpfen, natürlich, das muss ich ja, schon für Lulu, aber dabei...", ihre brüchige Stimme wurde fast lautlos, "...trotz allem vermisse ich ihn immer noch. Und gleichzeitig hasse ich ihn so sehr, weil er mir das alles antut... Was stimmt denn nicht mit mir?” Sie brach peinlich berührt ab, als sie merkte, dass sie mehr zu sich selbst sprach als zu den anderen, dass sie diese privaten Gedanken lieber für sich behalten sollte, selbst wenn sie hier im engsten Familienkreis waren. Verlegen räusperte sie sich und blickte, während sie ihre Decke sorgfältig neben der unruhig schlafenden Lulu ausbreitete, fragend zu ihren beiden Neffen. "Jungs, haben wir etwas zu trinken hier für eure Mutter?"

„Du liebst ihn immer noch“, flüsterte Ciala. „Aber er hat gegen Travia gehandelt, ich werde ihm das erst verzeihen können, wenn seine Seele geprüft wurde und er an unser Herdfeuer zurückkehrt. Liebes, vielleicht hat dieser gottlose Paktierer doch mehr Macht über ihn, als wir dachten. Vielleicht öffnen sich seine Augen, wenn dieser Kerl vernichtet ist. Gudekar ist dein Mann. Auch, wenn ich ihn gerade hasse, wünsche ich mir, dass er zur Besinnung kommt.“

"Er kehrt nicht zurück!" widersprach Merle vehement, auch wenn sie sich bemühte, ihre Stimme weiter gesenkt zu halten. "Er wird nie wieder zurückkehren! Und ich werde ihm nie verzeihen! Egal, was mit seiner Seele ist." Merle spürte den Drang, sich einfach auf den Fußboden fallen zu lassen und hemmungslos zu weinen, doch zwang sie sich, die Fassung zu behalten und mit leiser, wenn auch krächzender Stimme weiterzusprechen: "Du weißt nicht, was er alles getan und gesagt hat. Mein Mann hat unseren Traviabund willentlich vor die Hunde gehen lassen, weil diese Ritterin es so wollte. Ich störe ihn bei seinem neuen Leben - deshalb will er mich aus dem Weg haben." Sie biss sich hart auf die Unterlippe und zerrte sich unleidlich das Lederband heraus, das ihr Haar im Nacken zusammengehalten hatte. "Aber ich sag’ dir, die Zeiten der lieben, braven Merle sind vorbei… ich werde mich wehren; ich werd’ mit allen Mitteln dafür kämpfen, ihm und seinem Liebchen das Leben schwer zu machen, das schwöre ich dir."

"Hier, bitte", sagte Lukardis und reichte seiner Mutter einen Becher mit klarem Wasser. Dann füllte er einen zweiten aus einem Krug, den er zusammen mit den Bechern geholt hatte, und reichte ihn Merle. "Braucht ihr sonst noch was?"

„Danke, mein Junge“, sagte Ciala und trank gierig. Ihre Hände zitterten und sie war auf Merles Worte hin bleich geworden. „Bleib bei Lulu und lass sie nicht aus den Augen. Außer, ich passe auf. Das kann, nein, das darf nicht wahr sein. Wie kann er sich uns, dem Heim, der gütigen Mutter gegenüber nur so respektlos verhalten?“ Verständnislos und zornig zupfte sie an ihrem sowieso lädierten Haar. „Er war mir in letzter Zeit sowieso suspekt. Wann ist das losgegangen? Die Kirche muss davon erfahren und seine gerechte Strafe soll er bekommen. Und diese Hure? Was machen wir mit der?“

Dankend nickte Merle Lukardis zu, als sie den Becher entgegen nahm und schüttelte auf seine Frage, ob sie noch etwas bräuchten, müde den Kopf. Erst beim Trinken merkte sie, wie viel Durst sie selbst eigentlich hatte. Das kühle Wasser tat gut und ließ sie wieder etwas ruhiger werden. Dann wandte sie sich matt seufzend Ciala zu: "Es geht ziemlich genau zwei Jahre, seit dieser Hochzeit in Schweinsfold. Das mit Tsalinde war wohl wirklich ein Ausrutscher. Aber trotz seiner angeblich ach so ehrlichen Reue gegenüber Travia und meinen Eltern, trotz seiner Bitte um Vergebung für seinen Fehltritt, hat er die ganze Zeit die Affäre mit dieser almadanischen Stute fortgesetzt, kannst du dir das vorstellen?! Wie kann man nur so verlogen und scheinheilig sein? Und dann bringt er dieses Weib auch noch mit nach Lützeltal, zum Traviabund seiner Schwester…" Immer noch ungläubig und innerlich aufgebracht schüttelte Merle den Kopf. "Wahrscheinlich hat der Mistkerl sich das so vorgestellt, dass ich brav zur Seite trete, meinem Ehemann Lebewohl winkte und ihm alles Gute für die Zukunft wünsche, während seine Familie dieser Meta den Teppich ausrollt und sie als die neue Frau an seiner Seite herzlich willkommen heißt! In was für einer absurden Traumwelt lebt er eigentlich?!"

Ciala presste angespannt die Lippen zusammen. Dieser Abgrund, dieser Frevel. Was war nur aus dem etwas verschrobenen, aber lieben, traviatreuen Mann geworden. „Wir hätten ihn nie nach Schweinsfold reisen lassen sollen. Da war doch noch alles in Ordnung und Travia hatte euch mit Tsa bereits zu einer kleinen Familie gemacht. Ob er anders gehandelt hätte, wenn ihm das bewusst gewesen wäre? Oder war er damals schon vom rechten Pfad abgekommen?“ Sie hatte laut vor sich hin überlegt. „Diese Frau, die er da angeschleppt hatte, die war mir von Anfang an suspekt. Das ist wirklich an Dreistigkeit nicht zu überbieten, seine Geliebte zur Hochzeit mitzunehmen und wie er dann jede Chance genutzt hat, das Lager mit ihr statt dir zu teilen.“ Ciala seufzte zornig und hilflos. Eine interessante Mischung. „Bei den Göttern, hoffentlich ist das Weib nicht schwanger. Ich gebe dir recht, meine Kleine. Aber was sollen wir mit ihr machen? Du hast oft so gute Ideen. Es muss mehr sein, als nur Buße in einen Tempel.“

Merle strich liebevoll über Cialas Oberarm, aus Dankbarkeit für die bedingungslose Anteilnahme ihrer Schwägerin, aber auch, um Ciala in ihrem Aktionismus etwas zu bremsen. "Mit ihr?” Sie seufzte kraftlos und hob die Schultern. “Nimm’ es mir nicht übel, aber heute Nacht will ich nur noch schlafen und für einige Stunden in Borons Armen gnädiges Vergessen finden… für eine Weile nicht dran denken, wie weh es tut. Und morgen werd’ ich wohl erstmal mit meinen Eltern sprechen.” Die junge Frau zwang sich zu einem leichten, aber traurigen Lächeln. Einen Moment lang dachte sie mit gerunzelter Stirn nach, während sie noch einen Schluck aus ihrem Wasserbecher nahm, dann blickte sie auf und Ciala direkt in die Augen. “Am Ende ist mir diese Ritterin ziemlich egal, wenn ich ehrlich bin. Die ist bloß ein unreifes, selbstsüchtiges, aufgeregtes kleines Ding. Nein, Ciala, das hier ist vor allem eine Sache zwischen Gudekar und mir”, ihre Miene wurde härter und kälter, “...es geht mir darum, ihn zu treffen. Er soll am eigenen Leib spüren, was er mir angetan hat, wie es ist, so zu leiden. Er soll büßen.”

„Natürlich hat das Zeit bis morgen. Leg dich zu Lulu. Sie wird zwar kurz wach werden, ein paar Stunden seien euch vergönnt.“ Auch Ciala trank nochmal und dachte nach. „Sie mag dir egal sein, aber ihm ist sie das nicht. Gudekar würde sicher sehr leiden, wenn man ihm seine Gespielin nimmt.“

“Ich will nicht, dass die beiden damit durchkommen.” Merle nickte mit düsterer Entschlossenheit. “Nein, ich werd’ nicht zulassen, dass mein mir vor Travia angetrauter Ehemann diese Familie zerstört, um dann irgendwo mit seinem kleinen Liebchen das süße Leben zu genießen. Das werde ich ihm gehörig vermiesen…” Auch wenn ihre Worte rachedürstend klangen, war der Ausdruck in Merles Augen resigniert, dumpf, fast gebrochen. Sie schwieg einige Augenblicke, während sie mechanisch Lulus schmalen Rücken streichelte, bevor sie leise flüsternd weitersprach: “Vorhin, Ciala, da wollte er fliehen, vor dem Paktierer. Er war ganz panisch, regelrecht kopflos - so kenne ich ihn überhaupt nicht… Aber er wollte mich mitnehmen - mich und Lulu.” Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. “Doch der Ritterin ging es bloß darum, mich so schnell wie möglich loszuwerden, mich auf irgendein einsames Landgut in Almada abzuschieben, damit sie ungestört mit meinem Mann zusammen sein kann. Die will mich aus dem Weg haben. Denn im Grunde weiß sie auch, dass er sie früher oder später verraten wird. So leichtherzig und mühelos, wie er mich zwei Jahre lang angelogen und zum Narren gehalten hat, wird er es früher oder später auch mit ihr machen. Sie denkt vielleicht, sie kann ihn verändern, ihn erziehen, unter Druck setzen und zwingen, damit er so ist, wie sie ihn will", Merle lachte bitter auf, "aber am Ende wird er sie genauso schamlos anlügen und manipulieren, wie er es mit allen anderen auch macht."

Friedewald hatte zwischenzeitlich wieder in einem Lehnstuhl Platz genommen und war vor Erschöpfung eingeschlafen. Morgan hatte seinen Großvater mit seiner Novizenrobe zugedeckt und sich dann selbst einen bequemen Platz zum Schlafen gesucht.

Mit einem lauten Knarren öffnete sich die Vordertür der Zehntscheuer, vor der Rondrard und Kalman Wache hielten. Herein trat Mika und schaute sich um.

Merle blickte kurz auf und registrierte mit einem leichten Lächeln, dass Mika wohlauf war. Sie hob grüßend die Hand, war aber nicht sicher, ob Mika sie gesehen hatte. Zu Ciala gewandt wisperte sie dann: "Das schlimmste weißt du ja noch gar nicht… Als ich ihnen sagte, dass es für mich kein Traviabund mehr ist, wenn ich irgendwo in Almada verkümmere, während er mit seiner Geliebten fröhlich um das Dererund gondelt, da hat er…", sie schloss kurz die Augen, "...da hat er den endgültigen Vertrauensbruch begangen. Gudekar hat seine Magie gegen mich eingesetzt. Einen Beherrschungszauber. Du weißt, ich hab immer fest daran geglaubt, dass er das niemals, niemals machen würde." Merle schluckte hart; ihr Herz tat nicht einmal mehr weh, sondern fühlte sich nur noch leer und kalt an. Auch ihre Stimme klang tonlos und erschöpft, ohne jegliche hörbare Emotion. "Schon deshalb kann ich ihm nie wieder vertrauen. Und ihm niemals verzeihen."

Fassungslos und resigniert konnte Ciala nur noch ungläubig den Kopf schütteln. „Wir haben ihn verloren, fürchte ich. Das ist alles zu viel. Unsere einzige Hoffnung besteht darin, dass er vielleicht schon damals, in Schweinsfold, von diesem Paktierer beeinflusst wurde. Moment… da hat das alles begonnen. Und da hat er auch diese Frau kennengelernt. Er muss sich in der Zeit, als er sich immer mehr verändert hat, öfter mit ihr getroffen haben. Was, wenn sie ihn so negativ beeinflusst? Wir wissen doch so gut wie nichts über sie. Eine unwichtige Person, aber immer mit ihm in Verbindung.“

Merle schüttelte traurig den Kopf. "Auch das ist keine Hoffnung, Ciala. Du weißt, wie die Gesetze sind. Im Grunde ist es egal, ob Gudekar sich willentlich dem Bösen geöffnet hat oder durch einen äußeren Einfluss der Dunkelheit anheimgefallen ist - bestraft werden wird er so oder so für seine Taten. Härter noch, wenn seine Seele tatsächlich verderbt sein sollte." Sie seufzte leise. "Natürlich hat diese selbstsüchtige Frau keinen guten Einfluss auf ihn", ein freudloses Lachen entwich ihrer Kehle, "...und Gudekar ist ihr anscheinend so hörig, dass er alles tut, was sie verlangt, ohne Rücksicht auf Verluste. Aber für seine Taten verantwortlich ist er dennoch selbst. Es waren seine eigenen Entscheidungen. Und er wird sich dafür verantworten müssen, das schwöre ich dir."

Ganz überzeugt war sie nicht. Gerade, wenn er ihr hörig war, schien mit der Frau etwas nicht zu stimmen. Sie war einfach mit ihm aufgetaucht, niemand wusste viel über sie. Mit Imelda hatte sie angeblich mehr zu tun. Und Kalman war mit ihr auf der Suche nach der Braut gewesen. „Ja, wahrscheinlich hast du recht. Aber sie ist mir nicht geheuer. Angeblich verträgt sie sich gut mit Imelda. Und mein Mann war bei der Suche länger mit ihr zusammen. Ich werde die Beiden mal etwas fragen... Oh, Merle schau, da ist ja Mika.“ Ciala lächelte und wedelte freudig mit der Hand in Mikas Richtung.

Merle, die Mika bereits entdeckt hatte, winkte ebenfalls noch einmal kurz in deren Richtung. “Sie scheint sich gerade mit der Baroness zu unterhalten”, murmelte sie.

Mika war im Gespräch mit der Baroness von Kaldenberg vertieft und schien sich immer mehr aufzuregen. Sie schüttelte wild den Kopf in Ardas Richtung, als Ciala und Merle ihr zuwinkten. Dann setzte ihre junge Schwägerin ein gezwungenes Lächeln auf und winkte kurz und ohne Begeisterung zurück, bevor sie sich wieder äußerst aufgeregt Arda zuwandte. Merle hatte den Eindruck, als würde Mika gleich anfangen zu weinen.

Kurz überlegte Merle, ob sie zu den beiden gehen sollte, doch wollte sie zunächst das Gespräch mit Ciala zu Ende führen. Noch einmal drückte Merle ihre ältere Schwägerin fest an sich. “Danke, Ciala, danke für alles. Es tut so gut, dich an meiner Seite zu wissen. Aber”, ihre Stimme klang jetzt müde und resigniert, “verschwende nicht zu viele Gedanken an Gudekars blöde Buhle. Ich glaube, die ist bloß ein junges, unreifes Ding, das es nie gelernt hat, sich nicht einfach alles zu nehmen, was sie haben möchte. Sie will Gudekar für sich und interessiert sich keinen Deut dafür, was sie damit anrichtet. Meine Gefühle oder die von irgendjemand anderem sind ihr egal; ihr Leben dreht sich einzig und allein um sich selbst." Merle senkte den Kopf und barg ihr Gesicht zwischen den Händen, die sie auf die Knie gestützt hatte. Unwillkürlich dachte sie auf Cialas Worte hin darüber nach, wie verändert Gudekar in Metas Nähe auftrat; so viel arroganter, selbstgerechter und unfreundlicher als der einfühlsame und freundliche Mann, in den sie sich damals so unsterblich verliebt hatte. “So wie die Dinge stehen, werde ich morgen mit meinen Eltern reden und seinen Frevel und Eidbruch vor die Traviakirche bringen. Ähm, meinst du”, sie wirkte ein wenig verlegen, “...meinst du, du könntest mir bei diesem Gespräch vielleicht beistehen?”

„Natürlich, nichts lieber als das“, antwortete Ciala prompt. „So kann ich wenigstens etwas dazu beitragen, dem Frevel gegenüber Travia und dir zu gerechter Strafe zu verhelfen.“

Merle nickte dankbar. “Denke, ich werd’ mich jetzt zu Lulu legen und versuchen, etwas Ruhe zu kriegen”, sie stellte ihren Wasserbecher ab und zuppelte ihr improvisiertes Nachtlager zurecht, dann blickte sie noch einmal mit besorgtem Ausdruck zu Mika hinüber. “Oder meinst du, ich sollte erst nachfragen, ob mit Mika alles in Ordnung ist?”

„Sie scheint aufgewühlt, meine Kleine.“ Ciala liebte Mika wie eines ihrer Kinder. Viel Zeit hatten sie miteinander verbracht und sie mochte ihre schusselige, verwirrte Art. Wie Gudekar, nur liebenswert. „Noch schläft Lulu. Schau schnell nach Mika. Lulu hat dich ja noch nicht bemerkt. Danach wirst du zu nichts mehr kommen.“

“Hm, meinst du wirklich?” Unsicher wog Merle den Kopf hin und her, dann rappelte sie sich kurzentschlossen auf. “Gut, ich geh mal schnell zu Mika rüber. Wenn ich die ganze Zeit überlege, ob es ihr gut geht, kann ich eh nicht schlafen.”

Und so ging Merle zu Mika und der Baroness hinüber, während sich Ciala wieder hinlegte und einschlief.

***

Am Platz der Adelmannsfelder

In einem abgelegenen Eck der Scheune stierte AdelmannXI betreten und still vor sich hin. Er verstand das alles nicht. Gerade war es nur ein Sturm gewesen und nun saßen sie hier, da wohl Unheiliges vor sich ging. „I soit mich melden. De wern jeden Recken brauchen…“ „Sei stad und halt dei Goschn, du Depp.“ Seine Frau Ativana hatte den Überblick behalten und entschieden, dass dies der beste Ort für sie und ihren Gatten war. „I mach des scho. Denk an deine Untertänlein. Für die musst noch da sein.“ Mit einer ungewöhnlich liebevollen Geste einer langen, seltsamen Ehe drückte sie ihn entschieden auf sein Lager, als er sich gerade aufrappeln wollte. „Lass des uns. Deiner Frau und deiner Schwester. Dahoam verzähl ich scho a andere Gschicht. Jetztad aber bleiben wir brav hier.“

***

Rückkehr der Novizin

Mit einem lauten Knarren öffnete sich die Vordertür der Zehntscheuer, vor der Rondrard und Kalman Wache hielten. Herein trat eine junge Jägerin, die erschöpft und abgekämpft aussah, das braune Haar, das vorher ordentlich zu einem Pferdeschwanz gebunden war, hing nun teilweise unordentlich aus dem ledernen Haarband. Die Kleider waren fast von oben bis unten verdreckt. Doch trotz der verbundenen Linken war ihr Blick dennoch voller Tatendrang und Lebensfreude. Es war Mika von Weissenquell, die jüngste Tochter des Edlen und Firunnovizin.

Mika stemmte die rechte Faust in die Hüfte und schaute sich in der Zehntscheuer um, um sich einen Überblick zu verschaffen, wer sich wo aufhielt.

Der Baroness von Kaldenberg, die sich gerade aus einer Gruppe gelöst hatte, ohne ein wirklich neues Ziel zu haben, kam das Erscheinen der Novizin gerade recht. Sie steuerte geradewegs auf den Neuankömmling zu. Hinter ihr sprang die große Hündin in einzelnen weiten Sätzen über die Menschen, die in der Scheune verteilt saßen und lagen.

“Mika!” sprach Arda ihre neue “Freundin” an. Dann stand sie bereits vor ihr. Mit beiden Händen fasste sie der jungen Weissenquell an die Schultern, wie um sie genau zu begutachten. Nach einer Weile nahm sie ihre Hände weg, nicht ohne mit den Daumen über die Fingerkuppen zu streichen, um den Dreck zu lösen, in welchen sie an Mikas Oberbekleidung hineingefasst hatte. “Du siehst ja furchtbar aus!” behauptete die Kaldenbergerin. “Wo bist Du gewesen? Was ist Dir widerfahren?"

„Ich sehe furchtbar aus? Na Dankeschön!“ beschwerte sich die Novizin bei Arda. „Seit dem Morgengrauen laufe ich kreuz und quer durch den Wald, hab mich was weiß ich wie oft im Dreck gesuhlt, habe mir die Hand aufgeschnitten, habe euch ins Dorf führen müssen, habe mit Borix und Murla“, sie deutete zu den beiden Angroschim, “die nasse Jagdbeute ins Dorf gebracht, habe meinen Bruder zur Waldhütte geführt, habe nicht mal ne halbe Stunde Ruhe gehabt, während ihr hier zusammensitzt und feiert, und du hast mir nichts besseres zu sagen, als dass ich furchtbar aussehe?“

"Du hast… waaas?" Die junge Baroness hatte ihre Stimme gesenkt und die Augen weit aufgerissen. Erneut fasste sie die Novizin an den Arm und zog sie etwas beiseite.

"Wohin genau hast Du Gudekar geführt? War seine Metze mit dabei?" flüsterte Arda mit eindringlicher Stimme. "Niemand hier darf etwas darüber wissen, hörst Du? NIEMAND!"

Sie sah sich verstohlen in der Scheune um. "Hier feiert niemand. Sie verstecken sich vor dem Bä… dem Paktierer. Mika, hier sind Leute gestorben, und der Paktierer hat Deine Schwester entführt."

Ehe Mika etwas entgegnen konnte, fügte sie hinzu: "Die Leute hier glauben, dass Gudekar mit dem Paktierer unter einer Decke steckt. Sie wollen ihn auf den Scheiterhaufen bringen! Das willst Du doch nicht, oder? Deshalb musst Du schweigen!"

Mika schaute die Baroness abwägend an. „Und du möchtest das nicht?“ In Mikas Stimme lag ein Hauch von Zweifel. Flüsternd sprach sie jedoch weiter. „Ich weiß das alles. Gudekar und Meta haben mir alles erzählt. Ich muss ihnen helfen. Sie möchten noch einmal mit Merle sprechen.“

"Dann solltest Du Deine Worte mit mehr Bedacht wählen!" zürnte Arda mit leiser Stimme. "Ich glaube, dass Dein Bruder ein großer Idiot ist.“ Mika zog leicht verärgert die Augenbrauen zusammen. „Und er hat seiner Frau Leid und Schmach zugefügt, die weit jenseits dessen liegen, was ich hinzunehmen bereit wäre. Der Schatten des Paktierers ist zweifelsohne auf ihn gefallen, doch ich glaube nicht, dass Dein  Bruder willentlich mit ihm zusammenarbeitet."

Sie blickte Mika offen an. "Es könnte mir eigentlich egal sein, was mit Gudekar passiert. Aber er ist der Bruder meiner Freundin, und alleine schon deswegen will ich ihm den Flammentod ersparen." log sie. Mikas Gesichtszüge entspannten sich wieder und sie setzte ein dankbares Lächeln auf.

"Es ist eine ganz, ganz schlechte Idee, Merle nochmal mit den beiden sprechen zu lassen. Ohne dass es ihnen wohl bewusst ist, werden sie zwangsläufig bestehende Wunden weiter aufreißen, dem Paktierer und seinem unsteten niederhöllischen Herrn zum Ergötzen. - Ganz zu schweigen davon, dass Merle ganz vorne dabei ist bei denen, die ihm den Scheiterhaufen entzünden wollen. Bei den Zwölfen, er hat MAGIE gegen ihren Geist gebraucht, um sie gefügig zu machen!" Die Kaldenbergerin musste an sich halten, um keinen Gefallen zu finden an der Scharade, die sie gerade spielte, doch es gelang ihr, und ihr Gesicht blieb eine Fassade in der sich Gefühle wie Sorge und Abscheu im Widerstreit befanden.

"Gudekar muss fliehen, am Besten noch heute Nacht. Es ist die Rede davon, spätestens morgen, besser aber heute nacht noch nach den Bannstrahlern zu schicken." Arda schluckte in gespielter Furcht. "Wenn Du nicht so erschöpft wärst, und mir nicht so kalt, würde ich Dich bitten, MICH zu Deinem Bruder zu führen, damit ich ihm die Flausen ausreden und ihn auf den Weg schicken kann. Ich könnte dann auch seine - ihre - Nachricht für Merle annehmen." In Ardas Kopf entspann sich ein Plan.

Mika schien Ardas Worte abzuwägen. „Aber die Magie, die er gewirkt hat, hat Merle doch nicht geschadet! Er wollte doch nur wissen, was sie wirklich wünscht, und hat ihr Erholung und Frieden geschenkt! Wie kann Merle dafür seinen Tod wünschen?” Die Novizin schüttelte ungläubig den Kopf. “Ich denke, heute Nacht sollten sie nicht mehr aufbrechen, es ist zu gefährlich und im Dunkeln verirren sie sich und verlieren vielleicht noch Zeit. Morgen bei Anbruch des Tages werde ich sie bis an die Grenze nach Hart bringen. Bis Bannstrahler hier sind, dauert es eh noch. Die nächsten sind zur Zeit in Liepenstein, die sind frühestens in drei Tagen hier. Aber bevor sie los können, muss ich ihnen noch Proviant besorgen, sie haben nichts dabei.” Mika war dankbar dafür, dass ihre neue Freundin ihr ihre Hilfe anbot. Jetzt wusste sie, dass alles gut würde.

Irritiert antwortete Arda: "Wenn Gudekar nur hätte wissen wollen, was Merle sich 'wirklich wünscht', hätte er sie einfach fragen können! Hat er aber nicht. Wenn Euer Bruder mir mittels Magie in meinen Geist eingedrungen wäre, um meine innersten Geheimnisse zu erfahren, wäre ich ebenfalls sehr schlecht auf ihn zu sprechen. SEHR schlecht!"

Mika schüttelte den Kopf. “Nein, sowas Schlimmes hat er sicher nicht getan. Es hat mir gesagt, dass es nur um die Frage ging. Und ich kenne ihn und glaube ihm. Er würde mich nicht anlügen. Wir sind doch Geschwister, wir sind die Weissenquells!”

Arda ballte die Fäuste vor lauter Frust über diese Naivität des Mädchens, wohlweislich aber außerhalb von Mikas Sichtfeld. "Würde Dein Bruder auf der in Travias Namen geführten Hochzeit Eurer Schwester vor seiner eigenen Frau, und vor der eigenen Tochter, offen mit einer anderen Frau buhlen? Nein? Hat er aber, ganz offensichtlich!" stieß sie erregt vor. Auch wenn eine Verletzung von Travias Ehegeboten an sich die Baroness nicht wirklich beeindruckte, konnte sie, als Person mit einer ausgeprägten Eifersucht, doch den Schmerz jener Person nachfühlen, welche betrogen wird.

Die Baroness senkte wieder ihre Stimme: "Mika, Dein Bruder steht unter dem Einfluss eines Paktierers! Du hilfst nur dem Paktierer, nicht aber Deinem Bruder, wenn Du sein Verhalten beschönigst." Ein schiefes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht: "Gudekar selbst hat mir gesagt, dass er Merle etwas Schlimmes - so drückte er sich aus! - angetan hätte! Er hat sie mit Magie gefügig gemacht und dann verzaubert, damit sie einschläft. Aber nicht um sie zu heilen, sondern damit er in Ruhe fortreiten kann, ohne dass sie ihm ein schlechtes Gewissen macht." Arda schnaubte. "Gut, lassen wir ihn davonreiten. Doch als Ehrenmann hat er sich sicherlich nicht verhalten!" Ihre Stimme war wieder unwillentlich lauter geworden, als ihre Gefühle hochkochten. Sie hatte gute Lust, diesen Mistkerl tatsächlich den Bannstrahlern zum Fraß vorzuwerfen. Ein Scheiterhaufen mehr für einen Gildenmagier mochte womöglich einen weniger für eine Hexenschwester bedeuten.

Mika schüttelte ungläubig den Kopf. “Nein, nein, nein, das glaube ich alles nicht, das kann nicht sein! Gudekar ist kein böser Mann. Das weiß ich genau!” Die junge Frau wirkte verzweifelt, zweifelnd. Sie konnte und wollte nicht glauben, was Arda ihr erzählte. Deshalb lächelte sie auch nur gezwungen und winkte auch nur kurz ohne Begeisterung zurück, als sie Cialas und Merles Winken sah. “Er dient doch keinem Paktierer! Du musst dich irren! Du musst dich in ihm einfach irren, Arda!” Die Baroness sah, wie sich Tränen in Mikas Augen sammelten. “Was soll ich denn jetzt nur tun?”

Die Fingernägel der Baroness bohrten sich in ihre Handflächen, um sich davon abzuhalten, dieselben Fingernägel über Mikas Gesicht zu ziehen und dabei ihren Frust über die Naivität dieser jungen Frau laut herauszubrüllen, und sich auf diese zu stürzen und sie windelweich zu klopfen.

Mit deutlicher Kraftanstrengung legte Arda den Kopf schief, zwang sich zu lächeln, und ließ die Anspannung aus ihren Schultern entweichen. Sie versuchte sich so zu geben, als würde sie einen inneren Widerstand aufgeben.

"Also gut. Ich werde Dir helfen." Sie öffnete die Arme, um Mika zu umarmen. Dreckverschmiert hin oder her, es war ja nicht so, dass Ardas Klamotten in nennenswert anderem Zustand waren.

Die Firunnovizin war dankbar für die offenen Arme ihrer Freundin und drückte Arda an sich.

Als sich die Arme der Baroness um Mikas Oberkörper schlossen und ihr Kinn sich sanft auf die Schulter der Novizin legte, begann sie bereits einen Plan zu schmieden, wie sie Gudekar und seiner frechen Buhle heute nacht noch gehörig das Bein stellen konnte. Ein böses Lächeln begann das schöne Gesicht der adeligen Hexe zu entstellen.

“Danke, Arda! Was sollen wir machen? Besorgen wir ihnen heimlich Proviant für die Reise? Und sollte ich dann seine Gnaden Firumar bitten, ihnen noch heute Nacht den Weg nach Norden zu weisen, bevor sie von den anderen gejagt werden? Seine Gnaden ist ein besonnener Mann, er wird Gudekar nicht vorverurteilen und uns bestimmt helfen. Firun ist an seiner Seite und wird uns den Weg zeigen.”

Die Baroness fragte sich, ob die Novizin vielleicht nicht naiv war, sondern einfach nur dumm. Was für eine fürchterliche Idee, den Firunpriester zu involvieren!

Dennoch tat Arda so, als würde sie den Vorschlag erwägen, um dann den Kopf zu schütteln. "Ich würde das nicht tun. Du könntest Deinen Lehrer in Gewissenskonflikte oder gar in ernste Schwierigkeiten bringen."

Sie räusperte sich: "Wir machen es so: Ich besorge Proviant im Gasthof, das fällt nicht so auf. Ich ziehe mich schnell um. Triff mich bei den Ställen hinter dem Gasthof.“

Mika löste sich aus Ardas freundschaftlicher Umarmung, als sie Merle auf sich zukommen sah. Schnell wischte sie sich die Tränen aus den Augen und setzte einen ernsten Blick auf.

Bevor Merle bei Ihnen war, sagte sie schnell zur Baroness: „Gut, Arda, vielen Dank! Dann machen wir das so. Sie werden Proviant am besten für drei Tage brauchen. Auch Wasser und etwas Wein. Und Hafer für die Pferde.“ Dann drehte sie sich zu Merle.

'...etwas Wein', echote es in Arda Kopf. Ob ein Goldfelser Morgenrot für die Herrschaften auf der Flucht gerade noch akzeptabel wäre…?

Eigentlich gab es ja noch etliches zu tun für sie, doch die Begegnung zwischen Mika und Merle wollte sie sich nicht entgehen lassen, unweit der beiden lauschte sie dem Gespräch.

Merle eilte zu ihrer jungen Schwägerin, die sie seit dem Gebet nach dem Jagdunfall nicht mehr gesehen hatte. Eigentlich hätte sie Mika sofort in eine stürmische Umarmung gezogen, doch irgendwie machte es sie befangen, dass die Baroness diese gerade umarmt hatte und jetzt noch neben ihr stand. So nahm sie nur Mikas beide Hände in ihre, drückte diese fest und blickte der Novizin fragend ins Gesicht. "Mika, wie geht es dir?" Als sie sich an die Schnittwunde erinnerte, lockerte sie abrupt den Griff und schaute unwillkürlich auf Mikas Handfläche. “Alles in Ordnung, Liebes? Was ist mit deiner Hand?”

“Danke, mir geht es gut”, antwortete Mika ziemlich frostig. So kannte Merle sie gar nicht. “Meine Hand ist in Ordnung. Dank Tante Caltesas Heiltrank ist die Wunde ja wunderbar verheilt.” In der Stimme der Novizin schwang eine ordentliche Portion Sarkasmus mit. “Und wie ich sehe, geht es dir auch gut, du bist wohl auf. Das ist schön!”

"Wohlauf?" Hilflos hob Merle die Schultern. Nicht nur ihren rotgeweinten Augen müsste man ansehen können, was für ein seelisches Wrack sie innerlich war und dass sie sich nur mit Mühe aufrecht hielt, um irgendwie weiter zu funktionieren. Dennoch nickte sie Mika halbwegs gefasst zu. “Ich weiß, dass gerade vieles andere wichtiger erscheint, die vielen Toten… und Gwenn…”, sie musste schlucken, um neu aufsteigende Tränen abzuwehren, “...doch vielleicht wäre es gut, deine Hand noch einem anderen Heiler oder Geweihten zu zeigen?” Sichtlich überfordert streckte Merle die Hand aus, um sanft über Mikas Oberarm zu streicheln. “Möglicherweise kann Rionn ja was machen… Oder dein Lehrmeister?”

„Ach, lasst mich doch in Ruhe, du und diese ach so guten Freunde, die du jetzt hast, wie seine Gnaden Rionn“, keifte Mika sichtlich verärgert. "Meine Hand ist euch doch egal, ihr alle wollt doch nur Gudekar auf den Scheiterhaufen bringen. Und du willst vermutlich die Fackel führen, die das Feuer entzündet. Das meint jedenfalls Arda, ähm, also die Baroness von Kaldenberg“, Mika schaute hilfesuchend zu ihrer Freundin. „Sie ist die einzige, die mir wirklich helfen will.“

Diese kam nicht umhin, ihr Gesicht in einer Hand zu bergen und dabei mit Daumen und Mittelfinger jeweils eine Schläfenseite zu massieren. Dieses Mädchen war gefährlich dumm! Sie würde künftig sehr aufpassen müssen, was sie Mika sagte.

Wie von einem Schlag getroffen, zog Merle ihren Arm weg. "Mika, was ist denn los mit dir?" fragte sie verwirrt und versuchte das Gesagte zu verstehen. "Natürlich ist mir deine Hand nicht egal! Ich werde alles dafür geben, dass die wieder wird. Und Gudekar…", sie schluckte und versuchte, bemüht ruhig zu bleiben und leise zu sprechen, "...dein Bruder hat schlimme Dinge getan, wirklich schlimme Dinge. Ich weiß nicht, wer dir was erzählt hat - und natürlich will ich ihn nicht brennen sehen! - aber ich werde auch nicht schweigen, wenn man mich nach der Wahrheit über seine Taten fragt. Ich will, dass er endlich zur Rechenschaft gezogen wird und Buße tut. Dass er überhaupt erstmal versteht, was er angerichtet hat."

„Oh, er weiß genau, was er getan hat, und ich hatte den Eindruck, dass es ihm wirklich leid tut“, erklärte die Novizin. „Jedenfalls zeigte er mehr Reue, als ich an dir Schaden sehen kann, den er dir angeblich zugefügt hat. Und er hat Angst. Und nachdem, was mir … die Baroness erzählt hat, scheinbar zu Recht.“

Arda sah den Zeitpunkt zu intervenieren, da sie für Merle irgendwie Sympathien entwickelt hatte und es sich bei ihr nicht verscherzen wollte. Sie öffnete den Mund und hob die Hand, da fuhr die andere Frau bereits dazwischen.

“Kein Schaden?” Merle stieß unwillig die Luft durch die Zähne. "Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie das ist - plötzlich und ohne Vorwarnung von einem Zauber getroffen zu werden, von jemandem, dem du trotz allem immer bedingungslos vertraut hast? Unter einem Bann zu stehen, der dich zur willenlosen Puppe macht, der dich Dinge sagen lässt, die du nicht sagen willst? So hilflos zu sein und nichts mehr tun zu können, völlig in der Gewalt eines Mannes, der dich loswerden will? Wenn du das so harmlos findest, Mika, dann probier' es gerne mal aus! Viel Spaß!" Nun hatte sich Merle in Rage geredet und schaute Mika unwillig an. "Aber du würdest vermutlich noch Entschuldigungen für deinen lieben Bruder finden, wenn er mit blutigen Händen und 'nem Messer in der Hand vor dir stünde! Du hast ja auch schon die ganze Zeit von seinem Frevel gewusst und mich kalt lächelnd angelogen, um ihn zu decken. Seinen schamlosen Eidbruch findest du ja witzig! Da kann ich nur sagen, danke Mika! Danke für alles!"

Hatte Mika zunächst noch wütend geschaut und war kurz davor gewesen, wilde Erwiderungen von sich zu geben, als Merle Gudekar immer mehr beschuldigte, schaute sie nun plötzlich, als sie selbst Ziel von Merles Vorwürfen wurde, überrascht von Merles Gefühlsausbruch. „Mensch, Merle, so habe ich dich ja noch nie erlebt! Er hat dich ja wirklich verändert. Aber scheinbar hat dich der Zauber befreit. Ich hab das Gefühl, du standest die letzten Jahre vielmehr unter seinem Bann, als dass du es jetzt mit dem Zauber tust!“

"Du verstehst gar nichts!" Merle lachte bitter auf. "Ich stand nicht unter seinem Bann - ich dummes Ding hab nur geglaubt, dass ich meinem Ehemann vertrauen kann! Wenn ich geahnt hätte, dass etwas nicht stimmt, dann hätte ich ja die Chance gehabt, etwas zu verändern, zu versuchen, unsere Ehe zu retten! Aber er hat mich absichtlich im Glauben gelassen, zwischen uns wäre wieder alles in Ordnung, hat nette Briefe geschrieben und war zwischendurch der liebevollste Mann der Welt - er hat mich bewusst manipuliert, ihm zu vertrauen, während er die ganze Zeit diese dreckige Schlampe vögelt! Und du, kleine Mika, du hast bei seinem bösen Spiel nur zu gern mitgemacht! Du wusstest, dass er mich belügt und fandest das auch noch spannend oder vergnüglich oder wer weiß was…" Frustriert wandte Merle sich zum Gehen. "Ach, scher’ dich doch zu deinem geliebten Bruder oder zum Namenlosen oder sonst wohin, aber tret mir aus den Augen!"

"Ist das wahr, Mika? Wusstest Du davon, dass Dein Bruder seine Frau hintergeht?" Die Baroness war nun zu den beiden Frauen getreten. Sie sah den Moment gekommen, ihre Scharade weiterzuspinnen. Ihre Augenbrauen waren erhoben, und sie blickte die Novizin an, als wünschte sie sich nichts mehr, dass Mika die Frage vehement verneinte.

Doch dieser (vermeintliche) Wunsch löste sich in Schall und Rauch auf, als Mika betreten den Kopf senkte und mit schlechtem Gewissen vor sich hinnuschelte: “Ja, schon, Imelda hat es mir in Ishna Mur verraten. Davor wusste ich nur von der anderen.”

Merle presste die Lippen voller Enttäuschung und Ärger zusammen. "Und dennoch hast du getan, als ob wir beste Freundinnen wären, sowas wie Schwestern gar - wie lieb du warst nach Lulus Geburt - 'Oh, kann ich die Kleine mal halten...' - du hast mich süß und herzig angelächelt, während du ganz genau wusstest, was Gudekar treibt und dass meine Ehe gerade vor die Hunde geht!"

“Na und?” verteidigte sich Mika. “Darf ich nicht wollen, dass mein Bruder glücklich ist? Ich hab dich und Lulu doch trotzdem lieb. ”

"'...von der anderen'?" wiederholte Arda das Gehörte. Ihr Erstaunen war diesmal nicht gespielt.

“Ja, diese Tsalinde von.. von… Kalter, ähm, baum, die meine ich”, erklärte Mika. “Und mit der bist du doch jetzt beste Freundinnen geworden, Merle. Warum kannst du denn die Meta nicht einfach auch mögen? Dann müsste Gudekar jetzt nicht vor allen weglaufen!”

Merle schüttelte ungläubig den Kopf. "Das mit Tsalinde tut überhaupt nichts zur Sache! Das hat Gudekar bloß ausgenutzt, um ganz gezielt von seiner Liebschaft mit der Ritterin abzulenken. Stell’ dir das doch einmal vor - er kommt zu mir, ganz kriecherisch und reumütig, bittet um Verzeihung für einen Ausrutscher… während er gleichzeitig fröhlich mit einer anderen weiterfrevelt!” Unwillig stieß sie den Atem aus und blickte Mika direkt in die noch immer so kindlichen Augen. “Nein, Mika, du verstehst nichts, überhaupt nichts! Es geht auch nicht um körperliche Treue”, Merle senkte die Stimme; ihr war klar, dass solche Gedanken in den Ohren von Fanatikern wie Eoban bereits schon frevelhaft waren. “Aber das Vertrauen ineinander, die Treue, zueinander zu stehen und füreinander zu sorgen, eine Familie zu sein, bis ans Ende unserer Tage zusammenzuhalten - das ist es, was wir uns vor sieben Götterläufen vor dem Traualtar geschworen haben. Und selbst wenn dein Bruder dazu bereit wäre - was ich nicht mehr glaube - diese Meta will Gudekar nicht teilen. Sie will mich nicht in seiner Nähe dulden, weil sie Angst hat, am Ende doch nur zweite Wahl zu sein. Wenn sie so extrem besitzergreifend und krankhaft eifersüchtig ist - sie, die Geliebte, nicht die Ehefrau! - dass sie es noch nicht einmal erträgt, dass Gudekar eine andere Frau flüchtig anschaut, dann kann das nicht funktionieren.” Sie seufzte müde. “Und weil er alles tut, was sie verlangt, will er mich verlassen, mich verstoßen, loswerden, damit er sie zu seiner ‘richtigen’ Ehefrau machen kann, zur einzigen Frau an seiner Seite. Merkst du nicht, was das für eine Scharade ist? Hier geht es nicht darum, dass Gudekar ‘glücklich’ ist - hier geht es um Eidbruch, Demütigung und Verrat.”

„Ich weiß nicht Merle“, überlegte Mika, „Ich glaube, du siehst das nicht ganz objektiv. Meta hat mir gesagt, sie würde gern noch einmal in Ruhe mit dir und Gudekar sprechen. Das ist der Grund, weshalb ich hier bin.“

“Wann und wo hast du mit ihnen geredet?" Ungläubig kniff Merle die Augen zusammen und legte skeptisch den Kopf schief. Hatte ihre Schwägerin nicht eben schon irgendwas davon erzählt, mit Gudekar gesprochen zu haben? Mika musste auf ihren Bruder getroffen sein, nachdem er sie bei Borkmunds zurückgelassen hatte. "Und was kann Meta jetzt noch von mir wollen?"

Arda seufzte unmerklich auf und konnte nur noch den Kopf schütteln.

„Na, gerade eben, bevor ich hergekommen bin.“ Mika klang, als wäre das das selbstverständlichste auf Dere. „Meta meinte, du hättest es verdient, dass ihr euch noch einmal aussprecht und es nicht einfach so endet. Das waren ihre Worte. Ich glaube, sie hat auch ein schlechtes Gewissen, was Gudekar ihretwegen mit dir gemacht hat.“

Merle zog die Stirn kraus. "Das glaube ich einfach nicht. Mika, jeder Versuch eines Gesprächs mit dieser Frau war bisher ein Desaster! Sie interessiert sich einen Dreck für mich oder meine Gefühle! Wenn die beiden den Funken eines schlechten Gewissens oder so etwas wie Schamgefühl hätten, hätten sie hier nicht seit drei Tagen vor meiner Nase herumgebuhlt - in aller Öffentlichkeit, vor den Augen der Familie, auf einem Traviafest! Und seine Familie sollte das auch noch gutheißen, weil es ihn ja ‘glücklich’ macht!” Sie verdrehte die Augen und seufzte resigniert. “Nein, ich vertraue ihm einfach nicht mehr. Ich kann ihm nicht mehr vertrauen. Er hat mich gedemütigt und mein Herz gebrochen. Er hat mir wehgetan und es war ihm egal. Ja, Ciala hat recht, ich Idiotin liebe ihn wahrscheinlich immer noch… aber ich glaube nichts mehr, was er sagt. Und ich toleriere nicht mehr, was er tut.”

Mika schaute Merle mitleidig an. Jetzt verstand sie es langsam, warum seine Gnaden dem Schweigen so viel mehr Gewicht gab als den Worten. Jetzt verstand sie, warum die Abgeschiedenheit, die Einsamkeit der Gesellschaft vorzuziehen war. Einen ganzen Götterlauf hatte sie sich danach gesehnt, mit den Menschen Wiedervereinigung zu sein, die sie so liebte, ihrem Vater, ihren Brüdern, den Schwestern, Ciala, Madalin, Morgan, Lukardis, Merle, Lulu, … Und nun wünschte sie einfach nur noch, wieder zurück zu Firumar zu gehen und mit ihm durch die Abgeschiedenheit der Wälder und Berge zu ziehen. Langsam zuckte sie mit den Schultern. „Wie du möchtest. Ich werde es Ihnen ausrichten.“

Merle schwieg einen Moment. Eigentlich hatte sie Mika nichts mehr zu sagen und wollte sich schon abwenden, doch dann musterte sie ihre junge Schwägerin doch noch einmal mit unverhohlener Enttäuschung in den großen braunen Augen. "Na dann, Mika. Lass' dich nicht aufhalten. Du musst ja einem Mann zur Flucht verhelfen, der mit seinem offenen Gefrevle Schande über diese Familie bringt, der auf dem besten Weg ist, seine Seele dem Bösen zu verschreiben und kein traviagesegnetes Brot mehr essen kann, der dem Paktierer geholfen hat, unwillentlich oder vielleicht sogar wissentlich - zumindest war er mit ihm im Austausch! - ja, mit dem brutaler Mörder, der Gwenn verschleppt hat! Aber Hauptsache, er und seine kleine Metze werden glücklich, was?" Merle drehte sich abrupt auf dem eigenen Absatz, um zum Lager der Weissenquells zurückzukehren, warf Mika aber über die Schulter noch einen scharfen Blick zu. "Ich bin sicher, Firun und die anderen Götter blicken mit großem Stolz auf dich hinab, Kleines."

Mika schüttelte verzweifelt den Kopf. “Merle, du irrst. Gudekar ist kein Paktierer. Er hat Fehler gemacht, aber ein Paktierer ist er nicht. Wenn ich eines von seiner Gnaden gelernt habe, ist es, dass ein Tier, das in die Enge getrieben wird, unberechenbar und gefährlich wird. Und genau das ist es, was hier mit Gudekar geschieht, habe ich das Gefühl. Alle hacken nur noch auf dem ach so bösen Gudekar rum, weil er versucht, seinem Herzen zu folgen, weil er endlich den Mut gefasst hat, die lange Maskerade zu beenden und keine weiteren Lügen mehr zu erzählen. Gwenn und ich haben ihn dazu ermuntert, endlich reinen Tisch zu machen und seine Spielchen zu beenden. Und genau das hat er getan. Und nun wird er dafür von allen verfolgt. Gudekar hat Angst, unglaubliche Angst. Vor dem Paktierer, dass der dir und Lulu etwas antut, dafür, dass er seit zwei Götterläufen sein bequemes Leben im Kloster geopfert hat, um diesen Mistkerl zu schnappen. Ich weiß nicht, wie er es versucht hat. Vielleicht ist er einen Weg gegangen, der anderen nicht gefällt, aber er hat viel riskiert, um dieses Paktierers habhaft zu werden, um ihn aufzuspüren. Und vielleicht hat er dafür auch seinen Treueschwur zu dir geopfert. Doch nun fürchtet Gudekar die Rache dieses Dämonendieners. Er fürchtet, der könnte euch etwas antun. Aber fast mehr noch fürchtet er das, was seine Gefährten ihm antun könnten, weil sie ihn falsch verstehen. Und selbst du hast dich - und das natürlich zurecht - gegen ihn gewandt. Er ist ein gehetztes Tier, das in die Ecke gedrängt wurde und keinen Ausweg mehr sieht. Und solche Tiere, egal wie zahm sie sonst sind, werden mit einem Mal gefährlich. Und wenn Gudekar keinen anderen Ausweg mehr sieht, was meinst du, wer ihm dann noch einen Ausweg bieten wird? Die Traviakirche? Die Inquisition? Nein, der, den er so unentwegt gejagt hat, der wird im Zweifel da sein und Gudekar einen letzten Ausweg zeigen. Ist es das, was ihr wollt? Was du willst? Ihn in den nächsten Kreis der Verdammnis treiben? Ich will das nicht. Deshalb helfe ich ihm. Lass ihn doch ziehen mit seiner Ritterin. Was macht das für dich für einen Unterschied, ob er weg ist oder im Feuer der Praioskirche lodert? Außer du sinnst nach Rache. Aber dann bist auch du auf dem Weg in die Verdammnis, denn der Feind unseres gerechten Herrn Praios wird sich über eine Rache, die angeblich im Namen der Zwölfe ausgetragen wird, sicherlich mehr freuen als der Herr Praios selbst.” Mika holte tief Luft und pustete sie in einem Schwall aus. Damit drehte sie sich zu Ardare. “Komm Arda, wir beide haben eine Mission!”

Der Angesprochenen lief es heiß und kalt über den Rücken. Nun war sie endgültig als vermeintliche Mittäterin gebrandmarkt bei Mikas Versuch, demjenigen zur Flucht zu verhelfen, dem die anwesende Geweihtenschaft und selbst sein älterer Bruder habhaft werden wollte.

Noch unangenehmer allerdings war ihr, dass der Eindruck entstehen musste, sie teilte die unsinnigen und höchst bedenklichen Äußerungen des Mädchens, deren Liebe und Parteinahme für ihren Bruder sehr ungnädig auf ihr Urteilsvermögen eingewirkt hatte - zumal das ohnehin nicht gerade ihre Stärke zu sein schien.

"Warte, Mika! Ich hab nie behauptet, dass Gudekar ein Paktierer wäre", widersprach Merle. "Aber auch dir müsste klar sein, dass er auf dem Pfad in den Abgrund ist.” Sichtlich mit den Nerven am Ende schüttelte sie den Kopf. “Wenn es dir hilft, seine frevlerischen Taten mit großen Worten zu rechtfertigen und zu entschuldigen, dann bleib in deinem naiven, zuckersüßen Märchen-Zauberland. Doch das, was du ‘seinem Herzen folgen’ nennst, das ist Verrat und Ehebruch. Du bezeichnest es als “reinen Tisch machen” - doch tatsächlich will dieser Mann seine vor Travia angetraute Ehefrau verstoßen.” Merle lachte sarkastisch auf. “Und dass du mir einreden willst, er hätte seinen Treueschwur vielleicht geopfert, um den Paktierer zu fangen - das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe. Gudekar tut so, als wäre er derjenige, der unverstanden ist. Aber eigentlich ist ziemlich klar, was er ist; ein schwacher Mann, der seine Bedürfnisse, seine Wünsche, seine Gelüste eigennützig über die seiner Familie stellt. Und es ist keine barmherzige Ehrlichkeit, seine Untreue hier in Lützeltal auch noch an die große Glocke zu hängen und mich vor der Familie und allen Gästen bloßzustellen - das ist einfach nur eine weitere entwürdigende Demütigung für mich, die alle mit ansehen durften.” Bittere Tränen schossen Merle in die Augen und liefen ihr die Wangen herunter, während sie Mika weiterhin direkt und durchdringend in die Augen starrte. “Gudekar hat mich so verletzt! Hat leichtherzig unsere Ehe und Familie zerstört, ohne dass ich überhaupt eine Chance hatte, darum zu kämpfen - und ich hab nicht das Gefühl, dass er einen Funken Reue empfindet für den Schmerz, den er mir zugefügt hat! Stets weist er alle Schuld und Verantwortung von sich oder sucht diese bei anderen. Und du tust es jetzt für ihn.” Sie seufzte müde und kraftlos. “Mika, du weißt doch auch, dass ein Traviabund ewig gilt. Du weißt, dass er immer mein Ehemann sein wird. Und deshalb wird es mich auch immer etwas angehen, was mit ihm passiert und wohin er geht. Selbst wenn ich wollte, könnte ich ihn nicht freigeben. Sei dir versichert, ich will keine Rache. Aber Gerechtigkeit, die möchte ich.” Ihre Stimme war ein kaum hörbares, krächzendes Flüstern geworden. “Ich will, dass er einmal - ein einziges Mal! - zugibt, dass es seine Schuld ist. Dass er einmal nachfühlen muss, wie schrecklich weh es tut.” Merle schluchzte leise auf, ein Häufchen Elend mit hängenden Schultern, sichtlich niedergedrückt und verloren. “Aber mach’ was du willst. Lebwohl, kleine Mika.” Sie deutete einen Knicks vor der Baroness an. “Euer Wohlgeboren, bitte entschuldigt mich, ich werde mich jetzt zur Ruhe legen.”

"Gute Nacht, Merle. Im Licht eines neuen Tages mag sich das Leben vielleicht ganz anders zeigen", antwortete Arda mit ehrlicher Empathie und legte ihrem Gegenüber aufmunternd die Hand auf den Oberarm. "Dafür werde ich schon sorgen." fügte sie leise hinzu, mehr zu sich selbst gesprochen, aber vernehmbar für Merle, nicht aber für Mika, die etwas weiter weg stand. Ein grimmiges Lächeln erschien kurz auf ihrem Gesicht.

Merle nickte Arda dankend zu, auch wenn sie die Bedeutung deren letzter Worte nicht wirklich verstand. Doch fühlte sie tiefen Respekt, fast Bewunderung für die schöne, furchtlose Baroness, die sie in ihrer Art ein wenig an Gwenn erinnerte. Noch einmal neigte sie das Haupt, dann wandte sie sich zum Gehen.

“Warte, Merle!” rief Mika ihrer Schwägerin zu und lief ihr hinterher. Die Novizin packte Merle an der Schulter und drehte sie um, um sie sogleich in den Arm zu schließen. Mika drückte Merle an sich und blieb einfach still stehen. Die Novizin bot der Gehörnten eine Schulter, an der sie ihren Tränen freien Lauf lassen konnte und wartete, bis Merles Weinen nachließ. Erst dann sprach sie leise. “Ich hoffe, wir beide wollen wirklich das Gleiche, nämlich Gudekar vor den Versuchungen retten, die ihm auf seinem Weg dargeboten wurden. Ja, ich werde ihn ziehen lassen und ihm die Möglichkeit geben, durch seine Taten seine Rechtschaffenheit zu beweisen. Aber ich verstehe auch, wie du fühlst. Du möchtest, dass er dir gegenüber Reue zeigt? Vielleicht ist heute Nacht die letzte Gelegenheit dafür.”

Derweil horchte Arda in sich hinein - ein Vorgang, der bei der leidenschaftlich fühlenden und handelnden und zudem aufbrausenden Frau nicht häufig vorkam. Was war es, das in ihr den Wunsch weckte, den Heilmagier zu bestrafen? Sie kannte ihn doch kaum, ebenso wie die Frau, der er so Unrecht getan hatte - ganz zu schweigen von dem Liebchen.

Nun schwirrten kühne Pläne in ihrem Kopf herum, die darum kreisten, Gudekar für seine Taten büßen zu lassen. Was ging in ihr vor?

Hinzu kam, dass Mika sie mit ihren unbedachten Äußerungen in Zugzwang brachte. Das beraubte sie ihrer Handlungsoptionen. Wenn sie Gudekar nicht hierher zurückbrachte, würde sie das morgen in Erklärungsnot bringen.

Merle ließ die Umarmung zu, ohne sich loszumachen; zu vertraut und behaglich fühlte sich Mikas Nähe an. Ihre Schwägerin war früher wie eine kleine Schwester für sie gewesen, doch war zwischen ihnen etwas zerbrochen, was sich wohl nie reparieren lassen würde. So verharrte Merle starr und steif in Mikas Armen, auch wenn ihr Schluchzen nach einer Weile nachließ. Einige Augenblicke dachte sie schweigend über Mikas Worte nach. Dann löste sie sich von der Novizin und blickte diese durchdringend an. “Denkst du, dass es eine gute Idee ist, wenn ich mich noch auf ein Gespräch einlasse? Was glaubst du, kann dabei herauskommen?" Zweifelnd wog sie den Kopf hin und her. "Ich verstehe wirklich nicht, warum er mich noch einmal sprechen will, nachdem er sich solche Mühe gegeben hat, ungehindert zu fliehen… Das ergibt einfach keinen Sinn! Was kann er noch wollen? Was kann Meta wollen? - Oh, bei den Göttern", Merles Stimme wurde tonlos und dumpf; aus ihrem ohnehin bleichen Gesicht entwich sämtliche Farbe, "...es muss eine Falle sein... Das erklärt es. Die wollen mich endgültig zum Schweigen bringen."

“Ach Quatsch, Merle!” widersprach Mika. “Du kommst auf komische Ideen! Die beiden sahen nicht so aus, als könnten sie auch nur einem Püschel was zuleide tun, als ich sie zurückgelassen habe. Aber ob das ‘ne gute Idee ist, kann ich nicht sagen. Nur, wenn du willst, dass er dir gegenüber Reue zeigt, dann musst du ihm wohl oder übel auch die Gelegenheit dazu geben.”

“Oh, als ich deinen Bruder das letzte Mal gesehen habe, da hat er mich magisch angegriffen! Ist es da so abwegig, dass es mir Angst macht, wieder mit ihm und Meta allein in einem Raum zu sein?" Merles Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren schrill und hysterisch; sie trat ein Stück von Mika zurück und versuchte, sich zu beruhigen. Nach einigen langsamen Atemzügen setzte sie neu an: "Ich habe heute schon ein paarmal mit Gudekar gesprochen. Immer ging es darum, dass ich ihm seine Liebe zu Meta gönnen und ihn freigeben müsste. Nicht einmal hat er zugegeben, dass der Bruch des Traviabundes ein Fehler war. Nicht einmal hat er versucht zu erklären, wie er mir - obwohl er wusste, dass ich leide! - so wehtun konnte.” Verzweifelt blies die junge Frau die Luft durch die Lippen aus. “Ich glaube, er hat Angst vor Metas Zorn. Schon deshalb ist er so kaltherzig zu mir. Und deshalb tadelt er mich, die Stimme gegen seine ‘kleine, tapfere Ritterin’ zu erheben." Sie lachte höhnisch auf. "Kannst du das glauben; die beiden betrügen und demütigen mich - in aller Öffentlichkeit! - und ich soll mich für meine harten Worte bei seiner Geliebten entschuldigen!” Unwillig schüttelte Merle den Kopf. “Mika, glaubst du wirklich, dass er innerhalb von ein paar Stunden so starke Gewissensbisse entwickelt hat, dass ich wirklich mit ihm reden kann? Ich meine, du hast ihn gesehen, du hast mit ihm gesprochen.” In Merles Augen mischten sich Resignation und ein verzweifelter Funken Hoffnung. “Wie hat er auf dich gewirkt? Was denkst du, was er von mir will?”

Mika biss sich auf die Unterlippe. So hatte sie es noch gar nicht betrachtet. Allerdings war sie auch den Tag über nicht hier und hatte nicht mitbekommen, was geschehen war.

Je länger das Gespräch zwischen Merle und Mika andauerte, desto absurder wurde es. Die Novizin einer Zwölfgötterkirche hatte gerade mehr oder weniger erklärt, sie decke den Ehebruch ihres Bruder, der alles besteigt, das bei "drei" nicht auf den Bäumen ist, und zwar um zu verhindern, dass dieser einen Dämonenpakt eingehe, was ja die logische Konsequenz sei, wenn man es Gudekar zumutete, mit seinem "Zauberstab" nur "durch die eigene Akademiepforte gehen zu müssen"… Unwillig schüttelte Arda den Kopf. Sie hatte ernste Bedenken, dass ihre eigene Intelligenz Schaden nehmen würde, wenn sie weiter solchen Ausführungen lauschte. Ihre einzige "Hoffnung" für Gudekar und auch für Mika war, dass Pruch ihnen tatsächlich jeweils den Verstand durcheinander gebracht hatte. Dass ihre Worte und Taten aus dämonischer Manipulation heraus so verdreht waren…

Wie auch immer - es war Zeit zu gehen. "Wir… sehen uns!" sagte sie bedeutungsschwer zu Mika.

Damit schickte sie sich an, die Scheune zu verlassen. Ihre Hündin folgte ihr wie ein Schatten.

Mika winkte ihr noch einmal hinterher. “Bis später, Arda!” Dann wandte sich Mika wieder an Merle. Ihr Blick war ernst und nachdenklich geworden. “Weißt du Merle, … hm, nein, ich weiß auch nicht. Ich wusste ja nicht, was für ein Spiel er mit dir spielt. Was du mir da erzählst, ist für mich kaum vorstellbar. Das ist doch nicht der Gudekar, den ich kenne. Weißt du, er war damals auf einmal so verändert, so viel gl… so ausgelassen. Und dann hatte ich durch Zufall erfahren, dass er seit dieser Schweinsfolder Hochzeit mit Meta zusammen ist. Und meine Freundin Imelda, also Ihre Gnaden von Hadingen, die hat mir erzählt, was für ein tolles, verliebtes Paar die beiden sind. Das klang alles so aufregend und romantisch. Da habe ich mir gar keine richtigen Gedanken gemacht, was das für dich bedeuten könnte. Ich hab doch nur gesehen, wie glücklich Gudekar seitdem war. Es tut mir leid! Aber was ich heute bei ihm gesehen habe, ist eine innere Zerrissenheit, von Angst und Verzweiflung getrieben. Ja, er liebt die Ritterin wohl scheinbar von tiefstem Herzen. Doch ich bin fest davon überzeugt, dass es ihm in der Seele wehtut, was er dir antut. Ich weiß nicht, was ihn treibt, aber das, was er wohl am meisten braucht, ist Verständnis und Geborgenheit, Sicherheit. Ich glaube, wenn er weiter unter Druck gesetzt wird, treibt es ihn weiter in die Dunkelheit. Deshalb denke ich, er sollte fort, auch fort von dir. Er sollte Zeit bekommen, seine Ruhe zu finden. Was schlecht für ihn wäre, ist wohl alles, was der Dunkelheit weiteren Nährboden gibt. Vielleicht würde es ihm helfen, mit dir zu reden. Wenn er dir sagen könnte, wenn er aussprechen könnte, was er empfindet, für dich, für Lulu, aber auch für Meta, das könnte seine Seele stärken für seinen Kampf gegen den Paktierer.” Mika machte eine Pause. “Aber ich bin keine Seelsorgerin, keine Geweihte. Ich bin nur eine kleine dumme Novizin, die einfach nicht glauben will, dass ihres Bruders Seele verloren ist.”

Merle atmete schwer und schien mit sich zu ringen; schließlich schüttelte sie entschieden den Kopf. "Ich kann das einfach nicht!" brachte sie mit Nachdruck hervor. "Ich halte es nicht mehr aus! Ihn zu sehen mit ihr… wie er diese grobe Ritterin liebestoll anschmachtet… Zu hören, wie er sie seine ‘Zukunft’, seine “einzig wahre Liebe’ nennt… Ich versichere dir, wir haben heute im Rahjaschrein mehr als genug gesprochen. Da musste ich mit ansehen, wie er sie vor meinen Augen…” Sie schluckte und verzog schmerzhaft den Mund. “Mika, ich kann das nicht mehr! Ich kann nicht länger ertragen, in welch selbstgefälliger Art die beiden mir einreden wollen, dass es das beste für mich wäre, verlassen und verstoßen zu werden, damit sie sich frisch, fröhlich und frei um das Dererund vögeln können!” Merles Miene verhärtete sich, als sie versuchte, nur noch mit dem klaren Verstand zu denken, den ziehenden Schmerz in ihrem Herzen nicht zu beachten, die in ihr tobenden, kreischenden Gefühle einzumauern in einen kalten Kerker, aus dem sie diese niemals wieder entlassen würde. “Wenn Gudekar mit mir reden will, soll er zu mir kommen. Er weiß, wo er mich findet. Ich werde ihm meine Tür nicht verschließen, niemals. Und glaub mir, Mika, ich hab ihm mein Leben lang Verständnis, Geborgenheit und Sicherheit gegeben. Seit ich mich ihm das erste Mal hingegeben habe - damals war ich noch ein halbes Kind - stand ich ihm treu zur Seite, habe ihn unterstützt, ermutigt und umsorgt. Ich war immer für ihn da. Doch wenn er die Frau zerstören will, die ihn über alles liebt, die ihm immer nur Gutes wollte”, ein gequälter Schluchzer kam aus ihrer Kehle, “...dann soll es so sein. Dann soll er eben fliehen. Wenn er mit seiner Buhle in den Untergang schreitet, wenn er den bitteren Weg von Sünde, Schuld und Frevel weitergeht, kann ich ihn nicht aufhalten. Soll er ziehen, soll er die Dunkelheit umarmen, wenn das sein Wunsch und Wille ist. Ich werde ihm dorthin nicht folgen, schon für Lulu nicht. Das, Kleines, das richte ihm aus.” Sie schenkte ihrer Schwägerin das freudloseste, kälteste Lächeln, das diese je von ihr gesehen hatte, wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und ging in schnellen Schritten zum Lager der Familie zurück.

Mika blieb völlig überrumpelt stehen und schaute ihrer Schwägerin hinterher. Ohne einen Ton von sich zu geben, füllten sich Mikas Augen mit Tränen. Leise, so dass niemand es hören konnte, flüsterte sie Merle hinterher. “Ich verstehe dich ja. Doch was soll ich tun? Ich kann ihn doch nicht aufgeben und ihn verraten. Ich hoffe so sehr, dass wir ihn nicht direkt in die Arme des Paktierers treiben. Ich hoffe, dass auch du verstehst, dass ich ihm helfen muss. Und ich hoffe, du wirst mir irgendwann verzeihen.” Noch immer blieb Mika stehen und schaute Merle hinterher. Schließlich drehte sie sich um, um die Scheune wieder zu verlassen. Zu gerne wäre sie zu ihrem Vater gegangen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Aber weder traute sie sich, Merle zu folgen, noch wollte sie ihren Vater jetzt wecken.

***

Zurück am Lager der Weissenquells

Lukardis und Morgan waren noch im gemeinsamen Gespräch, als Merle zum Lager der Familie Weissenquell zurückkehrte. Die anderen Familienmitglieder waren inzwischen tief und fest eingeschlafen. Von Vater Friedewald war ein regelmäßiges Schnarchgeräusch zu hören. Eigentlich hatte sich Morgan bereits zum Schlafen gelegt. Doch die beiden Brüder hatten sich viel zu erzählen, lag doch das letzte Zusammentreffen schon viel zu lange zurück. Und so hatte er sich wieder aufgesetzt, um mit Lukardis über die Ereignisse zu reden.

Merle nickte ihren Neffen zu, sagte aber nichts, um ihnen zu signalisieren, dass sie ihre Unterhaltung nicht unterbrechen brauchten. Sie fühlte eine Welle reiner, heftiger Zuneigung und Liebe für die beiden guten, tapferen Jungen, konnte und wollte jetzt aber nicht sprechen. Stattdessen suchte sie sich auf leisen Sohlen einen Pfad durch die Schlafenden, um sich auf ihrer Decke neben Lulu auf dem Boden niederzulassen. Im Sitzen zog sie die Beine an sich heran, schlang die Arme darum und legte ihren Kopf auf die Knie, starrte mit leerem Blick Mika hinterher, wie diese durch die Scheunentür verschwand. In Merles Inneren breitete sich ein Gefühl von Übelkeit und Beklemmung aus, genährt von der Gewissheit, alles falsch gemacht zu haben. Es schnürte ihr die Kehle so zu, dass sie kaum noch atmen konnte. Hatte Mika recht, versetzte sie Gudekar mit ihrer Verweigerung einer Aussprache den letzten, vernichtenden Dolchstoß? War sie, Merle, es, die seine Seele nun endgültig in die Dunkelheit, in den Abgrund trieb? Hätte sie sich doch auf ein Gespräch einlassen, die ausgestreckte Hand nicht wegschlagen sollen? Doch hatten Gudekar und Meta sie schon so tief, so brutal verletzt, dass sie eine weitere Begegnung einfach nicht durchstehen würde. Vielleicht hätte sie darauf bestehen sollen, allein mit ihrem Mann zu sprechen, ohne dass Meta dabei war? Aber die Vorstellung, ihm wieder gegenüber zu treten, ihm in die Augen zu sehen, nachdem er sie mit seiner Magie angegriffen und unterworfen hatte, löste erst recht Angst und Panik in ihr aus. Nein, Gudekar hatte ein Verbrechen an ihr, an ihrer Seele begangen, auch wenn Mika das als harmloses Versehen abtun wollte. Mit gerunzelter Stirn blickte die junge Frau zum Lager der Vögtin hinüber. Konnte sie morgen überhaupt guten Gewissens Anklage gegen Gudekar erheben, wenn sie heute von seiner Flucht wusste und diese deckte? Sollte, musste sie jetzt Alarm schlagen, damit Gudekar aufgehalten und festgesetzt wurde? Aber damit würde sie auch Mika als seine Komplizin ausliefern - und obwohl in ihr Wut und Enttäuschung über die blinde Ignoranz ihrer jungen Schwägerin schwelten, wusste sie nicht, ob sie diese ans Messer liefern könnte. Verdammt, sie hätte Mika nicht gehen lassen dürfen, aber sie war so überrumpelt von dem Streit, so überfordert von der Situation gewesen. war es immer noch. Verzweifelt zog Merle die Stirn kraus. Was sollte sie nur tun? Was konnte sie tun? Obwohl sie in der Zehntscheuer von unzähligen Menschen umgeben war, fühlte sie sich einsam und verloren wie selten zuvor in ihrem Leben.

"Und, Brüderchen, erzähl mal, wie ist es denn so an der Akademie?  Hast Du schon eine Staublunge vom vielen Bücher lesen?", neckte der Knappe den Jüngeren und versuchte ihn so auf andere Gedanken zu bringen.

Morgan lachte. Er vermisste seinen Bruder, weil der ihn mit seiner lebensfrohen Art als Kind oft zum Lachen gebracht hatte. „Nein, an die staubigen Folianten dürfen wir noch nicht ran, weil da wohl Wissen drin steht, das noch nicht gut für uns sei. Wir dürfen immer nur die Standardwerke lesen und abschreiben. Und die mit dem profanen Wissen. Am langweiligsten sind diese blöden Bücher über Recht und Politik und so. Da schlafe ich beim Abschreiben oft fast ein.“ Der Novize schaute seine Tante lange abwägend an, entscheid dann aber, sie einfach schlafen zu lassen. Es war ja spät genug. Dann fragte er seinen Bruder: „Und, wie viele Narben hat dir dein Ritter schon geschlagen?“

Trotz ihrer bedrückten Stimmung musste Merle bei Morgans Worten zart in sich hinein lächeln. So wie ihr junger Neffe jetzt wirkte - wissbegierig, gutherzig und loyal - so war auch Gudekar einst gewesen, als er damals im Waisenhaus das erste Mal ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, der junge, fast schüchterne Magus Anfang der zwanzig Götterläufe, der auf sie so eine unwiderstehliche Faszination ausgeübt hatte. Voller Liebe und Trauer betrachtete sie Morgans jugendliches, unschuldiges Gesicht, dann senkte sie niedergeschlagen den Blick. So würde sie Gudekar in Erinnerung behalten, liebevoll und einfühlsam, würde sie sich an ihren Gudekar erinnern, auch wenn von diesem Mann nichts mehr übrig war. Sie blickte zu Lukardis, um weiter schweigend der Unterhaltung der Brüder zuzuhören - und auch um die Entscheidung hinauszuzögern, was sie jetzt tun sollte.

Nun musste der Knappe lachen. “Unzählige, aber keine, die jetzt noch sichtbar wären. Und er war es ja nicht allein. Die ganze Lanze unterrichtet mich, so wie es bei Dir ja auch mehrere Lehrer sind.” Er blickte zu Boden, als ihm bewusst wurde, dass ein Teil der Lanze ihn nicht mehr würde unterrichten können. Nach einer Weile fragte er: “Sag mal, ist dir bei den Gesetzestexten irgendetwas untergekommen, was Tante Merle helfen könnte?”

Nun blickte Morgan überrascht auf. „Was meinst du, Luk? Wie sollen ihr denn langweilige Gesetzestexte helfen?“

“Naja, für mich fühlt es sich so an, als hätte Onkel Gudekar sie betrogen. Um ihre Ehe, ihre Familie, ihre Zukunft, ja sogar um ihr Glück. Das ist doch ungerecht. Ich meine, sie war doch eine Waise und hatte nie eine eigene Familie. Zumindest vor der Travia-Kirche hat er sich versündigt. Aber gibt es vielleicht auch weltliche Gesetze, die er damit gebrochen hat?”

“Ja, ungerecht gegenüber Merle ist das wohl.” Morgan dachte über Lukardis’ Frage nach. Es ärgerte ihn schon ein wenig, dass alle gleich von vornherein davon ausgingen, dass Gudekar der Böse in der Geschichte war. Aber das war halt typisch, Gudekar war der Magier, also musste er der Böse sein. Doch Morgan konnte das nicht glauben. Er hatte seinem Onkel viel zu verdanken und ihn stets als einen sich sorgenden, liebevollen, aufmerksamen Menschen wahrgenommen. Niemand fragte nach, ob vielleicht auch Merle zu der Situation beigetragen hatte. Und natürlich war für alle auch klar, dass sich Merle nicht täuschen konnte, wenn sie behauptete, dass Gudekar böse Magie auf sie gewirkt hatte. Er war ja der Magier, der Aussätzige, das unnatürliche Wesen. Morgan hatte viel zu oft selbst erfahren, wie leicht es die Menschen nahmen, einen Magier allein aufgrund seiner arkanen Künste als bösartig abzutun. Doch von seinem Bruder hätte er mehr Neutralität erwartet. Lukardis hatte ihm nie das Gefühl gegeben, ein Absonderling zu sein. Weniger als der eigene Vater.  “Wenn es weltliche Gesetze geben sollte, müsste wahrscheinlich der halbe Adel in den tiefsten Kerkern vermodern”, antwortete er sarkastisch. “Ich bin kein Rechtsgelehrter und mit den weltlichen Gesetzen kenne ich mich wirklich nicht aus. Aber sollte Onkel Gudekar tatsächlich, wie Tante Merle behauptet, einen Beherrschungszauber auf sie gewirkt haben, dann wäre dies nicht rechtens. Und sollte sie dies sogar vor Gericht bringen, dann würde wohl ein Gildengericht über die Schwere von Onkel Gudekars Tat entscheiden. Denn die Anwendung eines unerwünschten Zaubers auf einen Menschen ist zwar ein weltliches Vergehen, doch hat die Weiße Gilde in so einem Fall das Recht und die Pflicht, selbst über ihre Angehörigen zu richten.”

Woher kam nur diese plötzliche Aggressivität? Morgan benahm sich, als hätte Lukardis ihn angegriffen. Beschwichtigend sagte er: "Ich möchte aber nicht, dass Onkel Gudekar wegen so etwas vor Gericht muss. Wir sind hier in den Nordmarken. Wenn das wahr ist, was Tante Merle sagt, dann tun die ihm was Schlimmes an. Ihm die Magie wegnehmen oder der Scheiterhaufen. Aber, wenn er wirklich ihre Ehe aufs Spiel gesetzt hat, dann sollte er dafür gerade stehen. Meinst Du, die beiden können sich noch vertragen, oder ist das dafür schon zu spät?"

Morgan fiel ein Stein vom Herzen. Sein Bruder schien doch versöhnlicher, als er befürchtet hatte. Der Novize atmete pustend aus. “Ich möchte auch nicht, dass Onkel Gudekar auf den Scheiterhaufen kommt. Warum kann nur eine einzelne Tat schwerer wiegen als all das Gute, was ein Mensch je getan hat? Und warum ist man bei manchen Menschen viel schneller dabei, sie dem Feuer zu übergeben, als bei anderen? Nur weil man die Gabe hat, wird man gleich viel härter bestraft. Dabei haben uns doch Hesinde und Mada diese Gabe geschenkt, um sie zu nutzen. Doch viel stärker als bei der Verwendung des Schwertes schreien alle gleich nach dem Feuer, wendet man Madas Gaben an. Erhebst du dein Schwert gegen einen Menschen, so wirst du gerügt und getadelt. Erhebe ich einmal meinen Stab, schreien gleich alle: ‘Verbrennt ihn!’ Das ist nicht gerecht! Ich bete zu den Zwölfen, dass sie sich wieder vertragen. Aber ich weiß ja nicht, was wirklich alles passiert ist.”  

"Wenn Dich einer verbrennen will, dann kommst Du zu mir! Ich werde das schon regeln", fing Lukardis an, als Merle sich wieder in die Unterhaltung einschaltete.

Morgan lächelte dankbar für die Loyalität seines Bruders und wolle seine eigenen Worte eigentlich noch erklären, als ihre Tante sie ansprach.

"Luk. Morgan. Niemand soll hier verbrannt werden." In ihrer leisen Stimme lag ein Anklang von Stärke, der sie selbst überraschte. "Danke, ihr Lieben, dass ihr helfen wollt… aber lasst mich ein paar Sachen erklären." Intensiv schaute sie dem jungen Magierschüler in die Augen. "Morgan, glaub mir, ich würde so etwas nicht behaupten, wenn es nicht der Wahrheit entspräche. Ich bin lange genug mit deinem Onkel zusammen, um die Worte 'Bannbaladin' zu kennen und zu wissen, was sie bedeuten. Immer habe ich denjenigen widersprochen, die aller Magie und ihren Anwendern mit Angst und Abscheu begegnen; niemals hatte ich Angst vor Gudekars Magie. Doch vorhin hat mich diese plötzlich und gewaltsam getroffen - und damit hat mein Mann ein Verbrechen begangen. Das weißt du, Morgan. Natürlich möchte ich nicht, dass Gudekar auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Aber ich denke schon, dass ein solcher Zauber vor ein Gildengericht gebracht werden muss. Wenn Magier unkontrolliert zaubern und ihre Taten ungesühnt bleiben, wirft das ein schlechtes Licht auf die ganze Zunft und verstärkt die Ängste der Leute nur noch… Das hat Gudekar selbst oft gesagt." Niedergeschlagen und müde hob sie die Schultern und wandte sich dem Knappen zu. "Und was die Frage angeht, ob wir uns wieder vertragen können… Euer Onkel hat nicht nur vor den Augen der Familie herumgebuhlt, er will sich von mir trennen, will seinen Traviabund auch weiterhin missachten und beschmutzen. Er zeigt keine Reue für sein Tun. Eine Versöhnung wäre nur möglich, wenn er gelobt, in Zukunft wieder als Ehemann an meiner Seite zu sein." Merle seufzte und schüttelte den Kopf. "Aber genau das will er ja nicht."

Der Knappe riss die Augen auf: "Will er nicht?" Entsetzt und ungläubig blickte er Merle an. "Aber, wieso denn nicht? Ich dachte, er liebt Dich?!"

Merle schüttelte sichtlich verzweifelt den Kopf. "Nein. Nicht mehr. Er will mich verlassen. Mich loswerden. Und als ich sagte, dass der Eheschwur unauflöslich ist, dass ich seinen scham- und reuelosen Eidbruch der Traviakirche melden werde, da hat er seine Magie gegen mich eingesetzt, um ungehindert mit seiner Geliebten fliehen zu können."

„Das klingt aber so gar nicht nach Onkel Gudekar“, wunderte sich der Novize, der die Fakten einfach nicht wahrhaben wollte. „Sowas würde er ganz sicher nicht tun! Tante Merle, das musst du falsch verstanden haben! Bitte! Er war doch immer redlich, hat mir immer geholfen, wenn er in Elenvina war.“ Morgans Worte wurden immer verzweifelter, während er sprach, während er seine Tante anflehte. „Er weiß doch, dass man sowas nicht machen darf! Vielleicht wollte er dir nur Angst machen mit einer leeren Drohung, so wie du ihm mit der Drohung, ihn bei der Kirche anzuzeigen? Nein, vielleicht hat er nur einen Scherz gemacht! Bitte, sag, dass es möglich sein könnte, dass du das alles falsch verstanden hast! Bitte!“

Merle schluckte und schaute Morgan mit ihren großen Augen ernst und eindringlich an. Der Junge tat ihr leid. Auf seine Art verehrte er Gudekar genauso abgöttisch, wie auch sie ihren Mann noch immer liebte. "Ja, früher war er stets gut und redlich… Ein sanfter, liebevoller Mann", wisperte sie tonlos und dachte für ein paar Wimpernschläge an das überschwängliche Glück, das sie empfunden hatte, als sie einander damals vor dem Traualtar die Hand gereicht hatten, als sie nach drei langen Götterläufen endlich heiraten durften… "Aber du hast ihn auf der Nachtwanderung mit seiner Ritterin gesehen, Morgan. Das ist die Frau, mit der er mich ersetzen will. Weil ich seinem Glück mit ihr im Wege stehe, hadert er mit Travia und ihren Geboten…" Mit traurigem Blick musterte sie die beiden jungen Männer. "Und… da gibt es noch etwas anderes… diesen Verdacht, dass Gudekar mit dem Paktierer in Kontakt stand… Da war ein zerknülltes Pergament in seiner Manteltasche, er hat dem Pruch wohl geschrieben… " Ihre Stimme war zu einem fast lautlosen Murmeln geworden, mehr an sich selbst gerichtet als an die beiden Jungen. "Wenn ich nur wüsste, was ich jetzt tun soll…"

„Tante Merle“, fragte Morgan kleinlaut, „glaubst du wirklich, dass Onkel Gudekar ein Paktierer ist, der für den Pruch arbeitet? Meinst du, er steckt vielleicht sogar hinter der Entführung von Tante Gwenn?“

Merle schüttelte den Kopf. “Nein, das glaube ich nicht.” Sie versuchte ruhig und beherrscht zu bleiben, auch wenn sie heute schon oft über die Frage nachgedacht und diese mit vielen verschiedenen Leuten diskutiert hatte. “Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Pruch wissentlich dabei geholfen hätte, uns in Lützeltal anzugreifen. Euer Onkel war ehrlich schockiert über Gwenns Entführung. Aber”, Merle zwang sich weiterhin zu einem sachlichen und nüchternen Tonfall, “...er hat sich vor zwei Jahren wirklich sehr plötzlich verändert, war nach dieser Hochzeit in Schweinsfold kalt und abweisend, wo er sich zuvor ganz liebevoll von mir verabschiedet hatte… Er hat dem Pruch anscheinend geschrieben, dass sie etwas gemeinsam hätten. Ich vermute, er wollte ihn retten. Aber dass er glaubt, er hätte Gemeinsamkeiten mit einem mörderischen Diener von Travias Widersacherin…”, sie hob kraftlos die Schultern, “...das klingt für mich schon, als hätte er sich von der Gütigen Mutter abgewandt, als läge ein böser Schatten auf seiner unsterblichen Seele.” Sie seufzte müde. “Ach, ich weiß nicht, was ich tun soll. Was ich noch tun kann.”

“Tante Merle”, setzte Morgan noch einmal vorsichtig an. “Ich bin mir sicher, er ist nicht wie der Pruch und das weiß er auch. Weißt du, ähm”, der Novize machte eine Pause, weil er sich kaum traute es auszusprechen, “was der Pruch tatsächlich gemacht hat? Ich meine, sowas würde Onkel Gudekar euch doch niemals antun, oder?”

Sie schluckte hart. “Ich weiß, dass der Pruch seine Frau und seine Kinder ermordet hat. Und nein, ich denke nicht, dass Gudekar mir was antun würde… oder Lulu”, sie streichelte ihrer Tochter sanft übers Haar, “...aber er wünscht sich schon, er hätte mich nie geheiratet, ich würde nicht existieren, ich würde ihm nicht im Wege stehen… Und vorhin, als er plötzlich den Zauber auf mich wirkte…” Unbehaglich kniff sie die Lippen zusammen. Tatsächlich hätte sie ein ungutes Gefühl, allein mit ihrem Mann in einem Raum zu sein, tatsächlich vertraute sie ihm nicht mehr; auch wenn sie diese Gedanken gegenüber ihren Neffen nicht zu Ende über die Lippen bringen konnte. “Ich… ich weiß es einfach nicht”, murmelte sie hilflos und legte wieder den Kopf auf ihre Knie.

Lukardis blies langsam die Luft aus den Wangen. Dass es so schlimm stand, hatte er nicht erwartet. "Es… es tut mir so leid, Tante Merle. Das klingt so schrecklich, dass ich nicht weiß, ob man das noch kitten kann. Selbst wenn das Heilige Paar hier wäre. Aber melden müssen wir das schon. Egal, ob er nur den rechten Pfad verloren hat, oder wirklich mit dem Pruch… Seine, und auch Deine, Seelen sind in Gefahr und da können nur die Geweihten helfen. Die Travia-Kirche muss es erfahren und euch beiden helfen. Das muss sie einfach!"

Merle nickte entschlossen. "Morgen kommen ja meine Eltern her. Ich werde ihnen alles erzählen und mich dem Schutz der heiligen Kirche anvertrauen. Sie werden wissen, was zu tun ist. Aber...", nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe, "...wenn es möglich wäre, Gudekar heute nacht aufzuhalten... zu verhindern, dass er mit seiner Buhle morgen über alle Berge ist..." Ihr nervöser Blick ging zwischen den schlafenden Familienmitgliedern, dem Lager der Vögtin Witta und der Scheunentür hin und her.

“Und wie willst du das anstellen?” fragte Morgan nun neugierig. “Ich meine, wenn wir ihm helfen können, dann sollten wir das vielleicht tun. Ich meine, bevor die falschen Leute ihn finden und lynchen wollen, so wie die Tänzerin. Wir wollen ihm doch helfen und nicht vernichten, oder?”

"Helfen…", murmelte Merle. "Wie soll ich ihm helfen? Wenn ich noch mal mit ihm reden könnte, was soll ich zu ihm sagen? Dass er sich der Seelenprüfung durch einen Geweihten stellen soll? Heute Nachmittag hatte er dem widerstrebend zugestimmt, aber jetzt flieht er doch… Soll ich ihn bitten, nicht wegzugehen; mir ein paar Tage zu gewähren, um über unsere Ehe zu reden, an unseren Problemen zu arbeiten? Wir haben in den letzten zwei Götterläufen ja nie richtig miteinander gesprochen! Wenn ich etwas mehr Zeit mit ihm hätte, wenn er nachfühlen könnte, wie ich leide, er sich an die guten, liebevollen Zeiten erinnern würde, die er jetzt einfach zu Grabe trägt, als wär' unser Bund nichts wert… Doch diese Ritterin drängt ihn dazu, schnell abzureisen und niemals zu seiner Familie zurückzukehren, sie will ihn ganz für sich - und er ist dieser Frau so verfallen, so hörig, dass er nur ihr zu Willen ist… Oder vielleicht auch dem dunklen Schatten, der sich auf seiner Seele festgesetzt hat… Verdammt, ich will nicht, dass es so endet! Ich will nicht, dass er geht! Er ist doch mein Mann!" schluchzte Merle, das Gesicht verzerrt von Verzweiflung und Schmerz, und raufte sich mit den Händen das Haar. "Aber was soll ich noch tun; mich vor ihm in den Staub werfen? Seine Knie umklammern und ihn anflehen, die Liebschaft endlich zu beenden, mit dem Freveln aufzuhören und zu mir zurückzukommen? Ja, alles in mir schreit danach, genau das zu tun; ich wünsche mir, ihn zu küssen und damit den bösen Spuk zu beenden, den Bann zu brechen - doch ich weiß ja, er wird mich ignorieren, sich unbeeindruckt von mir abwenden und mit seiner grobschlächtigen Ritterin für immer verschwinden." Grübelnd malträtierte sie noch immer ihre Unterlippe. "Nein, ich müsste ihn festhalten, ihn drängen, in einen Tempel zu gehen und seine Seele prüfen zu lassen. Ihn zu Buße und Umkehr zwingen können… Und dafür sorgen, dass er aufgehalten wird, damit ihm geholfen werden kann, wäre das nicht zu seinem eigenen Besten? Dann hätten wir erst einmal Zeit, ihm zu helfen. Und Vater Friedewald würde ihn nicht gleich an die Inquisition ausliefern; er würde ruhig und besonnen entscheiden…" Sie dachte an Doratrava, die ebenfalls verhaftet worden war, nach Merles Überzeugung zu Unrecht - hier hatte Friedewald versichert, dass es eine gerechte und neutrale Anhörung geben würde und sie glaubte ihm - warum sollte mit Gudekar nicht ebenso verfahren werden? Merle nickte, scheinbar, um sich selbst zu bestärken. "Ja, ich denke, er müsste zunächst einmal festgesetzt werden, hier in Lützeltal."

„Du, Tante Merle, weißt du, was ich glaube? Was ich glauben möchte, und was ich glauben werde, zumindest bis man mir das Gegenteil beweist? Ich glaube, dass da bei der Beurteilung von Onkel Gudekars Taten und Gesinnung zwei verschiedene Aspekte vermengt werden, die unabhängig voneinander aufgetreten sind, nun aber korrelieren und korrespondieren.“ Morgan schaute seine Tante belehrend an. „Verstehst du, was ich meine? Und ich fürchte, bei jeder Diskussion über seine Schuld und sein Seelenheil werden diese Aspekte beliebig vermengt, wo sie doch separiert werden sollten.“

Nachdenklich kniff Merle die Augen zusammen. "Du meinst, er hat sich nur zufällig in diese Ritterin verliebt, aber aufgrund eines bösen... Einflusses den Ehebruch dann so ruch- und reuelos durchgezogen? Dass er ernsthaft verliebt ist, aber das Wirken der Widersacherin Travias ihn so... grausam und hartherzig handeln ließ?"

Morgan verzog die Mundwinkel, fast zu einer Grimasse, und wiegte den Kopf hin und her. “Nein. Ja. Nein. Also, nicht so direkt.” Der junge Novize wusste selbst nicht, welche Antwort ihm auf Merles letzte Frage besser gefallen würde. Stünde Gudekar unter einem Einfluss, hieße es, er wäre sich seiner Untaten vielleicht nicht bewusst und hatte sie nicht aus freiem Willen begangen, womit man ihn vielleicht nicht zur Verantwortung ziehen würde. Andererseits würde es bedeuten, seine Seele stünde unter einem dämonischen Einfluss und müsste gereinigt werden. Und man wusste nie, wie solch eine Reinigung vollzogen würde. Deshalb wich er der Frage aus. “Ich denke zunächst, es sind zwei Dinge, die in zeitlicher Korrelation apparierten. Zunächst, ja, ich denke, oder möchte glauben, dass Rahja einfach sein Herz berührt hat und er sich verliebt hat. Wie sich Menschen nun einmal verlieben. Und dann”, Morgan schaute nun entschuldigend zu Merle, “ist ihm bewusst geworden, was die Entscheidung bedeutet, dass er in jungen Jahren den Bund auf ewig eingegangen ist. Er hat vermutlich seinen Fehler in der Vergangenheit gesehen, der nun sein ganzes Leben bestimmen sollte. Ich könnte das nicht. Ich würde das nicht. Ich würde keinen Bund eingehen, der von jetzt an mein ganzes Leben in eine feste Bahn lenkt. Was weiß ich, was in achtzig Jahren ist? Unsere Profession ist nicht dafür gedacht, sich auf ewig zu binden. Wie soll man denn der Verantwortung gerecht werden, die Madas Geschenk uns auferlegt, wenn wir nicht frei handeln können, weil wir den Lebtag uns ums Weib und Kind sorgen müssen? Ein Bund vor Hesinde, zur Mehrung des Wissens, ja, das kann ich mir vorstellen. Vielleicht auch irgendwann ein Bund vor Rahja, begrenzt, um die Leidenschaft zu stillen. Obwohl, ich kann mir nicht vorstellen, dass mir je der Sinn danach sein könnte. Aber ein Bund vor Travia? Auf ewig? Nein, danke, da hab ich später mal besseres zu tun!” Nun wurde ihm bewusst, wie weh seine Worte Merle gerade in dieser Situation tun mussten und schaute betreten zu Boden.

Sie seufzte matt, schaute den Novizen jedoch ohne Groll an. Ihre Stimme klang sanft und sehr liebevoll. "Du bist noch jung, Morgan-Schatz, und vielleicht schockiert dich das jetzt... doch kann ich dir sagen, dass ich über die Jahre immer mal wieder andere Leute… anziehend gefunden habe, neben deinem Onkel. Und ja, das könnte man durchaus als Verliebtheit bezeichnen”, sie lächelte verträumt, fast mädchenhaft. “Ich glaube auch, dass es in Travias Augen durchaus in Ordnung ist, solche Regungen und Wünsche zuzulassen. Ich für meinen Teil habe diesen Sehnsüchten nicht nachgegeben", ein flüchtiger Gedanke ging zu Doratravas heißen, wilden Küssen, "...weil mir mein Schwur gegenüber Gudekar so wichtig war. Es mag dich verwundern, aber ich sehe den Traviabund, meinen Eid, noch immer nicht als ‘Fehler der Vergangenheit’, sondern als etwas, das mir unendlich viel Halt und Stabilität, Glück, Wärme und Freude geschenkt hat. Auch wenn es bei dir im Moment nicht so ist, vielleicht auch nie so sein wird, kommen viele Menschen an den Punkt, wo sie sich nach festen Bahnen im Leben sehnen, nach Beständigkeit, Vertrauen und Verlässlichkeit.” Merle lächelte, als sie das wohlige Gefühl von Wärme und Geborgenheit spürte, das sie mit Travias Wirken verband, dann wurde ihre Miene wieder traurig und niedergeschlagen. “Auch in Zeiten der Versuchung und inneren Aufruhr hätte ich von meinem Mann erwartet, für sein Seelenheil und seinen Traviabund zu kämpfen, den Segen und Schutz der Kirche zu suchen, mit mir zu sprechen... Anstatt sich einfach fröhlich in diese Affäre zu stürzen und unsere Ehe dem Tode zu weihen. Er lässt mich viele Monde allein in Ungewissheit, dann kommt er endlich zurück, um mir lapidar kundzutun, dass er mich für immer verlassen will. Dass die Entscheidung schon getroffen wäre. Seine Entscheidung, vollendete Tatsachen. Er hat unserem Bund keine Chance gegeben und mir keine Möglichkeit, um ihn zu kämpfen. Darin liegt für mich der Eidbruch, das werfe ich ihm vor, nicht seine Gefühle. Und ob sein kaltes, abweisendes Verhalten aus seiner Liebe zu der Ritterin geboren ist oder durch den Schatten befördert, der auf seiner Seele zu liegen scheint, ist aus meiner Sicht unerheblich - in beiden Fällen muss es vor die Travia-Kirche gebracht werden. Gudekar muss die Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Vor mir, seiner Familie, vor den Geweihten und der Gütigen Mutter selbst."

"Sag mal, Morgan", mischte sich Lukardis nachdenklich ein, "glaubst Du wirklich, Magier sollten keine Kinder haben? Was, wenn mir was zustößt, bevor ich Kinder haben kann? Wer soll denn den Namen Weissenquell weiterführen? Denn, was Du gerade über Magier gesagt hast, könnte man auch über Geweihte sagen. Mit dieser Aussage bürdest Du mir ganz schön viel Verantwortung auf. Ich meine, wir wissen ja noch nicht, ob Lulu vielleicht die Gabe in sich trägt."

Morgan dachte intensiv nach. „Ich meine ja nur, man sollte kein Versprechen machen, keinen Eid leisten, den man später vielleicht einmal brechen wird. Das heißt ja nicht, dass man nicht irgendwann Kinder haben kann. Aber das sollte der Mutter schon bewusst sein, dass man sich nicht immer so kümmern kann, wie es Travias Gebote verlangen würden. Deshalb ist es doch besser, gar nicht erst den Bund zu schließen, das weckt doch nur falsche Hoffnungen.“ Morgan rutschte nervös auf seinem Platz herum. „Wenn man eine Familie hat, kann man doch nicht auf solche Missionen gehen, wie es Onkel Gudekar gerade macht. Und wer soll denn dann die einfachen Menschen schützen vor all den Gefahren, die auf Dere überall auf uns lauern?“

"Ja, aber Ritter machen das schon seit Jahrhunderten. Das Volk beschützen, auf Missionen gehen und sind trotzdem verheiratet und haben Kinder. Wo soll denn da der Unterschied sein?" Lukardis blickte seinen Bruder an. "Ich weiß doch auch nicht, was die Zukunft bringt, ob ich mal heiraten und Kinder haben möchte und ob ich die Person heirate, die ich liebe, aber deswegen all das kategorisch ausschließen? Nein", er schüttelte den Kopf, "und wenn meine Ausbildung beendet ist, dann werde ich doch auch einen Eid schwören, der mich ein Leben lang bindet. Und noch einen, wenn ich Lützeltal übernehme. Dem Menschen ist es nunmal nicht gestattet, die Zukunft zu schauen und Wort und Tat haben Konsequenzen. So ist die Welt geschaffen und wir müssen uns fügen."

“Natürlich! Ich werde auch einen Eid leisten”, erklärte Morgan, “meiner Gilde gegenüber. Und der wird mich binden. Aber wie kann ich denn dann einen weiteren Eid leisten, der mich vielleicht eines Tages davon abhalten soll, in die Welt hinauszuziehen, um meine Aufgaben zu erfüllen? Meine Loyalität wird immer der Gilde gelten!”

"Das kannst Du nicht. Dann wirst Du Dich entscheiden müssen. Genau wie ich. Was ist, wenn mich die Gräfin zum Edlen von Lützeltal ernennt, ich ihr dann den Lehenseid leiste und sie fünf Jahre später gegen den Herzog rebelliert? Dann muss ich mich auch entscheiden, auf wessen Seite ich stehe. Und diese Entscheidung kann mich dann buchstäblich den Kopf kosten. Du kannst nicht alles planen und kontrollieren. Genauso wenig wie ich, oder die Kaiserin oder der Bote des Lichts. Niemand kann das. Es gibt immer ein Risiko."

“Und was ist, wenn sich Onkel Gudekar nun entscheiden musste, ob er den Eid gegen die Gilde oder den Orden bricht, oder den Eid, den er Tante Merle gegeben hat?” Es war nicht offensichtlich, ob Morgan die Frage ernst meinte, oder ob er nur nach einer fadenscheinigen Entschuldigung für das Verhalten seines Onkels suchte.

"He, ihr beiden, vergesst mal eure kleine Schwester nicht. Sie ist auch eine Weissenquell, die den Namen des Hauses fortführen kann", wandte Merle mit sanftem Spott ein und warf einen liebevollen Blick auf die fest schlafende Madalin, dann schaute sie von Lukardis wieder zu Morgan, nun mit leicht gekräuselter Stirn. "Wenn du irgendwann Kinder haben solltest, Morgan, dann ist das in jedem Fall eine Verpflichtung, ein Versprechen - ähnlich eines Eides - egal, ob diese Kinder innerhalb eines Traviabundes gezeugt werden oder nicht. Du bist dann für ihr Wohl verantwortlich, bis ans Ende deiner Tage. Ich meine, unser aller sterbliches Leben auf Dere besteht nun einmal aus Pflichten. Immer. Ob man damit hadert oder nicht." Sie seufzte traurig und schüttelte langsam den Kopf. "Euer Onkel hat seinen Traviabund und seinen Eid nicht gebrochen, hat seine Familie und seine kleine Tochter nicht verlassen wegen seiner Mission oder seiner Verpflichtungen gegenüber der Gilde und dem Orden. Sondern, weil er seine persönlichen Gelüste und Begierden, seine Gefühle für diese Ritterin und seinen Wunsch nach individueller Freiheit über seine Pflicht und seinen Eheschwur gehoben hat.” Sie schüttelte enttäuscht den Kopf. “Ich denke nicht, dass es in irgendeiner Weise göttergefällig ist, vor den eigenen Pflichten und der eigenen Verantwortung zu fliehen. Die Götter erwarten mehr von uns Menschen.”

“Manche Entscheidungen sind halt einfach falsch! Auch, wenn man in dem Augenblick glaubt, es sei die einzig Richtige, oder, dass man keine Wahl hat. Das macht es ja so schwierig und deshalb haben Herrschende auch Berater. Vater muss auch der Gräfin nach bestem Wissen und Gewissen beratend zur Seite stehen, damit sie die richtige Entscheidung treffen kann. Ich denke, Onkel Gudekar hatte keine Berater. Oder aber schlechte.”

“Onkel Gudekar ist ein weiser Mann! Er ist ein Gelehrter. Ich bin sicher, er weiß, was er tut und warum das, was er tut, richtig ist.” Je mehr Merle und Lukardis gegen seinen Onkel argumentierten, um so mehr hatte Morgan das Gefühl, ihn verteidigen zu müssen.

“Lulu und Merle zurückzuweisen und vor den Kopf zu stoßen, sie als Fehler zu bezeichnen und aus seinem Leben streichen zu wollen, hältst Du für die richtige Entscheidung?” Ungläubig schaute der Knappe seinen Bruder an. “Ist das Dein Ernst?!"

„Nein“, Morgan schüttelte den Kopf, „das ist vermutlich nicht die richtige Entscheidung.“ Der Fehler war jedoch, sie in sein Leben zu lassen, sein Leben in ihre Zwänge zu lassen. Doch das würden die beiden niemals verstehen. So sehr er Merle mochte, so sehr er Lulu liebte, so sehr sie für ihn zur Familie gehörten und er sie nicht hergeben mochte, so wenig gehörte ein Traviabund zu einem Magier. Einem echten Magier, solch einem, dessen Namen auch in einhundert Jahren noch mit Ehrfurcht genannt wird. So wie Nahema ai Tamerlein, Robak von Punin, Liscom von Fasar, Rohezal vom Amboss oder gar Rohal der Weise.

„Aber damit kommen wir zum zweiten Aspekt, seiner Mission, die er verfolgt. Was wissen wir schon darüber? Wissen wir, was genau die Rolle ist, die Onkel Gudekar dabei zugeschrieben ist? Wissen wir, wer ihm was aufgetragen hat? Wir wissen nur, dass es irgendwie mit dem elendigen Frevler Pruch zu tun hat und dass es irgendwie darum geht, dessen unseelige Machenschaften zu verhindern. Und da Pruch nun einmal mit Lolgr… mit dem Widersacher der guten Mutter Travia paktiert, sind wir allzugern bereit, sofort anzunehmen, dass auch Gudekar aufgrund seines Fehltritts vor Travia bereits mit dem Erzdämon paktiert oder zumindest unter dem Einfluss des Paktierers oder seines Herrn steht. Und sofort hetzen alle gegen Onkel Gudekar, sehen nur noch da Böse in allem, was er tut. Du sagst, er habe in Kontakt mit dem Pruch gestanden? Nun, vielleicht war genau dies Teil seiner Mission. Vielleicht musste er versuchen, Kontakt zu diesem aufzunehmen, um dessen habhaft zu werden, um Informationen über den Feind zu erhalten. Vielleicht war genau dies Onkel Gudekars Auftrag. Wir wissen es nicht. Aber wenn dem so ist, bringen wir vielleicht gerade jetzt seine Mission in Gefahr, weil wir ihn zwingen, entweder seine Beweggründe zu offenbaren oder zu fliehen und seine Bemühungen aufzugeben, weil wir ihn nicht mehr frei handeln lassen. Habt ihr nicht gemerkt, wie schnell die Gefährten, die mit Onkel Gudekar zusammenarbeiten sollten, bereit sind, eine der ihren zu verdammen und vor die Inquisition zu bringen? Ihr habt es bei der Gauklerin gesehen. Eine unbedachte Handlung, dem Druck, dem Stress, der Angst entsprungen, und schon kann ein reines, unschuldiges Leben verwirkt sein. Und ihr wisst, wie sehr alle Menschen mit Angst und Abscheu auf Mitglieder der Gilde schauen, nur darauf warten, dass wir einen Fehltritt begehen, um uns an den Pranger zu stellen.  Zieht ein Ritter in Rage sein Schwert, so heißt es, er verlange Genugtuung und er verhalte sich rondrianisch. Wirkt ein Magier in Rage einen Zauber, so wird er zu schnell mit dem Dämonenmeister Borbarad gleichgestellt. Die Welt ist ungerecht. Ja, Onkel Gudekar hätte nicht in deinen Geist eindringen dürfen. Doch warum gehen wir gleich davon aus, dass er dies gern gemacht hat und dass er es unter dämonischem Einfluss getan hat? Vielleicht sah er nach all dem, was heute geschehen ist, einfach keinen anderen Ausweg mehr? Wenn er verdeckt versucht, versuchen muss, mehr über Pruch zu erfahren, und er wird zu einer Seelenprüfung gezwungen, dann könnte es nicht nur ihn selbst in höchste Gefahr bringen, nein, auch seine Bemühungen, dem Paktierer näherzukommen, um seiner habhaft zu werden, wäre ein für allemal vernichtet. Vielleicht musste er genau dies verhindern.” Morgan machte eine Pause und atmete schwer durch. Er wirkte erschöpft. Mit leiser Stimme beendete er sein Plädoyer: „Aber vielleicht irre ich mich auch und ihr alle habt Recht. Vielleicht ist Onkel Gudekar auch doch ein böser Mann, und es wäre besser, ihn gleich zu töten, wenn man seiner habhaft wird, nicht erst lange Fragen stellen. Vernichten, bevor er noch etwas Böses tun kann um zu entkommen.“

Merle hatte Morgan aufmerksam zugehört und blickte ihm lange und tief in die Augen. "Ich glaube nicht, dass er 'böse' ist oder den Tod verdient", erklärte sie mit ruhiger Stimme. "Das habe ich auch nicht gesagt. Aber ich hab heute mehrmals mit meinem Mann gesprochen. Er hat mir gegenüber zugegeben, dass er in die Rabenmark möchte, um dort ungestört mit der Ritterin zusammen sein zu können, um offen mit ihr zu leben, als wäre sie seine Frau. Seine Anstellung in Tälerort hat nichts mit seiner wichtigen Mission zu tun - im Gegenteil, er gibt diese auf für private, eigennützige Pläne - er wird seine Gefährten hier im Stich lassen und den Kampf, den Widerstand gegen den Pruch einstellen. Er hat mir selbst gesagt, dass es ein Fehler war, Pruch retten zu wollen, ihn zu unterschätzen - jetzt will er nur noch fliehen, seine eigene Haut retten und die seiner Buhle." Nervös fummelte sie in ihrem langen, strähnigen Haar herum, dann schnippte sie dieses unwillig auf den Rücken. "Nein, Gudekar ist nicht böse, aber selbstsüchtig und feige. Er ist nicht dumm, aber ein liebestoller Narr, gefangen im selbstgesponnenen Netz aus Schönfärberei und Selbstbetrug. Und natürlich ist er kein Paktierer - aber sehr wohl ein schamloser, arroganter Frevler, der auch weiterhin seine Familie rücksichtslos verleugnen und beschämen will, dem das persönliche Glück so viel mehr zählt als seine Pflichten und sein heiliger Eid vor der Gütigen Mutter." Sie schloss kurz die Augen und atmete mehrmals ein und aus. "Nein, ich will nicht seinen Tod. Aber ich will, dass er für seine Taten gerade steht und büßt, dass die Gerechtigkeit wiederhergestellt wird und die über uns gebrachte Schande gesühnt.” Nach einem Moment des Schweigens rappelte sich die junge Frau abrupt auf und strich ihr Kleid glatt. "Bitte entschuldigt mich. Ich muss mit eurem Vater reden… Dringend", stammelte sie und wandte sich in Richtung des Scheunentores.

“Tante Merle”, sprach Morgan sie noch einmal an, “eins noch. Ich glaube, er hat dir bezüglich seiner Reise in die Rabenmark nicht die volle Wahrheit gesagt. Vermutlich möchte er die Reise auch nutzen, um mit Meta zusammen zu sein. Aber er hat mir im Sommer, als er in Elenvina war, davon erzählt. Er hat bewusst diesen Ort gewählt, weil er hofft, dort mehr über die Dämonenaustreibung zu lernen. Er fühlt sich nicht gut vorbereitet auf den Kampf gegen Pruch. Er stand schon öfters von Pruch gesandten Dämonen gegenüber und konnte kaum etwas gegen sie tun. Das will er ändern. Er hofft, aus den Erfahrungen der Zauberkundigen dort etwas lernen zu können, was ihm und seinen Gefährten irgendwann helfen wird, Pruch zu überwältigen. Und gleichzeitig möchte er versuchen, den Menschen dort zu helfen und das Land von seinen Wunden zu heilen. Ich glaube nicht, dass er einfach nur fliehen will. Ich glaube, er bereitet etwas Wichtiges vor. Ich glaube nicht, dass er seine Sache verraten möchte. Doch konnte er dir davon nichts erzählen. Verurteile ihn nicht, nur weil er dich im Dunkeln über seine Absichten lässt!”

Merle nickte Morgan zu, nach außen hin ein wenig besänftigt. "Ja, das hat er mir auch erzählt. Dennoch gäbe es sicherlich andere Wege, das notwendige Wissen zu erlangen, oder? Gudekar hat mir selbst gesagt, dass es ihm zuallererst darum geht, einen Ort zu finden, wo die Leute ihn nicht kennen und nicht wissen, dass er zu Hause eine Ehefrau und ein Kind hat. Wo er mit Meta an seiner Seite öffentlich leben kann. Aber gut… ich denke nicht, dass er diese Pläne noch umsetzen kann." Sie wollte sich abwenden und in Richtung des Ausgangs eilen, drehte sich aber noch einmal zu ihren jungen Neffen: "Danke von Herzen, ihr beiden, dass ihr euch das alles angehört habt. Sagt eurer Mutter, ich bin so bald wie möglich zurück, ja?" Sie betrachtete die schlafende Lulu mit einem langen, liebevollen Blick, dann eilte sie zur Scheunentür, um ihren Schwager Kalman anzusprechen. Ihr Herz raste wie verrückt, doch musste sie dies jetzt tun, bevor sie der Mut verließ.

Morgan schaute seiner Tante hinterher. “Hoffentlich macht sie nichts Unbedachtes, was für sie gefährlich werden könnte!”

"Du irrst Dich, Morgan, in so vielen Dingen. Rondrianisches Verhalten ist an Regeln gebunden. Ich kann nicht einfach hingehen und jemanden abschlachten oder verstümmeln, nur weil mir dessen Nase nicht passt. Ich werde dann genauso verklagt und verurteilt, wie jeder andere auch. Dass Du deswegen neidisch bist, erschreckt mich und dass Du mir so etwas zutraust, verletzt mich. Desweiteren ist die Inquisition kein Verein von Mordbrennern. Sie sind Ermittler, sie sollen die Wahrheit herausfinden und dann erst urteilen. Rohal der Weise hat nach der Priesterkaiserzeit ihre Befugnisse stark eingeschränkt und das gilt bis heute. Und auch ohne seine Mission zu kennen, kannst Du doch nicht ernsthaft glauben, dass der Zweck die Mittel heiligt. Seine Frau und sein Kind zu verlassen und sich eine Buhle zu nehmen, nur so zur Tarnung, kann nicht richtig sein. Das wäre dann nämlich auch gegenüber der Buhle nicht gerecht, die er dann ja am Ende der Mission fallen lassen müsste, um wieder in den Schoß der Familie zurückzukehren. Und, ob jemand sich schuldig fühlt, während er ein Verbrechen begeht, oder nicht, spielt keine Rolle. Die heilige Ordnung wurde gestört. Wenn ich einen Teller auf den Boden werfe, und er zerspringt, dann ist er zerstört und selbst, wenn man ihn flicken kann, ist er nicht mehr derselbe, der er vorher war. Außerdem habe ich nie behauptet Onkel Gudekar sei böse und ich habe ihn auch nicht anders betrachtet, nur weil er zaubern kann und ich nicht. Und eine Ehe ist eine Ehe, egal, welcher Gottheit der Priester dient, der die Trauung vornimmt, Rahja einmal ausgenommen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass nur die Nachkommen eines Traviabundes vor dem Gesetz als legitime Nachkommen und erbberechtigt gelten. Die Zwänge einer Ehe bleiben dieselben."

Nun hatte Morgan ein schlechtes Gewissen. “Es tut mir leid, Bruder! Ich wollte dich nicht beleidigen. Natürlich weiß ich, dass auch Ihr Rittersleut nicht mit eurem Schwert machen könnt, was ihr wollt. So hatte ich es nicht gemeint. Aber die Magier werden oft viel kritischer beäugt, als die Ritterschaft. In Elenvina zum Beispiel schaut keiner so genau hin, wenn ein Ritter mit dem Schwert am Gürtel herumläuft. Aber lauf mal mit dem Magierstab von der Akademie zum Hesindetempel, da wirst du von der Stadtgarde mindestens dreimal angehalten und kontrolliert. Aber nimm doch mal dein Beispiel mit dem Teller. Wenn du den nimmst und mit Absicht auf den Boden wirfst, dann schimpft Mutter zurecht und du bekommst eine Strafe, um den Schaden wieder gut zu machen. Fällt er dir aber herunter, weil, ähm, also, weil, zum Beispiel, deine kleine Schwester auf den Stuhl klettert, um Kekse vom Regal zu stibitzen und der Stuhl kippt und Madalin droht hinzufallen und du lässt den Teller fallen, um sie aufzufangen, dann ist der Teller trotzdem kaputt, aber Mutter wird dich loben, dass du so gut aufgepasst hast.” Nun schaute Morgan wieder trotzig.  

"Mag sein. Trotzdem ist sie traurig, weil der Teller nun kaputt ist. Sie wird es nicht sagen, aber nachts wird sie stumm um den Teller weinen. Und wenn ich ihn geklebt habe, wird sie sich immer wieder daran erinnern, wenn sie ihn sieht. Und es wird sie jedesmal ein bisschen traurig machen. Auch wenn sie froh ist, dass ich Schwesterchen gerettet habe." Lukardis lächelte. "Ach Morgan, Du weißt, ich kann Dir nicht böse sein, auch wenn Du anderer Meinung bist. Mich erschreckt nur, dass Du schon so verbittert bist. Bitte hör auf, alles in Dich hinein zu fressen und komm zu mir, wenn Du Sorgen oder Probleme hast. Ich kann die Welt nicht ändern, aber ich kann versuchen sie besser zu machen, wenn auch vielleicht nur hier in Lützeltal."

Der Novize lächelte seinen Bruder an und suchte dann dessen Umarmung. Während er Lukardis an sich drückte sagte er; “Danke! Was würde ich nur ohne dich tun? Warum nur musst du immer so weit weg sein?”

Der Knappe erwiderte die Umarmung. “Wir können uns doch schreiben und vielleicht kann ich Herrn Rondrard überreden, dass wir Dich in Elenvina besuchen kommen.”

“Das würde mich freuen! Vielleicht findet ja irgendwann mal wieder ein Turnier in der Stadt statt.” Plötzlich musste Morgan loslachen. “Stadt statt! Das hört sich ja doof an!”

Auch sein Bruder prustete los. "Ja, das stimmt. Wörter sind manchmal echt komisch."

***

Am Eingang zur Scheune

Kalman und Rondrard standen weiterhin Wache am Eingang der Zehntscheuer. Das Gespräch mit Eoban war gerade beendet und dieser wollte wieder zurück zu seiner Familie in die Zehntscheuer gehen, als Merle aus der Scheune trat, um mit ihrem Schwager zu sprechen.

“Kalman, kann ich kurz mit dir reden?” sprach Merle ihren Schwager mit angespannter Miene an, wobei sie Rondrard und Eoban zwar knapp grüßend zunickte, letzterem aber einen scharfen, verbitterten Blick zuwarf. Der Ritter, den sie für einen guten, klugen Mann gehalten hatte, einen potentiellen Verbündeten, um Gudekar zu Läuterung und Buße zu bekehren, hatte sich heute als blinder, ignoranter Fanatiker erwiesen. “Unter vier Augen”, setzte sie eindringlich hinzu.  

Kalman blickte zunächst Merle an. Er kannte, wie ernst es ihr war. Also nickte er ihr zu und entschuldigte sich kurz bei Rondrard und Eoban. “Ich bin gleich zurück.” Der Lützeltaler Erbe legte seinen Arm schützend um seine Schwägerin und führte sie ein wenig abseits um die Scheune, so dass sie außer Sicht- und Hörweite waren. “Was gibt es, Merle?”

“Kalman…”, sie runzelte die Stirn, da sie jetzt doch nicht genau wusste, wie sie anfangen sollte, und setzte nach einem tiefen Atemzug neu an: “Kalman, wenn die Möglichkeit bestünde, Gudekar noch heute Nacht aufzuhalten und an seiner Flucht zu hindern, sollten wir das dann nicht tun?”

Kalman runzelte die Stirn, legte seine Hände auf Merles Schultern und schaute sie streng fragend an. “Heute Nacht noch? Was weißt du, was ich wissen sollte?”

Merle atmete tief durch. Sie musste das jetzt hinter sich bringen. “Nun ja… Mika ist ja eben rausgegangen. Keine Ahnung, was sie dir gesagt hat, wo sie hingeht… aber ich weiß, dass sie zu Gudekar will. Er hält sich mit seiner Buhle im Wald versteckt und will wohl bei Morgengrauen gen Almada reiten. Mika möchte ihm Proviant bringen und zur Flucht verhelfen." Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. "Ich glaube, zusammen mit der Baroness von Kaldenberg.”

Merles Schwager riss die Augenbrauen hoch. “Die Baroness will Gudekar zur Flucht verhelfen? Warum sollte sie das tun?” Er war skeptisch. “Und warum sollte Mika dir das erzählen? Und nicht mir, ihrem Bruder?”

“Na ja, die Baroness wollte Mika wohl in den Wald begleiten; so schien es für mich zumindest…” Merle zuckte ratlos mit den Schultern. “Ganz genau habe ich das nicht mitbekommen. Aber mir hat die Baroness dann was zugeflüstert, das eher danach klang, als ob sie Gudekars Flucht verhindern will.” Wieder biss sie sich auf die Lippe. “Und Mika meinte, dass Gudekar noch mal mit mir reden wollte. Deshalb hat sie es mir gesagt.”

Kalman schüttelte den Kopf. “Ich weiß nicht, es klingt für mich, als ob hier jeder jedem etwas anderes erzählt. Ich misstraue der Baroness. Sie ist, nachdem sie die Scheune verlassen hat, zum Herrenhaus gegangen, dort wo wir die Kiste mit Nivards Kopf hingebracht haben. Was sollte sie dort wollen? Mika hingegen hat das Dorf in die andere Richtung durchquert. Ich weiß nicht, wieso, aber ich habe das Gefühl, die Baroness handelt nicht im Interesse der Gemeinschaft. Ich denke, wir sollten Eoban und Rondrard rufen und die Baroness zur Befragung festsetzen. Und was Gudekar angeht: entweder er führt etwas im Schilde oder Mika erzählt hier auch nicht die Wahrheit. Ich hoffe, du bist nicht auf diesen angeblichen Wunsch eingegangen?”

Merle nickte mit düsterem, gedankenvollen Blick. "Ja, ich hab das abgelehnt. Zwischen Gudekar und mir gibt es nichts mehr zu sagen, wenn er mich verlassen und verstoßen will.” Sie schluckte mühsam und kämpfte darum, die Fassung zu behalten. “Aber ich glaube schon, dass es richtig wäre, ihn aufzuhalten. Weil ich befürchte, dass auf seiner Seele ein Schatten liegt und er immer weiter in die Dunkelheit gleitet." Sie warf einen verstohlenen Blick in Richtung der anderen beiden Ritter und senkte ihre Stimme zu einem leisen Wispern, als sie fortfuhr: "An Eobans Urteilsvermögen habe ich meine Zweifel, wie du weißt. Und ich möchte wirklich nicht, dass Gudekar auf den Scheiterhaufen kommt, auch wenn das hier alle denken. Wie gesagt, ich hab es so verstanden, dass Mika Gudekar entkommen lassen will - und die Baroness seine Flucht verhindern." Müde senkte die junge Frau den Kopf. "Ach, Kalman, ich weiß auch nicht mehr, was jetzt richtig oder falsch ist... Deshalb komme ich zu dir. Letztendlich liegt die Entscheidung, was zu tun ist, bei dir und Vater."

Kalman sog tief die Luft ein. Warum glaubten immer alle, Vater und er würden auf alles eine passable Antwort kennen? Ja, weil Vater der Edle des Gutes war und er selbst ein Ritter. Und einst wohl selbst Edler sein würde. Zumindest sofern er in Situationen wie dieser nicht versagte. “Nun, ich habe keine Zweifel an Eobans Rechtschaffenheit. Aber an der der Baroness wohl umso mehr. Wenn sie Gudekar aufhalten wollte, warum wendet sie sich dann nicht an mich oder Vater? Ich stand hier vor der Tür, mit zwei weiteren rechtschaffenden Rittern der Nordmarken. Wir wären ja wohl die richtigen gewesen, um Gudekar festzusetzen. Stattdessen spielt sie uns alle gegeneinander aus. Ich traue ihr nicht!”

"Vielleicht befürchtet die Baroness ja auch, dass Eoban gleich die Inquisition holen und Gudekar auf den Scheiterhaufen bringen wird? Bei Doratrava war er ja schon ziemlich... kompromisslos. Also vielleicht will sie die Sache diskreter regeln?" Merle hob hilflos die Schultern. "Ich weiß es doch auch nicht. Aber mir schien sie eher skeptisch gegenüber Mikas Plänen zu sein..." Merle dachte einen Moment nach und schaute Kalman dann direkt in die Augen. "Wenn Eoban wüsste, dass Mika Gudekar bei der Flucht hilft, würde er sie vermutlich auch hart beschuldigen, meinst du nicht auch? Selbst wenn Mika es aus Naivität und Gutgläubigkeit getan hat. Ich denke, deshalb wollte sich die Baroness nicht an euch drei wenden - um Mika zu schützen." Sie nickte, wie um sich selbst zu bestätigen, dass dies die Erklärung sein musste. "Und ich will auch nicht, dass Mika Ärger bekommt. Deshalb bin ich ja zu dir gegangen und nicht zur Vögtin."

“Danke, ja, das war schon mal gut.” Kalman dachte nach. Merle sah vieles viel zu schwarz-weiß, gerade was Eoban und Gudekar anging. Eoban konnte seine Anschuldigungen unerbittlich vorbringen, ja. Doch letztlich war nicht er es, der entschied, ob jemand hier der Inquisition übergeben wurde. Und wenn Gudekar erst einmal gestellt war, dann spielte es keine Rolle, wie und durch wen er festgesetzt wurde. Er würde vor Gericht landen nach den Anschuldigungen, die Merle und die anderen gegen Kalmans Bruder vorgebracht hatten. Ob nun Eoban daran beteiligt war, war unerheblich. Sollte es also tatsächlich die Absicht der Baroness gewesen sein, Gudekar für seine Taten büßen zu lassen, hätte sie sich bedenkenlos an die drei Ritter wenden können, denn eine größere Streitkraft erhöhte die Aussicht auf Erfolg. Und wenn Gudekar festgesetzt wurde, würde auch Mikas Beteiligung bekannt werden, unweigerlich. Er war überzeugt, dass hier ein falsches Spiel gespielt wurde. “Wir sollten gehen und die Baroness zur Rede stellen. Sie soll sich erklären. Und wenn sie dies nicht kann, muss sie die Konsequenzen tragen. Baroness hin oder her, auch sie steht nicht über dem praiosgefälligen Gesetz.”

Merle nickte folgsam. "Wie du willst, Kalman." Insgeheim fragte sie sich, ob sie gerade schon wieder einen schrecklichen Fehler beging; ob sie der Baroness nicht lieber hätte stillschweigend vertrauen sollen. Andererseits war es in diesen Zeiten das Wichtigste, auf Travias Gnade zu hoffen und zur Familie zu halten - und Kalman trug im Moment, wo auch Vater Friedewald nicht auf der Höhe war, die Verantwortung für das Haus Weissenquell. "Also gehen wir zum Herrenhaus rüber und fragen sie?"

“Ja, gut.” Kalman wollte sich auf den Weg machen, um Eoban und Rondrard Bescheid zu geben, als er doch noch einmal anhielt. “Nein, warte, vielleicht sollten wir erst mit Mika sprechen und sie zur Vernunft bringen. Es wäre einfacher, sie würde mir sagen, wo Gudekar ist. Das wäre wohl das Beste.”

Leicht verdutzt kniff Merle die Augen zusammen und versuchte sich an das Gespräch mit Mika zu erinnern. Tatsächlich hatte die Novizin nicht gesagt, wo Gudekar sich aufhielt. “Ähm, sie hat die beiden irgendwo im Wald zurückgelassen, glaube ich. Es kann nicht weit vom Dorf sein.” Ratlos zuckte die junge Frau mit den Schultern und schaute ihren Schwager fragend an. “Vielleicht in einer der Schutzhütten für die Jagd?”

“Das klingt plausibel. Wo sollten sie sonst die Nacht verbringen? Hm, aber welche der beiden?” Kalman dachte angestrengt nach. “Wenn ich wüsste welche, dann… Merle, versuch mal wie eine Jägerin zu denken, wie eine Firunnovizin. Wir haben zwei Hütten. Die eine liegt ziemlich dicht an der Straße nach Hart. Von dort kann man schnell weiterreisen, wenn man weg will. Andererseits kann die von so ziemlich jedem gefunden werden, der nach Flüchtenden sucht. Die andere liegt etwas tiefer im Wald. Sie ist schwer zu finden, bei Nacht ist es fast unmöglich, außer du kennst dich so gut aus wie Mika. Allerdings ist es kaum möglich, dort mit Pferden hinzukommen, und schon gar nicht beritten, das macht aber auch eine schnelle Flucht unmöglich. Du müsstest dich auf der Flucht irgendwo im Dickicht verstecken. Wenn du Mika wärst, wo würdest du Gudekar hinbringen?”

Merle musste unweigerlich ein bisschen schmunzeln, als sie sich selbst als gewiefte Jägerin vorzustellen versuchte. "Hm, keine Ahnung", seufzte sie. "Könnten wirklich beide sein." Sie dachte an die verschwörerischen Blicke, die Mika und Ardare sich in der Scheune zugeworfen hatten und legte nachdenklich den Kopf schief. "Mika hat schon ein großes Geheimnis um die Sache gemacht... und sie hat wirklich sehr große Angst um Gudekar... Ich glaube, sie würde ihn nicht in der Hütte an der Straße verstecken, die alle kennen. Sie würde versuchen, den Vorteil zu nutzen, den sie durch ihre Vertrautheit mit diesen Wäldern besitzt." Merle zog unsicher die Stirn in Falten. "Vielleicht sollten wir doch erstmal die Baroness fragen, wenn sie noch im Gutshaus ist. Der hat Mika es bestimmt gesagt."

“Ich denke auch, dass Mika die versteckte Hütte gewählt hat.“ Kalman blickte noch immer skeptisch. Er hatte einen großen Drang, die Situation mit Eoban zu besprechen. Doch zunächst wollte er die Möglichkeiten ausloten. „Also, es gibt jetzt drei Möglichkeiten. Entweder, wir machen es, wie du vorschlägst. Doch ich fürchte immer noch, die Baroness wird nicht ehrlich zu uns sein. Wenn sie Mika hinter das Licht führt, könnte sie es mit uns ebenso versuchen. Oder wir suchen Mika und bringen sie zur Vernunft. Wenn ich eindringlich mit ihr rede, wird sie nachgeben. Sie ist ja nicht uneinsichtig. Dann könnten wir die Baroness ganz heraushalten, allerdings erfahren wir dann nie ihre wahre Intention. Oder wir nutzen unseren Vorsprung und hoffen auf unsere richtige Intuition und versuchen, ihnen zuvorzukommen und Gudekar selbst zu stellen. Oder wir halten uns zunächst zurück und ich versuche zu beobachten, ich könnte Mika und der Baroness still folgen und sehen, was sie tun. Oder ich verstecke mich bei der Hütte, und warte ab, was passiert. Ich werde Eoban fragen, was er für das Beste hält.“

"Ich weiß es nicht... Wirklich nicht." Merle war anzusehen, wie überfordert sie von der Situation war. "Auf jeden Fall darfst du nicht allein zu der Hütte gehen, Kalman. Wenn Gudekar sich bedroht fühlt, dann wird er dich mit seiner Magie angreifen. Und seine Buhle ist bewaffnet und würde sicherlich nicht davor zurückschrecken, das Schwert gegen dich zu erheben. Du solltest einen Trupp vertrauenswürdiger Leute mitnehmen, um Gudekar ohne Blutvergießen stellen zu können."

„Ja, vielleicht, wobei ich nicht glaube, dass sie mir etwas tun. Gudekar ist mein Bruder und seine, ähm, Ritterin machte mir einen vernünftigen Eindruck“, dachte Kalman nach.

“Ich bin seine Frau und er hat einen Zauber auf mich gewirkt!” warf Merle ungehalten ein. “Glaubst du, er lässt sich einfach so festnehmen?” Verärgert stieß sie die Luft aus. “Und ‘vernünftig’ ist auch nicht das Wort, mit dem ich diese garstige, unverschämte Ritterin beschreiben würde!”

„Vielleicht sollte ich wirklich jemanden zur Unterstützung mitnehmen”, versuchte Kalman ihren Einwand aufzugreifen. Es machte wohl wenig Sinn, mit Merle über diesen Punkt zu diskutieren. Aber Kalman erinnerte sich an das Gespräch, das er mit Meta geführt hatte, und in dem sie durchaus vernünftig und einsichtig erschien. Mehr als Merle zur Zeit jedenfalls. “Nur wen? Denn wenn ich Eoban und Rondrard mitnehme, wer schützt dann die Scheune? Der Herr Lares ist nicht zurechnungsfähig und der Herr von Tannenfels trauert um seinen Bruder. Wenn ich die Vögtin und ihren Bruder um Hilfe bitte, ist Gudekar sofort geliefert. Viele Optionen bleiben mir nicht. Jartgar ist mit im Gutshaus, dann kann ich die Baroness gleich selbst ansprechen.“

"Die Leute aus der Lanze des Herrn Rondrard?" schlug Merle hilflos vor. "Aber die sind ja auch alle im Haus, oder?"

„Ja.“

Plötzlich öffnete sich die Tür langsam. Als würde jemand sie mit dem Rücken aufschieben. Dann kam Ciala zum Vorschein. Sie blickte sich um, und als sie vergeblich nach Merle suchte, zeigte Eoban wortlos zur Ecke der Zehntscheuer, um die Kalman mit ihrer Schwägerin verschwunden war. Ciala folgte der Richtung. Mitleid, Rührung und Erleichterung zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab, als sie ihren Mann und Merle sah. Auf ihrem Arm trug sie Lulu. Das kleine Mädchen hatte sein tränennasses Gesicht an ihrer Brust vergraben, deutlich waren aber noch dicke Tropfen zu sehen, die langsam über die hübschen, runden Wangen rollten. Sie schluchzte und man konnte nur mit Mühe einige Worte verstehen. „Ala, Ala … ich will zu Mama. Wo Mama. Mama, Mam…“ – „Merle, sie braucht dich. Sie hat dich so lange nicht gesehen und obwohl ich so gerne auf sie aufpasse, als wäre sie mein eigenes Kind, jetzt braucht sie deine Nähe.“ Liebevoll drehte sie sich so, dass Merle an Lulus Gesicht kam. Kalman warf Ciala einen zärtlichen Blick zu. Sie verstanden sich gut, hatten beim Traviabund Glück gehabt, und er wusste, wie sehr seine Frau die Zeit vermisste, als ihre eigenen Kinder noch klein waren. Leider war sie nun zu alt, noch ein Kind zu bekommen und Enkel würde es erstmal nicht geben. Er wusste, wie sehr sie Lulu und Merle mittlerweile ins Herz geschlossen hatte. Sie brachten Leben, junges, unberechenbares Leben ins Haus. Zudem war nun auch noch Mika weg. „Schatz, das machst du großartig. So eine Krise zu meistern ist nicht einfach.“

Kalman lächelte seine Ciala an. “Naja, vom Meistern der Krise bin ich wohl weit entfernt, Liebes. Aber ich muss sagen, ein Kind auf dem Arm zu halten steht dir! Vielleicht sollten wir noch einmal darüber nachdenken?”

Merle war zu ihrer Schwägerin geeilt und streichelte liebevoll über Lulus Kopf, hauchte viele kleine Küsse auf die tränennassen Wangen ihrer Tochter und signalisierte schließlich Ciala, ihr das kleine Mädchen zu übergeben. Vorsichtig nahm sie Lulu auf den Arm und drückte diese eng an sich, presste ihr Gesicht ins feine, duftende Haar des Kindes und flüsterte diesem zärtliche, zusammenhanglose Worte ins Ohr, um es zu trösten und zu beruhigen. Als Lulu immer noch greinte, begann auch Merle wieder zu weinen, weil heftige Schuldgefühle sie überwältigten und ihr das Herz zusammenpressten. Heiße Tränen rannen nun auch Merles Wangen hinunter; sie suchte Cialas Blick, hilflos und sichtlich überfordert mit der Situation. "Es… es tut mir so leid, so schrecklich leid! Oh Ciala, ich bin eine furchtbare Mutter! Lulu, bitte… weine doch nicht, Süße! Es tut mir so leid, meine Kleine!”

„Du bist mit den Nerven am Ende. Lass sie das nicht merken. Du bist Lulus ein und alles. Ihr Fels, ihre Sicherheit. Wenn die Mutter weint, wird sie mehr Angst bekommen.“ Ciala, im Hinterkopf hatte sich ein rahja- und traviagefälliger Gedanke eingenistet, legte ihren Arm um Merle. „Vergiss das andere mal. Schau, wie hübsch sie ist. Wie bedingungslos sie dich liebt. Und wie gut ihr Haar riecht. Sie hat dich jetzt wieder und wird aufhören, zu weinen. Streichle sie weiter, rede mit ihr und gib ihr Kontakt zu deinem Körper. Ähm… das hat zumindest mir geholfen, als sie heute so Angst hatte.“ Die arme Merle. Ciala hätte mehr für sie da sein müssen. Es war ihr erstes Kind und sie steckten mitten in einer unheiligen Katastrophe. Sie ging mit beiden etwas auf und ab. „Deine Tochter hatte Angst um dich. Es ist für sie das Schlimmste, was sie sich vorstellen kann, dass dir etwas passiert.“ Hoffentlich beruhigte Lulu sich. Ciala hatte die Blicke ihres Bruders spüren können, als die Kleine immer unruhiger wurde. Zu seinem Glück hatte er seinen Mund gehalten. Auf Ativana war Verlass. Sie führten sicher keine Ehe, wie sie der guten Mutter Freude bereitete. Ativana hatte schon früh viel aushalten müssen, aber sie war stark und hatte Mann und Lehen ganz gut im Griff. Zudem pflegte sie sich und sah wirklich begehrenswert aus. Sie würde die Zeit nutzen und morgen mit ihrer Schwägerin sprechen. Sie wollte wissen, ob sie glücklich war. Na ja… eigentlich natürlich auch, wie es um Travia und Rahja bei ihr stand. Trotz ihres Aussehens scherte sie sich nicht viel um Männer, sie drängte sich nicht auf. Anders als diese unwichtige, viel hässlichere Ritterin.

Merle schluckte mühsam und versuchte ruhiger zu atmen, während sie neben Ciala herging und den liebevollen Worten ihrer Schwägerin zuhörte, doch konnte sie nicht verhindern, dass ihr weiterhin stetig die Tränen übers blasse Gesicht liefen. “Ach, ohne dich wäre ich doch völlig verloren. Ich hab so oft keine Ahnung, warum sie weint; ich schaffe es nicht, sie zu trösten, wenn sie schreit und schreit und schreit - ich bin einfach völlig überfordert mit ihr… Oh Ciala, meinst du wirklich, dass sie Angst hat, mich zu verlieren?! Das tut mir so entsetzlich leid! Meine arme Kleine! Ich will nicht, dass sie Angst hat! Lulu leidet darunter, dass ich eine so erbärmliche Versagerin bin!”, schluchzte sie, während sie die kleine Gestalt des Kindes bebend an ihren Oberkörper drückte. “Ich vernachlässige sie die ganze Zeit, schiebe sie ständig zu anderen Leuten ab… Ich bin die miserabelste Mutter auf dem ganzen Dererund!" Überforderung und Erschöpfung, die über den langen, verhängnisvollen Tag erlittenen Wunden, Enttäuschungen und Tragödien, die ohnehin tiefsitzenden Verlustängste und Schuldgefühle brachen sich nun endgültig Bahn und mit einem gequälten Schluchzen aus der jungen Frau heraus. "Ich schaffe das nicht!" weinte sie, während sie weiter hilflos, mechanisch über Lulus Haar strich. "Ciala, ich kann einfach nicht mehr!"

Kalman legte seine Arme um seine Schwägerin und zog sie samt Lulu fest an sich heran. Dabei lächelte er ein gequältes Lächeln in Richtung seiner Frau. “Es ist schon gut, Merle”, flüsterte er. “Du hattest heute keinen guten Tag. Aber du bist keine schlechte Mutter! Schau dir doch einmal Lulu an, wie prächtig sie gedeiht, ganz die Mutter. Und das hat sie nur dir, ganz allein dir, zu verdanken. Du hast es nicht verdient, derart unter meinem Bruder zu leiden. Wenn er dir nicht mehr Familie ist, wir werden es immer sein. Vielleicht solltest du dich einfach mit Lulu hinlegen und versuchen, Ruhe zu finden. Ich kümmere mich um Gudekar und seine Liebschaft.”

Zuerst sprach Ciala weiter mit Merle. „Kleine, mein Mann hat recht. Ihr braucht beide Ruhe. Und wenn Lulu beruhigt in deinen Armen liegt, dann fühlt sie sich so sicher und geborgen, wie nur du es ihr geben kannst. Es ist gerade sehr schwer, Merle. Ich helfe dir wirklich gerne, ja, lass mich dir helfen.“ Sie schluckte traurig. „Meine Kleinen sind groß und Mika ist weg. Sie brauchen mich nicht mehr und ich liebe Kinder. Sieh mich als sowas wie… eine Tante. Gib dir für die Tage nicht die Schuld.“ Sie drückte die beiden fester an sich und ging Richtung Scheune. „Schade, dass ich niemanden mehr habe, der mich auf die Jagd begleiten kann. Aber man kann nicht alles haben.“  Nun wandte sie sich an Kalman und zwinkerte neckisch. „Na, mein Angetrauter? Wenn Tsa es so will, dann könnte es noch sein. Vorausgesetzt, du hast noch genug Feuer und Kraft.“

In Kalmans Armen entspannte sich die junge Frau etwas; auch das Kind auf ihrem Arm wurde ruhiger. Dankbar schmiegte sie sich an den Ritter und legte ihre Wange an seine Brust, merkte, wie ihre Atemzüge nun langsamer gingen und sich der Kloß in ihrer Kehle etwas löste. Sie war hier bei ihrer Familie, geborgen und behütet, unterstützt und geliebt. Doch als Ciala versuchte, sie zurück in Richtung der Scheune zu geleiten, löste sich Merle mit einem Ruck aus der Umarmung und wich einen Schritt von Schwager und Schwägerin zurück. "Nein", widersprach sie und schüttelte energisch den Kopf. "Nein, ich kann mich nicht einfach hinlegen. Kalman, wenn du mit der Baroness oder mit Mika redest, dann muss ich mitkommen!” Merles Gesicht war von Verzweiflung und Schuldgefühlen gezeichnet, sie schloss kurz die Augen, dann sprach sie ruhiger und entschlossener weiter: “Mika wird denken, dass ich sie verraten habe. Sie wird auf stur schalten. Ich muss ihr erklären, warum ich dich eingeweiht habe, dass ich nicht Gudekars Tod wünsche, dies aber vielleicht die einzige Chance ist, ihn zu retten! Und ich glaube, ich könnte auch eher die Baroness zur Vernunft bringen; sie war bisher immer nett zu mir und vielleicht vertraut sie mir mehr als dir oder Eoban.” Während sie weiter das Kind an sich presste und dessen Kopf streichelte, schaute sie Ciala entschuldigend an. “Ciala, ich weiß ja selbst, dass ich jetzt für Lulu da sein muss. Aber bitte versteh’, dass es dringend ist. Sehr, sehr dringend. Ich kann nicht hier sitzen und abwarten, was passiert. Sonst werde ich mir immer vorwerfen, nicht alles getan zu haben. Es gibt Dinge, die ich jetzt, in dieser Nacht, machen muss. Dinge um Leben und Tod.”

Ciala sah verwirrt zwischen Kalman und Merle hin und her. Wovon sprachen sie da? „Was geht denn jetzt schon wieder vor? Das nimmt ja überhaupt kein Ende.“ Sie wirkte fast so verzweifelt, wie Merle. „Aber du kannst Lulu nicht dorthin mitnehmen. Wenn es um Leben und Tod geht. Was, wenn sie wieder weint, ihr etwas passiert…?“ Sie fasste sich wieder etwas. „Wohin wollt ihr denn gehen?“

Kalman war erstaunt über seine Schwägerin, wie stark und tapfer sie war, fast so wie Ciala. Die meisten anderen Frauen hätten sich - bzw. die Hoffnung auf die Rettung der Ehe – vielleicht schon längst aufgegeben und würden sich mit ihrem Kind irgendwo heulend verkriechen. Gut, Merle hatte auch geweint, das war ja auch verständlich. Und dennoch war sie noch immer bereit, um Gudekar zu kämpfen. Er verstand zwar nicht, wieso sie es tat (abgesehen von dem redlichen Glaube an die Traviatreue), aber sie tat es aus ganzem Herzen. Nicht nur, weil die göttliche Ordnung es verlangte, nein, weil sie in ihrem Innersten noch immer um Gudekar kämpfen wollte. Das ließ Kalman sie bewundern. “Ciala, lass Liudbirg eine Weile bei Merle. Wir werden nichts gefährliches tun. Wir müssen lediglich mit einigen Leuten reden. Zunächst mit Mika.” Dann sah er Merles skeptischen Blick und korrigierte sich. “Oder besser zunächst mit der Baroness von Kaldenberg. Sie wollen Kontakt zu Gudekar suchen. Vielleicht können wir noch etwas tun, um den Traviabund zu retten. Und vielleicht kann uns sogar ausgerechnet Gudekars Tochter dabei helfen.”  

Merle nickte ihrem Schwager zustimmend zu. "Ja, lass' uns zunächst im Gutshaus nachschauen. Und Ciala... du weißt, dass ich Lulu niemals ins Gefahr bringen würde! Ich muss nur noch mal mit Mika und mit der Baroness reden. Dahin nehme ich die Kleine jetzt mit." Sanft drückte sie dem inzwischen wieder ruhigen Mädchen einen weiteren Kuss auf die Wange, dann wurde ihr Kalmans letzter Satz bewusst und sie zog fragend die Augenbrauen zusammen. "Wie meinst du das, Lulu könnte helfen?"

„Wenn er dich mit Lulu sieht, wird das unterdrückte Gefühle wecken. Welche, die er verdrängt hat oder so. Es wird ihn daran erinnern, dass er Teil einer Familie ist. Bei Männern, die älter werden, ist das manchmal so. Sie wollen sich noch jung fühlen und benehmen sich kindisch. Diese Ritterin ist ja auch viel jünger, als er.“ Kalmans Worte beruhigten Ciala etwas. „Und versprecht mir, sie nicht in Gefahr zu bringen. Sie ist noch so klein und hatte vorhin schon so Angst. Ich darf wahrscheinlich nicht wissen, worum es geht? Ist Mika auch in Gefahr?“

Merle schüttelte abwehrend den Kopf. "Ich habe überhaupt nicht gesagt, dass ich mit Lulu zu Gudekar in den Wald gehen will! Er hat mich vorhin magisch angegriffen! Abgesehen davon, dass der Pruch da draußen umgeht. Ich wollte nur ins Gutshaus mit ihr." Ängstlich presste sie den Mund zusammen. "Wenn ich tatsächlich noch einmal versuchen sollte, mit ihm zu sprechen, dann würde ich bestimmt nicht meine Tochter in die Schusslinie geraten lassen!"

Kalman schüttelte den Kopf. “Auch, wenn ich denke, dass Ciala recht hat mit Gudekars Gefühlen zu Liudbirg, ist es wohl keine gute Idee, sie zu ihm zu bringen. Das meinte ich nicht direkt, aber ganz ähnlich. Wenn der Baroness vor Augen geführt wird, und auch Mika, wenn sie sehen, dass es darum geht, dass Lulu einen Vater braucht, IHREN Vater braucht, werden sie vielleicht richtig handeln, um Gudekar hierher zurückzubringen, und zwar in einem Stück”, was er im Falle der Baroness durchaus anzweifelte, “und ohne ihn in die Arme der Inquisition zu geben.” Dann blickte er zu Ciala. “Wenn Mika vernünftig und einsichtig handelt, ist sie auch nicht in Gefahr.”

Merle nickte Kalman stumm zu, um zu signalisieren, dass sie einverstanden war, dann schaute sie ihrer Schwägerin bittend in die Augen. “Ciala, würdest du mir bitte noch geschwind Lulus Decke und Jäckchen aus der Scheune holen?”

Wahrscheinlich würde ihr Kalman später erst erzählen, was los war. Ciala nickte. „Klar. Ich beeile mich. Ihr wartet hier und geht dann ins Gutshaus. Das ist in Ordnung.“ Schnell verschwand sie in der Scheune.

Merle nickte Ciala dankbar zu und versuchte sich an einem schwachen, tapferen Lächeln. "Vielen, vielen Dank. Für alles."

Kalman pustete aus vollen Backen. Würde dieser Tag denn gar kein Ende nehmen? Der Ritter war müde und abgekämpft. Warum musste sein vermaledeiter Bruder wieder so viel Ärger machen? Die Zeit, bis Ciala zurückkam, nutzte er, um sich bei Rondrard und Eoban zu entschuldigen, er habe es dringendes zu klären, und sie zu bitten, die Wache der Scheune zu übernehmen. Genaueres könne er zur Zeit nicht sagen.

Schließlich kam Ciala mit Lulus Sachen wieder.

Kalman bat Ciala, noch einmal kurz mit ihnen, also mit Merle und Kalman, mitzukommen, bevor sie zurück in die Scheune ginge. Als sie weit genug vom Eingang weg waren, sprach er Ciala an. „Mein Schatz, ich baue auf deine Verschwiegenheit anderen gegenüber, auch vor Vater. Mika weiß, wo Gudekar ist und will ihm zur Flucht verhelfen. Ich muss das verhindern, bevor sie Ärger bekommt. Wenn ich Glück habe, hilft mir vielleicht die Baroness von Kaldenberg. Doch noch bin ich mir nicht sicher, ob ich ihr trauen kann. Das herauszufinden ist der nächste Schritt. Pass bitte auf, dass nicht noch jemand aus der Scheune uns folgt. Ich weiß einfach nicht mehr, wem außer dir ich trauen kann, nachdem selbst Vater von dem Fluch berührt wurde.“

Ciala atmete tief durch. Anscheinend ging es immer weiter bergab. Mika, ihre kleine Mika. „Ich gebe ihnen noch was zu trinken aus und behalte alle im Auge. Tut bitte etwas… und kommt gesund wieder. Mika ist noch so kindlich und naiv, sie trägt keine Schuld, sie weiß einfach nicht, was sie tut.“ Sie kaute etwas zu fest auf ihrer Unterlippe. „Gudekar muss lebend gefangen genommen werden. Über sein Schicksal muss gerichtet werden. Seine Ritterin ist nicht wichtig. Wenn ihr sie im Kampf erwischt, dann hat er schon eine Ahnung, wie es Merle geht.“ Dann umarmte sie erst ihren Mann und gab ihm einen Kuss, dann Merle, die Lulu trug. Es war eine ehrliche Umarmung.

Merle erwiderte Cialas Umarmung liebevoll, blickte ihrer Schwägerin aber sichtlich schockiert in die Augen. "Ciala! Glaubst du wirklich, dass es zu einem Kampf und Blutvergießen kommen wird?" Verzweifelt drückte sie das Kind an ihren Oberkörper. "Kalman, das will ich nicht! Das musst du unbedingt verhindern!"

“Heute ist schon genug Blut geflossen. Weiteres Blutvergießen werden wir, wenn möglich vermeiden.” Kalman wirkte besorgt, denn er wusste nicht, wie eine Begegnung mit Meta und Gudekar letztlich enden würde.

Mit unbehaglicher Miene blickte Merle in die Augen ihres Schwagers. "Gudekar wollte ja noch mal mit mir reden. Vielleicht heißt das, dass er sich halbwegs vernünftig verhalten wird. Und selbst, wenn es zum Kampf kommt - an die rondrianischen Regeln wird sich diese Ritterin doch sicherlich halten? Das wird sie doch?" In Merles Augen standen Zweifel und Angst, aber auch die verzweifelte Hoffnung, dass Kalman die Situation unter Kontrolle bringen konnte. Wenn Gudekar sich nur überreden ließe, freiwillig ins Dorf zurückzukehren, dann würde sich auch ein Weg finden lassen, wie es weiterging. Aber wenn nicht… Merle merkte, wie ihr ein Schauer den Rücken herunterlief und sie am ganzen Körper zu zittern begann. Was, wenn nicht?

Kalman lächelte Merle aufmunternd und gleichzeitig entschuldigend an. “Ich bin mir sicher, die Ritterin wird sich rondrianisch verhalten.” Fast hätte er gesagt, er hielte sie für eine Ehrenfrau. Doch dann fiel ihm gerade noch auf, wie dumm dies klingen musste, und biss sich auf die Zunge. Aber der Eindruck, den er von ihr am Nachmittag gewonnen hatte, ließ sie in Kalmans Augen – abgesehen von dem Frevel, den Gudekar ihretwegen begangen hatte – durchaus ehrenhaft erscheinen.

Merle kniff skeptisch die Augen zusammen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sich eine Ritterin, die sich Rechtschaffenheit, Ehrbarkeit und den zwölfgöttlichen Tugenden verschrieben hatte, an einen verheirateten Mann heranmachen konnte, ihn zum Traviafrevel und Eidbruch verleiten; wie eine Ritterin so offenkundig und schamlos versuchen konnte, eine Ehe und eine Familie zu zerstören. Dennoch nickte sie Kalman verstehend zu, mit undefinierbarer, düster-grübelnder Miene, dann schaute sie Ciala an. "Bis bald, liebe Ciala. Und noch einmal vielen Dank für alles. Ich hab dich sehr lieb!"

~ * ~

Einen Magier zu jagen

Einen Plan auszuhecken

Als Ardare von Kaldenberg die Zehntscheuer verließ, war ihr erster Weg, anders als sie es Mika zugesagt hatte, nicht das Gasthaus, um Proviant für die flüchtenden Gudekar und Meta zu besorgen, sondern sie verfolgte eigene Pläne. So ging sie, begleitet von ihrer Hündin Tharga, als erstes zum Herrenhaus, wo sie hoffte, auf die Geweihten Imelda von Hadingen und Rionn zu treffen. Tatsächlich wurde sie dort fündig. Doch genau  genommen traf sie zunächst vor der Tür auf Imeldas Mageninhalt, oder noch präziser trat sie in diesen, denn in der Dunkelheit konnte sie die Pfütze schlecht sehen. Tharga schnupperte kurz daran und wandte sich dann angewidert ab.

Die Baroness fluchte leise, aber derb. Letztlich war die Verschmutzung ihrer Schuhsohle nur eine Randnotiz, denn ihre Kleidung hatte heute schon deutlich mehr abbekommen.

Nachdem die Baroness ihren Schuh notdürftig an etwas Gras gereinigt hatte, trat sie ins Herrenhaus. Dort sah sie auch sogleich Imelda und den Krieger Hesindiard, die an der Tür in den Raum standen, in dem die Totenwache gehalten werden sollte und in dem nun Rionn ein reinigendes Ritual durchführte. Neben Hesindiard und den Geweihten waren noch zwei weitere Gefolgsleute aus Rondrard von Storchenflugs Lanze anwesend, sowie der Krieger Nivard von Tannenfels und der Ritter Jartgar von Immergrün. Darüber hinaus sah der Raum aus, als hätte hier vor kurzem eine grausame Schlacht stattgefunden, deren Spuren man erst kürzlich verwischt hatte. Und so war es ja auch. Die Zahl der Toten hier hatte sich deutlich vermehrt, und die meisten davon wirkten übel zugerichtet.

"Was hat sich denn hier zugetragen?" Die Bemerkung der Baroness war mehr ein entsetzter Kommentar, als eine Aufforderung nach einem ausführlichen Lagebericht, was sich auch daran zeigte, dass Arda diesen Bericht gar nicht erst abwartete, sondern schnurstracks auf die Ingrapriesterin zuging.

Um das Ritual nicht noch weiter zu stören, senkte sie ihre Stimme, als sie Imelda ansprach: "Euer Gnaden, auf ein Wort? Es ist vielleicht wichtig."

Imelda schaute kurz zu Tharga und kraulte den Kopf der Hündin, dann nickte sie der Baroness zu. "Selbstverständlich. Worum geht es?"

Sie führte die Priesterin einige Schritte abseits. Imelda hatte sie deswegen ausgewählt, weil sie wohl eine gute Beziehung zu ihrer Hündin, Tharga, aufgebaut hatte. Ohne Umschweife kam Arda zur Sache: "Ich habe durch einen Zufall erfahren, wo sich Gudekar von Weissenquell heute Nacht versteckt hält. Wollt Ihr mir dabei helfen, seiner habhaft zu werden?"

Rionn, der sich noch von der überwältigenden Erfahrung des erfolgreichen Exorzismus erholte, merkte auf. Was erzählte Ardare von Gudekar? Der Tsageweihte erhob sich und gesellte sich zu der Baroness und der Ingrageweihten.

Mit großen Augen sah die Ingrageweihte Arda an. "Oh, wirklich? Wo ist er denn?" Nachdenklich runzelte sie die Stirn. "Und was meint Ihr genau mit 'habhaft werden'?"

"Er versteckt sich mit seiner Geliebten in einem Jagdunterschlupf im Wald. Seine Schwester hat sie dorthin geführt, von ihr habe ich auch das Versteck erfahren. Sie wird auch mich dorthin führen." Sie blickte ihre beiden Gesprächspartner fest an: "Ich habe mich an Euch gewandt, weil ich in Euch Verbündete sehe. Ihr haltet es ebenfalls für denkbar, dass Gudekar unter dem Einfluss des Pruchs steht - auch wenn er sich dessen vielleicht selbst nicht bewusst ist. Bevor er Lützeltal verlässt und woanders weitermacht wie hier - sich womöglich tiefer und tiefer in Pruchs Kabale verstrickt, wie auch immer er da hineingeraten ist - sollten wir ihn in Gewahrsam nehmen. Zum seinem eigenen Schutz, und zum Schutze derer, denen er in seiner Verwirrung weiteren Schaden zufügen könnte…" Sie hob entschuldigend die Arme: "Es ist selbst der Wunsch des älteren Bruders, dass Gudekar sich seiner Verantwortung stellt…"

“Inwieweit der Pruch wirklich einen Einfluss auf ihn hat, kann ich nicht beurteilen. In den letzten zwei Götterläufen hat die Ritterin Meta ganz sicher sein Leben bestimmt und die Liebe zu ihr hat ihn Dinge tun lassen, die falsch sind. Die er niemals hätte tun dürfen und für deren Konsequenzen er sich rechtfertigen muss. Solltet Ihr mit Eurer Vermutung bezüglich des Pruchs recht haben, Wohlgeboren von Kaldenberg, dann…”, sie sah ernst und leicht verunsichert zur Baroness und dann zu dem Tsageweihten, “...dann müssen wir ihn heute Nacht noch stoppen. Es wäre für alle das Beste, wenn er in Gewahrsam genommen wird - selbst für ihn und Ritterin Meta.”

Der Tsageweihte nickte nachdenklich, schweigend, langsam und bedächtig. Der machtvolle, unheilige Ort, der dieser kleine Kasten auszubilden vermochte, hatte ihn beeindruckt und ließ ihn grübeln. War es nicht auffällig, dass nicht nur Gudekar sich so merkwürdig verhielt? Waren nicht irgendwie alle Anwesenden in Lützeltal von einer merkwürdigen Unruhe erfasst? Wild wurden Menschen verdächtigt und in Kerker gesperrt. Aufgeregt wurde diskutiert und gestritten. Es klangen keine versöhnlichen Töne an. Menschen, die man eigentlich liebte, wurden zu Objekten persönlicher Rachegelüste. Die besten Freunde verletzten einander tief in ihrer Seele. Die Familie Weissenquell brach immer mehr auseinander. Was war hier los?

“Wir sollten versuchen, Gudekar aufzuhalten”, bestätigte Rionn die Absicht. Vielleicht konnte so alles geklärt werden? Vielleicht konnte Gudekar trotz allem dazu beitragen, diesen üblen Fluch aufzulösen?

Imelda nickte dem Tsageweihten zu. “Sollen wir dann zu zweit aufbrechen? Oder wollen wir vielleicht noch Hesindiard, Ritter Darian und Meister Limrog dazuholen? Eine geschickte Axt schadet vielleicht nicht, wenn wir in der Nacht im einsamen, dunklen Wald unterwegs sind?”

"Ich werde Euch meine Hündin mitgeben. Sie ist mit mir vertraut und wird ohne Probleme meine Witterung im Wald aufnehmen können", teilte Arda die Details ihres Plans. "Da ist nämlich noch etwas: Mika deckt ihren Bruder. Sie versteht nicht - will nicht verstehen, dass ihr Bruder um seiner selbst zur Rechenschaft gezogen werden muss. Sie idolisiert ihn. Deshalb wird sie mich zu Gudekar führen und niemand anderes. Aber meine tüchtige Tharga hier…" Die Baroness blickte sich um. Wo war die verdammte Töle?! Eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn.

Die Hündin indes hatte den Jagdhund Celio auf der anderen Raumseite aufgesucht, den sie von der Jagd kannte. Sie beschnüffelte dessen kalte Schnauze, hob den Kopf und stieß ein klagendes Jaulen in Richtung der Baroness aus.

Auch die Ingrageweihte sah in Richtung Thargas; es war ein herzzerreißender Anblick. “Ach je…”, sagte sie zu sich selbst und hätte die arme Hündin am liebsten sofort liebevoll in den Arm genommen, überließ dies jedoch deren Herrin.

Hündin? Vertraut? Rionn starrte Tharga an. Er konnte nicht einordnen, was ihn gerade irritierte. Als er sich wieder gefangen hatte, schüttelte er sich und bestätigte: “Ja, das können wir gerne so machen, Ardare. Ich denke, dein Hund vertraut Imelda und so wird er uns gut führen können…” Wieder hatte er den Eindruck, dass es nicht an Imeldas Vertrautheit lag. Aber er wollte sich nicht von allem irritieren lassen. Ich sehe schon Gespenster, dachte er. Rionn blickte auf und lächelte.

Arda ließ ihre Hündin gewähren. Sie war ganz froh über die Ablenkung und angenehm überrascht darüber, dass niemand Anstoß daran fand, Mikas Vertrauen auszunutzen.

Die Hündin beschnupperte den toten Gefährten noch einmal und kam dann mit hängendem Kopf wieder zurück zu ihrer Herrin getrottet.

"Nicht sentimental werden, Tharga", tadelte die Baroness, doch der Tonfall war tröstend und die Worte waren wohl eher an sich selbst gerichtet.

Die Hündin war viel zu groß, als dass Arda sich hätte herabbeugen müssen, um ihre Hand zwischen ihre Ohren zu legen.

Imelda schmunzelte zu der Hündin, als diese wieder bei ihrer Herrin war. “Tharga wird uns gewiss gut zu Euch führen. Aber wie genau stellt Ihr Euch das vor? Sollen wir einen Augenblick später aufbrechen oder ein halbes Stundenglas abwarten?”

Auch diese Modalität hatte die Baroness bedacht: "Ich sende Euch einen Boten, sobald wir losgelaufen sind. Wenn Ihr dann ebenfalls loslauft, werdet Ihr vermutlich etwa eine Viertelstunde nach uns an der Hütte sein."

“Oh, ein Bote? Was denn für ein Bote?”, wunderte sich Imelda, da ihr dieses Unterfangen etwas kompliziert erschien. “Hesindiard, möchtest du uns vielleicht begleiten? Es könnte gewiss nicht schaden, wenn du zu unserem Schutz dabei wärst.”

Die Baroness machte eine abwägende Geste: "Meinen Kutscher… oder meine Zofe… ich weiß es noch nicht. Einer von beiden wohl."

Der Tsageweihte stand dabei und grübelte. Bestand auch jetzt wieder die Gefahr der Eskalation? Wirkte auch jetzt der Widersacher Travias und sein Zwist und seine Spaltung? Sie mussten vorsichtig bleiben. “Das klingt so, als hättest du einigermaßen einen Plan. Gut. Wir warten auf das Signal und werden mit dem Hund folgen. Ich möchte dich aber bitten, möglichst nicht voreilig bereits zu versuchen, Gudekar zu überwältigen. Ich hoffe, er ist für Vernunft noch zugänglich.”

"Was soll ich alleine gegen ihn ausrichten?" antwortete Arda ausweichend. "Er ist ein approbierter Magier, und ich habe gerade einmal eine rudimentäre Ausbildung an der Waffe genossen."

“Mmh”, erwiderte Rionn und ein Lachen blitzte auf in seinem Gesicht, “ich habe gesehen, wie du Gudekar `überwältigt´ hast, nachdem du die Zwillinge zur Welt geholt hast…”

"Das war ein billiger Trick, und er wird mir kein zweites Mal gelingen", antwortete Arda und versuchte ernst zu bleiben.

Imelda, die nicht wusste, worauf Rionn und Ardare anspielten, runzelte verwundert die Stirn, sagte aber nichts dazu. Fragend blickte sie noch immer in Hesindiards Richtung.

Nun schaute auch Rionn erwartungsvoll zu Hesindiard - immer noch vor Freude strahlend.

Der Krieger, der niemandem ins Wort fallen wollte und deshalb gewartet hatte, antwortete: "Selbstverständlich könnt ihr mit meinem Schutz rechnen."

“Gut”, kommentierte Rionn knapp Hesindiards Einwilligung.

Die junge Geweihte nickte dem Krieger erleichtert zu. “Vielen Dank, Hesindiard! Ich bin wirklich froh, dass du mitkommst.”

Argwöhnisch beobachtete Nivard die leise Unterredung Rionns und Imeldas mit der Kaldenbergerin. Was das wieder zu bedeuten hatte? Wieder eine böse Wendung? Als ob der Abend nicht bereits mehr als zu viele davon gehabt hätte. Schließlich übermannte ihn das Unbehagen und er trat geradewegs zu den dreien. "Neuigkeiten?" unterbrach er deren Gespräch. "Die man wissen müsste?"

Arda wusste nicht, wie der neu zur Gruppe hinzugetretene Ritter zu Gudekar stand, weswegen sie eine Geste in Richtung Imeldas machte. Gleichzeitig trat sie einen halben Schritt zurück und wandte sich halb von der Gruppe ab. Schließlich hatte sie noch jede Menge vorzubereiten… und waschen, waschen wollte sie sich auch.

Ihr Zögern diente dem Zweck, für letzte Rückfragen ansprechbar zu sein.

“Wir wollen noch einmal versuchen, mit Gudekar zu sprechen, Nivard”, antwortete Rionn dem Tannenfelser. “Möchtest du hier Wacht halten oder mitgehen?”

Als Imelda Nivards verwirrten Gesichtsausdruck sah, fuhr sie sich nachdenklich durchs Haar und überlegte, wie sie die Geschehnisse am besten knapp zusammenfassen konnte. “Ähm, also Gudekar hat vorhin einen Zauber auf seine Frau angewendet, einen Beherrschungszauber, um sie gefügig zu machen. Und dann hat er sie in Schlaf versetzt und ist mit Meta geflohen”, berichtete sie mit nüchterner Stimme. “Es gibt den Verdacht, dass auf seiner Seele ein schädlicher Einfluss liegt und er irgendwie auch Kontakt mit dem Paktierer hatte - deshalb müssen wir ihn aufhalten. Im Moment verstecken sich die beiden wohl in einer Hütte im Wald. Gudekars Schwester MIka will ihm zur Flucht verhelfen und die brave Tharga hier”, die Geweihte kraulte die Hündin liebevoll hinter den Ohren, “...wird uns dorthin führen.”

Als ob er es gewusst hätte. Dass ein Schatten auf Gudekars Seele lastete, hatten sie alle bereits vor Stunden geahnt, und nun verdichteten sich also die Hinweise. Dass die Schrecken an diesem Abend noch immer nicht vorbei sein könnten, ebenfalls befürchtet. Nivard hasste es, in beidem Recht zu behalten. Eigentlich hatte er jetzt hier Totenwacht für Rondrard halten wollen. Doch war dessen Leben nicht mehr zu retten, und von des Bruders Haupt oder dessen Verpackung ging nun auch gesichert keine Gefahr mehr aus. In Gudekar aber drohte die Seele eine Freundes in den Abgrund gezogen zu werden. 'Verzeih mir, mein Bruder. Die Zeit für Dich zu beten, wird kommen. Ich werde lange für Dich beten. Und ich werde nicht eher ruhen, bis Dein Leib nach Hause gekehrt und in Tannenfelser Erde gebettet sein wird. Doch jetzt gilt es, einen Freund zu retten.'

Nivard straffte sich. "Ich komme mit."

Arda wandte sich abermals an Imelda: "Nun, Euer Gnaden, ich lege es in Eure Hand, die Gruppe auszuwählen und anzuführen. …und auf meine Hündin aufzupassen. Es gibt wenig auf dem Derenrund, das mir so viel bedeutet wie sie."

"Ich?!" sah Imelda zunächst verblüfft zur Baroness. Dann nickte sie Ardare zu. "Selbstverständlich, Wohlgeboren! Ihr könnt Euch auf uns verlassen.” Sie schaute in die Runde: “Also, neben Tharga würden uns, wie ich sehe, noch die Herren Krieger Nivard und Hesindiard, sowie Seine Gn… ähm, Rionn begleiten, nicht wahr?”

Der Tsageweihte nickte nur bestätigend, dass er mitgehen würde.

Hesindiard tat es ihm gleich.

“Wohlgeboren kommen nicht mit?” wunderte sich Nivard, warum der Hund sie ohne seine Herrin führen sollte.

Imelda schüttelte energisch den Kopf. “Doch, natürlich! Die Baroness will mit Mika vorangehen zu dem Ort, wo Gudekar sich aufhält. Und Tharga wird dann die Witterung ihrer Herrin aufnehmen und uns alle da hin geleiten.”

Nivard stutzte. "Und warum gehen wir nicht gleich alle mit Mika?"

“Mika möchte Gudekar bei der Flucht helfen. Sie hat zugestimmt, die Baroness zu seinem Versteck zu führen, weil sie glaubt, dass Ihre Wohlgeboren sie bei diesem Plan unterstützen wird.” Imeldas Antlitz war anzusehen, dass ihr die Täuschung ihrer Freundin überaus unangenehm war. “Ja, es ist ein phexischer Plan und ich wäre normalerweise dagegen - doch geht es uns auch darum, Mika davon abzuhalten, sich noch tiefer in die Sache zu verstricken. Und die Zeit drängt, weil Gudekar und Meta im Morgengrauen das Dorf verlassen wollen.”

"Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich sie vorhin schon aufgehalten. Dann wäre Mika gar nicht erst da rein geraten", merkte Hesindiard zerknirscht an. Doch er hatte sich untergeordnet und nichts unternommen.

Imelda sah den Krieger mit großen Augen  an. “Aber… wir wussten zu dem Zeitpunkt nicht, dass Gudekar auch mit dem Pruch in Kontakt steht.” Sie zuckte mit den Schultern. “Es war nicht der richtige Moment, um sie aufzuhalten. Sie waren fest entschlossen, ihre Flucht fortzusetzen und uns im Wald zurückzulassen.”

“Ich weiß, aber uns Kriegsvolk wird beigebracht, dass Flucht an sich ein Verbrechen ist. Ich hätte Euch das klar machen müssen, anstatt zu schweigen. Im Kriegsfall ist es vergleichbar mit Hochverrat.”

Die junge Geweihte legte sanft ihre Hand auf die Schulter des Kriegers. “Weiß ich, Hesindiard. Ich bin unter Rittern aufgewachsen und mir dessen bewusst. Aber mach’ dir bitte keine Vorwürfe.” Sie versuchte, sich ein aufmunterndes Lächeln abzuringen, was ihr nicht wirklich gelang. “Ach, weißt du, wir wussten ja noch nicht einmal, dass sie wirklich auf der Flucht sind. Und weshalb sie…”, nachdenklich wanderten die Augen Imeldas zur Seite. “...nein, du hast recht. Wir hätten sie aufhalten sollen, aber wir sind alle nur Menschen und machen Fehler. Genau aus diesem Grund werden wir ihnen nun folgen und sie wieder auf den rechten Weg führen! Meinst du nicht?”

“Ja, das werden wir. Ich hoffe nur, dass die beiden nicht auf dumme Gedanken kommen.” Der Krieger seufzte. “Heute ist schon genug Blut geflossen.”

"Das sehe ich auch so", bemerkte Nivard. Ihm gefiel die Sache nicht. Es waren zuviele Leute mit unterschiedlichen Zielen und Motivationen beteiligt, und nicht alle waren im Bilde, was die anderen jeweils wollten. Darin schlummerten erhebliche Gefahren. "Hoffen wir, dass nicht nur Gudekar und seine Flamme vernünftig bleiben, sondern auch die Novizin. Ich kenne sie kaum, aber ihr Herz kam mir größer vor als ihre Überlegungen. Und vertrauen wir darauf, dass die Baroness..." er schaute zu Arda, "weiß, was sie tut."

Der ältere Ritter Jartgar von Immergrün räusperte sich. “Ich werde derweil nach meiner Mutter sehen. Sie müsste sich noch hier im Gutshaus aufhalten.”

Schließlich brach Ardare auf, um sich vorzubereiten und dann Mika zu treffen, die vielleicht schon auf sie wartete, was jedoch in den Überlegungen der Baroness nachgelagerte Priorität besaß.

Zurück blieben die verbliebenen Mitglieder der Totenwache und die Gruppe, die Gudekar zur Rede stellen wollte. Da es insbesondere für Imelda schwer war, den Anblick der vielen Toten, verstümmelt noch dazu, zu ertragen, ging die Gruppe in den großen Saal.

Weil Rionn der Überzeugung war, dass das dämonische Übel von der Kiste mit dem Kopf gefahren war, hatte er Rahjels Tuch mitgenommen, in der Hoffnung, es dem Rahjageweihten bald wieder zurückgeben zu können.

Das Kaminzimmer wäre zum Warten gemütlicher gewesen, doch, obwohl sich Rionn sicher war, dass dort keine dämonische Präsenz (mehr?) vorhanden war, hatten sie ein schlechtes Gefühl, sich in dem kleinen Raum aufzuhalten. Lediglich Rionn schaute noch einmal hinein. Ihm stach sofort der präparierte Schädel eines Steinbocks auf, der an der Wand hing und über den Raum zu wachen schien. Ein prächtiges Tier! Schade, dass es nicht mehr leben durfte, dachte Rionn. Wieso war es ihm vorhin nicht aufgefallen?  

So nahmen sie an der langen Tafel Platz und bedienten sich an dem Wein, der noch von den Gesprächen am früheren Nachmittag bereit stand. Tharga legte sich neben die Eingangstür und legte den Kopf auf ihre Pfoten. Für einen Außenstehenden sah es aus, als würde sie schlafen, doch wachsam achtete sie auf ein Zeichen ihrer Herrin.

So wartete die Gruppe auf die Nachricht der Baroness, dass es Zeit zum Aufbruch wäre.

~ * ~

Einen Plan zu teilen

Nachdem Ardare von Kaldenberg die Geweihten Imelda von Hadingen und Rionn von ihrem Plan überzeugt und sie zur Beteiligung überredet hatte, machte sie sich auf den Weg zum Gasthaus, um die nächsten Schritte vorzubereiten.

Sie hatte den Gutshof verlassen und gerade die Kreuzung zur Straße von Schlatt nach Hart erreicht, als ihr aus der Dorfmitte zwei Gestalten entgegenkamen. Im flackernden Schein der Laterne, die der Mann trug und die die Dunkelheit der Nacht nur spärlich vertrieb, erkannte sie den Sohn des Edlen, den Ritter Kalman und Gudekars Frau Merle, die die weinerliche Tochter Liudbirg auf dem Arm trug. Auch Kalman hatte sie entdeckt, aber scheinbar noch nicht erkannt.

“Halt, in Rondras Namen! Wer seid Ihr? Gebt Euch zu erkennen!” rief Kalman der Baroness entgegen.

Merle hielt sich hinter Kalman und schaukelte ihre Tochter sanft auf dem Arm. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie in die Dunkelheit zu der sich nähernden Gestalt.

"Ardare von Kaldenberg", gab die Angesprochene zurück, nicht ohne Ennui in der Stimme. Sie ihrerseits hatte Kalman von Weissenquell erkannt, er hatte sie ja erst unlängst mit fast denselben Worten angesprochen. Sie fühlte etwas Unruhe, weil sie bereits längere Zeit im Herrenhaus verbracht hatte als geplant. Zudem barg ein Gespräch mit Kalman einiges Potenzial, die bisherigen Pläne über den Haufen zu werfen.

Erst als Arda die andere Gestalt erkannte, löste sich ihr Unwille, ohne jedoch ganz zu verschwinden.

Versuchsweise ging sie weiter, in der Hoffnung, dass der Weissenqueller sie gehen ließ, ohne ihr eine Unterredung aufzuzwängen.

“Euer Wohlgeboren...", meldete sich Merle zögerlich zu Wort, "...bitte entschuldigt." Sie trat einen Schritt vor, neben Kalman. Ihr Blick wirkte unbehaglich, fast schuldbewusst. "Ich, ähm… habe meinem Schwager sagen müssen, was… Mika vorhat."

Die Baroness seufzte, fasste sich an ihre Nasenwurzel. Das wurde hier immer komplizierter. "Ich werde mit Eurer Schwester zu dieser Jagdhütte gehen. Wenn mein Plan aufgeht, werde ich mit Eurer Schwester und Eurem Bruder zurückkehren." sagte sie, ihre Worte sorgsam abwägend zu Kalman.

"Ich… bin seit unserem Gespräch zu der Einschätzung gelangt, dass das Verhalten Eures Bruders… dass es unklug wäre ihn in die Welt hinausziehen zu lassen, ohne hier… Vorfälle aufzuklären und abzuschließen." Sie hob entschuldigend die Arme: "Die Gelegenheit dafür entstand spontan und ich sah mich nicht in der Lage Euch einzubinden, ohne… die Gelegenheit verstreichen zu lassen."

„Doch nun seid Ihr in der Lage dazu!“ warf Kalman ein. „Mit Verlaub, Euer Wohlgeboren, so wie ich es verstanden habe, will Mika meinem Bruder zur Flucht verhelfen und Ihr habt ihr Unterstützung diesbezüglich zugesagt. Mir gegenüber äußert Ihr eine gegenteilige Absicht. Ihr spielt ein doppeltes Spiel. Wem gaukelt Ihr nun etwas vor, zu wem seid Ihr aufrichtig?“

Das Gesicht der Baroness verfinsterte sich und es ging schlagartig eine emotionale Eiseskälte von ihr aus. "Ihr wollt meine Aufrichtigkeit infrage zu stellen?"

Kalman blickte etwas betreten zu Boden. “Ähm, nein, Euer Wohlgeboren. Das steht mir mir nicht zu. Ich, ich frage mich nur, wenn Ihr meinem Bruder entgegentreten wollt, seid Ihr sicher, dass Ihr dies allein tun solltet. Ich meine, wenn Mika ihm zur Flucht verhelfen will und er seine Ritterin an seiner Seite hat, wie wollt Ihr ihn dann allein an der Flucht hindern, mit Verlaub, ohne Eure Entschlossenheit abstreiten zu wollen. Vielleicht sollte ich Euch zur Unterstützung begleiten? Denn auch ich habe ein Interesse daran, dass sich Gudekar nicht einfach so aus dem Staub macht und seine Frau und Kind”, er deutete auf Merle und Lulu, “ zurücklässt.”

"Ihr haltet mich also für unaufrichtig und dumm?!" Die Baroness verschränkte die Arme. Ihre Stimmung hatte sich nicht im Geringsten gebessert.

"Ich versuche, Eure Schwester vor sich selbst zu schützen", log Arda, "und bin dabei loyaler zu ihr, als sie zu sich selbst. Und ich bin bereit, ihr Vertrauen in mich zu opfern, um ihr zu helfen." Emotionen schwangen in ihrer Stimme mit, als hadere sie mit den Folgen des Opfers, das sie zu erbringen bereit war.

"Und selbstverständlich trete ich Eurem Bruder NICHT alleine gegenüber, haltet Ihr mich für schwachsinnig? Offensichtlich" - Arda deutete auf Merle - "versteht er sich auf finstere Geistesmagie. Ich habe stattdessen eine Gruppe von Priestern und Kämpfern requiriert, die Mika und mir in gebührendem Abstand folgen werden. Es ist alles bereits vorbereitet, die Gruppe wartet am Herrenhaus auf mein Zeichen."

Kalman nickte zufrieden. “Gut, dann lasst mich Euch begleiten, Euer Wohlgeboren. Ich kenne meinen Bruder und weiß, wie ich ihn zur Vernunft bringen kann.”

“Ich weiß nicht, ob du Gudekar zur Vernunft bringen kannst, Kalman…”, murmelte Merle zweifelnd. “Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir wirklich vorstellen, dass er seine Magie auch gegen dich einsetzen würde. Oder dass der Einfluss, unter dem er möglicherweise steht, plötzlich stärker wird und ihn etwas tun lässt, was er selbst nicht will. So wie Vater Friedewald, als er fast die Zehntscheuer abgebrannt hätte.” Merles Stimme war die Besorgnis anzuhören; beschützend drückte sie Lulus Kopf an ihre Halsbeuge.

"Meinetwegen, kommt mit." antwortete die Baroness ohne Begeisterung.

Obwohl Arda die Zeit drängen spürte, kam sie, neugierig wie sie war, nicht umhin zu fragen: "Vater Friedewald? Zehntscheuer abgebrannt? Was ist da passiert?"

Kalman blickte die Baroness verwundert an. Sie war vorhin dabei gewesen, als Kalman davon berichtet hatte. „Nun, es gab unter den Menschen in der Zehntscheuer einige, nun, Verwirrungen, von denen auch mein Vater betroffen war. Seine Angst vor Dunkelheit nahm beängstigende Ausmaße an.“

"Ah." kommentierte sie das Gehörte einsilbig. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Geschichte schon gehört oder überhört hatte, oder nicht.

Dann stieß Kalman etwas auf. „Moment! Ihr sagtet, eine Gruppe Verfolger? Geweihte und Kämpfer? Das klingt für mich nicht nach dem Versuch einer friedlichen Lösung! Wer gehört dieser Gruppe an?“ Kalman war sichtlich irritiert und besorgt.

“Nun ja, du würdest die Geweihten doch nicht ohne Schutz in den Wald schicken, oder, Kalman?” wandte Merle mit ebenso besorgter Miene ein. “Abgesehen von der Gefahr durch den Paktierer - Gudekar könnte wie gesagt unberechenbar sein. Und auch wenn du sagst, dass seine Ritterin einen ‘vernünftigen’ Eindruck auf dich macht - wie vernünftig kann eine Frau sein, die sich sehenden Auges in einen Traviabund drängt, die bewusst versucht, eine Familie auseinanderzureißen? Welche rechtschaffene, götterfürchtige Ritterin würde so etwas ganz offen und selbstverständlich tun - und sich dabei noch nicht einmal ihrer Schuld bewusst sein?” Sie verzog unwillig das Gesicht, als sie an ihre Konfrontationen mit Meta dachte, dann schaute sie Kalman eindringlich an. “Deshalb denke ich schon, dass es notwendig ist, da nicht allein und unvorbereitet hinzugehen. Das habe ich vorhin auf die bittere Art lernen müssen, als Gudekar mich um eine ‘friedliche’ Unterredung bat.”

Kalman kratzte sich am Kinn. Nachdenklich redete er vor sich hin. „Eigentlich widerstrebt es mir, die Ritterin in Schutz zunehmen. Doch muss ich sagen, ich habe vorhin mit der Dame Croy gesprochen, und sie hat mir glaubwürdig versichert, dass es nicht ihr Ziel sei, Gudekars Familie, ähm, eure Familie zu zerstören. Sie versprach mir, Diskretion…“ Er brach ab, als ihm bewusst war, dass Merle dies vermutlich nicht so positiv sehen würde, wie er. Er biss sich vor Ärger über seine Worte auf die Zunge.

Verständnislos schüttelte Merle den Kopf. "Die 'Dame' Croy stand daneben, als Gudekar einen Zauber auf mich wirkte! Sie hat meinen Mann davon überzeugt, sich von mir zu trennen, mich und unsere Tochter zu verlassen! Sie will und wird mit ihm in die Rabenmark gehen, um dort öffentlich, in der verlogenen Täuschung eines echten Traviabundes, wie Mann und Frau zusammenzuleben! Angeblich haben die beiden schon eine gemeinsame Anstellung beim Baron von Tälerort..." Merle versuchte - auch wegen des halb eingenickten Kindes auf ihrem Arm - nach außen hin ruhig zu bleiben; dennoch klang ihre Stimme gepresst und nur mühsam beherrscht. "Wo ist da bitte die versprochene 'Diskretion'? Was daran bedeutet nicht die Zerstörung dieser Ehe, dieser Familie; was von ihren Plänen hört sich in deinen Ohren 'vernünftig' an?!" Sie sah ihrem Schwager verwundert, aber auch herausfordernd ins Gesicht, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie tatsächlich eine ernsthafte Antwort von ihm erwartete.

Ardas Kiefer mahlten. Ungeduld mit dem Sohn des Edlen und die Sorge, dass er die schon so weit gediehenen Pläne zunichte machen könnte, ließen Ardas Emotionen hochkochen: "Vielleicht ist es Euch entgangen, aber Lützeltal ist zurzeit kein friedlicher Ort, und Euer Bruder zurzeit möglicherweise kein friedlicher Mann! Ich werde nach bestem Gewissen handeln und danach für mein Handeln geradestehen. Ich werde nicht ohne Bedeckung durch den Wald laufen, solange ein Paktierer und seine Schergen hier ihr Unheil treiben, nur damit Euer Bruder sich bei unserem Anblick nicht erschreckt!" warf sie Kalman mit gebremster Wut an den Kopf. "Euer Bruder hat schon genug Nachsicht erhalten! Und seht, wie weit es gekommen ist! Was ist mit der Rücksicht gegenüber seinen Opfern, gegenwärtigen und zukünftigen? Sagt mir, wusstet Ihr etwa auch von dem Ehebruch Eures Bruders und habt ihn vor seiner Ehefrau gedeckt und ihr ins Gesicht gelogen? 'Oh, man kann ihm nicht böse sein! Wir wollten alle nur, dass er glücklich ist…'" Die Baroness äffte Mikas Argumente nach, die sie jetzt auch bei Kalman rausgehört haben wollte. Mit Härte in der Stimme verkündete sie: "Jetzt ist Schluss mit diesem Theater! Gudekar wird mit uns zurückkehren, ob er sich nun einsichtig gibt oder nicht! Stellt Euch mir in den Weg, und erleidet die Konsequenzen!"

“Ich werde mich Euch nicht in den Weg stellen, ich bestehe nur darauf, dabei zu sein! Noch ist es der Boden des Lehens meines Vaters, auf dem er verweilt. Und er ist mein Bruder. Die Familie Weissenquell ist noch immer verantwortlich, sein Handeln zu richten.” Kalmans Blick auf die Baroness machte deutlich, dass er hier keinen Widerspruch duldete. Er machte das Recht des Lehensherren, der sein Vater war, geltend. “Und was die Beziehung meines Bruders zu der Ritterin angeht, so habe ich es nicht gewusst. Doch ich habe Augen im Kopf und kann eins und eins zusammenzählen. Es war offensichtlich, welche Maskerade sie hier spielen.” Dann wandte er sich Merle zu. “Ja, ich habe die Ritterin vorhin diesbezüglich zur Rede gestellt. Und sie beteuerte mir, dass sie nicht vorhabe, dich zu demütigen. Ich bin überzeugt, Gudekar spielt auch mit ihr ein doppeltes Spiel. Ich glaube, er hat ihr Hoffnungen gemacht, die einzuhalten er nicht in der Lage ist, jedenfalls nicht, ohne einen Frevel zu begehen. Auch die Dame Croy hat einen gewissen Stolz, und sie bat mich ebenfalls darum, nicht gedemütigt zu werden. Ich glaube nicht, dass der offene Bruch mit dir von ihr verlangt wurde.”  

"Kalman, merkst du nicht, wie lächerlich du dich machst mit deiner aberwitzigen Verteidigung dieses Weibsstücks? Was hat sie heute denn den ganzen Tag getan, außer mich bloßzustellen! Was ist daran keine Demütigung, vom eigenen Gemahl betrogen und sitzengelassen zu werden?! Und was tun die beiden seit zwei Götterläufen, wenn nicht freveln! Tu doch nicht so, als wäre diese feine ‘Dame’ ein unschuldiges, unwissendes Opfer von Gudekars Ränkespiel! Sie ist es, die ihn dazu drängt, mich zu verstoßen, mich wieder und wieder zu demütigen! Sie will mir meinen Ehemann stehlen!" Sichtlich konsterniert kniff Merle die Augen zusammen und warf einen schnellen, hilfesuchenden Seitenblick zu der Baroness. Sie konnte nicht fassen, dass ihr traviafrommer, rechtschaffener Schwager Gudekars ehebrecherische Buhle tatsächlich noch verteidigte. "Hat sie dich auch verhext? Oder willst du einfach nur den Gedanken nicht zulassen, dass du von einer Ritterin schamlos belogen worden sein könntest?" Sarkastisch verdrehte sie die Augen. “Denn falls du es noch nicht gemerkt haben solltest - im Lügen und Betrügen haben Gudekar und seine Gespielin ein kleines bisschen Erfahrung.”

Kalman atmete tief durch. Er verstand Merles Ärger. Und natürlich konnte er diese Affäre nicht dulden. Und dennoch hatte er den Eindruck gehabt, dass die Dame Croy viel mehr selbst ein Opfer als die Treiberin in diesem Spiel war. Und, auch wenn es Kalman nicht gefiel, so wusste er, dass heimliche Affären selbst in den Nordmarken öfter vorkamen, als der Traviakirche lieb war. Und er wusste, dass diese selbst von vielen Adeligen geduldet wurden, solange diese mit einer gebührlichen Diskretion ausgelebt wurden. Und letztlich hatte er die Ritterin genau darum gebeten. Und sie hatte es ihm zugesagt. Und er hatte keinen Grund, an dem Ehrenwort der Ritterin zu zweifeln.

Doch all dies konnte er Merle nicht ins Gesicht sagen. So seufzte er lediglich. Schließlich musste es doch Gudekar gewesen sein, der den Treueeid so öffentlich missachtete. “Ich möchte meinen Bruder stellen! Er soll mir erklären, was er vorhat, und wie er denkt, dass es mit seinem Schwur vor Travia vereinbar ist. Ich möchte von ihm hören, was es mit dieser Reise, die er vor hat, auf sich hat.”

Merle nickte fest entschlossen. “Ja, das würde ich auch gerne von ihm hören. Auch wenn ich dir jetzt schon voraussagen kann, dass seine Pläne ganz sicher nicht mit seinem Schwur vor Travia vereinbar sind. Glaub mir, Gudekar hat mir heute selbst ins Gesicht gesagt, dass er sich von mir trennen und die Brücken zu seiner Familie abbrechen will. Mehrmals hat er das gesagt! Er hat verkündet, dass er die Ritterin als seine Zukunft und als die eigentliche Frau an seiner Seite sieht. Deshalb will er mit ihr nach Tälerort gehen und niemals zu mir zurückkehren." Merle versuchte ein paar Mal tief ein- und auszuatmen, um nicht lauter zu werden und Lulu zu erschrecken. Ihr durchdringender Blick fixierte Kalmans Augen. "Bei bestem Willen erschließt sich mir nicht, wie ein solches Vorhaben nicht frevelhaft sein könnte. Aber wenn du die Fantasie besitzt, mir das zu erklären, Kalman, nur zu."

“Ich habe nicht gesagt, dass sein Verhalten nicht frevelhaft sei. Ich sagte nur, dass die Dame Croy…, ach, lassen wir das. Jetzt sollten wir lieber sehen, wie wir seiner habhaft werden.” Damit wandte sich der Lützeltaler Ritter an die Baroness. “Ich kenne die Details Eures Planes nicht, Wohlgeboren. Aber ich werde mich Eurem Vorhaben anschließen, so oder so. Doch was denkt Ihr, sollte ich Euch nun begleiten, wenn Ihr zu meiner Schwester geht, oder sollte ich mich der Gruppe der anderen von Euch akquirierten Häscher anschließen?“

"Wenn mein Plan irgendeine Aussicht auf Erfolg haben soll, solltet Ihr Euch nicht Mika und mir anschließen. Und wenn Ihr von den Leuten, die sich freiwillig in Gefahr bringen, um Euren Bruder auf den richtigen Weg zurückzuführen, als 'Häscher' sprecht, solltet Ihr hierbleiben und erstmal ernst mit Euch selbst ins Gericht gehen, bevor ihr vielleicht mit Eurem Handeln diese aufrechten Leute in Gefahr bringt."

Sie verzog das Gesicht: "Im Übrigen geht die Schwere der Vorwürfe gegen Euren Bruder weit über das hinaus, was 'Eurer Familie' und einem Edlen zu richten in der Lage wäre. Er ist kein Hühnerdieb!! Die Zuständigkeit liegt längst nicht mehr bei Euch, und die Art und Weise, wie dieser Fall den nächsthöheren Instanzen angedient wird, wird entscheiden, ob IHR einstmals Eurem Vater als Edler nachfolgt - oder ob Euer Vater als Edler noch tragbar ist!"

Drohend hob sie den Finger: "Also kommt mir nicht mit Zuständigkeiten! Das ist Euch längst über den Kopf gewachsen! Die Familie Weissenquell ist auf jeden Fürsprecher von Stand angewiesen, die sie bekommen kann, um mit aus DIESEM Schlamassel herauszukommen!"

Die Provokation der Baroness traf Kalmans Stolz mit einem schweren Schlag, und so wandte er sich an Merle. „Komm, Kleines, die Baroness bedarf scheinbar unserer Hilfe nicht.“ Er hatte keine Lust, mit dieser jungen Dame über Zuständigkeiten zu streiten. Am Ende war schließlich die Vögtin die ranghöchste Instanz vor Ort und im Gegensatz zur Kaldenbergerin für das Albenhuser Grafenland zuständig. Doch war sich Kalman auch bewusst, dass Ardare nicht Unrecht hatte. Die Gefahr bestand durchaus, dass Wirta von Dürenwald zumindest vorübergehend jemanden in das Lehen schickte, um die Vorgänge aufzuklären, wenn sie von dem vollen Ausmaß der Geschehnisse erfuhr. Insbesondere, nachdem auch Vater heute fast des Wahnsinns anheim gefallen war. Je mehr er selbst im Vorfeld zur Klärung beitragen konnte, umso geringer war die Gefahr, dass Ardares Worte wahr werden konnten. Doch schien die Baroness kein Interesse zu haben, der Familie wirklich zu helfen. Deshalb musste er nun wohl selbst tätig werden.

"Gehen? Wohin?" fragte Merle verwirrt. "Doch zur Vögtin?"

Ärgerlich blickte Kalman nun Merle an. Seine Lippen formten lautlose Worte. Merle war sicher, dass er ‚Bist du des Wahnsinns?‘ sagen wollte. Nur Adare konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, was Kalman da sagen wollte.

Merle schaffte es nicht, ein genervtes Augenrollen zu unterdrücken. Woher sollte sie wissen, was Kalman vorhatte? “Ähm, Kalman…”, fing sie mit vorsichtiger und leiser Stimme an. “Mika weiß, wo Gudekar ist und möchte Ihre Wohlgeboren dorthin führen. Und offenbar haben sich bereits vertrauenswürdige Leute bereitgefunden, sich dem Unterfangen anzuschließen. Ich fürchte, dass wir nicht allzu viel Zeit haben, jetzt noch einen anderen Plan zu schmieden…” Hilflos hob sie die Schultern. “Sonst ist Gudekar über alle Berge verschwunden.”

„Und deshalb haben wir keine Zeit, die Vögtin einzubinden. Bis sie umfassend informiert ist, Entscheidungen getroffen hat und ihre Leute zusammengerufen hat, ist Gudekar sicher schon weg.“ Etwas lauter mit einer deutlichen Spitze gegen Ardare sprach er weiter: „Da die Baroness ja aber bereits einen ausgereiften Plan ersonnen hat, um das Haus Weissenquell vor seinem Untergang zu bewahren, und bereits eifrig dabei ist, diesen in die Tat umzusetzen, wollen wir sie davon nicht länger abhalten. Komm, Merle, wir lassen sie handeln und ziehen unserer Wege. Vielleicht können wir derweil ja den Gästen etwas Wein einschenken, sofern wir noch reinen Wein im Dorf finden.“ Nach diesen Worten zog er Merle zur Seite und fing an in Richtung Herrenhaus zu gehen.

“Warte, Kalman!” Merle versuchte trotz Lulu auf dem Arm, sich dagegen zu wehren, einfach mitgezerrt zu werden. “Ich verstehe nicht, was du jetzt vorhast. Was soll das heißen, ‘ziehen unserer Wege’? Willst du dich nun den Geweihten anschließen oder nicht?" Sie löste sich vollständig von ihrem Schwager und trat noch einmal der Baroness gegenüber. "Wohlgeboren von Kaldenberg, Ihr habt heute so viel für uns getan", erklärte sie ohne Ironie, sondern mit sichtlicher, aufrichtiger Rührung und Dankbarkeit, “für mich, Mika und für diese Familie. Wie können wir das jemals wieder gutmachen?”

Kalman verdrehte die Augen, entschied aber, dass es wohl besser war, einer Antwort der Kaldenbergerin nicht zuvorzukommen oder gar Merle zu widersprechen.

Arda war überrumpelt von den Worten der jungen Mutter. In ihr mischte sich schlechtes Gewissen mit Dankbarkeit für die Anerkennung, die ihr zuteil wurde. Schmerzhaft wurde ihr bewusst, wie viel sie von dem einen und wie wenig von dem anderen erfuhr. 'Wie oft werde ich verkannt!', stellte sie nicht ohne Selbstmitleid fest.

Eine zarte Röte machte sich auf den Wangen ihres erschöpften Gesichts breit.

"Nun, nicht jeder sieht es so wie Ihr. Es ist bisweilen schwer, dem eigenen Herzen zu folgen, anstatt den… den einfachsten Weg zu gehen.", kommentierte sie verlegen.

Sie räusperte sich. "Das ist also Lulu?", fragte sie. Merles Lob hatte ihr jeglichen Wind aus den Segeln genommen und die Karavelle der wütigen Hast, auf der sie unterwegs war, zum jähen Stillstand gebracht. Für einen Betrachter von Außen mochte es skurril wirken, wie die hochfahrend bissige Baroness unversehens zur handzahmen Schoßhündin wurde.

Arda drehte sich so, dass sie der Kleinen ins Gesicht sehen konnte. Erinnerungen an ihre eigenen - nunmehr verstorbenen - Neffen und die Nichte wurden wach. "Wenn sie schlafen, sehen sie so selig aus wie Alveraniare…" kommentierte sie, in ihrer Stimme schwangen Melancholie und Schmerz mit.

‚Wenn sie so viel Freude an Kindern hat‘, dachte Kalman, ‚dann sollte sie am besten auf Lulu Acht geben und die Suche nach Gudekar mir überlassen.‘ Er ließ sich jedoch nichts anmerken und sagte erst einmal nichts.

"Ja, wenn sie schläft..." Merle schenkte Arda ein warmes, offenes Lächeln und hielt Lulu so, dass sie das Mädchen betrachten konnte. "Im Wachzustand spielt sie auch gerne mal den wilden Goblin." Als Merles Blick den von Arda traf, nickte sie ihr noch einmal verlegen zu. "Danke nochmal."

“Komm, Merle, nun lass uns gehen.” Kalman blickte ungeduldig.

Merle nickte und setzte sich in Bewegung, nicht ohne Ardare noch einmal sanft anzulächeln und ihr "Viel Glück!" zuzuraunen.

Arda blieb stehen und sah den sich Entfernenden hinterher. Ihre Gesichtszüge waren bewegungslos, beinahe schlaff. Sie fragte sich, was Gudekar nur für ein Idiot war, diese gute Frau, diese Verkörperung der gutherzigen Mutter, die so um ihn und seine Familie gekämpft hatte, ziehen zu lassen. Pruch musste dahinterstecken, zweifellos.

Nachdem die Baroness von Kaldenberg ihren Weg wieder aufgenommen hatte (langsam fragte sie sich, wie lange Mika wohl auf sie warten würde, bevor sie sich allein auf den Weg machte, Gudekar zu helfen; dann würde es deutlich schwieriger werden, Gudekar zu finden; und sie wollte sich erst noch frisch machen…), gingen Kalman und Merle zum Herrenhaus, um die Gruppe um die Geweihten Imelda von Hadingen und Rionn zu treffen. Kalman wäre am liebsten direkt zu der Hütte gegangen, in der er Gudekar und Meta vermutete, doch wusste er, dass Merle das auf eigene Faust nicht dulden würde. Und Merle zusammen mit Lulu mitzunehmen, wenn er alleine zu Gudekar ging, war ihm ebenfalls zu riskant. So entschied er sich, erst einmal mit den Geweihten zu sprechen.

~ * ~

Einen Plan in Frage zu stellen

Kalman und Merle betraten das Herrenhaus, um mit der Gruppe um die Geweihten Imelda und Rionn zu sprechen, die von der Baroness Ardare von Kaldenberg überredet worden waren, ihr und Mika zu folgen, um Gudekar und seine Ritterin Meta festzusetzen und an der Flucht zu hindern. Kalman war sich noch immer nicht sicher, was er von der Vertrauenswürdigkeit der Baroness halten sollte, und wollte deshalb selbst ein Auge auf dieses Vorhaben werfen. Sollte Ardare ein falsches Spiel spielen, würde er bereit sein, ihr Handeln zu unterbinden.

Merle trug noch immer die fast eingeschlafene Lulu. Das Kind saß auf der Hüfte seiner Mutter, wie sie es schon so oft getan hatte. Merle und Kalman hörten die Stimmen der Gesuchten aus dem großen Saal des Herrenhauses und betraten sogleich diesen Raum.

Kalman blickte sich kurz um, nickte den Anwesenden zu und ergriff dann sogleich das Wort. “Eure Gnaden, darf ich Euch kurz sprechen?”

Rionn seufzte ob der Anrede, war aber inzwischen zu müde, um ständig Widerspruch einzulegen. “Kalman. Ja, worum geht es?”

„Nun“, setzte Kalman an, „mir ist zu Ohren gekommen, dass die Baroness von Kaldenberg Hinweise auf den Verbleib meines Bruders hat und Euch gebeten hat, ihr dorthin zu folgen.“

Merle stand still neben Kalman und wiegte Lulu sachte hin und her. Sie wartete aufmerksam ab, was die Geweihten sagen würden.

“Ganz richtig…”, nickte Imelda den beiden Neuankömmlingen zu. “Ihre Wohlgeboren wird uns wohl gleich Bescheid geben lassen; dann werden wir aufbrechen und hoffentlich nur kurze Zeit nach Mika und der Baroness bei dem gelehrten Herrn Gudekar eintreffen.” Die Hadingerin war unentschlossen, wie die Gattin des Sünders auf dieses Vorhaben reagieren würde und versuchte ihr bewusst nicht direkt in die Augen zu schauen. “Freundlicherweise werden uns Seine… also Rionn, und die Krieger Nivard und Hesindiard begleiten. Und hinführen wird uns Tharga.” Sie blickte stolz auf die liegende Hündin und kniete sich zu dieser, um ihr im Nacken zu kraulen.

Nivard suchte den Blickkontakt mit Merle, schon bevor und während Imelda sprach, hoffte zu ergründen, wie es ihr ging. So viel war geschehen an diesem schier nicht enden wollenden Tag des Schreckens, über sie hereingebrochen... über sie alle, aber ganz besonders auch über Merle.

Als Imelda schloss, fügte er leise, doch nichtsdestoweniger entschlossen hinzu: "Wir werden Gudekar aufhalten, den größten Fehler seines Lebens weiter zu begehen. Und versuchen, ihm zu helfen." Sie sollten wissen, dass es nicht darum ging, einen Schuldigen zu jagen. Sondern einem Freund zu helfen. Und seiner Frau.

“Ich werde euch begleiten”, erklärte Kalman. Der Ton in seiner Stimme machte deutlich, dass dies keine Bitte war und er keinen Widerspruch duldete. “Ich an Eurer Stelle wäre vorsichtig, der Baroness zu trauen, sie spielt ein doppeltes Spiel.”

“Ein doppeltes Spiel?”, fragte die Ingrageweihte verblüfft und erhob sich wieder. “Was lässt Euch glauben, dass dem so ist? Und was plant die Baroness Eurer Meinung nach?”

“Was die Baroness wirklich vorhat, weiß ich nicht.” Kalman kratzte sich am Kinn. “Doch war sie entweder zu mir oder zu Mika nicht aufrichtig. Mir sagte sie, sie wolle Gudekar festsetzen und ins Dorf zurückbringen. Mika hingegen hat sie wohl gesagt, sie würde sie unterstützen, Gudekar bei seiner Flucht zu helfen. Sie manipuliert die Leute. Ich weiß weder, was ihre Intention ist, noch, welches Ziel sie letztlich verfolgt. Ich bin mir sicher, sie hat ihre eigenen Ziele und versucht uns auszunutzen, indem sie uns gegeneinander ausspielt. Jedenfalls versucht sie Misstrauen zwischen meiner Schwester und mir zu säen.”

Das Gesicht des Tsageweihten wurde ernst. Er hob die Augenbrauen und seufzte vernehmlich. War es nicht genau das, was er befürchtet hatte?

Imelda biss sich unsicher auf die Unterlippe. So, wie es der Herr Kalman darstellte, hörte sich das nicht wirklich ehrenhaft an. Ein Verhalten, was so gar nicht zu einer Baroness passen sollte. “Nun, Ihre Wohlgeboren hatte uns freimütig eröffnet, dass sie Eurer Schwester gegenüber nicht ganz aufrichtig ist. Ein Mittel zum Zweck, was wohl bedauerlicherweise notwendig ist, um Euren Bruder und die…”, erneut versuchte Imelda nicht in Richtung Merles zu schauen, “...und die Ritterin Meta Croy aufzuspüren. Dies jedoch nur in der einzigen Absicht, Euren Bruder zu retten und auf den rechten Pfad der Tugenden zurückzuführen.”

“Kalman, wenn die Baroness Mika nicht angeboten hätte, ihr zu helfen, dann hätte Mika sie doch niemals mitgenommen”, ergänzte Merle mit leiser Stimme. “Und wenn sie Gudekar wirklich bei seiner Flucht helfen wollte, dann hätte sie nicht so viele Leute einweihen und um Hilfe bitten müssen.” Unsicher wies Merle auf Imelda und Rionn und die beiden Krieger. “Ich kann es natürlich nicht beweisen - aber ich habe wirklich das Gefühl, dass Ihre Wohlgeboren ehrliche und rechtschaffene Absichten hat.”

Kalman schüttelte den Kopf. „Verschlagenheit und Tücke sind ihr Weg. Die Baroness ist allzugern bereit, Mikas Vertrauen in ihre Rechtschaffenheit zu missbrauchen und Mika unwissend in die Gefahr laufen zu lassen, sollte es letztlich zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung kommen. Mir gefällt das nicht. Wissen wir, wie Mika reagiert, sollten plötzlich bewaffnete Verfolger auftauchen und ihr klar werden, dass sie verraten und ausgenutzt wurde? Ehrenhaft und praiosgefällig erscheint mir ihr Vorgehen nicht.“ Kalman blickte Imelda eindringlich an. „Euer Gnaden, Mika bezeichnet Euch als ihre beste Freundin. Habt Ihr keine Sorge, dass die Baroness Mikas Vertrauen derart hinterlistig auszunutzen trachtet und Euch zu ihrem Werkzeug macht? Wie würdet Ihr an Mikas Stelle denken?“

“Merkt ihr das eigentlich nicht?”, fragte Rionn nun unvermittelt dazwischen. Er war beim Zuhören immer unruhiger geworden. “Wir sind alle voller Misstrauen. Wir unterstellen der Baroness Böses. Wir vertrauen einander nicht. Wir unterstellen einander, dass wir nicht ehrenhaft und praiosgefällig seien. Wir denken vom Anderen, dass wir Gudekar Gewalt antun möchten. Wir überhören Nivard, der seine ehrlichen Absichten benennt, und damit das, worauf es wirklich ankommt. Merkt ihr, was mit uns geschieht?” Der Tsageweihte schaute ernst in die Runde von Gesicht zu Gesicht.

Kalman schaute nun zu Rionn. Zunächst sah der Tsageweihte in seinem Blick Überraschung und Unverständnis, doch dann wurde der Blick des Ritters unsicher und senkte kurz die Augen. Mit einem leichten Zittern in der Stimme, antwortete Kalman trotzdem immer noch unversöhnt: “Ich misstraue jedem und jeder, der oder die mit Falschheit und Hinterlist gegen mich oder ein Mitglied meiner Familie agiert.”

Rionn nickte verständnisvoll. Dennoch erwiderte er: “Ja, das verstehe ich. Aber verstehst du auch, dass es genau das ist, was die Widersacherin möchte? Sie hat uns Schlimmes angetan: Menschen sind gestorben, Lares und dein Vater sind dem Wahn verfallen, deine Schwester und auch der Novize, der mich begleitet, sind entführt worden. Aber da gibt es einen unheiligen Einfluss auf uns, den wir nicht so leicht wahrnehmen können, wie die Toten, die Wahnsinnigen und die Verschwundenen: Misstrauen und Spaltung. Zwietracht hat sie gesät und ihre Saat geht auf. Unter uns herrscht keine Einigkeit mehr. Der gute Wille - von dem Nivard sprach - wird nicht mehr erkannt. Stattdessen sperren wir uns in Kerker ein und beschuldigen uns gegenseitig Übles im Sinne zu haben. Der Bruder verrät die Schwester und der Ehemann seine Frau. Sind wir noch Souveräne unseres Handelns? Mensch, Kalman! Bei den Göttern! Wir müssen uns jetzt zusammenreißen.” Nach dieser eindringlichen Predigt schaute Rionn erneut in die Gesichter der Umstehenden.

Nivard nickte beipflichtend. Mehr gab es nicht zu sagen. Rionn hatte voll und ganz Recht.

Sehr unsicher kaute Imelda weiter auf ihrer Unterlippe. Was taten sie alle nur? Hatte Kalman recht; hinterging sie hier ihre liebe Freundin Mika? Im Grunde ihre beiden besten Freundinnen. Doch tat sie nicht all das, um Meta und Gudekar vor sich selbst zu schützen? Meta war aufbrausend und im Grunde hätte Imelda schon vorher kommen sehen müssen, dass das alles kein gutes Ende nehmen würde. Hätte sie ihre Freundin eindringlicher warnen und schützen müssen? Ihr davon abraten, die heimliche Affäre öffentlich zu machen und die Gemahlin ihres Geliebten bloßzustellen? Doch bis vor kurzem hatte Imelda den Ernst der Lage nicht erkannt, nicht wahrhaben wollen. Eindringlich sah die junge Geweihte zu Rionn. “Hältst du es tatsächlich für denkbar, dass Gudekar schon seit Götterläufen unter dem Einfluss von Travias Widersacherin steht? Was glaubst du, wie lange er schon nicht mehr richtig er selbst ist?”

“Das kann durchaus sein, Imelda”, antwortete Rionn in ernstem Tonfall. “Aber das meine ich nicht.” Er blickte ihr besorgt in die Augen.

Merle schaute zunehmend bange zwischen den Anwesenden hin und her. Schließlich trat sie mit Lulu zu ihrem Schwager und legte ihm sanft die Hand auf den Oberarm. “Der Baroness liegt Mika wirklich am Herzen. Vorhin hat sie so darum gekämpft, dass Mikas verletzte Hand schnell behandelt wird. Ich glaube, sie möchte verhindern, dass Mika mit in den Abgrund aus Frevel und Verrat gerissen wird, in den mein Mann sich gerade aus eigenem Willen zu stürzen scheint”, sie schluckte und verzog das Gesicht, “...oder vielleicht auch nicht aus eigenem Willen… Es ist eine schwierige Situation… und es wurde bereits viel Porzellan zerschlagen. Tatsächlich kann ich gut verstehen, dass Ihre Wohlgeboren sich für die Konfrontation mit Gudekar - und das wird es vermutlich werden, machen wir uns nichts vor - Unterstützung erbeten hat. Und es ist doch ohne Zweifel gut, wenn Geweihte der Zwölfgötter mit Gudekar sprechen, oder nicht?”

“Ja, im Grunde hast du Recht, Merle”, gab Kalman nach. “Doch mache ich mir einfach große Sorgen, dass die Baroness Mika nur für ihre Zwecke ausnutzt. Die redliche Sorge der hier Anwesenden um meinen Bruder stelle ich nicht in Frage. Aber was ist die Intention Ihrer Wohlgeboren, die sonst, soweit es mir bekannt ist, in keiner Beziehung zu Gudekar stand, ihn auf den rechten Weg zurückzuführen. Sie macht mir nicht den Eindruck, als ob sie aus reiner Selbstlosigkeit handelt. Wie weit würde sie gehen? Würde sie Mika für ihre Ziele opfern? Zumindest zutiefst verletzen wird sie Mika durch ihren Rat. Verstehe doch, dass ich auch meine Schwester schützen muss, in diesen Zeiten vermutlich mehr als je zuvor.”

"Ich glaube fest daran, dass die Baroness Mika helfen will. Was denkst du denn, passiert, wenn die Vögtin erfährt, dass Mika einem Frevler zur Flucht verholfen hat? Glaubst du, sie kann dann noch Geweihte werden?" Merle blickte ernst in Kalmans Augen. "Ihre Wohlgeboren hat selbst gesagt, dass sie bereit ist, Mikas Freundschaft und Vertrauen zu opfern, wenn sie Mika damit beschützen kann. Ich glaube ihr das! Und auch wenn die Baroness bisher nicht direkt mit Gudekar zu tun hatte, ist sie ebenfalls eine Streiterin gegen den Pruch - wie im Übrigen auch Doratrava - und ich glaube nicht, dass es uns hilft, mehr und mehr Misstrauen gegen unsere Verbündeten zu säen - Misstrauen gegen die Leute, die im Kampf gegen den gemeinsamen Feind auf der Seite von Tugend und Rechtschaffenheit stehen." Sie sah Kalmans Blick und rollte mit den Augen. "Ja, ich weiß! Du hoffst immer noch, dass auch Gudekar weiterhin dem Guten dient - ich hoffe das auch, verzweifelt hoffe ich das! - und dennoch musst auch du sehen, dass dein Bruder mitten in der Schlacht gegen die erzdämonische Widersacherin der Gütigen Mutter nichts anderes tut, als diese Familie ruch- und reuelos zu zerstören!” Merle hatte immer lauter und hastiger gesprochen und merkte, dass sich Lulu auf ihrer Hüfte unruhig zu regen begann. Beschwichtigend strich sie ihrer Tochter über den Kopf und setzte leise, aber eindringlich hinzu: “Wenn die Baroness sich dafür einsetzt, wenigstens Mika aus dem Einflussbereich der dunklen Schatten herauszuziehen, dann bin ich ihr dafür sehr, sehr dankbar.”

“Merle”, wandte der Tsageweihte sich in sanftem Ton an Liudbirgs Mutter. “Sei mir nicht böse. Auch du bist betroffen. So wie ich dich kennenlernen durfte, schätze ich dich als sanftmütige und liebevolle Frau. Aber was ist in den zurückliegenden Stunden mit dir geschehen? Versteh’ mich nicht falsch: Ich stelle nicht in Frage, dass du allen Grund hast, über Gudekars Verhalten verärgert zu sein. Er hat dich sehr verletzt. Aber dein Ärger und deine Wut haben ein Ausmaß angenommen, welches deinem Gemüt fremd ist. Auch du stehst unter dem Einfluss…” Rionn brach ab. Er wusste, dass das, was er gerade versuchte, allen klar zu machen, ungeheuerlich und auch unheimlich war. Er schaute wieder in die Runde und erklärte: “Imelda und ich haben gesehen, welch immenser Einfluss von der Kiste wich, in welcher der Kopf von Nivards Bruder liegt. Dieser Einfluss bewirkte, dass die Totenwache aufeinander los ging, dass Doratrava beschuldigt und eingesperrt wurde, dass Friedwald in Angst und Panik verfiel. Das, was auf dieser Kiste lag, hat uns alle beeinflusst. Und wenn wir uns nun mehr und mehr entzweien, so können wir nicht ausschließen, dass dies ebenfalls auf diesen Einfluss zurückzuführen ist. Es passt zu sehr zum perfiden Charakter der Widersacherin der Gütigen Mutter Travia. Ich habe das am Rande der Schwarzen Lande einige Male erlebt…” Hatte Rionn das? Eigentlich konnte er sich nicht konkret daran erinnern. Und doch hatte er den Eindruck, dass er solche Situationen kannte. “Nun, ja, zumindest wirken die Unheiligen aus den Niederhöllen so. Und es ist schwer, das zu erkennen. Doch all das hier - unser Streit und unser Argwohn, unsere Wut und unser Ärger über das jeweilige Verhalten - all das passt zu dem, was wir über das Wirken der Widersacherin wissen.” Der Tsageweihte schaute noch einmal in die Gesichter der Anwesenden und hoffte, dass seine Botschaft nun endlich ankam. “Wir müssen uns zusammenreißen! Wir müssen alles vermeiden, was der Widersacherin zuspielt. Wir müssen uns auf unsere guten Absichten konzentrieren, auf das Gute und Göttinnengefällige, das wir in Travias Namen bewirken möchten. Das was Nivard sagte. Und das, was wir tief in unserem Herzen spüren, was wahrhaft erlösen und befreien kann. Und all das ohne Gewalt und Zorn.”

Merle zog zweifelnd die Stirn kraus und schüttelte den Kopf. "Rionn, glaub mir, ich versuche den ganzen Tag, meinen Ärger und meine Wut zu unterdrücken. Ich versuche mich mit einer Realität anzufreunden, in der mein Mann vor meinen Augen mit seiner Buhle tändelt, in der er nur noch Augen für Meta hat… nur noch an Metas Wohl, Metas Glück und Metas Wünsche denkt - während Lulu und ich ihm größtenteils egal geworden sind", innig und beschützend drückte sie das kleine Mädchen an sich, "...ich habe versucht, all' das hinzunehmen und zu tolerieren - um des lieben Friedens willen, um Zwietracht und Hass keinen Vorschub zu leisten. Ich habe mehr ertragen, als ich ertragen konnte! Aber Gudekar will mich verstoßen; er will mit der Ritterin ein neues Leben anfangen und mich hier im Stich lassen - und um das zu erreichen, ist er ohne Zögern bereit, mich zu verletzen. Bei allem Respekt, Rionn, ich glaube nicht, dass mein Ärger ein übermäßiges Ausmaß angenommen hat. Ich bin der Meinung, dass ich mich immer noch sehr beherrsche, angesichts von dem, was ich zu ertragen habe!" Wieder, zum unzähligen Mal an diesem Tag, schossen ihr Tränen in die Augen. "Und wenn noch einmal jemand sagt, dass Gudekars Verhalten zu entschuldigen wäre, weil er es ja 'aus Liebe' tut - das macht es nicht besser! Im Gegenteil! Nein, Rionn, ich weigere mich, von meinem Wunsch nach Gerechtigkeit, Genugtuung und Sühne Abstand zu nehmen; meine Gefühle, meinen Schmerz als Wirken der Widersacherin abzutun. Ich selbst will, dass mein Schmerz gesehen wird. Dass Gudekar meinen Schmerz sieht." Sichtlich aufgewühlt ging sie ein paar Schritte zur Seite, an den Rand des Saals und kämpfte damit, nicht völlig die Fassung zu verlieren.

Der Tsageweihte sah ihr verzweifelt nach. Er hatte nicht versucht, Gudekar zu entschuldigen. Doch offensichtlich hatte Rionn mit seiner Mutmaßung mitten hinein in die Wunde gestochen, die in Merles Herzen klaffte. Und dennoch sah der Geweihte in Merles Reaktion eine Bestätigung seiner Befürchtung. Sie waren alle bereits so korrumpiert von diesem Einfluss, dass es schwer war, sich dagegen zu stemmen. Wahrscheinlich waren sogar Rionns Worte an Merle, dass er aussprach, was er dachte, und wie seine Worte ankamen, bereits unter dem Einfluss der WIdersacherin, so dass Rionn statt aufzurütteln, schließlich Merle nur verletzt hatte. Nun schaute er Imelda, Kalman, Hesindiard und Nivard an und hoffte sehr, dass wenigstens sie verstanden, was er meinte.

Nivard nickte ein weiteres Mal zustimmend. Doch statt den Worten Rionns weitere hinzuzufügen, die das selbe sagten, ging er nur zu Merle, fasste diese an die Schultern und streichelte Lulu über den Schopf. Ja, sie mussten alles in ihrer Macht stehende tun, Gudekar zu retten. Für Merle, für Lulu, für sie alle. Und für Gudekar selbst.

Merle seufzte leise und lehnte sich Nivard kaum merklich entgegen, hielt den Kopf aber weiter bekümmert gesenkt.

Kalman nickte. “Euer Gnaden, ähm, Rionn, ich denke, wir alle sollten, wie Ihr sagt, in uns schauen und versuchen, den dunklen Gefühlen zu entsagen. Es ist wahr, nur als Gemeinschaft sind wir stark. Nur als Gemeinschaft können wir dem Widersacher unserer Guten Mutter entgegentreten. Wir dürfen sein Gift nicht in uns wirken lassen. Ihr sagt, die Baroness von Kaldenberg ist selbst eine Streiterin wider den Paktierer? Dies war mir nicht bewusst. Mein Bruder hat mir nur wenige Einzelheiten erzählt, aus Gründen der Geheimhaltung und um die Familie zu schützen, wie er sagte. Vieles ist mir erst heute zur Kenntnis gekommen. Doch nachdem, was unserer Familie in den letzten Stunden angetan wurde, möchte auch ich mich dem Kampf gegen das Böse verschreiben und gelobe, Eure Gemeinschaft zu unterstützen, wo ich kann. Und wenn dies bedeutet, ich muss der Baroness ein stärkeres Vertrauen entgegenbringen, so mag ich dies ab jetzt versuchen. Ich gelobe, nicht gegen Euch zu handeln. Ich vermute zu wissen, wo sich mein Bruder aufhält. Sollten wir uns bereits auf den Weg machen, ihn zu suchen? So könnten wir vermutlich vor der Baroness dort eintreffen und so vielleicht vermeiden, dass Mika in Schwierigkeiten gerät.”

Rionn gab Kalman ein Handzeichen, dass er noch abwarten wollte mit einer Antwort und einer Lösung. Dann ging er rüber zu Merle und sagte zu ihr: “Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich verstehe deinen Schmerz. Und du hast recht.” Rionn sparte sich, die Mutmaßung auszusprechen, dass das Verletzende in seinen Worten womöglich durch Lolgramoth beeinflusst war. Das hätte noch weiteren Ärger ausgelöst. Und Rionn wollte nun jeglichen weiteren Zwist untereinander vermeiden und gab sich Mühe, auf seine Worte zu achten.

Merle hob den Blick und schaute Rionn für einen Moment schweigend in die Augen. "Schon gut", sagte sie schließlich leise. "Ich mache dir keinen Vorwurf. Es ist nur so, dass ich selber nicht weiß, ob ich wütend auf Gudekar sein darf... oder ob am Ende doch alles irgendwie meine Schuld ist. Ob ich schon von der Herrin der Zwietracht berührt bin, wenn ich meinem Mann die traute Zweisamkeit mit seiner Ritterin nicht gönne..." Sie schluckte und presste die Lippen zusammen.

“Es ist n i c h t deine Schuld”, erwiderte Rionn mit Bestimmtheit. Auch hier blieb er nun vorsichtig damit, irgendetwas darüber zu sagen, wie auch das möglicherweise der Einfluss Lolgramoths war. “Und es erwartet niemand, dass du das einfach so hinnimmst.”

"Und dennoch sagst du, das Ausmaß meines Ärgers wäre meinem Gemüt fremd..." murmelte sie mit traurigem Blick. "Ich wüsste gerne, ob du in derselben Situation maßvoll und sanftmütig reagieren könntest."

“Nein”, erwiderte Rionn in einem traurigen Tonfall. “Das kann ich nicht. Ich empfinde einen tiefen Zorn wider jegliche Paktierer und Frevler. Viel zu schlimmes haben sie mir angetan…” Dem Tsageweihten versagte die Stimme. Rionn wusste nicht konkret, wovon er sprach. Er hatte nur die Bilder im Kopf, wo Oger geliebte Menschen fraßen, wo Kinder und Frau in den Flammen eines Feuers umkamen, das Haffax hatte legen lassen. “Aber du bist anders, Merle.”

"Anders? Im Grunde weiß ich nicht mehr, wer ich bin..." Merle starrte für einige Wimpernschläge ins Leere, mehr durch Rionn hindurch, als dass sie ihn wirklich ansah, dann wurde ihr Blick plötzlich wieder weich. "Ach, Rionn... es tut mir leid. Auch das mit deinem Novizen..." Zart legte sie ihm die Hand auf die Schulter. "Alles ist so trostlos und finster… Aber es hilft ja nichts", flüsterte sie mit tonloser Stimme. "Wir können nur irgendwie weitermachen."

Nun erhob Imelda mit einem Räuspern ihre Stimme, um auf Kalmans letzten Vorschlag zu antworten: “Wir gehen kein Risiko ein; Tharga wird uns führen und ich denke nicht, dass Mika in Gefahr ist.” Sie schritt in Richtung des Tsageweihten, wandte sich jedoch mit dem, was sie nun sagte, an die gesamte Gruppe. “Die Widersacherin mag ein tückisches Spiel spielen und ja, ich bin traurig und wütend über das Leid, welches hier am heutigen Tage geschah. Doch glaube ich nicht, dass diese Gefühle, die ich empfinde, ein Zeichen eines dunklen Einflusses sind. Und Merle hat jedes Recht der Welt, auf ihren Ehemann wütend zu sein. Auf mich wirkt sie wie eine fürsorgliche Ehefrau und Mutter, die ganz im Namen Travias ihre Familie beschützen möchte. Was meine Person angeht, so empfinde ich auch die Liebe, welche uns die Götter schenken. Ich fühle eine große Sympathie für dich, Rionn, und ich habe auch eine große Sympathie für Mika, sie ist meine Freundin. Genauso glaube ich an das Gute in der Baroness und in Euch, Kalman - wie könnte ich einen Groll gegen Euch haben? Und Merle, dich mag ich auch sehr und es tut mir leid, dass meine Freundin Meta dir das alles antut. Trotzdem mag ich auch Meta und… na ja…” Unsicher blickte sie sich um. Gudekar zu mögen, fiel ihr in diesem Moment tatsächlich schwer. “Und dich, Hesindiard und auch dich, Nivard, ihr und euer Wohlergehen liegen mir sehr am Herzen!” Die Ingrageweihte stellte ihre hell leuchtende Laterne auf den Boden vor sich. “Schaut her, das göttliche Licht ist mit uns. Glaubt an das Gute in uns, lasst uns zusammenhalten und das Richtige tun. Es ist nicht zu spät, um Gudekar und Meta auf den rechten Weg zurückzuführen.”

Der Tsageweihte hatte sich bei Imeldas Ansprache zu ihr herum gedreht. “Jawohl!”, bestätigte er sie. Imelda hatte wohl gesprochen, dachte er. “Zusammenhalten und das Richtige tun”, wiederholte er, um es zu bekräftigen.

Entschlossen nickte Imelda dem Tsageweihten zu und ließ sich nicht anmerken, dass sie eigentlich keine Ahnung hatte, was wohl wirklich das Richtige war.

“Ich mag Dich auch, Imelda”, murmelte Hesindiard.

Die leicht schwerhörige Ingrageweihte konnte nur erahnen, was der Krieger in sich hinein genuschelt hatte. Lächelnd kam sie auf ihn zu und umarmte ihn spontan. Es war vielleicht nicht angemessen, doch in einer solchen Ausnahmesituation war es egal. Sie wollte ihn einfach nur spüren lassen, dass er ihr wichtig war. Als sie sich wieder von ihm löste, sah sie trotz ihrer Müdigkeit und Strapazen des langen Tages motiviert in die Runde. Sie war bereit, ihre Freundin zu retten.

Verdutzt ließ sich der Krieger umarmen und nach kurzem Zögern erwiderte er die Geste.

“So sei es!” willigte nun auch Kalman endgültig ein. Dann blickte er zu seiner gar so verletzlichen Schwägerin. “Und, Merle, was tust du? Uns begleiten? Oder kehrst du mit Lulu in die Zehntscheuer zurück? Ich nehme an, du wirst nicht allein hier im Gut zurückbleiben wollen, damit ihr euch in eure Kammer zurückziehen könnt.”

Unentschlossen wog Merle den Kopf hin und her. “Ich will meine Kleine nicht in Gefahr bringen. Hier allein im Haus hätte ich Angst. Und ich kann Lulu doch nicht mit in den Wald nehmen! Andererseits ist es vielleicht wirklich die letzte Gelegenheit, noch einmal mit meinem Mann zu sprechen…” Nachdenklich nagte sie an ihrer Unterlippe. Natürlich wäre es am vernünftigsten, jetzt mit ihrer Tochter in die Zehntscheuer zu gehen, um endlich etwas Ruhe zu finden. Gleichzeitig brannte es ihr unter den Nägeln, mit dabei zu sein, wenn Kalman und die anderen auf Gudekar trafen. Gerade weil Kalman sich so nachsichtig gegenüber der Ritterin gab, deren schamloses Verhalten auch noch zu entschuldigen, geradezu gutzuheißen schien, weil Rionn angedeutet hatte, dass ihre Wut nicht angemessen wäre… Würden sich Meta und Gudekar mit dreisten Lügen, Rechtfertigungen und Versprechungen aus allem rausreden können, so dass die Gruppe die beiden am Ende doch mit Kusshand und Hofknicks in die Rabenmark ziehen ließ? Die junge Frau ging unruhig im Raum hin und her, während sie Lulu auf ihrem Arm leicht auf und ab hüpfen ließ. “Und ich weiß wirklich nicht, ob es noch etwas bringt, mit Gudekar zu reden. Er hört mir ohnehin nicht mehr zu. Früher war es anders… da haben wir uns blind verstanden. Aber ich fürchte, ich hab die Verbindung zu ihm verloren. Nein. Er hat die Verbindung gekappt. Absichtlich. Ich glaube, er weiß, wenn ich nur einmal zu ihm durchdringen würde, dann könnte er mich nicht mehr ausschließen, dann müsste er echte Reue für sein Tun empfinden. Und dagegen sträubt er sich.”

“Merle”, Kalman nahm ihre Hand, mit der sie nicht Lulu hielt in seine und schaute ihr in die Augen. “Es geht um dich und Gudekar. Es ist allein deine Entscheidung. Welchen Weg auch immer du wählst, es ist der richtige, wenn er sich für dich richtig anfühlt. Lerne, Entscheidungen für dich selbst zu treffen!”

“Aber es fühlt sich alles falsch an!” Merles Blick wirkte ehrlich verzweifelt. “Lulu hier bei Ciala in der Zehntscheuer lassen und selbst in den Wald gehen, das kann ich auch nicht! Die Kleine hat Angst; sie braucht jetzt ihre Mutter!” wiederholte sie Cialas Worte von vorhin mit tiefer Überzeugung. Schuldbewusst schlug sie die Lider nieder. “Ich kann sie jetzt nicht schon wieder an andere abschieben. Was für eine furchtbare Mutter bin ich denn dann!”

"Du bist eine wunderbare Mutter." widersprach Nivard leise. "Alles was Du tust, zielt nur darauf, eure... Lulus Familie zusammenzuhalten. Damit Dein kleines Mädchen neben einer liebenden Mutter auch noch einen Vater hat. Dein Schwager hat Recht: Tu jetzt, was sich für Dich in diesem Augenblick richtiger anfühlt - und verzage nicht, mach Dir kein schlechtes Gewissen: egal, wie Du Dich entscheidest: es ist die richtige Wahl. Entweder kämpfen wir dann gleich mit Dir um und für Gudekar, oder wir tun es für Dich und mit Dir im Herzen."

Merle sah dem Krieger nun direkt und eindringlich in die Augen, dann schenkte sie ihm ein ganz schwaches, gebrochenes Lächeln. "Hab Dank, Nivard", wisperte sie und sah sich scheu, fast verloren im Raum um, betrachtete die Menschen, die alle auf sie, auf ihre Entscheidung zu warten schienen. Außer Kalman hatte sie diese Leute gerade erst kennengelernt; dennoch fühlte sie tiefe Verbundenheit und Wärme, wenn sie in ihre Gesichter blickte. So viel Freundlichkeit und Unterstützung hatte sie von ihren erfahren, so viel Mitgefühl und Zuneigung. Ja, sie vertraute ihnen, auch, bei der Begegnung mit Gudekar das richtige zu sagen und zu tun. Dennoch... wenn es eine Chance gab, noch ein paar Worte an Gudekar zu richten, irgendwie sein scheinbar so versteinertes Herz zu erreichen... “Ich komme mit”, platzte sie spontan heraus. “Ich kann nicht still hier sitzen und abwarten.” Mit neuer Entschlossenheit schien sich ihr schlanker Körper zu straffen. “Ich gehe rüber zur Zehntscheuer und bringe die Kleine zu Ciala. Dann bin ich gleich wieder hier. Ist das in Ordnung?”

Kalman nickte. “Ich begleite Dich. Danach treffen wir uns alle hier oder an der Wegkreuzung. Einverstanden?”

Merles Gesicht war anzusehen, wie unwohl und beklommen sie sich innerlich fühlte; dennoch trat sie mit einem bestätigenden Nicken an Kalmans Seite.

"Einverstanden", bestätigte Nivard. "Gerne direkt an der Wegkreuzung." Je rascher sie die Spur aufnahmen, desto besser.

Jartgar von Immergrün erschien mit besorgtem Blick im Türrahmen des großen Saals. “Meine Mutter habe ich hier im Haus nicht gefunden. Deshalb werde ich in die Zehntscheuer zurückgehen und dort weiter die Zivilisten beschützen”, kündigte der ältere Ritter an. Knapp nickte er der sich zum Aufbruch bereit machenden Gruppe zu. “Viel Glück und mögen die Götter Euch behüten.”

~ * ~

Einen Plan umzusetzen

Nachdem die Firunnovizin Mika von Weissenquell die Zehntscheuer verlassen hatte, ging sie zum Wirtshaus, wo sie die Baroness Ardare von Kaldenberg treffen wollte. Gemeinsam wollten sie Mikas Bruder Gudekar und seiner Geliebten Meta Croy zur Flucht aus Lützeltal verhelfen. So dachte jedenfalls Mika. Doch die miese, fiese Baroness hatte ganz andere Pläne. Und deshalb war sie auch noch nicht am verabredeten Treffpunkt, als Mika eintraf. So hockte sich Mika an die Hauswand gelehnt hin. Nun spürte sie die Erschöpfung und Müdigkeit des langen, anstrengenden Tages, und schließlich döste Mika in der Hocke ein. Sie verlor jegliches Zeitgefühl.

Es dauerte eine ganze Weile, bis die Baroness erschien. Sie war komplett neu eingekleidet und offensichtlich hatte sie sich ausgiebig gereinigt. Das Lederwams, das sie trug, sah - obgleich hochwertig - doch recht robust aus, als könne es mehr als nur Blicke aufhalten.

Die wichtigste Änderung an der Baroness war jedoch nicht offen ersichtlich: Aus dem geheimen Fach einer Reisetruhe, versteckt unter einem doppelten Boden, hatte sie eine von zwei Messingphiolen herausgeholt und deren Inhalt zu sich genommen. Die Phiolen hatte sie sich einst nur für strikteste Notfälle zugelegt. Kurzerhand hatte sie die heutige Nacht zu solch einem erklärt. Nun war sie wieder bis unter die Haarspitzen mit Astralmacht erfüllt. Besser war es, falls ein Paktierer, sein Gefolge, oder eben nur dessen willfährige Mirhamionette, in den Wäldern hausten.

Die Baroness war nicht alleine erschienen: Wolfrida und Nerek, ihr Leibwächterpärchen, war mit dabei. Sie eine sehnige, verhärmte Endzwanzigerin, er ein bulliger, glatzköpfiger Enddreißiger. Beide bewegten sich wie Raubtiere, und beide mochten so teuer und qualitativ hochwertig sein wie die sonstigen Werkzeuge, derer Arda sich bediente.

Beide Leibwächter waren bewaffnet - lange, schlanke Klingen als Hauptwaffe, Kurzschwerter als Ersatzwaffe, Dolche, bei Wolfrida auch solche, die sich zum Werfen eigneten. Als Wolfrida sich bückte, um Proviantbeutel und zwei volle Weinschläuche aufzunehmen, sah man unter ihrem dunklen Wams kurz Kette aufblitzen. Nerek hingegen hatte sich anscheinend dafür entschieden, sein Kettenhemd in einer Rolle dunklen Stoffs hinter dem Sattel zu befestigen. Auch ein Stoffbeutel mit einem kopfgroßen Gegenstand, anhand der Konturen als Eisenhelm zu identifizieren, war dort verschnürt. Nerek führte neben seinem eigenen Pferd auch diejenigen der beiden Frauen mit sich.

Beide Leibwächter hielten ihre Blicke leicht gesenkt, wie es erfahrene Kämpfer taten, um ihre periphere Sicht zu erweitern. Ihrem Verhalten nach erwarteten sie jederzeit einen Überfall, und ihre grimmigen Gesichter versprachen einem potenziellen Angreifer, dass er wohl seine liebe Müh' mit dem Duo haben würde.

Die Körperhaltung der Baroness stand im Widerspruch dazu: kaum war das Grüppchen aus dem Tor der Stallungen getreten, lehnte sich die Baroness betont entspannt gegen die Stallwand, Arme verschränkt, einen ihrer Stiefelabsätze lässig gegen die Wand gedrückt. Aus ihrem Mundwinkel ragte ein schmaler Sauerampferstengel. Offenbar war sie bemüht darum, das Bild der "Edelstreunerin" oder des "Taugenichts aus bestem Haus" in Vollendung wiederzugeben.

Als die drei sich Mika näherten, schreckte sie von dem Geräusch der Schritte auch und stellte sich sogleich wieder hin. Mika, die noch immer ihre verdreckten Kleidungsstücke an hatte, schaute die Baroness verwundert an. Fast hätte sie sie gar nicht wiedererkannt. Doch etwas erschrocken und dann verärgert wurden ihre Augen, als sie die beiden Krieger erblickte. "Arda, was soll das? Warum bringst du zwei Wachen mit? Das war so nicht ausgemacht!“

"Und was machen wir, wenn wir dem Bäckerpruch begegnen? Du bewegst Dich im Wald wie ein Eichhörnchen, ich müsste mich dagegen raushauen lassen", gab die Baroness prompt zurück. Die Replik hatte sie sich ebenso so bedachtsam zurechtgelegt, wie sie unwahr war.

"Also, wollen wir? Gehen wir zu Fuß oder nehmen wir die Pferde? Dein Bruder ist ja auch mit Pferd unterwegs", fragte sie forsch. Tharga, Ardas Hund, fehlte übrigens in der Runde.

Wie ein Eichhörnchen! Mika fühlte sich geschmeichelt und lächelte kurz. Dann jedoch hakte sie nach. „Was ich bisher über den Pruch gehört habe, werden zwei mittelmäßige Krieger wohl nicht ausreichen, um den Pruch aufzuhalten, sollte er uns begegnen. Gwenns Bewachung hat er ja auch einfach ausgeschaltet und das war sogar eine Plötzbognerin. Aber wenn du solche Angst nachts im Wald hat, brauchst du ja nicht mitkommen. Ich schaff das auch ohne dich! Nur, wenn wir da mit einer halben Armee auftauchen, wird Gudekar Angst bekommen und denken, wir wollen ihn verhaften oder so. Dann wird er uns nicht folgen. Er wird bestimmt eine Falle befürchten.“

"'...sogar eine Plötzbognerin…'" äffte Arda die Jüngere nach. Sie wirkte plötzlich stark verärgert. "Als ob das die Panthergarde wäre!" Mika konnte nicht wissen, dass die Kaldenbergerin eine Rivalität mit Ira von Plötzbogen verband, einer engen Verbündeten des Hlutharswachter Barons und Nichte (oder so) des Gründers jener Söldnereinheit, die sich vornehmlich für die Bewachung von Pfeffersäcken verdingte.

"Und was soll es jetzt sein: sind Wolfrida und Nerek eine halbe Armee, oder nur zwei mittelmäßige Kämpfer, die gegen den Bäckerpruch nicht ausreichen?" schimpfte die Baroness weiter. Nerek machte dabei ein gleichgültiges Gesicht und beobachtete die Umgebung. Wolfrida hingegen warf Mika einen langen Blick zu, der wohl aussagen mochte, dass deren abfällige Bemerkung unter anderen Umständen in einer tüchtigen Abreibung für die Novizin hätte enden können (und dies womöglich in der Zukunft noch passieren könnte).

Arda hielt nun drei Finger hoch: "Und drittens, Dein Bruder darf Angst haben vor zwei 'mittelmäßigen' Söldnern, aber mich bewirfst Du mit verächtlichen Worten, wenn ich Vorkehrungen gegen einen gefährlichen Paktierer treffe, der noch heute nachweislich in diesen Wäldern unterwegs war?" Sie riss Wolfrida den Proviantbeutel aus der Hand und schleuderte ihn wutentbrannt zu Boden: "Aber um Proviant zu besorgen für Deinen notgeilen Bruder, damit dieser satt sein Pferd und seine Buhle besteigen und davonreiten kann, während sein Heimatdorf in größter Not ist - ja, dafür bin ich gut genug!" Sie hatte sich anscheinend in Rage geredet. Erneut äffte sie Mika nach, und zwar wieder ziemlich gekonnt: "'...aber wenn Du solche Angst nachts im Wald hast…' - Dass Du so etwas sagst, obwohl Du weißt, dass es anders ist! Ich wollte Dir nur helfen! Ich bin einfach nur enttäuscht von Dir! Vielleicht bist Du doch nicht so ein guter Mensch, wie ich dachte." Die Wut war anscheinend abgeebbt und die Baroness wandte mit schwerem, betrübten Blick die Augen ab.

Die sehnige Leibwächterin hatte den Proviantbeutel unterdessen wieder aufgehoben und über ihre Schulter gehängt. Ihr Blick beinhaltete eine Herausforderung an Mika: Die Verpflegung an Gudekar würde nur mit ihr in den Wald gelangen oder hier bleiben.

Mika beachtete die beiden Leibwächter überhaupt nicht, war sie doch voll auf Ardas Schimpftiraden konzentriert. Schließlich antwortete sie etwas kleinlaut: „Tut mir leid, Arda, das hatte ich nicht so gemeint. Aber du hattest doch selbst gesagt, ich solle zu niemandem ein Wort wegen Gudekar sagen, und jetzt bringst du zwei Leute mit, die ich nicht kenne. Ich kann dir doch vertrauen, dass du auf Gudekars Seite stehst? Ehrenwort? Von Freundin zu Freundin?“

"DU hast doch gerade Merle brühwarm von unseren Plänen erzählt, ausgerechnet der Person, die am meisten gegen Gudekar ist! Da war es Dir egal, dass mich das in Schwierigkeiten bringt!" Erneut bildete sich eine steile Falte auf ihrer Stirn. "Was willst Du von mir hören: Dass ich damit einverstanden bin, was Dein Bruder macht? Sicher nicht! Ich bin DEINETWEGEN hier, Mika! Weil Du Deinem Bruder helfen willst, darum bin ich hier." Sie rollte mit den Augen, vorwegnehmend, dass das Gesagte Mika nicht ausreichen würde. Mit genervter Stimme leierte sie hinunter: "Also schön, Du hast mein Ehrenwort, nur Nerek und Wolfrida kommen mit uns mit. Sie stehen in meinen Diensten und sind mir treu ergeben."

Nerek musste nun doch eine Gefühlsregung kaschieren, indem er sich mit der Hand übers Gesicht rieb, als würde er schwitzen. Wolfrida hingegen verbarg ihr kaltes Lächeln nicht vor Mika, sondern hielt die Novizin wie schon zuvor unverwandt im Blick.

"...und bevor Du das fragst: Ich werde auch niemand anderem das Versteck Deines Bruders verraten!" Ardas Miene hätte ausgereicht, um einem Nivesen ein Frostamulett zu verkaufen.

„Na schön“, gab Mika nach, “brechen wir auf. Pferde werden uns nur auf dem ersten Stück nützlich sein, später eher behindern. Gudekar und Meta haben zwar ihre dabei, die brauchen sie später. Doch wenn wir sie durch den Wald führen wollen, sollten wir nicht zu viele Pferde dabei haben. Deshalb gehen wir zu Fuß.“

Arda seufzte auf. Auf wenigstens einen Kompromiss wollte sie sich einlassen.

Sie war jedoch bereits auf diese Eventualität vorbereitet und hatte ihren alten Kutscher im Stall warten lassen. Ihm gab Nerek, der die Pferde in den Stall zurückführte, die Tiere in Verwahrung. Außerhalb des Sicht von Mika schnallte er sich das Bündel mit Kettenhemd und Helm auf den Rücken.

“Gut”, forderte Mika voller Tatendrang auf, lasst uns aufbrechen. Macht aber am Besten nicht so viel Lärm!”

"Dann packe ich meine Marschtrommel wohl besser wieder ein", meinte der bullige Leibwächter in gespielter Enttäuschung und mildem Spott. Die sehnige Kämpferin hingegen rollte nur mit den Augen.

"Führe uns." bedeutete Arda der Novizin mit einer einladenden Bewegung an die Spitze der Marschkolonne.

Mika war der Spott in der Stimme des Leibwächters nicht entgangen, was ihren Ärger über dessen Anwesenheit noch mehr steigerte. So ließ sie sich dazu hinreißen, ebenfalls schnippisch auf Ardas Aufforderung zu antworten. „Ach, ihr braucht meine Führung? Und ich dachte schon, das Eichhörnchen“, plötzlich gefiel ihr der Vergleich doch nicht mehr so gut, als sie sich überlegte, wie unbedeutend ein Eichhörnchen aus Sicht der Baroness sein mochte, „sei nur dazu da, um für deine Hornochsen Nüsschen zu sammeln!“ Mit einem Ruck drehte sie den Kopf demonstrativ in eine andere Richtung, wobei sie ihre Nase in die Luft streckte. Dann setzte sie sich in Bewegung, den Weg in Richtung Sägewerk folgend.

Diejenigen, die ihr folgten, tauschten pointierte Blicke. Nerek zuckte mit dem Achseln und nahm seine Position am Ende der Marschordnung an. Vor ihr lief Wolfrida, davor Arda.

Der Weg, den Mika ihre drei Begleiter führte, war jener Weg, den Stunden zuvor auch die Brautsucher genommen hatten. Doch noch vor der Stelle des Hinterhalts, kurz nach Erreichen des Waldrandes, bog Mika auf einen schmalen, kaum zu sehenden Pfad nach links ein, der sich mit ständigen Biegungen durch das lichte Laubholz schlängelte. Mika schien genau zu wissen, wo sie lang mussten. Irgendwann, sie waren schon eine Weile dem Pfad gefolgt, fragte sie frei heraus: “Arda, du misstraust Gudekar. Ich spüre das. Und dennoch hast du dich bereiterklärt, ihm zu helfen. Warum bist du so misstrauisch? Hast du schon so viele schlimme Dinge in deinem Leben erfahren, dass du nicht mehr das Gute in den Menschen erkennen möchtest?”

"Ach, ich bin es leid, Dir wieder und wieder vorzukauen, was Dein Bruder heute alles getan hat." antwortete Arda und klang dabei wirklich erschöpft. "Wenn Du das alles nicht wahrhaben willst, wirst Du auch diesmal nicht zuhören. Also spare ich mir die Mühe. Ich bin ja nicht Deine Noionitenschwester!"

Die Baroness schwieg eine Weile. Dann fügte sie hinzu: "Ich verstehe es ja, er ist Dein Bruder. Ich habe auch einen Bruder. Wir haben - hatten - ein sehr enges Verhältnis, weil unsere Eltern tot sind. Er war lange verschollen, ich hielt ihn für tot. Nicht schön…"

Mika dachte eine Weile über die Worte der Baroness nach und lief schweigend vor ihr her. Dann unvermittelt hielt sie an und drehte sich zu Arda. „Ist es falsch, Gudekar zu helfen? Sollen wir besser umkehren und Vater und Kalman zu Hilfe rufen?“

Dieses wankelmütige Gör! Die Baroness hatte gute Lust, Mika an die Kehle zu gehen und sie so lange zu prügeln, bis sie nichts Dummes mehr sagte. "Wir haben uns jetzt für diesen Weg entschieden, jetzt gehen wir ihn auch zuende", antwortete Arda bemüht diplomatisch, sowohl in Tonfall, als auch in Wortwahl. "Wenn wir bei Gudekar sind, werden wir uns ein Bild machen. Und er und seine Meta werden auch ein Wörtchen mitreden wollen."

„Danke, Arda! Du bist eine wahre Freundin!“ Mika schenkte der Baroness ein freundschaftliches Lächeln und setzte dann den Weg fort.

Schnell lenkte Arda das Thema in eine andere Richtung: "Ist es wahr, Gudekar hat auch die Edle von Kalterbaum bestiegen?" fragte sie mit Unglauben in der Stimme. "Ist die nicht in Begleitung ihres Mannes hier?"

„Ja, aber das war so. Das mit Tsalinde war wohl in der Nacht, bevor Gudekar dann Meta kennen gelernt hat, auf irgend so einer Hochzeit, wo Gudekar in seiner Mission hin musste. Den Mann hat die Edle doch nur genommen, damit das Kind einen Vater bekommt“, erklärte die Novizin. „Aber ‚besteigen’ solltest du das nicht nennen, das ist unromantisch, das klingt so animalisch. Der Hirsch besteigt die Hirschkuh. Aber ein Mann teilt das Lager mit einer Frau. Das klingt besser.“

"Danke, das wusste ich noch nicht. Ich dachte, Mann und Frau gehen aufs Feld oder in den Wald, um Rahja zu frönen." antwortete Arda sarkastisch.

"Mit Verlaub, der Durchsatz an Geliebten, den Gudekar hat, als verheirateter Mann… das passt auf keine Kuhhaut." witzelte sie.

„Gudekar ist doch kein geiler Bock!“ protestierte Mika aufgebracht. „Das siehst du vollkommen falsch! Das mit Tsalinde wollte er gar nicht, das ist nur aus Versehen passiert. Aber Meta liebt er wirklich. Im Grunde ist er eine treue Seele.“

"...und einen Braten hat er der Kalterbaum auch noch in den Ofen geschoben! Das ist keine Romantik, das ist Hochleistungstierzucht!" kommentierte Arda mit vorgeschobenem Ernst, wissend, dass sie die Novizin damit ärgerte.

„Arda! Das ist gemein, wie du über meinen Bruder redest! Er ist ein sehr liebevoller Kerl und kein Zuchtvieh! Du kennst ihn ja gar nicht richtig! Ihr solltet euch mal unter anderen Umständen kennenlernen und miteinander reden. Dann würdest du schnell merken, dass er ganz anders ist, als ihn hier alle darstellen.“

"Wir haben uns schon mal unterhalten. Bei einer Frau, DIE war in anderen Umständen. Dein Bruder hat sich ziemlich flegelhaft verhalten. Keinesfalls so, wie es sich einer Frau aus dem Hochadel gegenüber geziemt." beschied Arda. Sie kannte solche Männer, die andere klein machen mussten, um sich selbst größer darzustellen, die mit Selbstüberschätzung, großem Brustgetrommel und noch größerer Klappe versuchten, Frauen ins Bett zu locken. Es war ihr ein Rätsel, warum dies manchmal sogar funktionierte. "Nein, Dein Bruder hat sich nicht von seiner besten Seite gezeigt.", urteilte sie.

Da Arda hinter ihr lief, konnte sie nicht sehen, wie sich Mikas Mundwinkel nach unten zogen und sich ihre Augen mit Tränen füllten. Aber an ihrer Stimme erkannte Arda, wie sie unsicher zu werden schien. Es war die Stimme, die junge Frauen bekamen, wenn sie ein Weinen zu unterdrücken oder zu verbergen versuchten. „Du irrst dich! Das ist nicht Gudekar! So ist er nicht! Er ist doch immer hilfsbereit und lieb und lustig. DAS ist Gudekar! Du würdest ihn bestimmt mögen, wenn du ihn richtig kennen würdest. Er wäre dir bestimmt ein guter Freund! Das ist mein Bruder!“

"DAS versuche ich Dir die ganze Zeit zu erklären! Wir drehen uns im Kreis und folgen unserer eigenen Fährte!" Arda bemühte eine Jägeranalogie, damit das verstockte Mädchen endlich verstand. "Du sagst selbst, er verhält sich nicht so wie sonst. Und so, wie Merle von Gudekar mit Einflussmagie manipuliert wurde, könnte der Bäckerpruch Deinen Bruder mit dämonischer Kraft beeinflussen. Ihn zu einem Flegel machen, und brünstig wie ein Zuchtschwein…" Sie seufzte. "Aber guuut… Wenn Du meinst, dass Dein Bruder besser dran ist, wenn er sich aus dem Staub macht, mit dem dämonischen Einfluss, der möglicherweise über ihm liegt…" Das Achselzucken konnte Mika nicht sehen, aber förmlich aus den ausklingenden Worten der Baroness heraushören.

Nun sagte Mika ersteinmal nichts mehr.

Nach einer Weile öffnete sich der Wald ein wenig und der Pfad erreichte eine etwas breitere Straße. Dies musste die Straße sein, die durch das Lützeltal firunwärts nach Hart führte. Arda war sich sicher, wären sie vom Dorfplatz in Richtung des Herrenhauses gegangen und dann nach rechts auf die Straße abgebogen, wären sie deutlich schneller und bequemer hier gewesen. Mika bog jedoch nicht in die Straße ein, sondern überquerte diese, um auf der anderen Straßenseite erneut einem schmalen Pfad zu folgen.

"Ah, klug. Du hast versucht, die Straße zu meiden", mutmaßte Arda. Es war ihr eigentlich egal, was Mikas Beweggründe waren, sie wollte die Jüngere aber wissen lassen, dass sie sich nicht ohne weiteres an der Nase herumführen ließ.

“Ja, natürlich! So wird es schwerer uns zu folgen, falls das jemand versucht”, erklärte die junge Jägerin. Außerdem war es so schwerer, auch für Arda, bei Nacht die Stelle zu finden, von der aus man von der Straße kommend auf den Waldpfad abbiegen musste, wenn man zu der Hütte wollte, dachte Mika. Irgendetwas sagte ihr, dass ein gesundes Misstrauen nicht schaden konnte.

Arda hatte keine Bedenken, dass Tharga ihre Spur verlieren könnte. Im Zweifel war sie nicht mal auf eine Fährte angewiesen, sondern vermochte ihre Herrin über Meilen hinweg astral aufzuspüren. Mehr Sorgen machte ihr das möglicherweise fehlende Vertrauen der Verfolger in die Fähigkeiten ihrer Führerin, insbesondere wenn Tharga diese quer durchs Dickicht lotste.

"Wie weit, hast Du gesagt, ist es bis zum Unterschlupf?" frage Arda, die sich nicht daran erinnern konnte, dass Mika etwas darüber gesagt hatte.

Mika lachte. Die gleiche Frage hatte vorhin schon andauernd Meta gestellt. Warum sind alle immer so ungeduldig? “Wie ich schon vorhin zu Meta gesagt habe: Es ist so weit, wie es weit ist. Tun dir schon die Baroness-Füßchen weh?”

"Ach - danke der Nachfrage: meine Baroness-Füßchen waren heute früh schon bei einer Treibjagd dabei und an der Rettung des Hundes Deines Lehrmeisters, sowie der Versorgung der Verletzten in Deinem Heimatdorf beteiligt. Sie haben mich durch eine Kaiserschnitt-Operation von Zwillingen getragen und sich gegen den Bachgrund gestemmt, als ich den Leichnam Eures Pferdeknechts aus dem Bach gezogen habe. Und jetzt, da ich des Nächtens durch den Wald gehe, um Deinem Bruder zu helfen - ich gebs zu: ich spüre meine Baroness-Füßchen durchaus." Die Stimme Ardas troff vor Sarkasmus. "Aber das war nicht, worauf ich hinauswollte."

Ihre Stimme nahm einen härteren Klang an: "Das hier ist kein Praiostagsausflug, und ich lasse mich nicht mit Deinen geistreichen Idem per Idem - Aussagen abspeisen. Vertraust Du mir jetzt oder nicht? Ich muss nämlich vielleicht Einschätzungen vornehmen müssen und trage die Verantwortung für das Wohlergehen meiner Leute."

“Es dauert halt solange, wie es dauert!” kam die schnippische Antwort der Novizin, die es offensichtlich genoss, die Kontrolle zu behalten. “Die Hütte kommt auch nicht näher, wenn ich dir sage, wie weit es noch ist.”

"Lass diese Kindereien!" herrschte Arda sie an. "Ich habe Dir eine Frage gestellt und verlange eine Antwort!"

“Wir sind ja gleich da”, antwortete Mika genervt. “Es ist nicht mehr weit.”

Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß Arda eine Verwünschung aus, die so derb war, dass der bullige Mietling hinter ihr überrascht eine Augenbraue anhob.

Mika führte Arda und ihre beiden Begleiter noch eine ganze Weile den Waldpfad entlang. Doch sie verlor kein Wort mehr über die Frage nach Schuld oder Unschuld beziehungsweise nach der Schwere seiner Schuld. Die Dinge, die Arda ihr gesagt hatte, ließen Mika weiter und weiter grübeln, doch war sie nicht bereit, an Gudekars Aufrichtigkeit zu zweifeln. Sie würde ihm helfen, um seine Seele nicht in tiefe Abgründe zu treiben.

Kurz vor einer weiteren Wegbiegung kam Mika plötzlich ins Stolpern und konnte sich gerade noch mit ihrer rechten Hand an einem Baumstamm abstützen, um nicht auf die Knie zu fallen. “Verdammte Ogerkacke! Bei Firun! Da hat sich doch der Jost verirrt!” fluchte die Novizin aus voller Brust.

"Wir sind da", kommentierte die Baroness mit ruhiger Stimme.

Hinter ihr schwärmten die beiden Leibwächter aus, glitten ins Untergebüsch neben dem Weg.

Arda hatte Mika eine Hand auf die Schulter gelegt, vorgeblich, um nach der Freundin zu sehen, während sie sich im Wald nach dem Jagdunterstand umsah.

Mika schaute den Leibwächtern überrascht hinterher. Dann rief sie in Panik: “Arda, warum laufen die beiden Krieger ins Gebüsch?”

"Müssen beide austreten", antwortete Arda mit gleichgültiger Stimme. Sie gab sich keine Mühe, die offensichtliche Lüge zu kaschieren und blickte sich weiter prüfend um.

Dabei überlegte sie, ob sie Mika noch anraten sollte, die Art der Bewaffnung und die Körpermaße der Leibwächter auch noch in den Wald zu rufen. Der Alarmierungsversuch in Richtung Gudekar war nämlich offensichtlich.

Rechts neben sich sah Arda die Silhouette von Nerek, der ihr zunickte.

Sie drückte Mikas Schulter, um sie dazu zu bringen sie anzusehen.

Ardas Lüge bezüglich des Beweggrunds der Leibwachen war ebenfalls offensichtlich, selbst für Mika. Verwundert und verärgert blickte sie in  Ardas Augen. “Was soll diese…”

Dann ließ Arda ihre Magie fließen. Im letzten Moment gab sie ihrem Gesicht einen überraschten Ausdruck.

Mikas Augen weiteten sich noch einmal vor Überraschung, bevor sie einschlief.

In ihrer Hand tauchte ein Taschentuch auf, welches sie der zusammensackenden Novizin vor Mund und Nase hielt. Dies war die Tarnung gegenüber den Leibwächtern, die nichts von ihrer magischen Begabung wussten.

Die Baroness ließ Mika zu Boden sinken. Nerek hatte sich bemerkenswert geräuschlos neben sie gesellt. "Schlafmohnsud. Sie wird die nächste Zeit keinen Ärger machen. Halte Dich in Rufreichweite der Hütte bereit." Der bullige Mietling nickte und legte sich die Novizin behutsam über die Schulter und glitt wieder durchs Unterholz.

Dann schritt Arda auf dem Waldpfad weiter voran.

Nach einigen Schritt trat Wolfrida schräglinks hinter ihr aus dem Wald auf den Weg. Die Hand an der Klinge, ordnete sie sich schäglinks hinter der Baroness ein.

Nach Mikas "Warnungen" gaben sie sich keine Mühe mehr, ihre Anwesenheit zu verheimlichen, doch besonders laut scheppernd durch den Wald würden sie auch nicht zur Hütte laufen.

Arda legte sich im Geiste bereits zurecht, was sie Gudekar sagen würde.

~ * ~

Einem Plan ausgeliefert

Gudekar war in der Waldhütte im Gespräch mit Zaina, diesem göttlichen Geschöpf, das als Metas Schwester erscheinen konnte, als er Mikas Warnung von draußen hörte. Nur bruchstückhaft drangen die Worte in die Hütte: “...ammte …kacke! Bei Firun! … Jost verirrt!”

“Das ist Mika! Sie kommt, aber es droht Gefahr!” erkannte Gudekar die Stimme seiner Schwester. Als er sah, dass Zaina ihn fragend anblickte, erklärte er: “Meine kleine Schwester. Dass sich der Jost verirrt war früher im Spiel immer unser Geheimwort, um den anderen zu warnen. Bei Gwenn und mir, später auch bei Mika. Du musst dich verstecken! Ich wecke Meta.”

“Meta! Wach auf! Wir sind in Gefahr!” Gudekar rüttelte sanft an Metas Schulter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Da hörte er erneut Mikas Stimme: “Arda! … beiden Krieger …?”

“Verdammt! Die Baroness will sich vermutlich rächen und hat irgendwie Mika dazu gebracht, sie hierher zu führen! Wir müssen fort! Schnell!”

Doch er brauchte sie nicht mehr zu wecken, schlaftrunken rappelte Meta sich hoch und war sofort hellwach, als sie Zaina sah. Ihr Mund wurde trocken und das Herz raste. Nicht hier. Es war viel zu gefährlich. Nur ein Krächzen bekam sie zustande. Zaina hingegen sah die beiden Menschen unbekümmert an. Fast freudig. „Meta, Gudekar hat es gerade erklärt. Es ist ein Spiel, seine Schwester war doch vorhin da. Komm, lass sie uns necken. Wie im Tempel früher bei Alegretta.“ Sie streckte der Ritterin die Hand hin und sie standen nebeneinander. „Wir verstecken uns hinter der Hütte, sie soll uns suchen.“ Kurz sah Meta Gudekar fragend an. Im Zweifelsfall hatte er garantiert keine Ahnung. Aber es passte. Sie lächelte gezwungen und packte Zainas Hand. So musste es mit Kindern sein, die älter wurden. „Sehr gute Idee, schnell, lass uns keine Zeit verlieren.“ Hinter der Hütte würde sie wie so oft auf verschrobene Art auf Zaina einreden und sie dazu bringen, in ihren Stein zu verschwinden. Sie hatte es ein paar mal, zuletzt beim Rahjabund, diesem misslungenen, eine Ewigkeit schien es her, gedacht, aber nie würde sie aufhören, Zaina zu beschützen.

So eilten Meta und Zaina schnell aus der Hütte und suchten sich eine Stelle, wo sie weder von der Hütte noch von dem schmalen Pfad aus zu sehen waren. Keinen Augenblick zu früh, denn kurze Zeit später kam Arda mit ihrer Leibwächterin um die Wegbiegung.

Gudekar ließ die beiden vorausgehen und griff nach seiner Tasche. Er wusste, dass seine Astralkraft, die er während der kurzen Pause zurückgewonnen hatte, nicht ausreichte, um sie gegebenenfalls zu verteidigen. So öffnete er die Tasche und suchte die Phiole, dann fiel ihm ein, dass er sie ja bereits an den Gürtel gehängt hatte. Er nahm sie, öffnete sie und trank ihren Inhalt. Ein wohliges Kribbeln durchströmte den Magier. Er spürte, wie die Kräfte seinen Körper durchflossen, sich entfalteten und ihm neue Energie gaben.

***

Einem Plan zu folgen

Merle Dreifelder von Weissenquell und ihr Schwager Kalman waren gemeinsam mit Jartgar von Immergrün zurück zur Zehntscheuer gegangen und hatten Merles Tochter Lulu erneut Kalmans Frau Ciala zur Fürsorge übergeben. Kalman hatte dabei seinen ganzen Charme einsetzen müssen, um Ciala davon zu überzeugen, wie wichtig es war, dass Merle ihn noch einmal begleitete, um ihre Ehe mit Gudekar retten zu können. Denn Ciala macht sich große Sorgen um Merle und Lulu und hätte am liebsten beide bei sich behalten. Um Lulu etwas zu beruhigen, forderte Ciala ein Kleidungsstück von Merle, welches nach ihr roch. Als dieses beschafft war, ließ sie es von ihrer Tochter wie eine kuschelige Decke an den gemeinsamen Schlafplatz bringen.

Dann kehrten Kalman und Merle zurück zum Herrenhaus, um dort gemeinsam mit Imelda von Hadingen, Rionn, Nivard von Tannenfels und Hesindiard Zerf auf eine Nachricht der Baroness Ardare von Kaldenberg zu warten, sich auf den Weg zu machen und sich von Adares Hündin Tharga führen zu lassen.

Schließlich erreichte Ardas Kutscher das Herrenhaus mit der erwarteten Nachricht und die Gruppe machte sich auf den Weg. Kalman wunderte sich, dass Tharga sie quer durch das Dorf führte, ehe sie dem Weg am Bach entlang firunwärts folgte und schließlich nach links auf einen Waldpfad abbog. Als Kalman bemerkte, dass der verschlungene Pfad letztlich doch in die Richtung der Waldhütte führte, bei der er Gudekar und seine Geliebte vermutete, ärgerte er sich, denn dort hätten sie deutlich früher ankommen und auf Mika und die Baroness warten können, wäre man seinem Vorschlag gefolgt und hätte die Straße nach Hart genommen. So liefen sie die ganze Zeit den beiden Frauen hinterher. Kalman befürchtete, sie würden erst deutlich nach ihnen bei der Hütte eintreffen und machte sich erneut Sorgen vor allem um Mika.

***

In der Hütte

Ardare von Kaldenberg folgte den letzten Schritten des Waldpfades. Dann stand sie vor der einfachen Tür, die den Eingang zu der Hütte bildete.

Um keine eindeutig feindliche Haltung zu zeigen, klopfte die Baroness kurz, aber kräftig an der Tür. Gleichzeitig bedeutete sie mit einem Kopfnicken ihrer Leibwächterin, neben dem Türrahmen an die Wand gedrückt in Deckung zu gehen. Wolfrida kam der Aufforderung mit lautlos blank gezogenem Rapier nach.

Arda ließ einen Herzschlag verstreichen, dann öffnete sie die Tür entschlossen und zügig. Inständig hoffte sie, dass im Zweifelsfall Onkel Gerdings Amulett sie noch gegen feindliche Magie schützen würde.

Gudekar saß auf der Sitzbank, die Hände auf dem Schoß gefaltet, und schaute den Ankömmling erwartungsvoll an. Sein Magierstab war in Reichweite an die Wand gelehnt. „Euer Wohlgeboren! Welch eine Überraschung, Euch hier zu sehen! Seid Ihr allein unterwegs? Ich hatte eigentlich meine Schwester erwartet. Ist sie Euch zufällig begegnet?“

Außer dem Anconiter und der gerade eingetretenen Baroness war die Hütte leer.

"Ihr seid alleine." sprach Arda das Offensichtliche aus, doch die heimliche Adressatin des Gesagten war Wolfrida, vor der Tür. "Wo ist Eure B… Begleiterin hin?"

„Sie ist gegangen“, war seine knappe Antwort. „Ich habe sie fortgeschickt“, schickte er nach kurzer Pause hinterher.

Die Baroness glaubte ihm nicht und war schon kurz davor, einen süffisanten wie beleidigenden Kommentar loszuwerden, der auf diesen Umstand genauso Bezug nahm wie auf Gudekars Promiskuität, doch sie hielt ihre Zunge im Zaum. Das hier war auch so eine Wanderung auf einem schmalen Grat. Beleidigungen wären kein guter Wegbereiter für das kommende Gespräch.

"Eure Schwester hat mich hergeführt. Ich wollte alleine mit Euch sprechen." Sie machte eine kleine Kunstpause.

“Das trifft sich gut”, erwiderte er sogleich resigniert. “Ich bin allein.”

Die Baroness ließ sich die Verärgerung über die Zwischenbemerkung des Anconiters nicht anmerken. Beherrscht fuhr sie fort: "Ihr könnt noch nicht gehen. Euer Handeln - heute abend, aber auch in den vergangenen… - Jahren? - hat Fragen aufgeworfen. Fragen, für die Ihr Frage und Antwort stehen sollt, bevor Ihr gehen dürft."

“Und was soll das bringen?” Gudekar saß reglos auf der Bank. Seine Stimme war ruhig und gefasst. “Egal, was ich sage, ich habe den Treueeid gegenüber Merle gebrochen. Mehr als einmal. Ich habe sie hintergangen und belogen. Ich habe heute Abend etwas Unentschuldbares getan, das ist nicht zu leugnen. Egal, was man mich fragt, egal was ich antworten werde, meine Taten sind nicht ungeschehen zu machen. Das Mal der Frevlers liegt auf mir, ob es nun sichtbar ist oder nicht. Ich habe zu viel Porzellan zerbrochen. Was auch immer eine Befragung bringen soll, man wird mich zur Rechenschaft ziehen. Meine einzige Hoffnung ist es, fortzugehen.”

Mit mühsam unterdrückter Wut erwiderte Arda: "Es überrascht mich nicht, dass Ihr keinen Vorteil für Euch darin seht, hierzubleiben und Euch Eurer Verantwortung zu stellen. Was mich ebenfalls nicht überrascht, ist, dass Ihr nur an Euch zu denken in der Lage seid. Ihr seid ein erbärmlicher Egoist!"

Sie änderte ihren Tonfall: "Aber sei's drum. Hier geht es nicht darum, was Ihr wollt. Ihr werdet mit mir nach Lützeltal zurückkehren. Wir werden dort klären, was Ihr Eurer Frau angetan habt und warum. Wir werden klären, warum Ihr in Korrespondenz mit dem Bäckerpruch steht, und ob Ihr in irgendeiner Form unter seinen Einfluss geraten seid.”

Gudekar seufzte tief und schüttelte den Kopf. “Euer Wohlgeboren, ich hätte von Anfang an wissen müssen, dass Ihr in Eurer jugendlichen Weisheit ebenso… nun, ich weiß nicht, welches Wort ich nehmen soll. Ich würde sagen ‘ignorant’, doch das trifft es nicht. Dass Ihr ebenso voreingenommen seid, wie all die anderen, die ich als meine Gefährten und Mitstreiter im Kampf gegen das Böse an meiner Seite gewähnt hatte. Seht, hier werden immer wieder zwei Aspekte miteinander vermengt. Meine Liebe zu einer jungen Frau, der Rahja mein Herz geschenkt hat, und die unsäglichen Leiden, die der Paktierer über unser Land und insbesondere über unsere Gemeinschaft gebracht hat. Durch Kurzsichtigkeit ist leider niemand mehr in der Lage, hier zu differenzieren. Ja, ich habe Travias Gebote gebrochen, als ich meinen Gefühlen voll Liebe und Leidenschaft gegenüber der Ritterin Croy freien Lauf gelassen habe. Aber dies hat nichts, rein gar nichts mit meiner Loyalität gegenüber dem Land, den Menschen und unserer Mission zu tun. Mein oberstes Ziel ist und bleibt es, den Paktierer von weiteren Untaten abzuhalten. Doch betrachtet man mein Handeln nicht getrennt, so wird es keine Klärung geben, die die Wahrheit ans Licht bringt. Und damit wird meine Rückkehr ins Dorf unweigerlich meinen Untergang bedeuten und das Ende meiner Bemühungen, dem Pruch das Handwerk zu legen. So sagt mir also in Eurer unbändigen Weisheit: Wem sollte es etwas bringen, wenn ich ins Dorf zurückkehre, außer unserem Widersacher selbst, der sich weiter daran laben wird, dass wir uns immer weiter selbst zerfleischen?” Gudekar holte tief Luft, griff seinen Magierstab und stand von seinem Platz auf, wobei er sich auf dem Stab abstützte. “Ihr habt Fragen an mich? Dann stellt sie mir! Hier. Jetzt. Ich werde Euch Rede und Antwort stehen. Aber nur Euch. Doch vorher sagt mir: Wo ist Mika?”

"Mika ruht sich ein paar Schritte von hier aus, während wir uns unterhalten. Sie schien in Körper und Geist erschöpft, und das fordert nun seinen Tribut." verkündete Arda.

Gudekar hob skeptisch eine Augenbraue. Hier hätte sich Mika viel besser ausruhen können.

"Und es spielt für mich keine Rolle, wen Ihr liebt. Das ist kein Argument, das Ihr für Euch geltend machen könnt, versteht Ihr? Ihr mögt es als Rahjas persönliches Geschenk an Euch sehen, als göttlichen Freibrief alles tun zu dürfen, in Eurem Narzissmus. Aber wisst Ihr was? JEDER Ehebrecher könnte für sich geltend machen, dem göttlichen Willen, nämlich Rahjas, zu folgen. Dieses Argument gehört so wenig Euch allein, wie es richtig wäre. Es ist ein Missbrauch von Rahjas Lehren! Lasst also diese Aussagen sein, Ihr fügt dem bereits angerichteten Schaden nur noch mehr hinzu." gab Arda scharf zurück, während sie den Daumen zur Aufzählung hob.

Der Anconiter nickte einsichtig.

Dann hob sie auch noch den Zeigefinger: "Zweitens: Warum soll Recht geahndet werden? Das ist es, was Ihr gerade allen Ernstes fragt. Nun, Ihr solltet mit Rechtsgelehrten wie der Kalterbaum mal sprechen, statt sie nur zu besteigen. Ihr könntet offensichtlich etwas lernen." Die Baroness rollte mit den Augen. "Mir ist klar, dass IHR kein Interesse an der Ahndung Eurer Taten habt. Doch die Gemeinschaft hat es wohl. Die Wahrung von Recht ist ein Eckpfeiler der Ordnung - der weltlichen wie göttlichen. Ob es Euch zerfleischen wird, vermag ich nicht zu sagen. Doch die Gemeinschaft wird es stärken, und nicht, wie Ihr behauptet, schwächen. Ja, es blutet, im angrenzenden Gewebe wenn faules Fleisch exzidiert wird, doch der Körper selbst - er kann nur so heilen!"

Der dritte Finger hob sich: "Wenn es tatsächlich Euer oberstes Ziel ist, dem Bäckerpruch das Handwerk zu legen, dann solltet Ihr alles dafür tun, einen möglichen Agenten des Paktierers aufzuspüren und auszuschalten. Es besteht ein Verdacht, dass IHR selbst ein Agent des Paktieres seid, auch wenn es Euch nicht bewusst ist oder Ihr Euch das nicht eingestehen wollt. Kann ich also Eure guten Absichten für bare Münze nehmen? Oder kann das gar nicht sein, dass der großartige Gudekar, mit den Botschaften des Paktierers im Mantel, eine Mirhamionette desselbigen ist?"

Sie verwarf die Aufzählung und verschränkte die Arme vor der Brust: "Sei's drum. Euer Bruder selbst möchte Euch festsetzen lassen, ich bin also im Recht. Um diese Hütte zu verlassen, müsst Ihr an mir vorbei. Das werde ich nicht zulassen. Ihr müsst mich schon überwinden, um Eure Flucht anzutreten, doch Ihr werdet sehen, dass ich aus einem anderen Holz geschnitzt bin als Eure Frau." Nicht zwingend aus einem besseren Holz, fügte sie in Gedanken hinzu, während sie den Magier streitlustig anfunkelte.

Vielleicht hatte die Baroness erwartet, von dem Anconiter eine angriffslustige Reaktion zu erhalten, sei es mit Worten oder mit Taten. Doch dem war nicht so. Er blickte erschöpft und resigniert. Schließlich sah Ardare an einer Reflektion des schwachen Lichtscheins, dass sich wohl Tränen in seinen Augen gesammelt hatten. Und ein Anflug von Verwirrung lag ebenfalls in seinem Blick, als Ardare von der Botschaft in seinem Mantel sprach. Wusste er nicht, wovon sie sprach?

„Ich habe wohl nichts, was ich Euch entgegen setzen könnte. Und ich habe auch kein Interesse daran, Euch etwas anzutun. Zu viele Wunden wurden bereits geschlagen. Zu viele Wunden habe ich geschlagen. Ich habe Pfade beschritten, die niemand verstehen kann. Doch, ich weiß nicht warum, aber ich habe das Gefühl, meine Intuition sagt mir, Ihr könntet sie verstehen. Ich habe die Gemeinschaft nicht verraten! Alles, was ich tat, diente nur dem gemeinsamen Ziel. Nein, nicht alles. Ich gestehe, meine Frau zu verraten, diente natürlich nicht dem Ziel. Es diente lediglich dazu, mir ein kleines wenig Glück zu bescheren, wenn ich in den Armen der Frau lag, die ich über alles liebe, die mir den Halt gibt, all diese Schrecken zu überstehen. Doch die Pfade, die ich ansonsten beschritten habe, lassen es so erscheinen, als sei ich ein Verräter. Und deshalb wird es für mich nun keine Hoffnung mehr geben, sobald Ihr mich der Gemeinschaft übergebt. Dann sei es so. Denn das, was ich versuchte, ist gescheitert. Ich habe die Hoffnung verloren. Heute hat er Gwenn geholt. Und wen holt er als nächstes? Merle? Mika? Lulu? Er weiß, wie er mich am härtesten treffen kann. Und er wird wissen, an welche der Dreien er am einfachsten kommen kann, welche von ihnen am wenigsten geschützt ist.“ Arda glaubte, eine leichten Vorwurf in seiner Stimme zu hören. „Ihr habt mir den Weg genommen, mich aus seinem Einfluss zu entziehen. Gut, dann stellt mich auf den Scheiterhaufen. Bin ich nicht mehr, so hat er keinen Grund, Merle, Lulu oder Mika etwas anzutun, hoffe ich.“

Arda blickte ihn ungerührt an: "Das heißt, Ihr kommt jetzt mit mir mit? Ohne irgendeinen Blödsinn anzustellen?"

„Und was habt ihr dann mit mir vor?“ Der Magier blieb unbewegt stehen, er machte keine Anstalten, aufzubrechen. „Wem werdet Ihr mich übergeben? Und was werdet Ihr mit Mika tun? Ihr werdet sie doch bitte nicht hier zurücklassen? Lasst mich zu ihr gehen!“

Die Baroness lachte ungläubig auf. "Na, was denkt Ihr denn? Dass ich Euch zum Sklavenmarkt nach Al'Anfa verschleppe und dort an den Meistbietenden verhökere? Ihr wisst doch genau, wer sich im Dorf aufhält! Und genauso absurd… meint Ihr wirklich, ich würde Mika im Wald zurücklassen?" Sie schüttelte mit einem wütenden Lachen den Kopf.

„Euer Wohlgeboren, nach Euren Scherzen steht mir zur Zeit wahrlich nicht der Sinn. Verzeiht mir meine Frage. Es ist nur so, dass ich nicht allen Gefährten im Dorf auf das Gleiche trauen kann, meinem Schicksal wohlgesonnen zu sein. Ach, ich habe noch eine Frage: Ihr erwähntet eine Nachricht, die Ihr in meinem Mantel gefunden hättet. Worum hat es sich dabei gehandelt?“

"Ihr solltet Euch eine bessere Geschichte einfallen lassen, als den Unwissenden zu spielen. Wie sonst soll die Nachricht in die Manteltasche hineingekommen sein? Durch einen großzügigen Taschendieb?" spottete die Baroness.

Dann wurde sie ernst: "Ich werde Euch nicht die Hände binden. Als Zugeständnis für Eure Bereitschaft, aus freien Stücken mitzukommen. Doch Ihr werdet auf dem Weg ins Dorf Euren Stab abgeben und ein Kettenhemd sowie einen Eisenhelm tragen. Für den Fall, dass Ihr es Euch unterwegs anders überlegt."

Sie hatte also nicht die Absicht, mit ihm zu reden. Schade, dachte Gudekar. Tatsächlich hätte Gudekar ihr Vertrauen schenken können, auch wenn er sich dies selbst nicht erklären konnte. Aber in ihrer Verbohrtheit gab es keine Möglichkeit, an ihre Seele heranzukommen. Ach, wie leicht wäre es gewesen, die Faust auszustrecken und ihr einen schweren magischen Schlag zu verpassen. Anschließend einen ordentlichen Hieb mit dem Stab, und der Weg zur Flucht wäre frei gewesen. Doch widerstrebte es dem Magier, Gewalt gegen jemanden auszuüben, der oder die auf der richtigen Seite in diesem leidlichen Kampfe stand. Und hätte er dann nicht auch Mika ungeschützt zurücklassen müssen? Eine tiefe Müdigkeit und Resignation übermannte den Anconiter. Doch würde er sich nicht demütigen lassen. Nicht von der Baroness oder sonst irgendjemandem. Er würde weder seinen Stab abgeben noch sich in ein Kettengewand legen lassen. DAS konnte sie vergessen! „Das werde ich nicht zulassen. Führt mich jetzt zu Mika! Ich möchte sehen, dass es ihr gut geht. Dann sehen wir weiter.“

"Ich sehe Euch nicht in der Position, hier irgendwelche Forderungen zu stellen." Sie hob die Arme seitlich. "Natürlich könnt Ihr versuchen, Euch der Festsetzung zu entziehen. Vielleicht gelingt es Euch auch. Was habe ich Eurer Magie schon entgegenzusetzen…" Ihre Stimme klang ironisch beim letzten Satz. "Aber Ihr würdet nur noch zusätzliche Verbrechen zu jenen hinzufügen, die Ihr bereits begangen habt. Magische Verbrechen, die besonders schwer wiegen. Und Ihr habt Euch zu wankelmütig und unstet erwiesen, zu… zauberfreudig, als dass ich darauf vertraue, dass Ihr bis Lützeltal Eure Magie nicht gegen mich richtet!"

„Ach, Baroness, Euer Wohlgeboren, was macht das jetzt noch für einen Unterschied? Wenn ich Euch folge, werde ich so oder so wegen magischer Verbrechen angeklagt, nach dem, was ich Merle angetan habe. Und wenn ich Euch etwas tun wollte und in der Lage dazu wäre, hätte ich dies längst getan, glaubt mir.“

Immer wieder ließ sich Gudekar seine Lage durch den Kopf gehen. Was würde geschehen, wenn er sich stellte. Heute Nachmittag war seine Lage noch deutlich besser. Eine Seelenprüfung hätte vermutlich seine Frevel des Ehebruchs zu Tage gebracht. Man hätte von ihm Buße und Abkehr von Meta verlangt. Es hätte ihm das Herz gebrochen. Doch er wäre wohl mit heiler Haut aus der Sache gekommen. Doch was dann geschehen ist, würde ihm wohl niemand verzeihen. Es wäre unvermeidlich, dass er vor das Gildengericht kommt. Würde man ihm nehmen, was ihn als Mensch ausmachte? Vermutlich. Doch bliebe von ihm nichts als eine leere Hülle. Er hätte seine Berufung verloren. Und seine Meta. Meta, was würde mit ihr geschehen? Würden sie sie weiter jagen? Würden sie sie verfolgen und ebenfalls anklagen als seine Komplizin? Ihr durfte nichts geschehen! Er hoffte, dass sie die Gelegenheit zur Flucht nutzte und nichts Unbedachtes tat. Doch so, oder so, wenn er sich stellte, würde er sie vermutlich nie wiedersehen. Welchen Sinn hätte das Leben noch. Wäre es nicht besser, es gleich hier und jetzt zu Ende zu bringen? Was hatte er zu verlieren? Vielleicht konnte er die Baroness doch loswerden, und wenn nicht, dann würde er sich jedenfalls eine Demütigung ersparen. Und Pruch hätte keinen Grund mehr, seinen Liebsten nachzustellen. Nein, er würde nicht mit ins Dorf gehen.

„Ihr habt die Wahl, Baroness, mich zu Mika zu geleiten oder zu versuchen, mich zu überwältigen. In Eisen jedenfalls werdet Ihr mich nicht ins Dorf bringen, Schätzchen.“

"Da irrt Ihr." Ardas Blick und Ton zeugte von Geringschätzung für ihr Gegenüber. "ICH muss gar nichts wählen. Ich muss nur warten, bis die anderen kommen. Harren wir so aus, bis sie da sind, werde ich diejenige sein, die einen möglichen Komplizen des Pruch gestellt hat. Wenn Ihr mich angreift, weil Ihr an mir vorbei wollt, wird sich zeigen, wer die Oberhand behält. Überwindet Ihr mich, wird mein Körper die Zeichen davontragen, die von den Nachkommenden gedeutet werden und den Verdacht gegen Euch bestätigen. Werde ich die Oberhand behalten - nun, die Folgen dieser Variante müssen EUCH dann nicht mehr kümmern." Sie lehnte sich etwas nach vorne: "Glaubt mir, es ist mir VÖLLIG gleichgültig, zu welchem Ergebnis es kommt." Wilde Entschlossenheit lag im Blick der Baroness. Sie verzog den Mund zu einem siegessicheren Lächeln, das in dem schönen Gesicht in dem spärlichen, flackernden Licht geradezu dämonisch wirkte. Es war offensichtlich, dass die junge Kaldenbergerin mindestens einen Trumpf in der Hand hielt, den sie noch nicht aufgedeckt hatte.

‚Die Folgen dieser Variante müssen EUCH dann nicht mehr kümmern.‘ Die Worte der Kaldenbergerin hallten immer und immer wieder in Gudekars Kopf nach. ‚Die Folgen dieser Variante. Diese Variante.“ Warum nicht? Noch immer besser, als sich in Ketten vor Gericht zerren zu lassen. Und es würde sie zumindest in Erklärungsnöte bringen. Das brachte Zeit, die Meta hoffentlich zur Flucht nutzte, um Zaina in Sicherheit zu bringen. ‘Diese Variante!‘

Gudekar, der noch immer seinen Stab in der Linken hielt, erhob die rechte Faust und streckte sie langsam der Baroness entgegen. Seine Lippen schienen den Buchstaben ‚F‘ bilden zu wollen. Seine Augen zeugten von einer nicht zu bändigen Entschlossenheit.

***

Vor der Hütte

Wolfrida stand immer noch regungslos neben den Türrahmen gepresst, den Kopf schräg haltend, um jedem der gedämpft hörbaren Worte von innen lauschen zu können.

Es hatte länger gedauert als sonst. Etwas würde die Harmonie regelrecht zertrampeln, hatte Zaina gesagt, sie fühle sich äußerst unwohl hier. Dann war das wunderschöne Wesen ernst geworden und hatte Meta sehr eindringlich etwas gesagt, was ihr angeblich Gudekar aufgetragen hatte. Um es sich wirklich einzuprägen, musste die Ritterin in der Aufregung die Botschaft mehrmals wiederholen. Das alles hatte Zeit gekostet. Jetzt war sie alleine und es war erstaunlich still. Angespannt und konzentriert schlich Meta um die Hütte und zog zornig die Augenbrauen zusammen, als sie ein Weibsbild, eine typische Söldnerin oder Wächterin sah, die mit dem Rücken zu ihr stand und wohl an der Tür lauschte. Wo war Mika? Hoffentlich war ihr nichts geschehen. Das Herz pochte ihr bis zum Hals, als sie ihr Schwert, bereit, es zu ziehen, in die Hand nahm und sich wie eine Katze anschlich.

Unbemerkt von Wolfrida kam Meta an die Wache heran und hatte nun die Möglichkeit, mit ihrem Schwert zu agieren, bevor Ardas Leibwache etwas bemerkte, denn die Leibwache war so sehr darauf fokussiert, ihre Herrin vor einem möglichen Angriff des Magiers in der Hütte zu beschützen, und dort schien es gerade zu einem Handgemenge zu kommen, dass sie die sich anschleichende Ritterin viel zu spät bemerkte.

***

Auf dem Weg zur Hütte

Etwa zu der Zeit, als Arda vor der Tür der Waldhütte stand, überquerte auch der Verfolgertrupp, der von Tharga geführt wurde, die Straße nach Hart, um dem Waldpfad weiter in westliche Richtung zu folgen.

„Ich wusste es!“ rief Kalman ungehalten aus. „Wir könnten schon längst dort sein, wären wir den direkten Weg gegangen.“

"Kalman, die Baroness wusste doch auch nicht, wohin Mika sie führen würde", versuchte Merle ihren Schwager zu beschwichtigen. "Wir hätten auch völlig falsch liegen können."

“Und doch war unsere Vermutung richtig.” Kalman blickte zu seiner Schwägerin. “Du und ich, wir haben es doch eigentlich gewusst, wo Mika Gudekar versteckt hat. Wir hätten schon längst mit ihm reden können.”

Der Pfad war so schmal, dass man kaum zu zweit nebeneinander auf ihm laufen konnte.

“Ich weiß nicht, ob er überhaupt noch zu reden bereit ist”, murmelte Merle mit unbehaglicher Miene mehr zu sich selbst.

“Das werden wir gleich herausfinden. Doch wichtig ist, dass Tharga uns tatsächlich an die richtige Stelle geführt hat!” Geschwind versuchte Imelda mit der Hündin Schritt zu halten und erleuchtete, so gut es ihr möglich war, mit der Laterne den finsteren Weg vor sich. Konzentriert versuchte sie zu erkennen, ob der Pfad Stolperstellen aufwies. “Vorsicht! Wurzel!”, rief sie etwas lauter in Richtung der Gruppe hinter ihr.

"Psst, leise!" zischte Nivard schärfer zurück, als er beabsichtigt hatte. Wenn sie schon auf phexische Weise vorgingen, dann wenigstens richtig. Was, wenn Gudekar und seine Geliebte zu früh von ihrem Kommen erfuhren? Gewiss würde er sich von der Novizin und der Kaldenbergerin hintergangen fühlen, und die Flucht antreten, noch bevor sie mit ihm sprechen konnten. Sie hatten vermutlich nur noch diesen einen Versuch, den Anconiter zur Vernunft zu bringen. Er durfte nicht fehl gehen - nicht wegen einer Unachtsamkeit.

“Ja, ja, tut mir leid!”, zischte sie laut und gut hörbar zurück und konzentrierte sich dann darauf, möglichst leise in die vermutete Richtung der Hütte weiterzugehen. “Ähm, gibt es hier eigentlich Bären? Falls dem so ist, dann wäre es ja vielleicht gut, nicht ganz so leise durch den Wald zu schleichen? Oder?”

“Keine Bären”, antwortete Kalman kurz angebunden. “Nur Wildschweine.”

Rionn lächelte schweigend. Solche Gespräche wurden geführt, wenn man nachts im dunklen Wald unterwegs war und man seine Angst überspielen wollte. Doch es galt weit Wichtigeres anzugehen, als Dunkelheit, Bären und Wildschweine. Er war sehr gespannt auf die Begegnung mit Gudekar.

Merle stapfte schweigend über den dunklen, feuchten Waldboden, in sich gekehrt, mit gesenktem Haupt und hängenden Schultern. Was tat sie hier eigentlich? Warum war sie hier? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein weiteres Gespräch mit Gudekar noch etwas bewirken konnte, und doch spürte sie, dass sie hier sein musste. War da noch immer ein unsichtbares Band, das sie unwiderstehlich zu Gudekar zog? Ein Teil von ihr glaubte unerschütterlich, dass es diese Verbindung gab, dass niemand Gudekar so verstand, so tief in seine Seele geblickt hatte, wie sie es tat. Dass sie noch immer zu ihm durchdringen konnte, sein Herz berühren, wie es kein anderer vermochte. Hatte er ihr das nicht oft gesagt, wenn er sie eng umschlungen und geborgen in seinem Armen gehalten hatte, dass er sie nie, niemals loslassen wollte? Wie konnte sie ihn dann aufgeben, ihren Mann, ihren liebsten Gudekar? Deshalb war sie hier - auch wenn eine andere Stimme in ihrem Kopf, vielleicht die lautere, ihr unmissverständlich zurief, dass er sie nicht mehr wollte, nicht mehr liebte; dass er sie wegstoßen und verleugnen würde, ohne groß mit der Wimper zu zucken. Dass ihr blutendes Herz gleich endgültig gebrochen und ihre letzte Hoffnung zertrümmert werden würde. Ja, sie wusste es, wusste es nur zu gut. Er würde sie wieder verletzen, tiefer und schmerzhafter als je zuvor. Und trotzdem lief sie stetigen Schrittes und sehenden Auges auf ihr Verderben zu.

Nivard hätte am liebsten sarkastisch aufgelacht, unterdrückte aber den Impuls. Sollten sie nur Bären und Wildschweine fürchten, das schärfte wenigstens die Sinne. Nach allem, was bereits geschehen war, war nicht ausgeschlossen, dass hier draußen noch ein weit gefährlicherer Gegner lauerte. Ein Teil von ihm wünschte sich geradezu, auf Pruch zu stoßen, und auszutesten, wie der Stahl ihrer Schwerter der Gesundheit des Frevlers bekam. Er behielt seine Gedanken für sich. Weder bedurfte es noch mehr aufgeregten Gewispers hier im Wald, noch mehr der Furcht in den Herzen seiner Mitstreiter.

Stattdessen schloss er zu Merle auf. Er konnte die Bedrückung spüren, die auf ihr lastete, ahnte, welche Gedanken in ihr kreisten. Er wusste, dass keine Worte sie zu trösten vermochten. Außerdem war jetzt nicht die Stunde des Redens. Also lief er einfach nur neben ihr, wenn der Pfad es erlaubte und hielt sich ansonsten dicht bei ihr. Sie sollte wenigstens spüren, dass sie nicht alleine war, ganz gleich, was noch geschehen würde.

Merle registrierte die Gestalt des Kriegers neben sich und warf ihm einen dankbaren Blick zu, durchbrach jedoch nicht das Schweigen. Auch wenn heute ihre ganze Welt zerbrochen war, waren ihre Sorgen doch nichtig im Vergleich zu dem, was Nivard hatte erleiden müssen. Bei den Göttern, der eigene Bruder... und dann so... Merle kämpfte vergeblich gegen den hartnäckigen Kloß, der ihr die Kehle zuschnürte. Nein, es gab absolut nichts, was sie hätte sagen können und was in Nivards Ohren nicht wie blanker Hohn geklungen hätte. So setzte sie weiterhin immer nur einen Fuß vor der anderen und versuchte an nichts zu denken als weiterzugehen. Weiterzugehen und atmen.

***

In der Hütte

Ardas Augen weiteten sich, doch gleichzeitig zog sie das Jagdrapier und verlagerte ihr Gewicht nach vorne. Mit der Spitze auf das Herz des Magiers zielend, stieß sie die Waffe vor.

Doch nun tat der Magier etwas, das für Arda absolut unerwartet kam. Anstatt seinen Zauber auszuführen, öffnete er die Faust und griff nach der nackten Klinge des Rapiers. Genau das war seine Absicht gewesen, genau deshalb hatte er die Finte ausgeführt und so getan, als würde er einen Kampfzauber wirken wollen. Und obwohl die Klinge die Handfläche aufschnitt und die Wunde sofort stark zu bluten begann, konnte er die Klinge festhalten und stoppen, denn Arda wiederum war von seinem Handeln so überrascht, dass sie nicht mit voller Wucht zustach. Lediglich ein kurzer, lauter Schmerzensschrei entwich seiner Kehle. Er stoppte die Klinge kurz vor seiner Brust, direkt auf sein Herz gerichtet. Ein weiterer kräftiger Stoß und sein Leben wäre verwirkt gewesen. Sein Blut tropfte aus der Faust auf den Boden, doch sein Blick war fest auf die Baroness gerichtet. “Nun, Euer Wohlgeboren, liegt es in Eurer Hand. Ein weiterer Stoß, und ihr habt mich von meinem elendigen Dasein befreit. Stecht zu, und ihr seid eine Sorge los!” Er zog leicht an dem Rapier, sodass sich dessen Spitze leicht in seine Brust bohrte und sich ein weiterer Blutstropfen bildete. “Doch seid Euch sicher, dieser Vorfall wird Fragen aufwerfen. Und wenn man diesen Ort untersucht, wird man feststellen, dass hier keinerlei Magie gewirkt wurde. Lediglich der Leichnam eines Anconiters wird an diesem Ort liegen, wehrlos erstochen durch einen einzelnen, gezielten Stich, keine Kampfspuren, lediglich der gescheiterte Versuch, die Klinge mit bloßer Hand abzuwehren. Dies wird Fragen aufwerfen.

Doch mir soll es recht sein, ein schneller Tod ist mir lieber, als das, was mich erwartet, was Ihr mir versprecht, sollte ich Eurer Aufforderung folgen, was ich niemals tun werde. Also bringt es jetzt zu Ende. Zumindest, hoffe ich, lässt Pruch dann von meinen Liebsten ab, wenn Ihr mich erledigt habt und ich ihm nicht mehr nachstellen kann.”

"Das war dumm von Euch!" kommentierte Arda nach der ersten Schrecksekunde mit Fassung. Sie stieß zum Schein die Waffe tiefer in Gudekars Brust - doch gab sie der Waffe nur einen kleinen Impuls, um den Magier zu täuschen. Stattdessen trat sie geschickt zurück, übte Druck auf die scharfe Schneide der Waffe aus und zog sie dabei aus Gudekars Faust. Da die Klinge sich zur Spitze hin verjüngte und vom reichlich fließendem Blut feucht war, war sie für den Magier unhaltbar. Die grässlich scharfe Schneide fraß sich beim Zurückziehen tiefer ins weiche Fleisch von Gudekars Handinnenseite.

"Was habt Ihr jetzt erreicht, mit Eurem dummen Streich? Ihr wurdet beinahe getötet, Eure Hand blutet, sonst sind wir am selben Punkt wie zuvor.", ätzte die Baroness. Dann hob sie die linke, freie Hand abwehrend: "Und verschont mich mit Eurem weinerlichen, selbstmitleidigen Gerede. Es mag Euch unerklärlich vorkommen, doch ich habe weder Verständnis für, noch Mitleid mit Euch. Dieses Privileg gilt allein Eurer Noch-Frau, die etwas in Euch gesehen hat, das ich beim besten Willen nicht wiederfinden kann."

Dann deutete sie auf seine Hand und befahl mit harter Stimme: "Los, heilt Eure Hand, nicht dass sich die gesamte Familie Weissenquell am heutigen Tage steife Finger einhandelt." Mit gerümpfter Nase fügte sie hinzu: "Und was eine mögliche Untersuchung angeht - macht Euch keine Sorgen, meine Leibwächterin kann alles bezeugen, was hier…" Weiter kam sie nicht, da vor der Hütte Unruhe ausbrach.

***

Vor der Hütte

Meta war mit der Hand am Schwertgriff unbemerkt von hinten an Wolfrida herangetreten und war nun bereit, die Waffe zu ziehen, als die Wache abermals von Geräuschen aus der Hütte abgelenkt wurde. Es hörte sich an, als ob ihre Herrin die Waffe zog. Kurz darauf war ein kurzer Schmerzensschrei des Anconiters zu vernehmen, den auch Meta hörte.

Wolfrida würde nie erfahren, dass sie ihr Leben in diesem Moment einem Bannstrahler und einem Ritter, die Meta erzogen hatten, verdankte. Sie spürte harten Stahl, der fest und sehr energisch in ihren Nacken drückte. „Falsches Wort oder Bewegung und du bist tot. Hände hoch. Was ist da drin los?“

Wolfrida zuckte überrascht auf und erstarrte dann. Langsam, wie in Zeitlupe, hob sie die Arme, wie ihr geheißen war, über die Seite. In der Rechten hielt sie weiter die lange, schmale Klinge, die sich anhand des Griffkorbs als Rapier identifizieren ließ.

Dabei antwortete sie: "Die Baroness von Kaldenberg verhaftet den fliehenden Magier." Die Waffenmagd sprach deutlich und so laut, dass Arda sie unmöglich überhören konnte.

Wolfrida spürte die Wärme in ihrem Gesicht. Wie eine Anfängerin hatte sie sich übertölpeln lassen. Mehr noch als die Scham über ihre Nachlässigkeit wog die Schuld, vor Schreck das eigene Leben über jenes ihrer Schutzbefohlenen gestellt zu haben, indem sie sich den Aufforderungen dieser Angreiferin gefügt hatte.

Kurz darauf erschallte ein weiterer Ruf, diesmal eine tiefe Männerstimme, diesmal aus dem Unterholz: “Hinterhalt!”. Dann sahen beide, wie sich dem Wald eine dichte, graue Nebelwand ausbreitete und mit hohem Tempo auf sie zukam.

Als der unverkennbare Bass Nereks erschallte, mit dem sie nicht nur die Aufgabe, sondern auch das Bett teilte, als die Baroness rücklings gegen den Türpfosten stieß und sich zu ihr umblickte, war für die Leibwächterin das Maß voll. Sie sah das alarmierte Gesicht der Baroness. Auge in Auge mit ihrer Schutzbefohlenen entschied sie sich nicht mehr zwischen Leben oder Tod, sondern zwischen Ehre oder Schande.

Unvermittelt ruckte sie den Oberkörper nach vorne und entspannte ihre Beinmuskeln, um kontrolliert nach vorne zu sacken, mit der Absicht, sich am Boden abzurollen und der Gegnerin in ihrem Rücken zu stellen.

Mit lautem Klirren des Kettenhemdes rollte sich Wolfrida geschickt so ab, dass sie sich aus Metas Druck der Schwertspitze löste und kurz hinter ihrer Dienstherrin anhielt, um sich wieder aufzurichten. Sich der Gegnerin wieder zuzuwenden, dauerte einen Moment. Auch die Baroness war von der Aktion so überrascht, dass sie einen kleinen Schritt in die Hütte zurückwich, um nicht von ihrer Leibwächterin von den Füßen geholt zu werden. Meta hatte Gelegenheit zu reagieren.

// Passt, nur ist es um 180° gedreht, also Norden ist hier unten.

// Auf der Karte so wären Nerek und Mika links unten, von da kommt auch der Nebel, die anderen Jäger kommen von links den Pfad entlang.

***

Im Unterholz

Etwa 10 Schritt von der Hütte entfernt, mitten im Unterholz des Waldes verharrte abgekniet unter den Ästen einer großen Tanne Ardares zweite Leibwache Nerek. Die schlafende Mika hatte er behutsam vor sich abgelegt.

Da hörte Nerek mit einem Mal hinter sich das Rascheln schneller, sich nähernder Schritte, die wie aus dem Nichts erschienen. Er war gerade dabei sich umzudrehen, als er den Knauf einer Waffe auf sich zukommen sah.

Obwohl der Schlag mit schier unmenschlicher Geschwindigkeit auf ihn zukam, schaffte es Nerek dennoch, ihm auszuweichen, als hätte Rondra ihm persönlich beigestanden.

Er tauchte instinktiv in Richtung des heransausenden Schlags ab, dass der Waffenknauf wirkungslos an seinen breiten Schultern abprallte.

Dann machte er mehrere Sachen gleichzeitig. Er schrie nach Leibeskräften mit seinem dunklen Bass: "Hinterhalt!", wohl wissend, dass es nicht nur seine Herrin und Kollegin warnen, sondern auch einen Angreifer beeinflussen würde, wenn ihm sein Gegner kräftig ins Gesicht brüllte. Als zweites hob er den linken Arm, um den Nacken seines Gegners zu umfassen und ihn in einen Schwitzkasten zu nehmen, was ihm jedoch nicht gelang. Die Rechte hielt er sich frei, um die Waffe des Gegners kontrollieren oder die eigene ziehen zu können. Und schließlich wollte er in Erfahrung bringen, wer oder was ihn da gerade attackierte, weswegen er sich orientierte. Doch sah er plötzlich nichts mehr.

Dem Angreifer konnte sich des Eindrucks nicht entziehen, dass er unversehens an einen ziemlich kompetenten Gegner geraten war, dachte zumindest Nerek, bis ihm klar wurde, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging.

Denn einerseits war der unbekannte Angreifer schon längst von der Position verschwunden, an der Nerek ihn eben noch wähnte und auf die seine Attacke zielte, zum anderen fand sich Nerek plötzlich inmitten einer dichten, grauen Nebelwand wieder, die ihm jegliche Sicht weiter als einen Halbschritt nahm.

In geduckter Haltung zog sich Nerek einen halben Schritt zu der Position, bei welcher die schlafende Novizin lag. Der Mietling wusste den plötzlichen Nebel nur zu gut zu deuten. "MAGIE!" brüllte er nach Leibeskräften, während er sich bewegte.

Sein Auftrag lautete, die Novizin zu wecken, sobald Gefahr durch die verfluchten Paktierer drohte. Eine gepfefferte Ohrfeige sollte laut seiner Herrin genügen, um ihren alchemistisch erzeugten Schlaf zu beenden. Nicht, dass er je von so einem Schlafmittel gehört hatte, doch was wollte er die Herrin durch Fragen verärgern, sie zahlte gut und er hatte bei ihr ein gutes Leben.

Nerek packte das Mädchen am Kragen und holte mit der flachen Hand aus.

Gerade als Nerek zuschlagen wollte, um Mika zu wecken, traf ihn ein heftiger Hieb am Kinn und schleuderte seinen Kopf nach hinten. Er sank bewusstlos halb neben, halb auf Mika zu Boden.


***

Auf dem Weg zur Hütte

Der Pfad schlängelte sich weiter durch den Wald. Die Hündin der Baroness lief vorweg. Kalman war sich nun sicher, dass sie nicht mehr weit von der Hütte entfernt waren und trieb die Gruppe deshalb immer schneller an, was auch Tharga spürte und schneller lief..

“Tsch! Hört ihr das?”, flüsterte Rionn besorgt, während er die flache rechte Hand nach oben hob. “Ist das Kampflärm?”

Nivard lauschte kurz unschlüssig, dann nickte er, und gab flüsternd zurück. "Wir müssen zumindest davon ausgehen." Immer mit dem Schlimmsten rechnen. Diese Doktrin hatte er bereits in der Kadettenschule verinnerlicht, und Pruch hatte die letzten Jahre, vor allem aber auch heute, alles dafür getan, den Lehrsatz wieder und wieder aufzufrischen und in der Praxis zu bestätigen.

Die Finger in den Blutrinnen zog Nivard lautlos sein Schwert. "Haltet euch hinter uns", raunte er Imelda, Rionn und vor allem Merle zu, während er sich nach vorne, an Kalmans und Hesindiards Seite schlich. Wobei der Pfad so eng war, dass keine zwei Mann nebeneinander laufen konnten, wollte man genügend Freiraum haben, um eine Waffe zu schwingen, ohne den Mitstreiter zu gefährden. Wenn dort gekämpft wurde, war mindestens eine Seite die ihre. Dann sollten sie keine Zeit verlieren, dieser zur Hilfe zu eilen. "Vorwärts?" fragte er Kalman, dessen Bestätigung erwartend.

Auch Hesindiard machte sich kampfbereit mit Schwert und Schild und wartete auf Kalmans Befehl.

Nun war es nicht mehr zu überhören. Zwei Rufe schallten an die Ohren der Gruppe. Fast alle konnten sie klar und deutlich hören. Eine Frauenstimme rief zunächst: "Die Baroness von Kaldenberg verhaftet den fliehenden Magier." Tharga lauschte, als sie die bekannte Stimme hörte. Fast anschließend erschallte eine tiefe Männerstimme: "Hinterhalt!". Auch diese Stimme erkannte Tharga und wurde sehr wachsam, da die Gefahr aus den Vibrationen der Stimme wahrnahm. Weitere Kampfgeräusche folgten.

Kalman schaute sich kurz zu den Gefährten um, die auf dem schmalen Waldpfad hinter ihm liefen. Es ist nicht mehr weit, noch die letzte Wegbiegung. Dann beschleunigte er seinen Schritt in einen zügigen Trab, während er das Schwert zog.

Hesindiard trabte mit. Auch Nivard zog die Geschwindigkeit an, um dicht hinter Kalman und Hesindiard zu bleiben. Jetzt hieß es schnell und entschlossen zu handeln, und den Vorteil der Überraschung, so sie diesen überhaupt noch hatten, auszunutzen. Vielleicht erwuchs daraus die Möglichkeit, das ganze unblutig... oder eher ohne allzu viel Blutvergießen zu beenden.

Rionn ging mit und schickte ein Stoßgebet zur Ewigjungen. Er machte sich bereit, Tsa zu bitten, ihren Frieden zu senden und den Kampf zu beenden. “Imelda?”,, sprach er darum die Ingrageweihte an. “Darf ich das Prisma in das Licht deiner Laterne halten?”

Angespannt presste Merle die Lippen zusammen. Dass die Baroness versuchen könnte, Gudekar zu verhaften, kam für sie nicht überraschend, auch wenn es sie mit großer Sorge erfüllte. Doch als der zweite Ruf 'Hinterhalt' erklang, zuckte sie erschrocken zusammen und fühlte, wie heiße Panik in ihr aufstieg. Automatisch dachte sie an den Hinterhalt, in den Gwenn heute geraten war, an die Leiche der Frau von Kranickau, den spottenden Schergen mit der unseligen Kiste... Konnte es sein, dass der Paktierer sie hier im Wald angreifen würde? Heftig atmend hielt die junge Frau sich mit Imelda und Rionn hinter den Kämpfern und beobachtete aufmerksam den Wald um sich herum. Sie durfte sich jetzt nicht von der Angst überwältigen lassen, sondern musste sich zusammenreißen! Als Kalman und die anderen ihre Schritte beschleunigten, folgte sie wie von selbst, bemüht, der Gruppe nicht zur Last zu fallen.

Zunächst schaute Imelda irritiert den Tannenfelser an, als dieser sich an ihr vorbei drängelte. Fast wollte sie sein unhöfliches Benehmen kommentieren, da stürmten auch die anderen beiden Krieger an ihr vorbei. Vielleicht hatten sie etwas entdeckt? Dann hörte sie eine tiefe Männerstimme von weit weg, auch wenn sie nicht genau verstand, was gesagt wurde. War das etwa Kampfeslärm, den sie wahrnahm?

Die Geweihte zuckte herum zu Rionn, als dieser sie ansprach. “Aber natürlich!?”, versuchte sie leise zu flüstern. “Was ist denn los?”

“Es macht den Eindruck”, raunte Rionn der Ingrageweihten zu, “als ob es zu Kampfhandlungen kommen könnte. Das müssen wir verhindern.”

Imelda schluckte und sah den Tsageweihten ernsthaft besorgt an. Sie hielt die kleine Laterne zwischen Rionn und sich selbst hoch. Das Feuer darin prasselte mit voller Kraft und trotz des Abstandes von wenigen Ellen konnten beide die davon ausgehende Wärme der Flammen spüren. “Die Zwölfgötter sind stark und sie sind mit uns, Rionn!”

Als Tharga gefolgt von Kalman die Gruppe um die letzte Biegung führte, sahen sie keine Hütte und keine Krieger im Kampf. Vor ihnen lag über dem Waldboden auf zwei Schritt Höhe eine dichte Wand aus grauem, undurchschaubarem Nebel, der jegliche Sicht unmöglich machte.

"Hexerei!", spuckte Hesindiard aus. "Hat jemand ein Seil mitgebracht?"

“Wir müssen unbedingt zusammenbleiben, damit wir uns nicht verlieren”, ergänzte Merle mit angsterfüllter Stimme. “Bleibt bitte erst einmal alle an Ort und Stelle. Wenn wir kein Seil haben, sollten wir uns vielleicht aneinander festhalten?”

“Ich habe kein Seil”, bemerkte Kalman.

"Huckepack." schlug Nivard plötzlich vor. "Klingt verrückt, aber so könnte es gehen. Der Nebel ist ganz flach... Die drei stärksten nehmen die drei leichtesten auf die Schultern. Die sollten so über den Nebel hinweg und sich gegenseitig sehen können. Sie müssen dann 'nur' ihre Träger entsprechend dirigieren, dass wir beisammen bleiben und wissen, wohin es geht. Wer oben sitzt, muss aber immer absprungbereit bleiben. Falls wir im Nebel angegriffen werden."

Unsicher blickte Merle die Umstehenden an. Sie konnte schlecht einschätzen, wer schwerer und wer leichter war, doch empfand sie sowohl die Vorstellung, eine andere Person auf den Schultern zu tragen als auch die, von jemandem über den Nebel gehoben zu werden, als ziemlich unheimlich. So sagte sie erst einmal nichts und schaute fragend zu Kalman.

"Was aber, wenn der Feind durch seinen eigenen Nebel sehen kann? Sind die Träger ihm dann nicht schutzlos ausgeliefert? Die Getragenen können ja von oben auch nicht durch den Nebel blicken?"

Als sie merkte, dass die Zweibeiner anhielten, wartete Tharga ab, ob ihr irgend jemand folgen würde.

***

In der Hütte

"Die Baroness von Kaldenberg verhaftet den fliehenden Magier", war von draußen die Stimme der Wachfrau Wolfrida zu hören. Mit wem sprach diese wohl? Fast zeitgleich war eine zweite Stimme zu hören: "Hinterhalt!"

Gudekar klemmte sich seinen Magierstab in den Ellenbogen und hielt sich die blutende Hand, die nun dämonisch zu schmerzen und zu brennen begann. Ungläubig schaute er zu Arda, doch begriff er schnell, dass Arda sich wohl vor der Hütte abgesichert hatte. “Wenn Eure Wache sich nun so offensichtlich zu erkennen gibt, heißt das wohl nur eines: sie will Euch vor einer neuen Gefahr warnen. Das Blatt scheint sich zu wandeln.” Gudekar hoffte, dass er sich irrte, und Meta nicht dabei war, etwas Unbedachtes zu tun. Dann blickte er zu seiner Tasche und fragte: “Darf ich meine Hand versorgen?”

"Hab ich doch schon gesagt!" herrschte Arda ihn an. Sie wirkte irritiert und verärgert über die Wendung der Ereignisse. Eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn, als Nereks Ruf "Hinterhalt" erschallte. Mit einer etwas theatralischen Geste schwang sie ihre Waffe, um das Blut auf der Klinge abtropfen zu lassen, dann trat sie einen Schritt nach hinten, dass sie den Türpfosten im Rücken hatte, und drehte sich halb um, um aus der Hütte zu blicken.

Sie sah vor sich Wolfrida, mit halb erhobenen Armen, ihre Waffe noch in der Rechten. Die Geliebte des Magiers stand hinter ihr, das Schwert im Nacken der Leibwächterin. Ardas und Wolfridas Blick fanden sich. Erneut erschallte Nereks Bass, aus Ardas Rücken. Die heranrückende Nebelwand konnte die Baroness nicht sehen, da diese von ihrem Rücken her näher kam, doch sie war mit ihrer Aufmerksamkeit ohnehin auf die Szene mit Wolfrida und Meta fokussiert. Bilder stiegen in der Kaldenbergerin hoch - der leere Blick im Gesicht der tapferen Helma, ihrer vorigen Leibwächterin. Der Bäckerpruch selbst hatte Helma das Haupt abgeschlagen, als diese der Baronin von Rickenhausen das Leben rettete.

Plötzlich sackte Wolfrida, die Augen weit aufgerissen und mit angespanntem Kiefer, nach vorne. Die Wachfrau ließ sich nach vorne an Arda vorbei abrollen. Da die Baroness kurz ihren Gedanken nachhing, war sie unachtsam und erschrak durch Wolfridas Kunststück. Unwillkürlich wich sie ein kleines Stück zurück in die Hütte und achtete kurz weder darauf, was Meta tat, noch was der Magier hinter ihr trieb.

Gudekar wusste, dass ihm keine Zeit blieb, seine Hand in Ruhe mit einem Zauber zu heilen. Dafür müsste später noch Zeit sein. Er zog deshalb nur schnell ein Tuch aus seiner Tasche und wickelte es eilig, aber fest um die verwundete Hand. Die Tasche nahm er an sich und hängte sie über seine Schulter. Dann griff er nach seinem Stab und stand auf. Wenn dort draußen Meta in einen Kampf verwickelt war, würde er ihr helfen, um ihr die Flucht zu ermöglichen. Und kostete ihm dies das Leben, so wäre ihm das einerlei gewesen.

***

An und in der Hütte

Die Baroness Ardare von Kaldenberg stand halb in der Hütte, nachdem sie ihrer Leibwache Wolfrida ausgewichen war, die sich von Metas Schwertspitze erfolgreich abrollen ließ. Ardare war kurzzeitig abgelenkt und schaute überrascht zu Meta. Die junge Ritterin hatte nun Gelegenheit, die Situation auszunutzen und die nächste Aktion durchzuführen.

Auf einmal geschah so viel und Meta sehnte sich nach der Zeit, als sie eine Knappin war, die Phex etwas zu nahe stand und es mit Rondra trotzdem verbissen versuchte. Als Ritterin gab es zu viele Götter. Rondra wegen hatte sie dieser Wachfrau viel zu viel Zeit gelassen, sie war unwichtig. Meta sah Arda, die nun ebenfalls unwichtig war. Wichtig war der Nebel. Unheilig. Heilig war Rahja, die sie mit sich trug, sie hatte Verantwortung für sie und das wusste auch Gudekar. Zuvor, als sie Rahja einfach leicht beiseite geschoben hatte, war das Leben einfacher. Der Nebel. Unheilig. „Gudekar, bei Rahja. Wir sind jetzt getrennt, ja?“ Da sie glaubte, seine Antwort zu kennen, bereitete sie ihren Körper auf das vor, was sie sofort tun würde.

Drinnen in der Hütte war der Anconiter Gudekar von Weissenquell aufgestanden und ging entschlossen auf die Baroness zu, den Zauberstab in ihre Richtung haltend.

Als Gudekar Metas Worte hörte, traf es ihn wie ein Dolchstich ins Herz. Doch ja, es war das Beste so. „Lauf weg! Bring euch in Sicherheit! Hör auf das, was ich IHR gesagt habe! SIE weiß, was zu tun ist.“

Damit hatte Meta gerechnet. „Bei Rahja“, rief sie noch, während sie sich bereits um die eigene Achse drehte und rannte. Wie früher, als ihr Phex noch zu nahe stand.

Damit hatte der Nebel Wolfrida bereits erreicht.

Wer war jene 'SIE', von der sie sprachen?!, fragte sich Arda, als Meta davonlief. Obwohl der Magier für ihren Geschmack zu nahe an ihr dran war, konnte die Baroness nicht anders, als der Ritterin nachzusehen und sich über deren ungewöhnlichen Auftritt und Abgang zu wundern - als sie plötzlich sah, wie Wolfrida von dichtem Nebel überrollt wurde.

Instinktiv griff sie nach dem Arm der Leibwächterin, die ihrer Gegnerin noch unschlüssig hinterher gesehen hatte, und versuchte, diese in die Hütte hineinzuziehen - was diese, überrascht wie sie war, auch mit sich machen ließ. Das war also die Magie, von der Nerek gesprochen hatte! Gleichzeitig versuchte sie, sich von der Tür der Hütte und damit auch von Gudekar wegzubewegen.

Dieser hatte seinen Magierstab bereits auf Arda und die Wache gerichtet, und sprach nun das Wort “Plumbumbarum”. Doch konnte er sich einerseits mit der schmerzenden Hand nicht richtig konzentrieren, und andererseits war er derart davon überrascht, dass Arda in die Hütte trat und auch noch die Wache mit sich zog, sodass die Astralkraft in Gudekars Hand wirkungslos verpuffte. Erst dann bemerkte Gudekar, dass sich draußen Nebel gebildet hatte, doch dachte er sich nichts dabei, denn Nebel war zu dieser Jahreszeit in Lützeltal nichts Ungewöhnliches.

Die Baroness und ihre Leibwache konnten so unbehelligt an Gudekar vorbei in die Hütte laufen.

"Lasst die Dummheiten!" zischte Arda in unterdrückter Lautstärke. Dazu hob sie drohend das Rapier vor ihr Gesicht.

Mit düsterer Stimme fügte sie hinzu: "Wir haben jetzt andere Probleme."

Wolfrida nickte nur knapp. Ihr Gesicht zeigte, dass die Ereignisse der letzten Momente nicht spurlos an ihr vorbeigegangen waren: sie war blass, der Blick unstet.

Doch sie gab sich einen Ruck. In Verkehrung ihrer bisherigen Aufgabe postierte sie sich wieder an die Hüttenwand nahe der Tür - diesmal jedoch innerhalb der Hütte. Arda tat es ihr gleich und wählte dafür die andere Seite. Sie warf dem Anconiter nochmal einem warnenden Blick zu, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit nach außen.

„Was ist denn los? Hat Euch meine Leibwache solch eine Angst eingejagt, dass Ihr Euch plötzlich wie die Kaninchen in den Bau zurückzieht?“, fragte Gudekar, der den Nebel für ein natürliches Phänomen hielt, da er sein plötzliches Aufziehen nicht gesehen hatte. Er wollte die beiden Frauen weiter ablenken, um Meta Zeit zu Flucht zu verschaffen, die sie hoffentlich nutzte. „Seid froh, dass ich es gut mit Euch meine und Euch in Ruhe lasse, wenn Ihr Euch friedlich verhaltet“, provozierte er weiter. Andererseits machte er keine drohenden Gebärden, sondern stellte seinen Stab wieder in die Armbeuge, um seine Tasche zu öffnen und nach einem Fläschchen zu suchen. Dabei rief er nach draußen: „Verzieh Dich, Meta, bring SIE in Sicherheit! Ich habe die Baroness unter Kontrolle.“ Arda wurde aus seinem widersprüchlichen Verhalten nicht schlau, auch wenn es bei ihr Erinnerungen an den Vetter des Bäckerpruchs weckte, der - berührt von Lolgramoth - ebenfalls so unstet und inkonsistent gehandelt hatte.

Als Gudekar nochmal seine Stimme hob und Meta etwas hinterher schrie, blickte die Baroness ihn wütend an und zischte leise, aber mit Dringlichkeit in der Stimme: "Letzte Warnung!"

„Wovor wollt IHR mich warnen, wo Ihr doch gerade vor meiner Ritterin reißaus genommen habt?“ tat Gudekar die Warnung hochmütig ab. Der Anconiter stand nun mit dem Rücken zur offenen Tür vor dem einzigen Ausgang aus der Hütte.

Eine Welle der Wut kam über die Baroness, doch konnte sie einen akuten Impuls unterbinden. Statt dem Magier direkt zu antworten, gab Arda Wolfrida ein Kopfnicken. Die verstand und nickte grimmig zurück. Sie fasste Gudekar mit der freien Linken am Kragen, um ihm dann das rechte Knie in den Schritt zu rammen. (Sie wusste nicht, dass ihre Herrin ihr dabei vor einigen Stunden bereits erfolgreich "vorangeschritten" war.) Dabei stieß die Leibwächterin beim Anziehen ihres rechten Beins gegen die Klinge ihres Rapiers. Auch wenn die Klinge dabei nur harmlos wegprallte, ging ihr Angriff fehl und sie kam beinahe ins Straucheln.

Für Arda war jedoch genügend Zeit, während die beiden anderen Personen in der Hütte rangelten: Sie fixierte Gudekar, streckte geschwind ihre Zunge heraus und berührte dabei kurz ihre Zungenspitze.

Gudekar hatte noch das Elixierfläschchen in der Hand, das er aus seiner Tasche gezogen hatte, und wollte es öffnen, als ihn Wolfridas Angriff überraschte. Reflexartig wich er etwas zurück, als Wolfrida ihn packte, weil er Ardas ähnlichen Angriff ein paar Stunden zuvor noch schmerzlich in Erinnerung hatte. Dennoch war er wie paralysiert von der unerwarteten Attacke und blickte verständnislos die Wache an. So war er auch von Arda abgelenkt und nahm nicht wahr, was sie tat.

Die Leibwächterin indes hatte ihre Waffe diagonal bis zur linken Schulter erhoben. Rückhändig führte sie einen Knaufschlag in Richtung von Gudekars Gesicht.

Da Gudekar die Wachsoldatin so intensiv anstarrte, nahm er die Ausholbewegung des Schwertknaufs rechtzeitig wahr und konnte sich irgendwie, er wusste selbst nicht genau, wie es ihm gelang, gerade noch knapp unter dem Schlag wegducken. Er zeigte jedoch keinerlei Ambitionen zum Gegenschlag auszuholen.

"Das reicht!", intervenierte Arda daraufhin ungeduldig. Eine Eiseskälte kroch ihr über das Rückgrat.

Das Elixier noch immer krampfhaft in der Hand haltend spürte er plötzlich, wie seine Zunge anschwoll und er fragte mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen an Arda gerichtet: “Wa’ ‘o’ da’?”

Bevor die Baroness jedoch antworten konnte, war hinter Gudekar mit einem Mal ein helles Licht durch den Nebel zu sehen. Es war das verschwommene Licht einer Kugel, das sich nun außerhalb der Hütte schnell nach links in der Richtung des Pfades bewegte. Kurze Zeit später war aus dem Wald eine Explosion zu hören.

Mit einem herabgezogenem Mundwinkel sah die Baroness den herum stammelnden Magier pointiert an. 'Hab ich's nicht gesagt?', sprach ihre Mimik.

Wolfrida hielt inmitten ihrer Rangelei mit dem Anconiter inne, ließ dessen Kragen los und blickte wie paralysiert nach draußen.

Auch Gudekar drehte sich bei dem Explosionsgeräusch um und schaute nach draußen. Doch konnte er das Licht, das vor der Hütte gestartet war, nicht mehr sehen. Deshalb blickte er wieder zu Wolfrida und Arda. „Ua‘ ich ‘a ‘och?“ fragte er verwirrt.Das Elexierfläschchen steckte er in seine Gürteltasche.

"Na was wohl!", blaffte die Baroness in sarkastischem Ton. "Haltet endlich die Klappe und geht in Deckung!"

Wolfrida tastete nach ihren Wurfmessern. Ihre Konzentration und Kämpferinstinkte schienen allmählich zurückzukehren.

Nun, da Wolfrida endlich von dem Magier abließ, wurde auch ihm gewahr, dass wohl von draußen eine größere Gefahr drohen konnte als lediglich die Verfolger, die die Baroness mitgebracht hatte. In Deckung gehen sollte er? Doch welche Deckung gab es schon groß in dieser kleinen Hütte? So ging er zumindest erst einmal von der Tür weg und stellte sich seitlich davon an die Hüttenwand, um still abzuwarten, was wohl als nächstes passieren würde.

Die beiden Frauen blickten konzentriert nach draußen - Arda mehr als Wolfrida, die hin und wieder einen misstrauischen Blick in Richtung Gudekars warf.

Dieser verharrte jedoch still und tief atmend an der Hüttenwand und wartete ab, was geschah.

Es war jedoch für einige Zeit weder etwas zu hören noch zu sehen. Sekunden der Stille und schlimmen Erwartungen schienen sich wie Minuten oder Stunden hinzuziehen.

***

Auf dem Weg zur Hütte

Kalman schaute besorgt und stimmte Hesindiard zu. “Ich halte das nicht für die beste Idee, aus den genannten Gründen. Ein Schlag im Nebel gegen einen Träger lässt uns zu wehrlosen Opfern werden und gefährdet Träger wie Getragenen. Aber vielleicht könnte dennoch jemand hier hochgehoben werden, um die Lage zu sondieren.”

Merle, die die Arme scheinbar schutzsuchend vor dem Oberkörper verschränkt hatte, starrte mit großen Augen auf die sich bedrohlich, scheinbar unaufhaltsam nähernde Nebelwand. Was würde da drinnen mit ihnen geschehen? "Lasst uns ganz nah zusammen bleiben, ja?" wiederholte sie mit zitternder Stimme. "Wenn es hilft, kann mich jemand hochheben." Sie hatte das Gefühl, dies anbieten zu müssen, um der Gruppe zumindest irgendwie nützlich zu sein und nicht nur der Klotz am Bein für die Krieger, als der sie sich fühlte.

"Bist Du Dir sicher?" vergewisserte sich Nivard. "Soll nicht lieber einer von uns schauen? Mit dem militärischen Blick? Oder haben wir sogar jemanden dabei, der gut im Dunkeln sieht?"

"Ich würd's machen." Merle zuckte mit den Schultern. "Aber mit einem militärischen Blick kann ich natürlich nicht dienen."

Kalman warf einen kurzen Blick auf die Umstehenden und stellte dann fest: “Merle, ich denke, du bist von uns die Leichteste. Dich hochzuheben sollte zwei von uns Kriegern zusammen nicht schwerfallen. Herr von Tannenfels, würdet ihr uns derweil Deckung vor dem Nebel geben?”

Nivard nickte und tat, wie ihm geheißen.

Kalman steckte sein Schwert zurück in die Scheide, beugte sich vor und formte mit seinen Händen einen Trittbügel, dann forderte er Hesindiard auf, es ihm gleichzutun, und deutete zu Merle, dort hinein zu steigen.

Der Krieger nickte, steckte ebenfalls sein Schwert ein und legte den Schild auf den Boden, bevor er sich neben Kalman stellte und einen zweiten Steigbügel formte. "Auf Drei?!"

Merle nickte knapp, stieg mit dem Fuß in Kalmans verschränkte Hände, fasste die beiden Männer an den Schultern und wartete auf das Signal, um dann auch in Hesindiards "Steigbügel" zu treten und sich mit einem Ruck hochzuziehen. Kurz ging ihr durch den Kopf, wie sie gestern Abend bei der Nachtwanderung aus purem Übermut mit Doratrava und Vinja akrobatische Kunststücke versucht hatte. Das schien ihr jetzt unendlich lange her zu sein, wie in einem ganz anderen Leben… Sie bemühte sich, die Gedanken abzuschütteln, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren und hoffte, sich nicht allzu ungeschickt anzustellen.

Kalman zählte: „Eins, zwei, und drei!“. Und als Merle auch den zweiten Fuß in Hesindiards Hände stellte, richtete er sich zusammen mit dem Krieger auf und hob Merle in die Höhe.

Merle konnte nun über das Nebelfeld hinwegsehen, das unnatürlich eben auf zwei Schritt Höhe den Waldboden überdeckte. Eine Fläche von etwa 15 mal 15 Schritt Ausmaß überdeckte es, einige Schritte vor ihnen beginnend bis etwa zur Waldhütte, deren Dach wie ein Felsen hinter dem Nebelsee hervorschaute. Die Wolken, die noch am Tage ein Unwetter über das Tal brachten hatten sich vollends verzogen, und so konnte das Madamal, das noch fast in seiner vollen Gestalt am Nachthimmel stand, den lichten Laubwald in ein unheimliches, weißblaues Licht tauchen. Die Sterne funkelten am schwarzen Firmament. Durch den Nebel jedoch war zunächst nichts zu erkennen.

Ein bisschen zittrig ließ sich Merle von den beiden Männern nach oben drücken und sah sich um. "Dieser Nebel steht wirklich nur vor der Hütte", rief sie nach unten. "Es ist ganz seltsam - so ein kleines, abgegrenztes Feld, vielleicht fünfzehn mal fünfzehn Schritt. Da drüber und drumherum ist alles klar und frei." Sie schaute sich noch einmal gründlicher um und suchte die Umgebung nach Ungewöhnlichem ab. "Also, eigentlich könnten wir versuchen, den Nebel zu umlaufen. Dann haben wir die Wand der Hütte als Orientierung, um den Eingang zu finden."

Rionn hielt derweil sein Prisma vor Imeldas Laterne, um ihr Licht in die Regenbogenfarben aufzuteilen. Das gebrochene Licht der Laterne schien in den bunten Farben leuchtend in den Nebel hinein und tauchte diesen in ein schillerndes Farbspiel. Der Tsageweihte begann zu beten und die Ewigjunge zu bitten, dass sie eine Zone des Friedens schaffen möge.

Und Tsa erhörte das Gebet Rionns bald darauf. Die bunten Farben, die das Prisma in den Nebel sandte, fingen an, wie kleine Sterne zu funkeln, vermehrten sich und bildeten nach und nach eine kleine Kuppel wie aus einer in den Regenbogenfarben schillernden Seifenhaut um die Gruppe. Doch noch war diese Kuppel klein und durchlässig, zunächst waren es einzelne Funken regenbogenfarbender Sternchen, die sich langsam zu murmelgroßen Kugeln ausdehnten, als ein anderes Licht aus dem Nebel auf Rionn und die Gruppe zu kam.

***

Tharga spürte nun eine große Bedrohung aus diesem Nebel und wusste, dass nicht nur sie und diese Zweibeiner hier in Gefahr waren, wenn sie weiter stehen blieben, sondern auch ihre Herrin, die irgendwo in oder hinter diesem Nebel sein musste.

Ein letztes Mal blickte die Hündin zu der Gruppe Zweibeiner, die ihr so plump, so langsam, so behäbig durch den Wald gefolgt war. Wie umständlich sie waren!

Sie gab ein kurzes Winseln von sich. Gerade die Frau, die so nach Rauch und Eisen roch, hatte sie lieb gewonnen… Dann wandte sie sich ab und war mit einigen Sätzen im Nebel verschwunden, geleitet von Instinkten und einer Fährte, die stärker war als jede weltliche Spur. Das eigene Rudel war wichtiger!

Tharga versuchte, der Fährte ihrer Herrin zu folgen, doch der Nebel verwirrte die Sinne, selbst jene, die den meisten Lebewesen verschlossen blieben, aber Tharga und ihre Herrin verbanden. So hielt sich Tharga eher am Rand des Nebels, denn sie spürte, dass sie auch so zu Arda finden würde. In einem Bogen rechts um das Nebelfeld herum suchte sie ihren Weg.

***

Plötzlich sah Merle im Nebel vor der Hütte ein Licht erscheinen, das wie das verschwommene Licht einer Kugel aussah, dann bewegte es sich schnell auf die Gruppe zu. Schließlich war es auch von unten zu sehen, ein Licht, das sich schnell auf sie zubewegte.

"Da ist was!" schrie Merle plötzlich schrill auf. "Vorsicht!" Sie versuchte den beiden Männern, die sie hielten, mit hastigen Bewegungen zu signalisieren, dass sie hinuntergelassen werden wollte, ließ sich dann selbst unkoordiniert herunterrutschen und versuchte so schnell wie möglich vor der heranschnellenden Lichtkugel zu fliehen.

Nachdem Merle an ihm heruntergerutscht war, nahm Hesindiard seinen Schild wieder auf und zog, ob der Warnung, sein Schwert. Gespannt blickte er in den Nebel und wartete darauf, dass sich der Schatten eines Kriegers aus diesem schälen würde. Nicht ahnend, dass Merle keinen Krieger, sondern ein magisches Licht gesehen hatte, was er dann aber wahrnahm, nachdem er Schild und Schwert parat hatte.

“Deckung!”, rief die junge Ingrageweihte lauthals allen zu. Sie hielt die Luft an und rannte schnell hinter den nächsten Baum seitlich des Weges. Dabei versuchte sie Rionn, welcher noch direkt neben ihr stand, mitzuziehen. Noch während sie Schutz suchte, begann sie zu ihrem Gott zu beten: “HERR DER FLAMMEN. MEISTER DES FEUERS! LASS’ MICH TEIL DEINER WELT WERDEN UND SCHÜTZE MICH!” Bei jedem Wort, welches sie sprach, loderte das Feuer in ihrer kleinen heiligen Laterne immer kräftiger und intensiver. Fast erschien es für einen Moment, als würde die Laterne in ihrer Hand selbst in Flammen stehen.

“Ohje!”, rief Rionn nur laut erschrocken aus. Dann ließ er sich von Imelda mitziehen und ging in Deckung. Damit hatte er nicht gerechnet. War das Gudekar, der sie angriff?

Viel Ahnung hatte Nivard nicht von Magie, aber er hatte auf der Akademie gelernt, dass es fast nie falsch war, Licht- oder gar Feuerkugeln, noch dazu magischer Natur, die aus unbekannter Hand auf einen zuflogen, so rasch und so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Also tat er dies und stob seitwärts von ihrer jetzigen Position weg, noch immer das Schwert zur Verteidigung bereit.

Kalman versuchte noch, Merle beim Hinunterkommen von seiner Schulter zu helfen, damit sie nicht hart auf den Boden aufschlug, dann zog er sie weg von der Stelle, an der sie gerade noch standen und auf die die Lichtkugel geradewegs zuzufliegen schien. Alles in Merle schrie danach, panisch wegzurennen und zu fliehen; instinktiv versuchte sie sich von ihrem Schwager loszureißen, konnte sich seinem Griff jedoch nicht entwinden. Schließlich machte Kalman einen letzten Hechtsprung auf den Boden, bei dem er Merle mit sich zog. Behende landete er so, dass er Merle weitestgehend mit seinem Körper decken konnte.

Dann traf die Lichtkugel Hesindiards Schild und explodierte mit einem lauten Knall, wobei der Schild zerbarst. Kleinere Feuerbälle stoben in alle Richtungen davon und trafen die Gefährten, wobei ihre Kleidung in Brand geriet. Auch an einigen Baumstämmen zerbarsten kleinere Feuerbälle und steckten die Rinde in Brand. Es war für Imelda sehr schnell offensichtlich, dass allein der Regen des Tages verhindert hatte, dass hier heute ein größerer Waldbrand entfacht wurde.

Kalman schaffte es mit seinem Sprung der Hauptexplosion auszuweichen und trug nur kleinere Brandwunden davon. Als er getroffen wurde, schrie er dennoch kurz auf, “Argh!”, aber mehr vor Schreck denn vor Schmerz. Doch spürte es, dass sein Wappenrock Feuer fing, und wälzte sich sogleich im schlammigen Boden, um die Flammen zu ersticken.

Merle verdrehte sich - völlig verdutzt, als Kalman sie mit sich zu Boden riss - unglücklich den linken Knöchel, und schrie ob des plötzlichen Schmerzes noch im Fallen laut auf. Erst, als sie sich mit Kalman auf dem schlammigen Boden wiederfand, wurde ihr gewahr, dass ihr Kleid und ihr Mantel an verschiedenen Stellen lodernd brannten. Erschrocken riss sie den Mantel von sich und rollte sich ähnlich wie Kalman auf dem Boden herum, um die Flammen zu löschen.

Kalman schaute sich sogleich erst nach Merle und dann nach den anderen Gefährten um, um zu sehen, wie sie den Angriff überstanden hatten. “Status?” rief er fragend in die Runde.

Der Krieger lag reglos im Matsch und brannte. Eine Antwort gab er nicht.

Nivard wälzte sich noch im Dreck. "Heiß... Verbrannt. Aber geht schon... arrggh." Das Feuer war zwar gelöscht, aber der Schmerz setzte an seinen verbrannten Hautstellen gerade erst ein. "Muss gehen." fügte der junge Krieger gepresst hinzu. "Wenn ich den Drecksack in die Finger bekomme, bekommt er mein Schwert zu fressen."

Erschrocken kauerte Rionn sich neben Imelda hinter dem Baum und klopfte die brennenden Stellen seines regenbogenfarbenen Gewandes beinahe panisch mit seinen Händen aus. Er brauchte einen Moment, um sich von dem Schrecken zu erholen. Dann blickte er sich um.

Merle nickte Kalman knapp zu, um ihm zu signalisieren, dass sie soweit in Ordnung war, obwohl die drei Stellen an ihrem Oberkörper und Arm, wo die brennende Kleidung sich bis in die Haut gesengt hatte, nun stärker schmerzten, als der umgeknickte Knöchel es tat. Sie rappelte sich so schnell wie möglich auf, stieß einen halb schluchzenden, halb schreienden Laut aus, als sie versuchte, mit dem verletzten Fuß aufzutreten und versuchte humpelnd einen Baum zu erreichen, um dort Deckung vor dem nächsten Einschlag zu suchen, den sie unweigerlich erwartete.

Dann schloss sich die Aura des Regenbogens um die Gefährten. Sie standen – oder lagen – wie in einer riesigen, in allen Farben schillernden Seifenblase.

Merle stolperte schwer atmend zu einem dicken Baumstamm, nicht weit von jenem, hinter dem Imelda und Rionn Deckung gefunden hatten, und starrte mit großen Augen die schillernde Kuppel an. Konnte diese sie vor weiteren Feuerbällen schützen? Hastig begutachtete sie die Verbrennungen, die sie davongetragen hatte, dank Kalmans Schutz nur ein paar kleine, aber empfindlich schmerzende Stellen. Doch wenn noch mehr von diesen Geschossen kamen, würden sie nicht lange überleben, das war ihr klar. Vorsichtig versuchte sie, hinter dem Baum hervorzuluken und aus ihrer Deckung heraus zu erkennen, ob weitere Lichtkugeln sich näherten. War das Gudekar? Versuchte er zu fliehen, indem er sie alle diesem verheerenden Flammensturm aussetzte? Die Frauenstimme eben hatte etwas davon gerufen, dass die Baroness den Magier verhaften wollte, dann hatte ein Mann ‘Hinterhalt!’ und ‘Magie!’ gebrüllt… Beherrschte Gudekar derart mächtige Zauber? Würde er soweit gehen, seine Frau und einstigen Freunde bis auf den Tod zu attackieren, um sich und der Ritterin die Flucht zu ermöglichen?! Mit einem gequälten, entsetzten Schluchzen, das aus ihrer Kehle drang, musste Merle sich eingestehen, dass sie ihrem Mann genau das zutraute. Schutzsuchend und mit panisch schlagendem Herzen kauerte sie sich am Fuße des Stammes zusammen.

Kalman jedoch konzentrierte sich auf den reglos da liegenden Krieger, der eben noch so kraftvoll neben ihm stand und Merle hochhob. Geduckt eilte er zu Hesindiard hinüber, drehte ihn auf den Rücken und schlug mit bloßen Händen die Flammen auf dessen Kleidung aus, die dabei nicht erloschen waren. “Er ist schwer verwundet und bewusstlos!” rief Kalman den Gefährten zu. “Helft mir, ihn in Deckung zu ziehen!”

Rionn riss sich zusammen und versuchte auch allen Mut zu ergreifen, der irgendwo noch übrig war. Dann sprang er auf, um zu Kalman und Hesindiard zu sprinten und dabei zu helfen, ihn aus der Schusslinie zu bringen.

Langsam öffnete Imelda wieder ihre Lider, als sie ihr Gebet beendet hatte. Die kleine Laterne prasselte lichterloh und die Geweihte machte zunächst einen benommenen Eindruck. “Geht es dir gut?”, fragte sie Rionn leise, wobei es wirkte, als ob sie etwas geistesabwesend durch ihn hindurch sah. Dann runzelte sie die Stirn, als der Tsageweihte plötzlich loslief. Erst jetzt erkannte sie sein Ziel. “HESINDIARD!”, schrie sie aus voller Kehle auf und rannte ihm, so schnell sie konnte, zu dem verwundeten Krieger hinterher.

Nivard stemmte sich ebenfalls in die Höhe und eilte die wenigen Schritt zu den anderen, um mitanzufassen, wo Not am Mann war. Gleichzeitig versuchte er, den Nebel im Auge zu behalten, ob er irgendwo verdächtig heller wurde. Ihr Feind sollte es nicht noch einmal so leicht haben wie eben. Nun fiel sein Blick auf die Brandwunden Hesindiards. "Große Mutter,” entfuhr es ihm, “das sieht nicht gut aus… los, lasst uns schnell machen."

Imelda stand fassungslos neben den anderen, welche sich um den armen Krieger kümmerten. Dann kniete sie sich zu Hesindiard und ergriff dessen Schwert, welches er nicht mehr in seiner Hand hielt. SIe richtete sich auf und zog prüfend einen senkrechten Streich durch, wobei der Stahl leise durch die Luft pfiff. “Gute Klinge, aber wenn ich zurückkehre, dann schmiede ich dir ein besseres Schwert, Hesindiard”, sagte sie leise zu sich selbst. Ohne weitere Vorwarnung begann Imelda mit gezogener Waffe voran in die Richtung zu sprinten, aus der sie die Quelle des Feuerballs vermutete. Sie war unter Rittern aufgewachsen und als Waffenschmiedin wusste sie ein Schwert kräftig und zielgerecht zu schwingen. Ganz sicher rechnete der Feind nicht mit ihrem Angriff, dachte sie.

***

Im Nebelfeld

Imelda fühlte sich, als würde sie die Umgebung aus einem anderen Blickwinkel wahrnehmen, als würde sie von oben auf sich und die Szenerie schauen. Details des Waldes wurden unwichtig. Die Gefährten wurden nichtig, waren sie doch so eingeengt in ihrer derischen Existenz. Imelda schwebte über den derischen Limitationen. Nächtliches Mondlicht oder Nebelwand wurden einerlei, es gab nur noch das Ziel, den Verursacher des Feuerballs zu vernichten. Feuer war gut, die Macht des Feuers war unendlich und formte die Welt, wie es Eisen zu formen im Stande war. Es spendete Wärme und war so im Stande, Leben zu schenken, wo der Herr Firun alles erstarren ließ. Doch es nahm auch Leben, und wenn die Macht des Feuers allein dafür gerufen wurde, war dies oft ein unheiliger Akt, vorallem, wenn sich das Feuer gegen Streiter in Zwölfgöttlicher Mission richtete. Imelda erkannte, dass ein solcher Akt gegen das stand, wofür ein getreuer Heilmagier aus seiner Überzeugung her eintrat. Sollte ein Heiler dies tun, so musste er den Zwölfen vollends entsagt und sich einem ihrer Widersacher verschrieben haben. Doch würde ein solcher Verräter allein handeln, so ungeschützt? Oder hätte er nicht eher Helfer gefügig gemacht und einen oder mehrere seiner Schergen um sich versammelt? Kämpfer, die er ebenfalls für seine Sache verführt hätte und die sein schmutziges Werk vollenden würden? So wie die Berichte von dem Überfall auf den albenhuser Efferdtempel vor einem Götterlauf berichteten? Imelda wusste nun, das Feuer schrie es ihr förmlich zu, dass sie achtsam sein musste, um nicht in die Klingen der Schergen des Frevlers zu rennen. Und kaum hatte sie den Rand des Nebels erreicht, sah sie auch die Schemen eines gewaltigen Mannes, der seine Klinge bereit hielt, um die auf ihn zustürmende Geweihte von den Füßen zu fällen wie einen jungen Baum. Als hätte er auf sie gewartet. Und da schnellte ihr seine Klinge bereits entgegen. Doch dank ihrer Eingebung sah Imelda den Angreifer gerade noch rechtzeitig, um dessen Schlag mit dem Langschwert Hesindiards abzuwehren und die Laufbahn der gegnerischen Klinge umzulenken. Ganz so, wie sie es bei den vielen Schwertübungen mit ihrem Bruder gelernt hatte. So verfehlte ihr Gegner sein Ziel nur um Haaresbreite, wobei ihr tatsächlich eine einzelne rotblonde Locke abgeschnitten wurde. Zu ihrer Verwunderung schienen sich die beiden Schneiden der Klingen beim Aufprall ineinander verhakt zu haben. Aus dem Affekt heraus, ohne nachzudenken, schwang sie daraufhin mit ihrer Linken dem Feind die lichterloh brennende Laterne in weitem Bogen entgegen, während sie mit der Rechten das Schwert ihres Opponenten weiter zu blockieren versuchte. Ein hell auflodernder Schwall brennenden Lampenöls schwappte in Richtung des Angreifers, dem dieser mit einer ungewöhnlich hohen Geschwindigkeit auszuweichen versuchte, was ihm jedoch nur zum größten Teil gelang. Ein Schwall des Öls ergoss sich auf den feuchten Waldboden und brannte dort weiter, wobei ein heruntergefallener Ast lichterloh in Flammen aufging. Doch ein Teil der Öls traf die rechte Schulter des Angreifers und setzte sofort dessen Mantel in Flammen. Dennoch, das Feuer ignorierend, versuchte er mit der Linken Imeldas Schwerthand zu ergreifen und festzuhalten, doch führte sein missglückter Ausweichversuch dazu, dass er Imeldas Arm nicht richtig erwischte und mit der Hand abrutschte.

Nun konnte Imelda den Mann erkennen, der gegen sie kämpfte. Er war ein regelrechter Hühne, an die zwei Schritt hoch und kräftig gebaut mit breiten Schultern. Sein langes blondes Haar war nach hinten gekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Das Gesicht war von einem gepflegten Stoppelbart bedeckt. Seine blauen Augen schauten entschlossen, doch hatte Imelda den Eindruck, in ihren Tiefen eine Freundlichkeit zu sehen. Wenn er nicht gerade versucht hätte Imelda zu töten, hätte sie sich vorstellen können, mit ihm im Wirtshaus einen kräftigen Schluck Met zu teilen.

Eine schwache Bewegung ließ Imelda kurz zur rechten Seite blicken, wodurch sie den zweiten Mann sah, der eine Armbrust genau auf sie gerichtet hatte und vermutlich dabei war, den Finger am Abzug zu bewegen.

Imelda hatte keine Zeit, über das, was hier gerade geschah, nachzudenken. Sie musste einfach irgendwie funktionieren. Kräftig zog sie ihr Schwert zurück, wodurch sich die beiden Klingen wieder voneinander lösten, dann hielt sie es ausgestreckt vor sich, um den Gegner auf Distanz zu halten. Als sie den Schützen aus dem Augenwinkel bemerkte, machte sie instinktiv einen flinken Ausfallschritt nach links um den Schwertkämpfer herum, sodass dieser selbst die Schussbahn versperrte. Angespannt beobachtete sie ihn und wie seine Kleider mehr und mehr in Flammen aufgingen. Immer wieder bewegte sie sich mit kleinen Sätzen nach links oder rechts, um den Gegner stets zwischen sich und dem Armbrustschützen zu halten. Auch ihre eigene Kleidung wurde vom Feuer nicht verschont. Ihre beiden Ärmel standen inzwischen lichterloh in Flammen und ein beißender Geruch ging von ihnen aus. Doch die Ingrageweihte nahm dies als selbstverständlich hin.

Imeldas Versuch, sich hinter den Schwertkämpfer zu bringen war zunächst erfolgreich. Ihr Gegner tänzelte ein, zwei mal hin und her, um auszuloten, wie Imelda reagierte. Als er jedoch immer mehr unter der Hitze seines brennenden Mantels zu leiden begann, nutzte er schnell eine Gelegenheit, um sich behende seitlich auf den Boden fallen zu lassen und geschickt abzurollen. Die freiwerdende Lücke nutzte der Armbrustschütze, um seinen Bolzen in Imeldas Richtung abzufeuern. Der brennende Mantel seines Kumpanen erleichterte ihm dabei die Sicht ein wenig.

Die junge Ingrageweihte hatte den Schuss nicht kommen sehen. Ein betäubender Schlag erklang in ihren Ohren, der Kopf wurde ihr nach hinten geschleudert und sie spürte einen gleißenden Schmerz, der sich von oben immer weiter in ihren Geist einbrannte. Dumpf schlug Imelda mit dem Hinterkopf auf den harten Waldboden auf und verlor umgehend das Bewusstsein. Es war dem Tellerhelm von Meister Limrog zu verdanken, welcher den tödlichen Schuss aus nächster Nähe in seiner Flugbahn so ablenkte, dass Imelda nur einen Streifschuss erhielt. Blut rann langsam aus ihrem Haar, während die Kleidung und die Beuteltasche der Ingrageweihten nun vollständig in Flammen aufgingen. Einzig der Schmiedegürtel und die kleine Laterne schienen unbeeindruckt den Flammen zu trotzen.

***

Unter der Aura des Regenbogens

Nachdem sie die Flammen seiner Kleidung gelöscht und damit weiteren Schaden verhindert hatten, zogen Kalman, Nivard und Rionn den bewusstlosen, aber beruhigenderweise noch lebenden Hesindiard gemeinsam zu der Baumgruppe in Deckung, hinter der sich auch Merle versteckt hatte.

„Merle!“ versuchte Kalman seine Schwägerin aus ihrer Lethargie zu wecken. „Kannst du ihm helfen und seine Wunden versorgen?“

Die junge Frau schreckte aus ihrer kauernden Haltung hinter dem Baumstamm auf und starrte Kalman für einen Moment furchtsam an, dann fing sie sich anscheinend und eilte an Hesindiards Seite, wobei sie beim Auftreten ihres linken Knöchels schmerzvoll das Gesicht verzog. Merle kniete sich neben den Oberkörper des Kriegers und überprüfte schnell und methodisch, ob er atmete und einen Puls hatte. Danach sprach sie ihn mit klarer, lauter Stimme an, während sie mit der Hand an seiner Schulter rüttelte: "Herr Hesindiard, seid Ihr wach?! Könnt Ihr mich hören?"

Die grundlegenden Lebenszeichen waren da, auch wenn sein Atem sehr flach war.

Merle bedeutete den Männern, Hesindiard vorsichtig von seinem Kettenhemd zu befreien. Sie versuchte derweil, seine Beine etwas höher zu lagern.

Der Tsageweihte folgte Merles Weisungen und begann vorsichtig, dass Kettenhemd von Hesindiards Leib zu lösen und es ihm über das Haupt hin auszuziehen.

Auf seinem Bauch prangte eine ordentliche Brandwunde, die dank des Kettenhemdes nur mit wenig Schlamm verdreckt war, obwohl er bäuchlings im Matsch gelegen hatte.

Merle rückte näher an den Krieger heran, um die Wunde genauer zu begutachten. Glücklicherweise war die Haut zwar stark gerötet und begann Blasen zu bilden, jedoch schien die Verbrennung nur an ein paar kleinen Stellen so tief zu gehen, dass die Haut in offenen Fetzen hing. “Hat jemand einen Wasserschlauch oder einen starken Schnaps hier?” fragte Merle in die Runde. “Und Verbandszeug oder sauberen Stoff?”

Kalman wirkte etwas ratlos, denn an solche Dinge hatte er nicht gedacht. ‘Ach, wäre doch jetzt nur Gudekar hier, wenn man ihn mal braucht!’ waren kurzzeitig seine Gedanken, bevor ihm sofort wieder einfiel, dass sein Bruder vermutlich ganz in der Nähe war und warum sie eigentlich hier waren. Dennoch, er musste es versuchen. Er rief aus voller Kehle: “Gudekar! Wir brauchen deine Hilfe! Hörst du mich?” Was sollte schon geschehen? Entweder Gudekar stand noch auf ihrer Seite, dann könnte er vielleicht helfen. Oder sein Bruder hatte sich tatsächlich dem Feind angeschlossen, dann würde seine Bitte wohl nichts ändern.

"Was soll das bringen? Jetzt weiß der Feind nur noch besser, wo wir stecken!" zischelte Nivard.

“Ich denke, der Angriff mit dieser Feuerkugel hat gezeigt, dass der Feind sehr genau weiß, wo wir sind. Spätestens nach unseren Schmerzensschreien”, entgegnete Kalman leicht resigniert.

"Woher willst du wissen, dass es nicht Gudekar selbst war, der uns die Feuerkugel entgegen geschleudert hat?!" zischte Merle mit ängstlich geweiteten Augen ihrem Schwager entgegen.

"Wo ist eigentlich Ihre Gnaden Imelda?" Nivard fuhr herum in die Richtung, in die er sie gerade aus dem Augenwinkel hatte verschwinden sehen, selbst noch zu fokussiert darauf, Hesindiard zu helfen. "Bei den Göttern. Ich hoffe, sie hat sich nicht in noch ernstere Probleme begeben."

“Mögen die Götter ihr beistehen!” meinte auch Kalman.

Verzweifelt blickte Merle zwischen Nivard, Rionn und Kalman hin und her. "Hat wirklich niemand Wasser oder Alkohol zum Reinigen der Wunde?" Weil sie sonst nichts tun konnte, begann sie den Rock des frischen Kleides, das sie erst im Haus des Dorfschulzen angezogen hatte, in gleichmäßige Streifen zu zerreißen, genauso wie sie es vor ein paar Stunden am See getan hatte, um Doratravas Wunden zu verbinden. Auch das schien ihr inzwischen wieder Ewigkeiten her zu sein.

“Tut mir leid”, antwortete Rionn zerknirscht. “Ich habe mal wieder meine Tasche im Herrenhaus liegen lassen.” Nun hatte der Tsageweihte keinen Novizen mehr, den er schicken konnte, die Tasche zu holen. Ein wenig zögerte er, erneut die Göttin um Heilung zu bitten, denn er merkte, dass er ihr Wohlwollen bereits sehr in Anspruch genommen hatte. Dann entschied er sich doch einen Wundsegen zu erbitten. Wilden Knoblauch hatte er noch dabei.

Nivard begann an seinem Gürtel zu nesteln. “Doch… nimm das hier.” Er reichte Merle ein kleines Fläschchen. “Tannspitz. Von zu Hause. Für die Wunde… und gegen die Schmerzen… wenn er wieder aufwacht.” Dann ging sein besorgter Blick zu Kalman. “Wir können ihre Gnaden nicht alleine ins Verderben rennen lassen?”

Dankbar nahm Merle die Flasche entgegen und begann mit dem scharfen Brand vorsichtig die Verletzung zu reinigen. Ein paar kleine, verbrannte Fetzen der Tunika schienen in die Haut eingebrannt zu sein und hingen hartnäckig an den offenen Stellen der Wunde; diese beließ Merle an Ort und Stelle, um nicht noch mehr Schaden zu verursachen. Immer wieder blickte sie in Hesindiards Gesicht und prüfte, ob er aus seiner Ohnmacht erwachen würde, so dass sie Nivards Frage erst nach einigen Augenblicken bewusst mitbekam. Sie hielt inne, hob den Blick und starrte entsetzt in den undurchdringlich scheinenden Nebel. “Sie ist da reingegangen?”

Kalman nickte entschlossen und zog sein Schwert, um loszustürmen und die junge Ingrageweihte zu unterstützen.

Dann drang aus dem Nebel eine andere Stimme an ihre Ohren, die sie nicht kannten. Die Worte, die sie sprach, waren jedoch zunächst schwer zu verstehen. Doch waren sie wohl nicht an sie gerichtet, sondern anscheinend an eine andere Person.

„Pst! Hört ihr das? Könnt ihr die Worte verstehen?“ fragte Kalman, der nun doch erst einmal abwartete.

Merle registrierte Kalmans Worte nur mit halbem Ohr, da sie wieder voll und ganz darauf konzentriert war, Hesindiards Brandwunden mit dem Tannspitz zu reinigen. Sie glaubte zu spüren, dass Rionns Heilliturgie wirkte und ging dazu über, auch eingebrannte Stoffstückchen und fester klebende Schmutzpartikel rigoros aus der Wunde zu entfernen, selbst wenn dies neue kleine Verletzungen verursachte und zarte blutige Rinnsale aus der empfindlichen Haut sickerten. In Gedanken schloss sie sich dem Gebet an die Ewigjunge an, während ihre Hände mechanisch ihr Werk taten.

Und tatsächlich erhörte Rionns Göttin seine Gebete abermals, denn langsam, ganz langsam aber dennoch sichtbar, fingen Hesindiards Wunden an, sich zu schließen.

“...o Ewigjunge, hilf doch! Mach, dass sich die Wunden schließen. Lass aus dem was das Feuer verbrannt und vernichtet hat, das Fleisch und die Haut neu werden, gesund, wie es vorher war…” Der Tsageweihte murmelte weiter fort das Gebet des Wundsegens, während er vorsichtig ebenfalls die Wunden bestrich, allerdings mit zerriebenem, wilden Knoblauch.

Aufmerksam beobachtete Merle, wie sich die böse Verbrennung an Hesindiards Bauch veränderte und langsam heil wurde; sie streckte die Hand aus, um die Temperatur seiner Stirn zu fühlen. Schließlich schüttelte sie den Krieger noch einmal sanft an der Schulter, in dem Versuch, ihn aus seiner Ohnmacht zu wecken. “Herr Hesindiard, hört Ihr mich? Wacht bitte auf!”

Langsam kam der Krieger wieder zu Bewusstsein. Zunächst flackerten seine Augenlider leicht, dann schlug er sie auf.

"Wer? Was? Wo bin ich?", fragte der Krieger und wollte sich erheben. Augenblicklich spürte er Schmerzen und ein leichter Schwindel trübte seinen Blick.

Kurz erschreckte sich Rionn, als Hesindiard Anstalten machte, sich zu erheben. Wenn der Krieger jetzt das Ritual unterbrach mochte es nicht seine volle Wirkung entfalten oder gar seine gewünschte Wirkung vollends verlieren. Es schossen Gedanken durch den Kopf des Tsageweihten, ob er Hesindiard beruhigen sollte, aber auch da hätte Rionn das Gebet unterbrechen müssen. Daher war er sehr dankbar, als Merle schließlich eingriff.

"Ruhig, Herr Hesindiard, bleibt erstmal liegen", redete Merle mit leiser, sanfter Stimme auf ihn ein. "Es wird Euch gleich besser gehen... einen Moment noch."

„Seid doch bitte etwas leiser“, bat Kalman. „Ich verstehe nicht, was dort hinten geredet wird.“ Dies und auch die Kampfgeräusche aus der Richtung, in die Imelda gegangen war, ließen Kalman vorangehen und aus der Regenbogenaura hinaus bis an den Rand des Nebelfeldes treten, wobei er sein Schwert zog.

Hesindiard wurde von berufener Seite gut versorgt - er selbst konnte hier nichts mehr tun. Jenseits des Nebels aber waren Freunde in Gefahr, und es lauerte ein Feind. Seine eigene Brandverletzung konnte... musste noch warten. Nivard biss die Zähne zusammen, und trat leise an Kalmans Seite, ebenfalls angestrengt in die weiße Schemenlosigkeit vor ihnen lauschend.

Aus der Richtung des Kampfes folgte das Geräusch eines sich lösenden Armbrustbolzens, der gegen etwas Metallenes traf, und die Kampfgeräusche verstummten. Eine dunkle Männerstimme rief: “Hab sie!”

***

Hinter dem Nebelfeld

Meta indes hatte nach ihrer Flucht von der Hüttentür die Stelle erreicht, an der die beiden Pferde von ihr und Gudekar festgebunden waren. Sie war froh, dass der Nebel ihr nicht zu folgen schien. Momentan breitete er sich nicht weiter aus, sondern verdeckte lediglich die Gegend vor der Hütte.

Meta löste den Knoten an den Zügeln ihres Pferdes und führte es den Pfad entlang tiefer in den Wald hinein. Doch wo würde der Pfad hinführen? Tiefer in den Wald hinein wollte sie nicht, sie wollte zur Straße nach Hart, doch die lag in der anderen Richtung. Und dazwischen lag der Nebel und vermutlich weitere Verfolger.

So blieb sie etwas weiter stehen, hielt das Pferd und atmete an dessen Hals den so vertrauten und beruhigenden Geruch und sortierte ihre Gedanken. Der Rucksack war in der Hütte, Geld hatte sie ohnehin keines mehr. Darüber würde Meta sich später sorgen. Jetzt musste sie entscheiden, welchen Weg sie nehmen würde. Nach Hart. Also erstmal zurück in Richtung dieses grässlichen Dorfes. Dem Weg, der im Wald verschwand, warf sie einen grummeligen, düsteren Blick zu, dann drehte sie sich entschlossen um und ging Richtung Nebel. Er schien sich nicht weiter zu bewegen, wie eine Spinne hatte er wohl sein Opfer eingeschlossen. Einige Schritt vor der Nebelwand musste sie etwas energischer mit dem Wallach umgehen, damit sie ihn auf einen Wildwechsel lenken konnte, auf dem sie hoffte, das Unheilige umgehen zu können.

Der Wildwechsel war noch schwieriger als Weg auszumachen, als es der abgetretene Jägerpfad war, doch folgte Meta diesem so, dass sie einen gleichbleibenden Abstand zu dem Nebelfeld halten konnte. Der lichte Herbstwald ließ das Licht des Madamals soweit durch die fast kahlen Äste scheinen, dass Meta ihren Weg doch gut finden konnte. Groß war das Nebelfeld erstaunlicherweise nicht. Die Ritterin hatte gerade erst begonnen, dem Wildwechsel zu folgen, als ein unnatürliches Licht in dem Nebel aufleuchtete und sich dann schnell in die Richtung bewegte, der auch sie folgen wollte. Bald darauf hörte Meta zunächst zwei Warnrufe und schließlich einen lauten Knall und ein letztes Aufleuchten des Lichts jenseits des Nebels, bevor es wieder dunkler wurde.

Erschrocken hielt sie sich an dem Wallach, den sie nun Alrik nannte, fest und flüsterte ihm beruhigend ins Ohr. Sie duckte sich dabei etwas, hielt ihn vorsorglich fester und wahrscheinlich dienten ihre Worte zu keinen geringen Teil der eigenen Beruhigung. „Blödes Drecksnest, mierda, boda de hijo de puta…“ fluchte sie vor sich hin. Sie horchte, ob es Geräusche danach gab.

Und tatsächlich folgten fast direkt nach dem Knall Schmerzensschreie. Und bald darauf schrie Kalman um Hilfe für einen Verwundeten, woraufhin von Imelda der verängstigte Ruf “HESINDIARD!” ausging.

Die Anderen von der Gesellschaft waren auch hier? Zumindest teilweise? Meta rang mit sich, dann schlich sie aber doch so nahe an den Nebel, wie sie es für sicher hielt. Auf der Suche nach einem geeigneten Baum, um den braven Alrik nochmal festzubinden, machte sie einen kleinen Bogen und achtete auch auf den Waldboden, ob da gar ein verletzter Körper lag. Alrik konnte gut leblose Körper tragen. Sie musste ohnehin die wenigen Stellen nutzen, die begehbar waren.

Es schien, als würde der Nebel vor Meta leicht zurückweichen oder zumindest lichter werden. Verscheuchte der Anhänger um ihren Hals den Nebel oder täuschte sie sich? Aber als sie das Nebelfeld etwa halb umrundet hatte, fiel ihr Blick auf eine Stelle, an der tatsächlich jemand zu liegen schien. Sie näherte sich vorsichtig der Stelle und entdeckte die bewusstlose Mika, auf der halb der ebenfalls bewusstlose Körper eines Kriegers lag.

Schließlich hörte sie Kalman rufen: “Gudekar! Wir brauchen deine Hilfe! Hörst du mich?”

„Oh...“, entfuhr es Meta und sie kniete sich hin. Auf Mika hatten sie gewartet und das war wohl der Grund für ihr Fehlen. Recht ruppig und mit dem Einsatz aller hilfreichen Körperteile wuchtete Meta den Krieger von Mika und ließ ihn liegen. Dann klatschte sie der jungen Frau die flache Hand an die Wange. „He, Mika, aufwachen, mach schon.“ Den Ruf nach Gudekar bekam sie am Rande mit. Ganz schön voll war der Wald. Wie viele der angeblichen Gefährten ihnen wohl gefolgt waren, um sie zu jagen? Und wer passte auf Doratrava auf oder interessierte sich für ihr Schicksal? Wahrscheinlich wollten sie Gudekar auch in eine Zelle stecken und sich dann erst an einem Prozess ergötzen. Sie patschte Mika nochmal ordentlich auf die andere Wange. Sie selbst wurde zwar von allen als böse Metze gesehen, ansonsten schien sich aber niemand recht für sie zu interessieren. Sie musste nach Hart gelangen, er würde es irgendwie schaffen, er war gereift. Bei Boron, wann wachte Mika denn endlich auf?

Beim Herunterhieven des Kriegers fiel Meta die Schwellung und der Bluterguss an seinem Kinn auf. Er schien einen schweren Schlag erhalten zu haben und Meta war sich nicht sicher, ob nicht vielleicht sein Kiefer gebrochen war.

Doch die Ohrfeigen für Mika taten ihre Wirkung, Mika schlug die Augen auf und blickte direkt in Metas Gesicht. „Was ist los, wo bin ich?“ fragte sie verwirrt. Dann erinnerte sie sich wieder, und sie hatte Angst. Sie warf ihre Arme um Meta und zog sie an sich heran, drückte sie, als suche sie Geborgenheit. „Meta! Du hier? Wo ist Arda? Mir wurde vorhin ganz komisch, dann bin ich ohnmächtig geworden. Ist Arda nicht hier?“ Dann fiel ihr Blick auf den Wachmann und sie erschrak. „Verdammter Ogerdreck! Das ist doch eine von Ardas Wachen. Wo sind Arda und ihre Wachfrau? Denen ist doch hoffentlich nichts passiert? Und wo ist Gudekar?“ Mika löste die Umarmung, fasste Meta an den Händen und schaute hilfesuchend in ihr Gesicht.

Na endlich. „Waaah...“, von Mikas Umarmung war Meta mehr als überrumpelt, wehrte sich aber nicht, sondern streichelte die Novizin sogar beruhigend. Was plapperte die nur wieder für einen Mist. Sicher hatte man sie verzaubert… obwohl… Mika schien ihr nicht die beste Menschenkennerin zu sein. „Mika, pssst... hier ist was Unheiliges im Wald“, beeilte sie sich zu sagen. „Arda hält Gudekar in der Hütte gefangen und ich hab ihn vor Schmerzen schreien hören. Ich selbst war zum Glück gerade nicht drin und konnte eine der Wachen, die den Eingang sicherte, erst stellen, dann sah ich diesen Nebel… der hat sich nicht normal bewegt und ich bin weggelaufen. Arda hatte noch aus der Hütte geschaut, mit der stimmt was nicht, aber das hat Zeit für später. Gudekar hat mir zugerufen, wo ich mich verstecken soll, in einer verschlüsselten Botschaft.“ Sie holte Luft und redete sofort weiter. „Grad eben ist irgendwas wie ein Blitz oder so, durch den Nebel und ich konnte zumindest die Stimmen von Imelda und Kalman erkennen. Sie wollen uns auch holen, jetzt sind sie aber in Gefahr, das hat sicher noch mit dem Paktierer zu tun. Wie gut, dass ich dich getroffen habe. Ist mit dir alles in Ordnung oder hat der da“, sie deutete auf den Wachmann, „hat der dich verletzt? Glaub mir. Denen darfst du nicht trauen und Arda auch nicht. Bei den Anderen bin ich mir noch nicht sicher. Kalman war gut zu mir und Imelda war meine Freundin. Ich habe nur noch mein Schwert und ein Pferd. Dass wir hier sind weiß er wahrscheinlich nicht. Kommst du so nahe es geht mit zur Hütte?“ Hoffentlich verstand Mika ihre Worte und sah nicht wieder in jedem einen besten Freund, dem sie alles erzählen musste. Ohne sie wäre Meta mit Gudekar schon in Sicherheit. Ach stimmt, kam es ihr. Sie hatte Merle ja noch eine Chance geben wollen, in Ruhe zu reden. Wo die wohl war? Bei Doratrava oder Lulu? Hatte sie den Trupp auf sie gehetzt?

Mikas Augen wurden vor Schrecken und Ungläubigkeit immer größer. Dann sammelten sich Tränen in ihnen. „Was habe ich nur getan? Ich habe euch verraten, dabei wollte ich doch nur helfen! Es tut mir so leid! Meinst du, Arda steckt mit dem Pruch unter einer Decke? Meinst du, sie ist eine Paktiererin? Natürlich komme ich mit dir mit, wir müssen doch Gudekar und Kalman retten. Und Imelda!“ Dann fiel ihr Blick auf den Wachmann, der sich zu regen begann. „Was machen wir mit dem? Sollten wir ihn ausschalten?“

„Ach, den lassen wir da liegen. Ich glaub, der wurde genug ausgeschaltet, er lebt aber noch. Gut, dass es dich nicht erwischt hat.“ Das musste der Kerl sein, der irgendwas von Magie gerufen hatte. Plötzlich tat Mika Meta leid. Früher war sie nie so zimperlich gewesen, aber seit ihrer Beziehung zu Gudekar und ihrem ‚Schützling‘ merkte sie, dass sie sich verändert hatte. Sie nahm Mika fest in den Arm, drückte sie und barg deren Kopf an ihrer Schulter. „Kleine, das ist nicht deine Schuld. Du willst Gudekar nix Böses und mir auch nicht, obwohl ich seine … Metze bin, wie alle sagen. Du bist eine von den Guten. Nur vertraust du einfach zu schnell.“ Sanft strich sie ihr über den Kopf und wischte schmunzelnd mit dem Daumen die Tränchen weg. „Arda hat mit dem Pruch nix zu tun, glaub ich. Die hat mit sich selber Probleme. Keine Sorge, ich werde, so ich ihn wieder treffe, Gudekar fragen, was sie mit ihm gemacht hat. Praios ist der oberste Richter und Selbstjustiz, das ziemt sich nicht. Linny, mein guter Freund, ist Bannstrahler, dem werde ich das erzählen. Außerdem hat sie jetzt in mir eine Feindin. Dein Gudekar ist mein ein und alles.“ Meta seufze. Warum hatte es nicht ein anderer Mann sein können, ungebunden, standesgemäß… aber so war es nun mal. „Alleine, dass wir uns gefunden haben macht ihn besonders. Schau dir die Männer doch an. Sie nehmen dich nur wahr, wenn du hübsch bist, lieblich… wie Merle halt. Aber das soll dich nicht sorgen. Ich werde auf dich aufpassen und du hilfst mir. Ich werde dir vertrauen.“ Sie ließ Mika los, legte den Kopf schief und lächelte sie an. „Du bist die Expertin im Wald. Führe uns so nah zur Hütte, wie es geht.“

Mika schniefte noch einmal und wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. Es tat gut, den Trost der Ritterin zu erfahren. Ein Gefühl, dass sie bisher nur von Gudekar und Merle und Ciala her kannte, herzigen Trost gespendet zu bekommen. Aber noch nie von einer Person außerhalb der Familie. Ciala war immer für sie da gewesen. Sie war wie eine Mutter für Mika. Und Gudekar, wenn er die wenigen Male in Lützeltal war oder sie in Albenhus, hatte sich auch stets ihre Sorgen angehört und wusste Rat. Und dann auch Merle, nachdem sie und Gudekar geheiratet hatten. Merle war ihr wie eine Schwester geworden. Doch eine eigene Freundin war ihr bisher nur Imelda gewesen. Mit Imelda konnte man reden und Blödsinn machen und bestimmt tolle Abenteuer erleben. Aber wirklichen Trost hatte sie Mika bisher noch nicht gespendet, allerdings war dazu noch nie die Gelegenheit. Und Arda? Mika dachte, die Baroness könnte auch eine Freundin sein. Aber hatte sie Mika nur ausgenutzt? Hatte sie Mika wirklich zu einem Verrat an ihrem Bruder angestiftet? Mika wollte das nicht glauben, doch irgendetwas nagte an ihr und ließ Zweifel wachsen.

Aber Meta hatte sie gerade einfach in den Arm genommen. Und sie schien es Mika nicht übel zu nehmen, dass sie einen Fehler gemacht und sie und Gudekar in Gefahr gebracht hatte. Das war es was sie als Freundin verstand. Mika lächelte. Dann schaute sie sich um. „Was ist das für ein Nebel? Da kann man ja gar nichts erkennen“, bemerkte sie.

„Das ist kein gewöhnlicher Nebel. Ein unheiliger Unhold muss den wie einen Mantel mit sich gebracht haben.“ Mika würde noch Zeit brauchen, das alles zu verarbeiten. Insgeheim hoffte Meta, dass Gudekars Schwester doch einfach nur weltfremd und naiv und nicht bescheuert war. Sie konnte so lieb sein, das tat gut. Aber da sie das bei jeden war schmälerte es das, was besonders sein sollte. „Hörst du was? Wir werden uns dem Nebel nähern, bis wir den Stimmen, die wir kennen, am nächsten sind. Dann schauen wir weiter. Ähm… du hast nicht zufällig eine gesegnete Waffe? So als Novizin?“

Mika lachte enttäuscht auf. „Nein, ich hatte gehofft, bei der Jagd mitmachen zu dürfen und dass Firumar meinen Bogen vorher segnet, doch ich durfte ja nur die Laterne tragen!“ Sie blickte unwillkürlich verärgert auf ihre linke Hand. Dann fragte sie Meta: „Von wo bist du gekommen? Wo in etwa liegt die Hütte? Ich würde ungern durch den Nebel gehen, wenn ich gar nicht weiß, was uns da erwartet.“

„Ich bin links neben der Tür gestanden, hab mich umgedreht und bin abgehauen. Von drin hatte Gudekar erst vor Schmerz geschrien und die Wache meinte, diese Arda würde den Magier verhaften. Es klang aber wie Folter. Vor mir kam der Nebel. Hilft dir das? Ach genau, ein Kerl, wahrscheinlich dein Wächter, hatte noch aus dem Nebel was gerufen. Keine Ahnung, wo wir genau sind. Ich würde bis zwei Schritt an den Nebel ran und lauschen. Was meinst du?“ Sie sah sich einmal um und zeigte Mika dann, aus welcher Richtung sie mit dem Pferd gekommen war.

„Gute Idee, gehen wir an den Nebel ran. Aber wir müssen ganz leise sein. Allzu groß kann das Nebelfeld doch nicht sein, oder? Vielleicht hören wir was.” Mika fing an, zum Nebelfeld zu schleichen. Lautlos näherte sie sich dessen Rand und drang ein paar Finger breit ein.

Meta folgte Mika vorsichtig. Als sie an der Nebelwand waren, zögerte sie aber, diese zu berühren. Sie hielt stumm Mikas Hand und sah sie eindringlich an, deutete auf ihr Ohr und zuckte mit den Schultern.

Tatsächlich konnten die beiden Frauen von dieser Position verschiedene Geräusche hören. Während ein Stück weiter rechts vor ihnen Rionn seine Göttin um einen Heilsegen bat, schien auch ein anderer Mann in der Richtung zu reden, scheinbar mit Merle, die antwortete, auch wenn ihrer beider genaue Worte nicht zu verstehen waren. Vor ihnen war Kampfeslärm zu hören, und weiter links hörten sie eine Frauenstimme tief nach Luft japsen. Dann vernahmen sie eine weitere, unbekannte Stimme, die scheinbar mit Gudekar sprach, und Schritte durch den Wald laufen. Schließlich begann die Stimme erneut auf Gudekar einzureden.

Mika deutete zu Meta an, sich still zu verhalten, weil sie den Worten lauschen wollte, gleichzeitig bemühte sie sich, ihren Bogen lautlos schussbereit zu machen, wobei sie die Einschränkungen ihrer linken Hand durch die beiden unbeweglichen Finger zu missachten versuchte.

„Warte Mika. Nicht schießen. Wer weiß, wie nah die beieinander stehen. Der muss direkt bei deinem Bruder sein.“ So ein Schuss in den Nebel mit kaputter Hand konnte alles mögliche und jeden treffen. Diese Geschwister raubten ihr noch den letzten Nerv. „Wie hat sich der Nebel angefühlt? Können wir uns aneinander festhalten und reinschleichen?“

„Pst! Wart‘ mal, Meta!“ wiegelte Mika zunächst flüsternd ab. Dann ergänzte sie jedoch, ebenfalls im Flüsterton: „Ich will hören, was die sagen. Ich glaube, es ist einfach ganz normaler Nebel.“

Dann folgte das Geräusch eines sich lösenden Armbrustbolzens, der gegen etwas Metallenes traf, und die Kampfgeräusche verstummten. Eine dunkle Männerstimme rief: “Hab sie!”

Mika erschrak. “Ich geh da jetzt hin. Wir hätten gleich schauen müssen, ob wir helfen können.” Ohne auf eine Reaktion Metas zu warten, schlich Mika vorsichtig in den Nebel.

„Warte auf mich, damit wir uns nicht verlieren.“ Meta beeilte sich, Mika zu folgen. Sie wollte mit ihr ein Duo bilden, das helfen konnte. Dafür musste sie aber Gudekars Schwester vor Mist abhalten, den diese nur zu gerne tat. „Glaub nix, was der fremde Magier spricht. Lass dich nicht provozieren. Magier hören sich gerne reden, das weißt du ja. Und der lügt vor sich hin.“

„Keine Sorge“, beruhigte Mika sie. „Folge mir. Wir holen uns die Kämpfer, in Ordnung?“

„Wir holen Imelda. Die scheint ernsthaft verletzt zu sein.Wir schauen nach der Verletzten. Irgend jemand scheint ernsthaft getroffen worden zu sein. Sie muss zu dem Geweihten.“

„Vielleicht kann Gudekar ihr ja helfen?“

„Kleine, Gudekar hat gerade andere Sorgen. Er ist verletzt, Arda ist hinter ihm her und der Nebel hat was mit dem Paktierer zu tun, sie wollen Gudekar.“ Meta schob Mika langsam weiter und sie schlichen langsam auf zwei Schemen im Nebel zu. “Ihr alle macht Jagd auf uns, als wären wir Vieh. Mika, ich vertraue dir trotzdem, wir konnten uns nie richtig kennenlernen und du wusstest es besser. Aber wir lieben uns einfach. Es ist nicht nur Rahjas Feuer, es geht tiefer. Als hätte ich genau den gefunden, der zu mir passt. Und glaub mir, ich wünschte mein Gegenstück wäre ein unvermählter Adeliger gewesen, kein schusseliger Magier mit Frau und Kind.“

Mika nickte stumm und glaubte zu verstehen, was Meta meinte.

***

In der Hütte

“Gudekar! Wir brauchen deine Hilfe! Hörst du mich?” hallte von draußen ein lauter Ruf in die Hütte.

‘Verdammt, mein Bruder!’, dachte Gudekar und blickte flehend zu Ardare. “‘acht ‘ich ‘elsch’n, gidde!” stammelte er aufgeregt und vergewisserte sich, dass er seine Tasche griffbereit hatte.

Bevor Arda antworten konnte, erschien kurz der Schemen einer Gestalt vor der Tür und ein einzelnes Wort drang in die Hütte: „Aerogelo!“ Und die Luft in der Hütte begann zu gerinnen. Das Atmen fiel schwer. Jede Bewegung in der Hütte wurde schwer wie unter Wasser. Das Licht der Feuerstelle erlosch. Zurück blieb in der Hütte eine tiefschwarze Dunkelheit der Nacht, in der Arda, Wolfrida und Gudekar das Gefühl hatten zu ertrinken.

"...und Ihr habt ihn hergeleitet mit Eurem Geschrei!", grollte Arda, ihre Stimme erklang unnatürlich tief und langsam in der Luft, die sprichwörtlich zum Schneiden war.

Wolfrida zog einen Wurfdolch und hielt ihn rückhändig, so dass er nur von den Personen im Hütteninneren gesehen werden konnte. Sie blickte ihre Dienstherrin fragend an, während diese sich nach Ästen oder sonstigen hölzernen Gegenständen in der Hütte umblickte, die man als Knüppel benutzen konnte. Da! Aufgeschichtetes Brennholz!

"Wir lenken ihn ab, Ihr helft den anderen!" grollte die Baroness in Richtung des Anconiters.

Der Angesprochene nickte langsam. Keineswegs traute sie Gudekar neuerdings über den Weg, doch noch weniger wollte sie Zeugen - zumal fachkundige, wenn sie den feindlichen Magier da draußen mit seinen eigenen Waffen schlagen wollte.

"JETZT!" grollte die Baroness in Richtung Wolfridas. Ein rückhändig aus der Hüfte geworfener Wurfdolch flog aus Wolfridas Hand in Richtung der Gestalt vor der Tür.

Die Baroness griff mit einer Hand zum nächstgelegenen Holzscheit und warf diesen ebenfalls in Richtung des Schemens.

Weder der Holzscheit der Baroness noch der Wurfstern ihrer Leibwache nahmen die Bahn, die ihnen vorbestimmt war. Schon nach wenigen Fingern Flugbahn verwirbelte die flüssige Luft um die Wurfgeschosse derart, dass diese langsam zu Boden sanken. Sowohl Arda als auch ihre Wachfrau spürten, dass allein diese kleine Anstrengung ihnen schier den Atem raubte.

Der Schemen fing an, kurz aber herzhaft zu lachen, als er den kläglichen Versuch eines Angriffs sah.

***

Vor der Hütte

Ein vor der Hütte stehender und im Nebel nur schemenhaft zu sehender Magier hatte die Luft in der Hütte verflüssigt. Erfolglos hatten Ardare von Kaldenberg und ihre Leibwache versucht, den Magier mit Wurfgeschossen zu attackieren, worüber dieser jedoch nur herzhaft gelacht hatte.

Diesen kurzen Augenblick der Unaufmerksamkeit nutzte Gudekar, um Ardas Aufforderung nachzukommen und so schnell er konnte, aus der Hütte zu laufen. Er versuchte, an dem Schemen vorbeizulaufen, um in die Richtung zu rennen, aus der er Kalmans Ruf zu hören geglaubt hatte.

Doch der Angreifer, den Gudekar nur schemenhaft sehen und anhand seiner Kutte als Magier erkennen konnte, war aufmerksam und erwartete den Anconiter bereits mit einem gezielten Schlag seines Stabes in seine Kniekehlen, der den Heilmagier von den Füßen riss. Gudekar sank mit einem Schmerzensschrei auf seine Knie und kippte von der Wucht des Schlages vorn über, wobei er seinen eigenen Magierstab aus der Hand verlor. Sogleich drückte der Feind ihm seinen Stab in den Rücken und fixierte Gudekar so auf dem Boden. Dann beugte er sich, ergriff Gudekars Stab und schleuderte diesen in das Unterholz des Waldes.

***

Aus der Hütte raus

Wolfrida würgte ob der Anstrengung. Die Luftnot versetzte sie in Panik und weckte in ihr den Wunsch, der verdickten Luft zu entkommen. Und wenn ihr der Urheber des Ganzen in die Arme fiel - umso besser! Ihre Herrin konnte sie am besten schützen, wenn sie die Angreifer ausschaltete. So rechtfertigte sie ihr Handeln vor sich selbst, als sie sich Gudekar hinterher nach draußen quälte.

Arda hingegen antwortete auf das Lachen mit ihrem eigenen gehässigen Lächeln. Sie griff nach einem weiteren Holzscheit, den sie diesmal um ihr eigenes Handgelenk kreisen ließ, bevor sie ihn dem ersten Scheit hinterher warf. Doch dieser schaffte es nicht einmal bis vor die Hütte. Verärgert griff die Baroness zu einem dritten Holzscheit, einem kräftigen Ast.

Doch war der erneute Wurfversuch so atemraubend, dass Arda eine Weile brauchte, um langsam, sehr langsam, einige Male die flüssige Luft ein- und wieder auszuatmen, um überhaupt die nötige Konzentration zurückzuerlangen, um nach dem nächsten Ast greifen zu können. In dieser Zeit war die schemenhafte Gestalt im Nebel von der Tür verschwunden.

Wolfrida hingegen, die in Panik die Hütte verließ, merkte noch einmal, welch schlechte Idee es war, sich in dieser unnatürlichen Umgebung zu bewegen. Doch schließlich erreichte sie die frische Luft, wo sie sogleich erschöpft auf die Knie sank, um die frische, gasförmige Luft durch ihre Lungen strömen zu lassen. Ein tiefer Atemzug. Ein zweiter. Ein dritter. Mit jedem Atemzug kehrte die Kraft zurück in Wolfridas Körper. Ihr wurde dabei zunächst nicht bewusst, dass sie so für einige Augenblicke den Durchgang durch die Tür blockierte, und gleichzeitig ein leichtes Opfer für einen Angreifer gewesen wäre. Aber ihr Körper verlangte, schrie förmlich, nach diesen Momenten der Erholung. Von den Magie wirkenden Ambitionen ihrer Herrin ahnte sie nichts. Doch scheinbar hatten auch die Angreifer keine Ambitionen, die Wachfrau mit weiterer unangenehmer Aufmerksamkeit zu bedenken.

Denn als nun auch die Wachfrau aus der Hütte gelaufen kam, schaute sich der unbekannte Magier nur kurz um. Da Wolfrida jedoch sogleich auf die Knie ging, scherte er sich nicht weiter um sie. Stattdessen packte er Gudekar am Kragen und zog ihn auf. Dann schubste er ihn mit einem unsanften Stoß in dessen Nieren in die Richtung, in der Gudekar noch immer Kalman vermutete. “Auf, Freund! Es wird Zeit!” forderte der Magier Gudekar auf. “Ich muss Euch etwas zeigen.”

Gudekar, dessen Zunge noch immer angeschwollen war, stammelte etwas Unverständliches vor sich hin.

Der Magier führte Gudekar einige wenige Schritt weiter, doch vor dem Ende des Nebels blieben sie stehen. Gudekar konnte etwas weiter links von sich Kampflärm hören, vor ihm, außerhalb des Nebels, hörte er Rionn eine Liturgie sprechen, in etwa wie er sie heute bereits vernommen hatte.

So kniete Wolfrida noch einen Moment allein vor der Eingangstür der Hütte.

Doch dann wurde sie von hinten niedergestoßen. Die Baroness hatte sich mit viel Aufwand aus der Hütte herausgedrückt und machte einen Satz nach vorne, als der Widerstand der geleeartigen Luft plötzlich nachließ. Dabei fiel sie über die kniende Leibwächterin, beide Frauen landeten in einem Knäuel aus Stiefeln, Rapieren und wohlproportionierten Gliedmaßen am Boden.

Tharga hatte das Nebelfeld halb umrundet, als sie auf eine künstliche Höhle traf, wie sie die Zweibeiner oft für sich bauten. Nun stand die Hündin vor einer Wand aus toten Baumstämmen und sie wusste, ihre Herrin war dahinter in Gefahr. Doch hatte die Höhle keinen Eingang außerhalb des Nebels, auch wenn man sie umrundete. Tharga müsste wohl doch wieder in den Nebel laufen, um zu Arda zu gelangen.

Noch ein letztes Mal blickte die Hündin kurz nach rechts und links, dann stürzte sie sich mit einem Satz im den Nebel.

Sie fand Arda und Wolfrida vor jenem Höhleneingang am Boden liegen. Die unmittelbare Gefahr für ihre Herrin schien gebannt zu sein. Verwirrt bellte Tharga kurz auf.

"Wo ist - der - böse - Magier? Such - den - bösen - Magier!" forderte Arda ihren Hund kurzatmig auf.

Wolfrida japste: "Er… - Gudekar - 'Freund' - genannt!"

Die beiden Magier waren vom Eingang der Hütte fortgegangen, doch konnten sie nicht weit sein, denn die Stimme des einen Magiers war durch den Nebel zu vernehmen, obwohl etwas weiter links noch Kampfgeräusche zu vernehmen waren. Sprach dieser fremde Magier zu Gudekar? Was hatte er ihm zu sagen? Arda dachte, wenn sie nur leise genug wären, könnte sie vielleicht hören, was dieser Magier redete. Würde aber Tharga den Angreifer jetzt fassen, würde Arda wohl nie erfahren, was die beiden Magier im Schilde führten.

Warum redete ihre Herrin so? Die Hündin konnte die beiden Männer riechen. In guter Vorstehhund-Manier wandte sich Tharga um und blickte starr und mit leicht vorgestrecktem Kopf in die Richtung, aus der sie die Stimmen vernahm.

Arda hatte sich inzwischen aufgerappelt und kauerte neben ihrer Begleiterin, während Wolfrida noch erschöpft auf dem Rücken lag.

“‘Freund’, hm?” raunte sie Tharga zu. Na, dann wollen wir mal sehen… Sie rappelte sich auf, sah dabei den Zauberstab des Magiers im Unterholz liegen, den sie mit einem grimmigen Lächeln an sich nahm. Hexe und Hündin machten sich auf in den Nebel, mit einigem Abstand gefolgt von einer Leibwächterin, die selbst schutzbedürftig aussah.

Aus der Richtung des Kampfes folgte das Geräusch eines sich lösenden Armbrustbolzens, der gegen etwas Metallenes traf, und die Kampfgeräusche verstummten. Eine dunkle Männerstimme rief: “Hab sie!”

***

Die zwei Magier

Der unbekannte Magier zog Gudekar am Kragen fast bis zum Rand des Nebels. Von hieraus waren nicht nur die Kampfgeräusche aus Imeldas Richtung zu hören, auch die Gruppe unter der Aura des Regenbogens war schemenhaft zu sehen. Umgekehrt konnten auch diese Leute hören, was der Magier sprach, wenn sie nur leise und aufmerksam genug waren, auch wenn sie die beiden Magier nicht sehen konnten. Das galt auch für Meta und Mika, die etwas weiter abseits vor dem Nebelfeld standen, und ebenso für die Baroness von Kaldenberg und ihre Wächterin, die vor der kleinen Hütte nach Luft rangen.

Gudekar hätte der Gruppe vor ihm gerne etwas zugerufen, sie gewarnt, doch seine Zunge war derart angeschwollen, dass er nicht laut genug rufen, geschweige denn artikulierte Worte von sich geben konnte.

Dann zog der Magier Gudekars Kopf hoch. „Schaut, Meister von Weissenquell, Eure Gefährten, angeführt von Eurem Bruder und Eurer treuen Gemahlin, sind gekommen, Euch zu holen. Das sind wahre Freunde, nicht wahr? Wie sie sich um Euch sorgen! Kläglich zurückgezogen in die Aura des Geweihten haben sie sich und warten nur darauf, Euch zu häschen und vor ihre Obrigkeit zu zerren. Lediglich die Tochter des Feuers hat den Mut gefunden, sich uns entgegenzustellen. So wird sie etwas schneller ihrem Gott begegnen. Hergelockt wurden sie alle übrigens von der Baroness, die Ihr in der Hütte zurückgelassen habt, damit sie jämmerlich an der Luft ertrinkt. Und wie hat die Baroness Euch gefunden? Nun, ich werde es euch erzählen: Eure kleine Schwester hat sie hierher geführt.“

Gudekar wurde spürbar ärgerlich und versuchte, etwas zu erwidern, was ihm jedoch nicht gelang. Mehr als ein Grunzen und Röcheln entwich seinem Mund nicht.

„Ihr wollt wissen, wo Eure liebe kleine Schwester Mika ist? Keine Sorge, sie haben wir noch nicht geholt, doch liegt sie dort hinten“, der Magier zeigte in die Richtung, in der Mika und Meta standen, „bewusstlos am Boden. Die Verräterin wurde von der Meisterin des Verrats verraten. Welch‘ Ironie, nicht wahr?“

Wut keimte in Gudekar auf.

Dann folgte das Geräusch eines sich lösenden Armbrustbolzens, der gegen etwas Metallenes traf, und die Kampfgeräusche verstummten. Eine dunkle Männerstimme rief: “Hab sie!”

Der Magier lachte kurz auf. “Wie ich gesagt habe. Und wo wir gerade bei Verrat sind: Wo ist eigentlich Eure kleine Gespielin? Feige verlassen hat sie Euch, in der größten Not zum Sterben zurückgelassen hat sie Euch!”

Nun wusste Gudekar, dass sein Peiniger nicht über alles informiert war und lediglich Gift versprühen wollte. Immerhin hatte er selbst Meta fortgeschickt. Sie musste sich retten, das war ihm wichtiger als sein eigenes Leben.

Vom Rande des Nebelfeldes her näherten sich zwei kampfbereite Gefährten dem Ort des Geschehens.

Als Kalman den Armbrusttreffer hörte, war es mit seiner Zurückhaltung zu Ende. Er machte sich Vorwürfe, nicht früher gehandelt zu haben. Hatte sein Zögern der Ingrageweihten das Leben gekostet? Dies würde er sich nicht verzeihen. Entschlossen trat er mit erhobenem Schwert in den Nebel.

Dort traf er auf die bewusstlos am Boden liegende Imelda, die aus einer Wunde am Kopf blutete. Ihre Kleider und ihre Tasche brannten lichterloh, doch sie selbst schien von den Flammen keinen Schaden zu nehmen.

Vor ihr brannte ebenfalls ein ihm unbekannter Schwertkämpfer. Dieser wälzte sich nun fluchend und schreiend vor Schmerzen und versuchte, seinen brennenden Mantel loszuwerden. Der Schütze hingegen ließ vorsichtig seine Armbrust zu Boden und zog ein Kurzschwert. Er stellte sich Kalman und Nivard entgegen.

Kalman stellte sich vor den Angreifer, bereit zuzuschlagen, sobald dieser eine Bewegung machte und damit eine Lücke in der Deckung offenbarte. Schließlich holte Kalman aus, um den Feind zu attackieren.

Kalman würde mit seinem Gegner hoffentlich fertig werden. Nivard stürzte Imelda zu Hilfe - der Unbekannte war wahrscheinlich ein Feind, um den er sich nach der Mitstreiterin kümmern würde. In unmittelbarer Nähe Imeldas spiegelte eine Pfütze der ergiebigen Regengüsse des Tages, der erst wenige Stunden vergangen war und doch bereits Jahre entfernt wirkte, die Flammen wider. Entschlossen zog Nivard den Ärmel seines Waffernrocks weiter über die Hand und packte so dann Imelda am Leibe, um sie mit einem entschiedenen Ruck in die Wasserlache zu rollen.

Nivard hatte Probleme damit, Imelda so zu packen, dass er sich nicht selbst verbrannte, denn Imeldas Kleider standen inzwischen vollständig in Flammen. Dennoch wunderte sich Nivard, dass sie selbst keinen Schaden davonzutragen schien.

Der Magier, der Gudekar noch immer seinen Stab in den Rücken presste, unterbrach seine Rede, als er Kalman näherkommen sah, schlug Gudekar mit seinem Stab kräftig von hinten in die Seite, so dass diesem die Luft wegblieb und er in die Knie ging. Dann, sicher, dass der Anconiter ihn nicht unterbrechen würde, begann er eine Formel zu sprechen, während er mit der Faust in seine Handfläche schlug. Und Kalman erstarrte in seiner Bewegung, als wäre er aus Stein.

Ohne den Erfolg seines Zaubers auszukosten, wandte sich der Magier wieder Gudekar zu. Nun sprach er schneller und lauter, als wurde ihm gewahr, dass die Zeit knapp wurde. „Ihr seid allein, Meister Gudekar! Doch das muss nicht so sein! Schließt Euch unserem Freund an, entsagt Eurem bisherigen Leben. ER kann Euch die Macht geben, die lhr Euch schon immer erträumt habt. ER kann Euch die Freiheit schenken, nach der Ihr Euch sehnt. Sagt IHM zu, ruft SEINEN Namen, und wir werden Eure Feinde ein für alle Mal vernichten. Euren gehassten Bruder, der Euch Euer Leben lang gedemütigt hat. Euer Weib, für das Ihr nichts mehr empfindet. Eure jüngste Schwester, die Euch heute ebenso verraten hat, wie die zweitjüngste Schwester. ‚Wir sind die Weissenquells!‘ Ein Hohn in Anbetracht ihrer Taten. Eure Gefährten, die sich nie wirklich dafür interessiert haben, was Ihr empfindet, Euch aber nur allzu gerne aburteilen lassen wollen. Ein Wort von Euch, ruft SEINEN Namen, und sie alle sind Geschichte, und Ihr seid endlich wahrlich frei!”

Aus der entgegengesetzten Richtung näherte sich die Baroness von Kaldenberg dem Geschehen. An ihrer Seite lief ihre Hündin Tharga, dahinter die immer noch keuchende und angeschlagene Wächterin Wolfrida.

Die Drei versuchten möglichst leise zu sein, während sie sich der Szenerie näherten. Die beiden Menschenfrauen hielten ihre Klingen in der Rechten, Arda hielt in der Linken zusätzlich Gudekars Zauberstab, den sie bereits einmal um ihr Handgelenk hatte kreisen lassen. Sie spürte ihre Astralkraft in dem Stab widerklingen, bis dieser geradezu vibrierte. Doch noch wartete sie darauf, bis Gudekar seinen Verrat offenbar machte, bevor sie den Zauber und damit den Stab, das pure Chaos auf die beiden Magier hetzte.

Tharga hatte die Lefzen hochgezogen und gab ein fast unhörbar tiefes Knurren von sich, die Augen unentwegt auf den Paktierer gerichtet.

Ganz anders Wolfrida, die vor Schwäche stolperte. Arda tippte ihr mit der Seite ihrer Klinge an den Arm und bedeutete ihr zurückzubleiben, was diese widerspruchslos tat.

“Na los, Anconiter - sag es!” dachte sich die Baroness, ohne sich zu vergegenwärtigen, dass es ihr Zauber war, der es Gudekar erschwerte, den erwarteten Verrat zu begehen. Sie wünschte sich geradezu, dass der Magier auf das Angebot einging, weil sich dann alles zu einem stimmigen Bild fügen würde. Und weil es ihr jede Rechtfertigung gab, Gudekar zu strafen.

Auch Mika und Meta kamen durch den Nebel, der sich langsam aufzulösen begann, auf die beiden Magier und die Kämpfer zu.

Als Mika sah, dass Imelda am Boden lag und ein Krieger Kalman bedrohte, umrundete sie die beiden Magier und suchte sich eine Position, von wo aus sie den Krieger unter Beschuss nehmen konnte. „Meta, lenk ihn ab und versuche, dass er still steht, bis ich schießen kann!‘

Meta warf Gudekar einen kurzen Blick zu, während sie an den Magiern vorbeischlichen. „Wie bitte soll ich den ablenken? Soll ich ein Steinchen zu ihm werfen? Was rufen?“

Mika verdrehte die Augen. “Wie, bitteschön, halten denn sonst immer Ritterinnen Krieger im Zaum?”

Meta kniff den Mund zusammen und funkelte Mika zu. „Mach deine Arbeit bloß richtig.“ Dann löste sie sich von ihr und ging lässig, aber mit gezogenem Schwert zu dem Kämpfer. „Werter Herr, Euer Gefährte brennt. Das wird er wohl alleine schaffen, oder? Darf ich mich vorstellen? Meta, Ritterin auf dem Weg zur dunklen Seite. Mit wem habe ich das Vergnügen?“

Der Krieger, der eben noch Kalman gegenüberstand, drehte sich zu Meta und schaute sie grimmig an. “Namen tun nichts zur Sache. Ihr habt Euren eh die längste Zeit getragen”, antwortete er grimmig. “Eigentlich ein Jammer, Euch in Stücke schneiden zu müssen”, bemerkte er mit einem anzüglichen Grinsen, “ich könnte durchaus noch vorher ein wenig Spaß mit Euch haben, junges Fräulein. Ich würde für Euch mein Schwert in die Scheide stecken.” Er ließ sein Kurzschwert aufdringlich kreisen. “Mit wem fange ich an? Mit Euch oder der Ingerimm-Braut, deren Gott sie wohl schon für mich entkleidet?” Er lachte ein unangenehmes Lachen.

„Ihr seid doch ein gestandener Mann und wollt Euch nicht erst an einer wehrlosen Frau vergehen. Hebt Euch den Genuss für später auf, Canallo. Welches Schwert wollt Ihr mir reinschieben? Das Kurzschwert? Oder habt Ihr sowas wie einen ‚Lustdolch‘? Ihr schaut gestanden und gut aus, aber keine Diagnose durch die Hose hab ich mal gehört.“ Wo blieb Mika?

Der zweite Krieger wälzte sich noch immer schreiend in seiner brennenden Kleidung am Boden. Durch das Lampenöl, das auf ihn geschwappt war, hatte seine Kleidung doch schneller und stärker Feuer gefangen, als er dachte. Voller Panik bemühte er sich, sich der brennenden Kleidung zu entledigen, was ihm schließlich auch irgendwie gelang. Er konnte die Brosche seines brennenden Mantelumhangs lösen und das Kleidungsstück abwerfen. Die Flammen an den Ärmeln seines Hemdes, das nun auch zu brennen anfangen wollte, konnte er mit hektischen Schlägen löschen.

***

Außerhalb des Nebels kümmerten sich Rionn und Merle um den noch immer schwerverletzten, wenn auch inzwischen erwachten Krieger Hesindiard. Rionn sprach weiter sein Gebet an die Ewigjunge, während Merle die sich langsam schließenden Brandwunden des Kriegers säuberte. Deutlich konnten die drei das Angebot hören, das der Paktierer Merles Gatten machte.

Über Merles Gesicht liefen neue Tränen, doch sagte sie nichts, presste nur die Lippen aufeinander und klammerte sich an dem kleinen Fläschchen Tannspitz in ihrer Hand und der routinierten Arbeit fest, die ihre Hände weiter wie von selbst erledigten. Sie wusste, dass es nicht mehr in ihrer Macht lag, Gudekar zu retten. Vielleicht hatte es das nie. So oder so hatte sie ihn verloren, so oder so würden sie alle wahrscheinlich gleich sterben oder weit schlimmeres erleiden. So versorgte sie weiter fürsorglich den verletzten Hesindiard, weil das am Ende das Einzige war, was sie wirklich konnte, redete dem Krieger mit gewisperten Worten sanft zu, ein paar Schlucke des Schnapses gegen die Schmerzen zu trinken, die sie ihm vorsichtig einflößte, und versuchte nicht bewusst daran zu denken, was gerade jenseits der Regenbogenkuppel geschah.

Der Tsageweihte mühte sich trotz der erschütternden Geräusche und zu vermutenden schlimmen Ereignisse ´draußen´, trotz der üblen Worte des Paktierers, sich auf das Gebet zu konzentrieren. Hier widersetzte er sich auf seine Art dem üblen Wirken der Angreifer.

"Was ist los? Wo sind die anderen?", wollte Hesindiard wissen. Und vor allem, wo ist Imelda?

"Die sind alle in dem Nebel…" wisperte Merle mit rauer Stimme. Sie hob den Kopf in die Richtung, wo Kampfgeräusche zu hören waren sowie eine männliche Stimme, die auf Gudekar einzureden schien; dann wandte sie sich wieder dem Verletzten zu und strich beruhigend über Hesindiards Haar. "Bleibt bitte ruhig liegen; in ein paar Augenblicken geht es Euch besser… Spürt Ihr das Wirken Tsas?"

Ja, er spürte das Wesen der Ewig-Jungen. Dennoch nagte etwas in ihm. Etwas, das er gerade gehört hatte und sein Hirn nicht richtig erfassen konnte. Dann riss er die Augen auf. “Imelda auch?” Ohne auf eine Antwort zu warten rief er: “IMEELDAAAAAAA!”

Merle versuchte Hesindiard mit der Hand an seiner Schulter daran zu hindern, sich aufzurappeln. “Wartet, Herr Hesindiard, einen Moment noch…”, beschwor sie ihn mit bewusst leiser, beschwichtigender Stimme, um Rionns Segen nicht zu unterbrechen. Sie sah dem Krieger in die Augen und nickte ernst. “Ja, Imelda ist da reingegangen. Nivard und Kalman sind ihr zu Hilfe geeilt. Doch Ihr könnt jetzt nichts für sie tun. Noch nicht. Habt Geduld.”

***

Gudekar nahm wahr, wie Mika und Meta sich näherten, doch ließ er sich nichts anmerken, er wollte die Aufmerksamkeit seines Peinigers nicht auf die beiden Frauen lenken, auch, wenn, oder gerade weil er sich wünschte, sie wären nicht in die Nähe gekommen. Als Meta ihm einen Blick zuwarf, konnte er aber nicht anders als kurz zu lächeln. Er hoffte, der Magier hatte diese Geste nicht wahrgenommen. Doch Gudekar versuchte schnell die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, indem er etwas Unverständliches von sich gab.

Mitleidsvoll berührte der Magier Gudekars Wange. “Kann der arme Magier nicht sprechen? Hat man ihm die Zunge gelähmt? Ich an Eurer Stelle würde mich einmal fragen, was für eine Person zu solch einer Schandtat im Stande wäre. Doch ja, wie sollt Ihr IHN rufen, wenn Ihr nicht reden könnt? Ich mache Euch ein Geschenk, um Euch zu zeigen, dass Ihr unser Freund seid und wir die Euren. Und dann könnte er IHN rufen.” Noch einmal streichelte der Magier Gudekar sanft über das Gesicht und Gudekar merkte, wie sich seine Zunge wieder lockerte.

Gudekar schluckte ein paar Mal, um seine Zunge wieder mit Spucke zu befeuchten und nickte dabei dankbar zu dem Magier. Dann sprach er zu ihm. “Habt Dank, Meister… Perihardus, nehme ich an? Ich danke Euch auch für Euer Angebot. Und meine Antwort lautet: NIEMALS!” Mit diesem laut ausgeschrienen Wort ballte Gugekar die Faust, streckte sie dem Magier entgegen und brüllte: “Fulminictus!”

Die Wucht des Zaubers, in den Gudekar all seine Wut und Verzweiflung gelegt hatte, schleuderte den Magier förmlich nach hinten und in Anbetracht des Schmerzes, den er innerlich erlitt, fing er an zu taumeln.

Die Kaldenbergerin zog enttäuscht die Mundwinkel nach unten. Sie verband Gudekars Zauberstab geistig mit einem anderen Ziel und schleuderte ihn dann rechts zur Seite fort. Gleichzeitig rief sie: “Fass, Mädchen!”

Der Zauberstab flog zunächst zur Seite, änderte dann aber seine Flugbahn und steuerte direkt auf den Paktierer zu, um diesen mit einer wüsten Abfolge von Hieben zu traktieren, als würde er von einem unsichtbaren Berserker geführt.

Gleichzeitig überbrückte auch die große Hündin der Kaldenbergerin mit großen Sätzen die Distanz zum feindlichen Magier. 60 Stein Körpergewicht, überwiegend Muskelmasse, mit einem beeindruckenden Gebiss an vorderster Stelle, warfen sich auf den Paktierer.

Die Baroness schritt mit furchteinflößender Miene und blankem Jagdrapier hinterher.

Tharga sprang den Magier an, doch dann ließ sie ihn überraschend los. Denn der Magier hatte plötzlich einen kleinen, metallisch funkelnden Gegenstand in der Hand und warf diesen zu Boden. Sogleich öffnete sich neben ihm ein grau wabernder Spalt. Die Wucht von Thargas Angriff ließ den eh schon angeschlagenen Magier erneut straucheln, und er ließ sich schließlich in den Spalt in den Limbus fallen. Doch Tharga erkannte die Gefahr und brach den Angriff rechtzeitig ab, um sich vor der unheiligen Stelle in Sicherheit zu bringen.

Kaum war der Magier hindurch gefallen, schloss sich der Riss im Limbus wieder. Zurück blieb der kleine metallene Gegenstand, der auf den Waldboden gefallen war.

Gudekars Magierstab jedoch stand noch immer unter Ardas Einfluss, wenn er sich auch seines Zieles beraubt sah. So suchte er sich neue Opfer und wurde schnell fündig in dem Anconiter Gudekar und der Hündin der Baroness, auf die der Stecken nun wild und unkontrolliert immer abwechselnd einschlug.

Tharga hatte ein paarmal nach ihrem hölzernen Gegner geschnappt, doch als sie bemerkte, dass ihr Unterfangen vergebens war und sie darüber hinaus einen ordentlichen Schlag auf ihre Schnauze abbekam, zog sie sich mit eingezogenem Schwanz zu ihrer Herrin zurück und versteckte sich hinter dieser, den Zauberstab misstrauisch beäugend.

Arda hätte die Waffe des Anconiters gerne noch einige Augenblicke gewähren lassen, doch als er anfing, auch nach ihrer Hündin zu schlagen, machte sie mit ihrer Linken eine unauffällige, beschwichtigende Geste. Der Stab fiel klappernd zu Boden.

Gudekar hatte einige heftige Hiebe seines eigenen Stabes einstecken müssen, obwohl er versucht hatte, sich zu ducken. Auf seinem linken Wangenknochen klaffte eine blutende Wunde und das Auge darüber war angeschwollen. Er konnte sich nicht erklären, warum sein eigener Zauberstab auf ihn losgegangen war, schob das jedoch auf das unheilige Wirken des Paktierers. Als der Stab schließlich zu Boden fiel, ging er vorsichtig zu ihm hin und hob ihn auf. Dann schaute er sich um, wie die aktuelle Lage war.

***

Kampfgetümmel

Mika hatte ihren Bogen gehoben und einen Pfeil angelegt. Ruhig zielte sie auf den unverschämten Krieger, der Meta verhöhnte. Voller Wut zog sie mit Zeigefinger und Daumen der linken Hand den Pfeil, versuchte, die Sehne zu spannen. Doch sie merkte, die Kraft in der verletzten Hand würde nicht ausreichen und wirklich kontrollieren würde sie den Schuss nicht können. Sie hatte Angst, wenn sie den Pfeil jetzt auf den Weg ließ, könnte er unkontrolliert vielleicht sogar Meta treffen. So ließ sie langsam Pfeil und Bogen wieder sinken, ließ sie aus der Hand fallen, und lief weinend in die andere Richtung, an Arda vorbei bis zur Hütte davon.

Hinter der Baroness hatte auch die Leibwächterin Wolfrida zu ihrer Dienstherrin aufgeschlossen. Sie sah noch immer blass aus, doch hatte sie ihre Waffe noch immer gezogen und musterte aufmerksam die Umgebung. Ihr Blick blieb an der weinenden Firunnovizin hängen, alarmiert beugte sich vor und flüsterte ihrer Arda etwas ins Ohr, was diese mit einem Nicken bestätigte.

Meta wartete auf Mikas Schuss, doch dann sah sie, dass dieser wohl nicht mehr kommen würde, denn die kleine Jägerin rannte heulend davon.

“Wenn Ihr wollt, legt Euer Eisen ab, und ich zeige Euch, wie ich Euch mit meinem Schwert aufdolchen kann, kleine tapfere Ritterin!”, äffte der Krieger Gudekars Kosenamen für Meta nach.

‘Maldito… Mika, fällt dir außer Schießen nix ein?’ Meta überspielte ihre Verzweiflung, indem sie an einer ihrer Locken zwirbelte. „Ah... aufdolchen gleich. Große Worte für etwas, was ich noch nicht mal gesehen habe. Ich wette, dass Ihr nicht so feste seid, wie der Magier. Na los, zeigt mal, ob er überhaupt seinen Mann steht.“ Während sie sprach, nestelte Meta an ihrer Hose. Sie wollte guten Willen vortäuschen. Dann sah sie den fremden Kämpfer wild entschlossen an. „Und wehe, Ihr enttäuscht mich. Ich mag es wild und hart. Zu viele Männer verstecken sich hinter ihren Schwertern.“

Der Krieger schien einen Moment lang unachtsam zu werden, dachte er doch tatsächlich nach, ob die Ritterin ihm ernsthaft ein Angebot machte, auf das er nur zu gerne eingegangen wäre. Als Meta an ihrer Hose herumwerkelte, blieb sein Blick etwas zu lange an dieser Stelle stehen, während er sich ausmalte, wie es hinter dem Stoff wohl aussehen würde.

Die Kriegerin bemühte sich hektisch, den Stoff zu lösen und wenn ihr Gegenüber genau hinsah, meinte er, bereits nach Lösen eines Knopfes, den Schamhügel oder in seiner Fantasie dunklere Härchen zu sehen. „So ein Mist“, fluchte Meta. Ja, so ein Mist. Mika war weg und der Kerl war ihr sicher überlegen. Durch den Nebel musste er zum Glück etwas näher kommen, um zu sehen, was er sehen wollte. Wie leicht wäre es, jetzt auch einfach wie Mika wegzulaufen. Sollte Imelda doch von ihren vielen anderen Freunden gerettet werden. Aber nein. Meta würde ihr helfen. Mit Phex diesmal. „Mit einer Hand geht das nicht, das Schwert muss weg.“ Noch ein Knopf öffnete sich und nun sah der Krieger wirklich hellbraune Locken. Meta lächelt krampfhaft, als wollte sie sich für die Verzögerung entschuldigen. Dabei hatte sie ihren Gegner die ganze Zeit beobachtet und seine Rüstung und Miene studiert. Da war wieder ihr Blick, wenn sie im Stress war. Nur auf das gerichtet, was wichtig war. Egal, was sie tat, er würde sie umbringen. Gudekar stand nicht weit entfernt und war doch keine Hilfe. Ihr Krieger schien wirklich gierig und lüstern. Macht brachte ihn dazu, ansonsten hätte er sie gleich abgestochen. Arme Imelda, wäre er über sie schutzlos hergefallen. Sie trat leicht nach vorne, schien sich mit dem nächsten Knopf abzumühen und ein lustvolles Stöhnen entfuhr ihr. „Es muss weg.“ Eben noch auf ihre Scham konzentriert rammte Meta das Schwert gezielt und mit aller Kraft in seine Kehle. Es war ihre einzige Chance. Nah genug stand er und er war abgelenkt genug. Wo blieb Mika? Hoffentlich war er tot. Aber Imelda würde sie nicht alleine ziehen können.

Es war nur ein kurzer Moment, in dem er seinen Gedanken freien Lauf ließ. Sofort war ihm klar, dass die Ritterin ihr Angebot nicht ernst meinen würde, sondern ihn nur abzulenken versuchte. Und er war dumm genug, sich auch ablenken zu lassen. Er würde ihre Schwäche ausnutzen und sie jetzt einfach abstechen, bevor noch ein anderer Kämpfer eingreifen konnte. Er holte zu einem kraftvollen Schlag gegen Meta aus. Ein einziger gezielter Hieb würde genügen, um dieses vorwitzige Weib zu Fall zu bringen, damit er sich dem nächsten Gegner, diesem Krieger, der bei der brennenden Geweihten stand, widmen konnte. Doch die Erkenntnis kam zu spät, als Metas Schwert durch seine Kehle drang und er röchelnd und Blut spuckend zu Boden ging. Er sank auf seine Knie und drohte nach vornüber zu kippen. Sein Körper wurde nur noch von Metas Schwert aufrecht gehalten.

Meta sah alles wie durch einen Filter. Wieder raste ihr Herz, als sie mit dem Fuß ihre Klinge von dem Unhold befreite. „Mika, ich brauche dich!“ rief sie. Kalman sah sie wohl, er war aber erstarrt und so beeilte sie sich zu ihrer Freundin - Gefährtin, sie hatte ihr misstraut und war gegen sie - zu gelangen. Meta wollte sie zu Rionn und Merle ziehen, doch sah sie, dass Nivard auch bereits bei Imelda war und versuchte, die Flammen ihrer Kleidung zu löschen. Noch vor ein paar Stunden hatten sie sich in den Armen gelegen, jetzt war ihre Freundin gegen sie. Ungewollt rollten ein paar Tränen über Metas Wange.

Nivard blickte sich hektisch um. Er brauchte irgendetwas, das er um Imelda schlingen konnte und das die Flammen ersticken würde. Warum nur hatte er keinen Mantel dabei? In diesem Moment sah er die Geliebte Gudekars, vor der gerade ein ihm unbekannter Kämpfer offenbar tot oder schwer verwundet zusammensackte. War sie in diesem Kampf Freundin oder Feindin? Einerseits misstraute der Krieger dieser Person, nach allem was sie bereits angerichtet hatte, zutiefst. Andererseits durfte er jetzt nicht wählerisch sein - wer wusste, wie lange Imelda der verzehrenden Macht der Flammen noch widerstehen konnte. Außerdem würde das Verhalten dieser Meta offenbaren, was von ihr zu halten war. "Schnell, fasst mit an. Wir müssen sie löschen! Wir brauchen irgendetwas, mit dem wir die Flammen ersticken können. Oder wir müssen sie in eine Pfütze bugsieren."

***

Mika hatte die Hütte bereits erreicht, war aber noch nicht eingetreten, als sie Metas Ruf nach ihr hörte. Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen, die Ritterin wegen ihres Selbstmitleids im Stich gelassen zu haben. Was musste der grimmige Herr Firun von ihr denken? Er hatte ihr eine Prüfung auferlegt, und sie war kläglich daran gescheitert. Schon wieder. Eine gute Jägerin durfte nicht an ihren Fertigkeiten zweifeln, ein Moment des Zögerns und gerade das Weglaufen konnte ihr bei einer Jagd das Leben kosten. Und das der Gefährten obendrein. Sie musste Meta helfen, und so drehte Mika um und lief zurück zum Platz des Geschehens.

Und schon gleich darauf sah sie die gesamte Szene, wie sie sich jetzt darstellte, denn mit dem Verschwinden des Magiers im Limbus löste sich der Nebel auf.

Mika sah Meta dort zur bewusstlosen Imelda eilen, die brennend am Boden lag und bei der ein Krieger kniete, der sich scheinbar bemühte, die Flammen zu löschen. Meta hatte noch immer das blutige Schwert in den Händen. Ihr zu Füßen lag niedergestreckt der Angreifer, der eigentlich Opfer von Mikas Pfeil hätte werden sollen. Panik kam in Mika auf, als sie sah, dass der zweite Gegner, der Schwertkämpfer, sich wieder aufgerappelt hatte, seinen brennenden Mantel auf den Boden geworfen hatte und nun dabei war, Nivard und Imelda anzugreifen. Doch mehr als ein „PASST AUF!“ bekam sie nicht heraus. Denn sie sah auch ihre beiden Brüder Kalman, der wie zu Stein erstarrt zwischen den Bäumen stand, und Gudekar, der aus einer Platzwunde am Kopf blutete. Sie war beruhigt und beunruhigt zugleich, auch Arda und eine ihrer Wachen zu sehen, denn Arda hielt ihre Waffe gezogen. Hatte sie Gudekar verletzt oder verteidigt? Das konnte Mika nicht entscheiden. Doch wenn es stimmte, was Meta sagte, musste Mika von ersterem ausgehen.

Etwas weiter im Hintergrund sah sie auch Merle und einen Geweihten der Ewigjungen Göttin, die sich um einen weiteren verletzten Krieger kümmerten. Mika war sich nicht sicher, wem sie am besten helfen sollte. Und so stand sie unschlüssig inmitten der Szene. Sie war noch nie zuvor Teil eines Kampfes um Leben und Tod.

***

Rionns Gebet war fast abgeschlossen und Hesindiards Wunde war gut verheilt, Tsa hatte ihr Werk fast abgeschlossen und dem Krieger neues Leben geschenkt.

Merle schlang vorsichtig eine lockere Bandage, die sie aus ihrem Rock herausgerissen hatte, um die Körpermitte des Kriegers, damit die noch immer empfindliche neue Haut bedeckt und geschützt war. “Die kleinen Brandwunden sollten nachher auch noch gereinigt und versorgt werden”, erklärte sie und schluckte, sichtlich unsicher, ob es ein ‘nachher’ geben würde.

Der Tsageweihte beendete das Ritual mit einem Dankgebet:

“O Lebenspendende, du Wunderbare,

wir preisen dich, wir huldigen dir.

Wir sind erfüllt von Dankbarkeit,

denn du schenkst uns neues Leben.

Unseren Bruder Hesindiard hast du

von dem Übel dieser Wunden erlöst

und ihm neue Kraft geschenkt.

Lass deine Lebendigkeit

durch seinen Körper strömen.

So wollen wir wandeln in deiner Güte.”

Merle schloss kurz die Augen, um sich im Stillen dem Dankgebet anzuschließen. Auch wenn das Herz ihr schwer war und schmerzte, den Glauben an den Segen und die Gnade der guten Götter durfte sie nicht aufgeben und loslassen. Tsas Wunder mit eigenen Augen miterleben zu dürfen, war ein wertvolles, kostbares Geschenk. Nachdem die junge Frau den Verband fertiggestellt hatte, zog sie die Tunika des Kriegers wieder über seinen Leib. “Wie fühlt Ihr Euch, Herr Hesindiard?” fragte sie leise.

“Ein wenig benommen, aber schon besser. Danke.”

***

Der feindliche Schwertkämpfer hatte seinen brennenden Mantel abgeworfen und die kleineren Flammen an Armen und Beinen ausgeschlagen. Trotz seiner schmerzenden Brandwunden hatte er sein Schwert aufgehoben und machte sich bereit, Nivard anzugreifen, der sich um Imelda kümmerte.

Meta sah dies, als sie sich der Gruppe zuwandte. Von Mika hörten sie den Warnruf: „Passt auf!“

Ach, hätte sie diesen lästigen Mistkerl doch gleich erledigt. Aber Imelda brannte da. Und Mika war anscheinend noch in der Nähe. Sie kannte Nivrad und wusste, dass er der bessere Kämpfer war. „Zum Bugsieren ist keine Zeit, da schau.“ Sie wies auf den näher kommenden Krieger. „Mach du das, du kannst besser kämpfen. Imelda ist meine Freundin, ich klatsche den schlammigen Waldboden auf die Flammen, wenn sie sicher ist, komme ich zur Hilfe.“

Derweil lag die junge Ingrageweihte reglos am Boden. Die Flammen hatten von ihren gesamten Kleidern Besitz ergriffen und loderten hoch. Selbst die Stiefel Imeldas brannten und der intensive, unangenehme Geruch der verkohlten Kleidung umgab ihren Körper. Doch trotz der hellen Flammen war zu erkennen, dass die Geweihte selbst dem Feuer strotzte.

"Was...?" Jetzt sah Nivard den anderen und was Meta meinte. In seinem Kopf rasten die Gedanken. War das eine Falle? Warum zog sie nicht selbst das Schwert und kämpfte? War sie nicht eine fertige Ritterin? Was, wenn sie ihn gegen ihren Kumpan hetzte, nur um ihm sodann in den Rücken zu fallen und ihn gemeinsam mit ihrem Verbündeten zur Strecke zu bringen, während Imelda weiter brannte und schließlich verbrannte? Andererseits - welche Wahl hatte er schon, als selbst zu kämpfen? Tat er es nicht, wären er und Imelda auf jeden Fall geliefert. Er nahm sich vor, sollte Meta ihm in den Rücken fallen, die letzte Attacke für sie aufzusparen.

“Gut, dann mach!” gab er zu Meta zurück. “Ich knöpf mir unseren Freund hier vor!” Dann stürmte er mit erhobener Klinge dem Angreifer entgegen.

Dieser stürmte sogleich auf Nivard zu, der jedoch in der besseren Position war und den ersten Hieb ausführen konnte.

Nivard nutzte die Gelegenheit und holte, eine schnelle Entscheidung suchend, wuchtig mit seinem Nordmärker Langschwert aus. Zornig sauste die Klinge auf den Feind nieder.

Doch Nivards Gegner wehrte den Angriff lachend ab. Als er jedoch zum Gegenschlag ausholen wollte, spürte er einen stechenden Schmerz in der Brandwunde, die das Feuer an seinem Arm hinterlassen hatte, und sein Schlag ging ins Leere.

Das Lachen hätte er sich besser gespart, denn dieses weckte erst Recht Nivards Zorn. Ein weiterer seitens des Tannenfelsers mit Wucht geführter Schwerthieb strebte zielsicher auf den Feind zu.

Zu stark behindert durch seine Brandwunde schaffte der Scherge des Paktierers es diesmal nicht, Nivards Schlag zu parieren, obwohl sich ihre Schwerter trafen. Doch rutschte Nivards Schlag ab und traf den Mann in die Seite. Ein knackendes Geräusch ließ vermuten, dass ihm mindestens eine Rippe gebrochen war. Mit dieser neuen Verletzung gelang es dem Kämpfer abermals nicht, einen gezielten Schlag gegen Nivard abzusetzen. „Lolgramoth, hilf!“ rief er wütend.

***

Hektisch wühlte Meta in dem aufgeweichten Boden und klatschte nasse Masse auf die Flammen. Erst wahllos auf den Rumpf, dann auf die Stellen, die am eifrigsten loderten. „Wird schon, Imelda, das wird schon…“ sprach sie hoffnungsvoll mehr zu sich selbst. Von dem Kampfgeschehen bekam sie nichts mehr mit, aber sie vertraute auf Nivard, der war schon kampferfahrener und wohl auch in dieser Bäckergruppe. Da musste er einiges erlebt haben.

Meta erkannte, dass das Feuer ihrer Kleidung, das ihr wohl keinen Schaden zufügte, nicht Imeldas größtes Problem war. Der Streifschuss des Armbrustbolzens hatte die Ingrageweihte im oberen Kopfbereich erwischt, jedoch nur oberflächlich ihre Kopfhaut verletzt. Eine zweite Verletzung war am Hinterkopf durch den Aufschlag auf den Boden zu erkennen. Dies war wohl auch der Grund ihrer Bewusstlosigkeit. Klebriges Blut verteilte sich in Imeldas rotblondem Haar.

Mierda, diese Wunde. Davon hatte sie doch keine Ahnung. Da Feuer an sich nicht auf Menschen brennen sollte (Linny mochte manchmal anderer Meinung sein), führte sie ihre schlammige Löscharbeit fort, während ihre Gedanken rasten. Gudekar fiel aus… „Rionn!!“ rief sie laut. „Wir brauchen deine Hilfe, Imelda hat eine Kopfwunde!“

Der Tsageweihte hatte gerade erst das Wundheilungsritual für Hesindiard beendet und war noch etwas benommen von der Meditation. Da hörte er Metas Rufen und schreckte auf. Er hob den Kopf und schaute sich um, denn er musste sich orientieren. Dort wo Rionn vorhin noch den Nebel wahrgenommen hatte, waren jetzt nur noch wenige Schwaden. Er sah Meta bei Imelda hocken und wie sie Schlamm auf ihre Kleidung warf. Die Ingrageweihte brannte. Rionn erschrak. Ohje, dachte er. Was ist mit Imelda? Dann versuchte er, sich schnell aufzurichten, um zu Imelda zu laufen, Doch das Hocken bei Hesindiard hatte seine Glieder einschlafen lassen und das plötzliche Aufstehen brachte seinen Kreislauf ins Rotieren. Kurz wurde ihm ein wenig schwindelig. Dann aber fing er sich und hastete zu Meta und Imelda.

Merle wollte zunächst aufspringen und Rionn aufhelfen, sah dann aber, dass er es allein schaffte und entschied sich, zunächst an Hesindiards Seite zu bleiben. Besorgt starrte sie in Richtung der bewusstlosen Geweihten.

“Was geht denn da vor sich?” Der Krieger versuchte sich aufzurichten. Langsam stützte er sich auf seinen Händen ab, und wollte den Oberkörper in eine senkrechte Position bringen, ohne dabei die Verbände zu verrutschen. “Wo… wo ist denn mein Schwert?”, fragte er leicht verwirrt.

"Imelda hat es wohl genommen, um damit in den Kampf zu gehen", murmelte Merle, während sie Hesindiard vorsichtig half, sich langsam aufzusetzen. Nebenbei kontrollierte sie die verbliebenen kleineren Brandwunden, die die Funken des zerberstenden Feuerballs am Oberkörper des Kriegers verursacht hatten. "Seht, Rionn hilft Ihrer Gnaden mit Tsas Segen, so wie er auch Euch geholfen hat."

***

Gudekar hatte seinen Stab aufgehoben, nachdem dieser seine Attacken beendet hatte. Er war von den Schlägen, die er einstecken musste, noch etwas benommen und nahm Ardare und ihre Leibwache kaum wahr, die ganz in der Nähe standen.

Der Anconiter blickte sich um und lief dann auf Nivard, Imelda und Meta zu. Er musste der brennenden Geweihten helfen. Mikas Warnruf schien er überhört zu haben.

Die Kaldenbergerin gab ihrer Leibwächterin einen kurzen Befehl, den die anderen nicht hören konnten. Wolfrida wandte sich daraufhin in Richtung der Weissenqueller Firunnovizin.

Arda hingegen, rechts ihr Jagdrapier, ihre Linke am Halsband ihrer Hündin, folgte Gudekar in gewissem Abstand.

***

Mika schaute sich noch immer überfordert um und versuchte gleichzeitig Pfeil und Bogen wieder aufzulesen, als sie Ardares Leibwächterin auf sich zukommen sah.

Wolfrida hatte ihr Rapier noch immer blank in der Hand. In ihrem Gesicht spiegelten sich verschiedene Gefühle wider, keines war von der fröhlichen Sorte.

“Wo ist er?!” blaffte sie die Novizin an.

Diese war etwas überrascht und fragte verwirrt: “Wer? Wen meint Ihr? Den Paktierer?”

"Nerek! Der andere Leibwächter!" Sie presste ihre Lippen aufeinander und die Knöchel der Hand, die die Waffe hielt, traten hell hervor.

Mika blickte kurz unbedacht in die Richtung, aus der sie und Meta gekommen waren. Doch anstatt Wolfrida zu antworten, stellte sie ihr eine Gegenfrage: “Zunächst verratet Ihr mir, was dieser Nerek mit mir dort im Wald machen wollte und was Ihr und Eure Herrin Gudekar und Meta antun wollten!“ Mikas Augen funkelten wütend.

"Er hat Euch BESCHÜTZT! Und jetzt hört auf Spielchen mit mir zu spielen! Wo ist er?!" entgegnete die Leibwächterin aufgebracht und trat einen Schritt näher an Mika heran.

„Wollt Ihr mir drohen?“ fragte Mika frei heraus. „Was soll das? Wagt das, und ich erzähle es Eurer Herrin. Sie ist… sie ist meine Freundin!“

“WO?!” Die Leibwächterin war nun nah an die Novizin herangetreten und griff mit der Linken nach deren Kragen. In ihrer Stimme schwang nun auch so etwas wie Panik oder Angst mit. Es war klar, dass die Drohung Mikas die Frau gerade nicht erreichte.

„Bei Firun! Ihr seid ja völlig neben Euch!“ Mika fühlte sich von dem Gebaren der Frau weniger eingeschüchtert, als diese vielleicht erhoffte. Die Novizin wusste, dass man ein wildes Tier, das sich in die Ecke gedrängt fühlte, nicht weiter reizen sollte. Sonst konnte aus Angst schnell Aggressivität werden. Und die Wache schien wirklich Angst um ihren Schwertgesellen zu haben. Und wenn Mika es recht bedachte, sogar mit Recht. Vermutlich brauchte er Hilfe. Aber Meta hatte Mika vor Arda und ihren Schergen gewarnt. Sie wollten wohl Gudekar und Meta etwas Böses, wollten sie nicht davon ziehen lassen, gefangen nehmen, vielleicht sogar töten. Sollte Mika ihr wirklich helfen? „Angenommen, ich verrate Euch, wo Euer Gefährte liegt, werdet Ihr ihn dann wecken, um meinen Bruder und seine Ritterin zu töten?“

"Wecken?" Die Panik in der Stimme der Leibwächterin war nun unüberhörbar, ihre Augen waren aufgerissen. Sie schüttelte Mika wütend: "Undankbares Kind! Wir sind doch keine Meuchler, wir sind Beschützer! Was ist mit ihm passiert? Wo ist er?!"

„Ich weiß es nicht, als Meta mich gefunden hat, lag er bewusstlos halb auf mir“, erklärte Mika, die sich jetzt gewandt aus dem Griff der Wache löste und einen Schritt zurück trat. „Meta sagte mir, dass Arda Gudekar gefangen gehalten und gequält hat und dass Ihr gegen Meta gekämpft habt. Deshalb haben wir Euren Kumpanen zurückgelassen, denn ich habe Zweifel daran, dass er nur mich zu schützen versucht hat.“

Wolfrida ließ die Novizin fahren und fuhr sich stattdessen mit ihrer freien Hand vor Verzweiflung ins Haar. "Wo? WO!?"

Die Frau war scheinbar wirklich verzweifelt, erkannte nun sogar Mika. „Kommt, ich bringe Euch zu ihm.“ Falls Meta recht hatte, würden Ardas Leibwachen Mika aber dennoch vor all den Leuten hier nichts tun, war sich Mika sicher. „Es ist gleich da drüben.“ Mika ging die wenigen Schritte voraus, bis sie den ohnmächtigen Nerek hinter einem Gebüsch liegen sahen.

Die Leibwächterin überholte Mika und eilte zu der am Boden liegenden Gestalt. Sie kniete sich hin und bettete den Kopf des Ohnmächtigen auf ihrem Schoß. Die Art und Weise, wie Wolfrida sich um Nerek kümmerte, zeigte auf, dass ihre Beziehung zueinander professionelle Grenzen längst durchbrochen hatte. Zärtlich strich sie über den Kopf des bulligen Leibwächters.

Mika beobachtete die Leibwächterin einen Moment aufmerksam mit verschränkten Armen. “Ihr steht Euch nahe.” Es war eher eine Feststellung als eine Frage. “Mein Bruder steht mir auch nahe. Sein Schicksal kümmert mich, so wie Euch das Leben dieses Mannes kümmert. Gudekar könnte ihm helfen. Könnt Ihr ihm ebenfalls helfen?

“Ihr habt ihn liegen lassen wie Unrat!” entgegnete Wolfrida bitter in Mikas Richtung. “Er hat Euch beschützt, als Ihr vorhin zusammengebrochen seid.” Ihre Augen funkelten. “Ich will die Hilfe Eures Bruders nicht. Er führt Übles im Schilde. Er wollte meine Herrin verzaubern. Das habe ich gesehen.”

“MEIN BRUDER IST EIN GUTER MANN!”, brüllte Mika Wolfrida an. “ER FÜHRT NICHTS ÜBLES IM SCHILDE!” Die Novizin atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. “Aber wenn Ihr seine Hilfe nicht wollt, dann halt nicht.” Mika drehte sich um, um zu schauen, wo sie am besten helfen konnte.

“Undankbares, dummes Gör!” rief die Leibwächterin ihr hinterher.

„Ihr seid selber undankbar, wenn Ihr nur aus Stolz und Hass die Hilfe meines Bruders ablehnt und Euren Gefährten lieber sterben lasst“, rief ihr Mika beim Gehen über die Schulter zu.

Wütend blickte die Leibwächterin der Novizin hinterher, bevor sie sich ganz ihrem Gefährten widmete.

***

Gudekar erreichte zunächst die beiden Kämpfer, als der Paktierer seinen Dämon anrief. Im Vorbeigehen hieb er ihm in die ungedeckte Seite, doch traf er den Mann nicht richtig. Gudekar lief dann weiter zu Imelda und Meta, zu denen sich inzwischen auch Rionn gesellt hatte.

Angewidert verzog die Baroness den Mund, als Gudekar dem Schergen von der Seite einen Schlag mitgab. Lange schon war sie keine Novizin der Rondra mehr, aber die Wurzeln früher Prägung schlugen tief.

Es war auch Arda nicht entgangen, dass der - im wahrsten Sinne des Wortes angeschlagene - Kämpfer seinen erzdämonischen Herrn angerufen hatte.

Sie unterbrach ihre Verfolgung des Anconiters, um abzuwarten, ob Nivard mit seinem Gegner zurecht kam. Im Geiste bereitete sie bereits einen Zauber vor, um sich vor dem Schurken zu schützen - und einen weiteren, um diesen in die Niederhöllen zu schicken.

Dieser widerliche Lump wagte es tatsächlich, seinen erzdämonischen Herrn anzurufen! Aus Zorn wurde Abscheu. Nivard wusste, dass er schnell handeln musste, bevor sein Gegner eine Schweinerei veranstaltete, am besten wollte er dem Herzogenfurter Beispiel seiner Dienstherrin folgen!

"In Travias Namen!" Nivard holte aus und führte seine Klinge erneut mit Wucht gegen seinen Gegner, diesmal gegen die Halspartie, doch ging sein Schlag fehl.

Bestärkt von der Erkenntnis, dass sein Herr ihm beistand, da die Angriffe der Feinde ihn nicht mehr trafen, schlug der Kämpfer noch einmal auf den Krieger ein. Der Anconiter sollte schließlich verschont werden, das war die Anweisung, die sie erhalten hatten. Irgendwann würde er schon den Verlockungen erliegen. Der Mann holte zu einem schweren Schlag aus, doch wohl deutlich zu weit, denn die Bewegung verursachte in der Seite der gebrochenen Rippe einen stechenden Schmerz und er musste die Attacke stöhnend abbrechen. “Steh mir bei, L…”

"Halt Dein Maul!" brach es aus Nivard lauthals hervor, als der Feind sich ein weiteres Mal anschickte, den Namen eines leibhaftigen Erzdämons auszusprechen. Diesmal gehorchte die Klinge des Ambelmunders seinem Willen und drang kraftvoll auf Hals und Schulterpartie des Frevlers ein.

***

Die Ritterin hatte es inzwischen geschafft, die meisten der Flammen mit feuchtem Schlamm zu ersticken, zumal von Imeldas Kleidung nicht mehr viel Brennbares übrig war. Auf den ersten Blick wurde klar, dass der Streifschuss des Armbrustbolzens lediglich die obere Kopfhaut der Ingrageweihten aufgerissen hatte, auch wenn diese kleine Verletzung nichtsdestotrotz stark blutete. Der Tellerhelm, der den Treffer aus nächster Nähe glücklicherweise abgelenkt hatte, lag einen guten Schritt von Imeldas Kopf entfernt auf dem Boden und wies einen glatten Durchschuss auf.

Als der Tsageweihte Imelda und Meta erreicht hatte, ging er sofort neben ihnen auf die Knie. Nachdem er entdeckt hatte, dass es vor allem Imeldas Kopfwunde war, die Sorgen bereiten sollte, hob er den Kopf der Ingrageweihten auf seinen Schoß.

Schnell erkannte Rionn, dass die Bewusstlosigkeit der jungen Geweihten vom harten Aufschlag auf eine Baumwurzel herrührte, da eine blutige Platzwunde an ihrem Hinterkopf Imeldas Haar rot verfärbte.

Rionn hatte noch immer zerriebenen wilden Knoblauch an den Händen. Sofort begann er mit dem Ritual des Wundsegens und bestrich die Wunde mit dem Knoblauch. Er spürte, dass die gnadenhafte Kraft, die Tsa ihm schenkte, sich langsam neigte und er sich bald erst einmal einige Zeit in Meditation zurückziehen musste. Der Tsageweihte hatte die Zuwendung der Ewigjungen nun doch schon sehr strapaziert in den zurückliegenden Stunden. Doch er hoffte, dass es für Imelda nun noch reichen würde, während die anderen die Gesellen des Paktierers vertrieben.

Auch Gudekar kam nun bei den dreien an und hockte sich sofort neben Rionn und Imelda, nicht ohne Meta einen liebevollen Blick und ein Lächeln zuzuwerfen. “Was ist mit ihr? Lebt sie noch?” fragte er besorgt.

Imelda zuckte kurz zusammen, als die Macht der Götter Rionn und sie ergriff und zu durchströmen begann. Ein angestrengtes, leises Knurren kam über die Lippen der Hadingerin und dann schlug sie plötzlich nach einem anfänglichen Blinzeln die Augen auf. “Rionn?”, flüsterte sie kaum hörbar und ein seliges Lächeln lag auf ihrem Antlitz. Es war ihr anzumerken, dass sie noch nicht voll und ganz bei sich war. Dies lag nicht nur an ihrem körperlichen Zustand und der Ohnmacht, sondern auch daran, dass sie Ingra durch das göttliche Wirken heute Nacht besonders nahe stand und Rionns Segen erst zu wirken begann. “Wir sind noch hier, oder?”, fragte sie weiter und versuchte mühsam mit ihrer ausgestreckten Hand das Gesicht des Tsageweihten zu berühren. “Also, auf dem Dererund, meine ich.”

Gudekar pustete beruhigt aus, doch dennoch wirkte er besorgt. “Das sieht nicht gut aus!” Er blickte zu Rionn. Der Anconiter wusste, dass er Rionns Gebet besser nicht stören sollte, um die Wirkung nicht zu verhindern. Doch fiel es ihm schwer, untätig daneben zu stehen, wenn es einer Freundin so schlecht ging. So blickte er zu Meta und fragte sie: “Ich könnte ihr helfen. Soll ich abwarten oder schnell handeln?”

Rionn unterbrach kurz das Gebet, während er aber weiter die Kopfwunde mit Knoblauch einrieb. “Gudekar, halte Imelda still… und versorge ihre Schuss- und Brandverletzungen …und halt uns den Dämonenfreund vom Hals…” Dabei deutete der Tsageweihte mit dem Kinn zu dem Kämpfer, der gerade die Niederhöllen anrief. Dann aber vertiefte Rionn sich wieder in seine Meditation.

Gudekar nickte zustimmend und schaute schnell, wie es bei Nivard mit dem Feind stand. Schnell deutete er mit zwei Fingern der linken Hand auf den Angreifer und sprach: “bha’iza dha feyra.” Doch nichts geschah. Gudekar hatte nicht bedacht, dass die Verletzung seiner Hand ihn derart beeinträchtigte.

Rionn hatte keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, auf welcher Seite Gudekar und Meta nun standen. Intuitiv vertraute er ihnen. Und es schien berechtigt zu sein. Der Tsageweihte konzentrierte sich auf die Meditation.

„Ähmm… ich weiß nicht.“ Meta fand sich zwischen magischem und göttlichem Wirken mit ihrem Schlamm in der Hand etwas verloren. Imelda schien zu erwachen, es war aber unwahrscheinlich, dass sie sie erkennen würde. Nivard! Dem musste sie helfen. Sie rappelte sich auf und orientierte sich, um dann zu Nivard zu eilen.

***

“...Lolgramoth!” Nivards Klinge näherte sich mit voller Kraft der Kehle des Frevlers, doch im letzten Moment gelang es ihm abermals, dem Schlag mit seinem Schwert eine andere Richtung aufzudrängen, so dass Nivards Schlag dicht an seinem Schädel vorbeirauschte. Den Gegenschlag konnte er jedoch wiederum nicht setzen.

Meta war aufgestanden und machte einen großen Satz, um sich zu Nivard zu gesellen. Schlammverschmiert zog sie ihr Schwert.

Die junge Baroness von Kaldenberg war bereits Zaungast beim Duell zwischen Nivard und dem Frevler und beobachtete den Schlagabtausch seit einiger Zeit.

Als die Geliebte des Anconiters hinzu trat und ihre Waffe zog, hob Arda ihrerseits die Klinge wie beiläufig an, so dass sie wie eine Schranke zwischen Meta und den Kämpfenden stand.

"Das ist nicht Euer Kampf", beschied sie der Ritterin. "Lasst ihm die Ehre." Ihr Kopf neigte sich knapp in Nivards Richtung.

Mit einer Prise Spott fügte sie hinzu: "Ich dachte, Ihr versteht Euch auf Rondras Gebote?"

Was verstand die Frau schon von Rondras Geboten? „Ja, wenn Ihr schon so viel über rondrianische Tugenden wisst, wie kommt es dann, dass Ihr weder der Leuin geweiht seid, noch den Ritterschlag erhalten habt, Baroness?“ Zu Nivard rief sie laut: „Nivard, ich will dir wie geplant beistehen, aber Arda lässt mich nicht.“

"Für Euch 'Baroness von Kaldenberg'." warf Arda ein. Sie spottete: "Und Ihr nennt Euch eine Ritterin?"

Der Angesprochene nahm die Worte zunächst nur am Rande wahr, war er doch noch völlig auf den Zweikampf mit seinem Gegner fokussiert. "Fahr zu Deinem Herrn!" knurrte er diesem mehr entgegen, als er sprach. Wieder sauste Nivards Klinge mit aller Macht gegen seinen Gegner. Der Zorn und die Gefahr verliehen dem Krieger Kraft. Er durfte nicht nachlassen... das war er den seinen schuldig, Winrich... und Rondrard. "Für Rondrard!"

Und dieses Mal erwischte Nivard eine Lücke in der Deckung des Mannes und traf ihn mit voller Wucht an der linken Halsschlagader. Die scharfe Klinge durchtrennte seinen Hals mit einem lauten Knacken. Sein Kopf kippte zur Seite und ein kräftiger Schwall Blut ergoss sich aus seiner Ader, bevor der Körper in sich zusammensackte. Der Kampf war endgültig beendet.

"Seht Ihr?" kommentierte die junge Kaldenbergerin hochmütig, ohne Meta auch nur anzusehen.

Ein Handlanger des Erzfeindes Travias weniger auf dem Derenrund! Einen kurzen Moment nur erlaubte Nivard sich, schwer atmend innezuhalten. Es wollte sich keine Genugtuung oder Freude über diesen Sieg einstellen, nur ein Hauch von Leere, die sich sofort durch die Sorge um die Freunde füllte. Hastig versuchte er, sich einen Überblick über die Umgebung zu verschaffen. Richtig, da war Meta. Noch immer war er sich nicht ganz sicher, welche Rolle sie in diesem Scharmützel spielte. "Wie steht es um ihre Gnaden Imelda?” raunte er ihr durch das Dunkel hindurch zu. Wo er sie zuletzt vermutet hatte, konnte er sie nun ausmachen.

„Viel besser, Rionn und Gudekar kümmern sich um sie“, antwortete Meta Nivard. „Sie brennt nicht mehr. Und sie ist wach und spricht.“ Die Paktierer waren alle weg, der Wald war wieder ein üblicher, nächtlicher, ruhigerer Wald geworden. Um Imelda kümmerte man sich, Meta fühlte sich erschöpft und leer. „Ich hole eine Decke aus der Hütte, sie wird frieren. Und der andere Verletzte wohl auch.“ Sie ignorierte Arda vor sich und drehte sich Richtung Hütteneingang.

~ * ~

Nach dem Kampf

Die Baroness von Kaldenberg hingegen trat auf den Toten zu und ging vor diesem in die Hocke. Ihre Hündin schnüffelte zuerst an dem Kopf, um dann von der sich rasch ausbreitenden Blutlache an der klaffenden Wunde des Paktierers zurückzuweichen..

“MEIN BRUDER IST EIN GUTER MANN!”, hörte man Mikas Stimme in den Wald schreien. “ER FÜHRT NICHTS ÜBLES IM SCHILDE!”

Arda hörte das Schreien, reagierte aber vorerst nicht darauf. Tharga hingegen hob den Kopf und spitzte die Ohren.

Arda hockte noch neben dem Leichnam des Lolgramoth-Anhängers, aus dessen Hals noch immer ein letztes Rinnsal Blut floss. Es roch nach Tod und Verderben, das nahm auch Tharga wahr. Nivard stand daneben und schaute sich um.

Dann konnten Arda und Nivard auch Gudekars Worte an Imelda hören, die ja ganz in der Nähe waren.

Arda war auf ein anderes Problem fokussiert. Dieser hier würde nicht mehr reden - aber vielleicht wäre die Ausrüstung des Schurken aufschlussreich? Mit spitzen Fingern, um sich nicht über Gebühr zu besudeln, begann sie den Toten zu durchsuchen.

Nivard behielt mit einem Auge Arda im Blick - es war ihm nicht Unrecht, die Leiche seines erschlagenen Gegners nicht selbst durchsuchen zu müssen, andererseits wollte er sehen, was die Kaldenbergerin zu Tage förderte. Gleichzeitig versuchte er noch immer, den Überblick über das Schlachtfeld wiederzuerlangen. Aus Imeldas Richtung hörte er diese und Gudekar leise sprechen. Verdammt, eigentlich müsste er jetzt dort sein, genauso aber auch Meta im Auge behalten, Merle beispringen... wenigstens schien die Lage wieder halbwegs im Griff. Er beschloss, zunächst die Position zu halten und bereit zu bleiben, sollten sich weitere Feinde offenbaren. Oder Freunde sich nicht als solche erweisen. "Was gefunden?" flüsterte er Arda zu.

Arda ließ ihre Finger die Kleider des Toten entlangfahren. Zunächst fand sie nichts Interessantes. Eine Hand voll Münzen in einer kleinen Geldkatze, zwei einfache Wurfmesser. Doch schließlich entdeckte sie einen metallischen Gegenstand in einer Hosentasche, der an einer Kette hing. Als Arda den Gegenstand herauszog, erkannte sie, dass es sich um einen Ring gehandelt hatte, der einst als Zeichen der Zugehörigkeit zu einem Orden gedient haben musste. Doch der Ring war verformt, als sei er halb eingeschmolzen und dann mit einem Hammer bearbeitet worden. Das ehemalige Zeichen, das dem Ring eine Ordenszugehörigkeit verlieh, war nur noch schwer zu erkennen. Dennoch glaubte Ardare, auf den Resten des Ringes das stilisierte Bild eines Tempelbaus mit vier Säulen zu sehen, in dessen Mitte ein Herdfeuer loderte. Das Wappenbild des Bundes zum Schutze von Heim und Herdfeuer, auch Orden der Gänseritter genannt.

"Der Ring eines Gänseritters." Die Baroness hielt Nivard den Ring zur Begutachtung entgegen. "Beute - oder sein eigener?" spekulierte sie.

Letzteres, mutmaßte sie. Beute würde intakt gehalten werden, um den Triumph sichtbar zu machen. Die Beschädigung des Rings hingegen sprach von Enttäuschung, geplatzten Träumen, von erschüttertem Glauben.

"Sein eigener... fürchte ich", bestätigte Nivard die ungeäußerten Vermutungen Ardas. "Wer weiß, was ihn veranlasst hat, die Gütige zu verraten..." Nachdenklich sah der Krieger das Fundstück einige Augenblick lang an, dann straffte er sich. "Ein guter Anhaltspunkt, um ausfindig zu machen, um wen es sich bei ihm handelte."

Nachdenklich nickte die Baroness bestätigend.

***

Enttäuscht über seinen misslungenen Zauber blickte Gudekar noch einen Moment zu Nivard und dessen Gegner. Dass jener Nivards eine Attacke abwehren konnte, dafür gab sich Gudekar nun selbst die Schuld. Umso beruhigter war er, als Nivards nächster Schlag sein Ziel traf und den Schergen fällte. Er atmete pustend aus, als er sich etwas entspannte. Der Heilmagier wusste, dass bei dem Schergen kein Zauber mehr helfen würde, selbst, wenn man ihn bat, den Mann aus dem Jenseits zurückzuholen, um ihn zu befragen und dann dem reinigenden Feuer zu übergeben. Doch das störte Gudekar nicht, er hatte kein Interesse mehr, irgendjemanden aus Pruchs Gefolge zu retten, nach dem, was sie Gwenn angetan hatten. So wandte er sich schnell wieder Imelda zu, um Rionn bei seinem Ritual zu unterstützen, indem er anfing, ihre Kopfwunde zu säubern und zu verbinden. „Es wird alles wieder gut, Euer Gnaden! Bald werdet Ihr wieder wohlauf sein. Ich helfe Euch, wie ich damals Eurem Bruder geholfen habe.“ Mit einem Schmunzeln musste er an das kleine Turnier am Vorabend der Schweinsfolder Hochzeit zurückdenken, bei dem er bei Hardomar eine unbedeutende Wunde geheilt hatte, um der Baronin von Rickenhausen zu entkommen. Es war der Abend, an dem er Meta kennengelernt hatte. Der vielleicht wichtigste Tag in seinem Leben.

Ein Schatten verdüsterte Merles Antlitz, während sie Gudekar dabei beobachtete, wie er mit selbstgefälliger Miene - sogar einem versonnenen Lächeln auf den Lippen - Imeldas Wunden versorgte. Es war ein fast unwirklich friedliches Bild, als wäre überhaupt nichts geschehen. Eben hatte sie geglaubt, dass er es war, der den Feuerball auf Hesindiard und sie alle schleuderte; hatte er vorhin seine Magie doch tatsächlich eingesetzt, um in ihren Geist zu dringen und sie seinem Willen zu unterwerfen. Er, ihr Mann, der da drüben ruhig seine Arbeit verrichtete wie eh und je, hatte sie verletzt und betrogen, ohne mit der Wimper zu zucken, hatte ihr Vertrauen zutiefst erschüttert. Ein Gefühl von Übelkeit stieg in ihr auf, als sie Gudekars vertrauten Anblick mit dem zu verknüpfen suchte, was er getan und zu ihr gesagt hatte; sie versuchte den Klumpen in ihrer Kehle herunterzuschlucken, doch gelang es ihr nicht, die Tränen zu unterdrücken, die ihr wie von selbst über die Wangen rannen. Wie konnte er ihr so wehtun und jetzt dennoch eine derartige Gelassenheit und Zufriedenheit, ja unverschämte Selbstgerechtigkeit ausstrahlen? Merle senkte den Blick, um Gudekar nicht länger ansehen zu müssen und betrachtete in sich versunken, leise weinend, das Moos und vermodernde Laub auf dem feuchten Waldboden unter sich.

Imelda hatte für eine Weile während des Gebets wieder die Augen geschlossen und versuchte, sich auf allein die Götter und deren Wirken zu konzentrieren. Als sie erneut die Augen öffnete, erblickte sie nun auch Gudekar über sich. “Oh, hallo”, sprach sie diesen an. “Ich dachte, du wärst mit Meta im Turm? Ist sie auch hier?”

“Im Turm?” fragte Gudekar verwirrt. Er machte sich Sorgen, dass Imeldas Kopfverletzung schlimmere Folgen für ihren Geist haben könnte.

Sichtlich verwirrt sah sie sich um und erinnerte sich erst langsam wieder daran, was sich zugetragen hatte. Fragend wanderte ihr Blick zwischen Gudekar und Rionn hin und her. “Wir waren in diesem Nebel, nicht wahr? Das war ein Hinterhalt. Was ist denn genau geschehen? Haben wir diese Schurken besiegt?”

Gudekar legte beruhigend seine Hand auf Imeldas Schulter. “Es ist alles gut. Sie haben m…”, er wollte ‘mir’ sagen, korrigierte sich aber gleich, “uns aufgelauert. Aber keine Sorge, sie sind geschlagen.”

“MEIN BRUDER IST EIN GUTER MANN!”, hörte man Mikas Stimme in den Wald schreien. “ER FÜHRT NICHTS ÜBLES IM SCHILDE!”

“Mika…”, murmelte Imelda und sah besorgt den Anconiter an. “Gudekar, ob du wirklich ein guter Mann bist, das werden andere richten. Du hast immer die Wahl, selbst jetzt. Doch sei dir gewiss, dass ich die Welt nicht nur in Weiß und Schwarz sehe. Und ich bete zu den Göttern, dass die dunklen Versuchungen dich niemals bezwingen werden.”

„Ja, Imelda, es gibt nicht nur Schwarz und Weiß, wie Mika es sieht. In einem hat sie recht, ich will niemandem etwas Schlimmes. Doch hat sie auch Unrecht, denn ich bin ein böser Mann. Was ich Merle angetan habe heute, aber auch in den letzten zwei Jahren, ist nicht zu entschuldigen. Und damit meine ich nicht den Zauber, den ich auf sie gewirkt habe, sondern den Betrug mit Meta. Doch ich kann nicht anders. Ich liebe Meta über alles. Ich kann nicht anders, als mein Leben mit ihr zu verbringen. Wir gehören zusammen. Du warst doch auch Metas Freundin bisher. Siehst du nicht, wie sehr wir zusammengehören? Ich weiß, dir wurden andere Ideale gelehrt, aber es wäre ein Frevel gegen Rahja, wenn wir diese Gefühle ignorieren würden. Aber es ist noch etwas anderes. Imelda, du hast gesehen, der Feind, der Widersacher der Göttin, hat es auf mich abgesehen. Er hat versucht, mich zu verführen. Er wird es wieder und wieder tun, wenn ich hierbleibe. Und ich habe Angst, dass ich irgendwann der Versuchung erliege. Deshalb muss ich weg von hier. Ich werde mich auf die Begegnung vorbereiten, lernen, ihn zu besiegen. Das kann ich am Besten dort, wo man den Kampf gegen das Dämonengezücht seit Jahren tagtäglich kämpft. Und wenn es soweit ist, werde ich bereit sein und zurückkehren und den Mann, der meine Schwester entführt und unsere Freunde getötet hat, vernichten. Und ich verspreche dir, ich gelobe, ich schwöre bei der Göttin der Weisheit, danach werde ich mich meiner Taten stellen. Doch bitte, jetzt müsst ihr mich und Meta gehen lassen! Sonst war alles umsonst. Sonst hat ER erreicht, was er wollte und mich besiegt.“ Imelda sah in seinen Augen Aufrichtigkeit und Verzweiflung. Sie spürte, das, was er gerade gesagt hatte, konnte und würde er nur vor ihr und Rionn sagen, den beiden Geweihten der Zwölfe, denen er am meisten vertraute.

Als Gudekar davon sprach, dass er dorthin musste, `dort, wo man den Kampf gegen das Dämonengezücht seit Jahren tagtäglich kämpft´ drängten sich bei diesem Satz Erinnerungsfetzen in Rionns Bewusstsein, doch es gelang ihm, sie niederzukämpfen und Gudekar bis zum Ende zuzuhören. Er seufzte. “Das verstehe ich, Gudekar. Und ich glaube dir. Doch ich möchte noch vor einem warnen, was dir, was uns vermutlich nicht in geeigneter Weise bewusst ist.” Immer noch hielt er Imeldas Kopf leicht angehoben durch seine linke Hand gestützt. Er hatte das Ritual beendet und schaute nun Gudekar ernst an. “Wir sehen das Offensichtliche, doch was am schlimmsten wütet, bleibt uns verborgen. Wir sehen, wie wir angegriffen und verletzt werden, körperlich. Wir bekommen mit, dass Menschen sterben und andere entführt werden. Aber wenigstens genauso schlimm ist, was die Widersacher der Götter mit unserer Gemeinschaft machen, mit der Art und Weise, wie wir einander behandeln. Misstrauen und Zwietracht, Argwohn und List. Wir versuchen einander zu schaden, zu überwältigen, bekämpfen uns gegenseitig. Freunde streiten, beäugen einander misstrauisch, verdächtigen den anderen. Doratrava wird bezichtigt und eingesperrt. Arda versucht dich festzusetzen. Im Herrenhaus gehen die Recken aufeinander los. Gudekar! Sind wir noch Herren unseres Handelns? Was du Merle angetan hast… Das bist nicht du.” Erneut seufzte er. “Wir urteilen gerade nicht, als wären wir frei vom feindlichen Einfluss. Wir müssen Abstand gewinnen, um wieder klar denken zu können. Darum ist es gut, dass du gehen willst. Aber sei vorsichtig! Misstraue dir selbst und deinen Gedanken. Wenn sie dich dazu anleiten, Menschen, die du Freunde nennst, die du als Familie wähnst, zu verletzen und zu hintergehen, dann sind diese Gedanken vergiftet. ER hat schon Macht über uns. Über dich. Sei skeptisch gegenüber allem, was uns zu vorschnellen und einfachen Urteilen verführt… Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß.”  

Gudekar hörte aufmerksam Rionns Worten zu und nickte verstehend. Doch bevor er darauf eingehen konnte, meldete sich auch Imelda zu Wort.

Während Rionn sprach, wurden Imelda die Augen wieder etwas schwerer und es war nicht leicht zu sagen, inwieweit die Geweihte wirklich dem Gespräch folgte. Sie empfand den Wohlklang von Rionns sanfter Stimme als angenehm und beruhigend. Doch ihre Worte bewiesen, dass sie sehr wohl gut zugehört hatte: “Gudekar, es liegt nicht in meiner Macht, dich freizusprechen, bis der Pruch gefangen wurde. Niemand hier kann das einfach so entscheiden. Wie lange jagt ihr diesem Schurken bereits hinterher? Wieso erwartest du, dass die Konsequenzen deiner Taten auf unbestimmte Zeit verschoben werden müssten, dass gerade du eine Sonderbehandlung verdienst?” Imelda versuchte, sich aus der entspannten Lage auf Rionns Hand in eine sitzende Position hochzuhieven. Ernst sah sie den Anconiter an und schüttelte zweifelnd den Kopf. “Du schwörst auf die Herrin Hesinde und frevelst derweil gegen die Gebote Travias? Du schiebst Rahja vor, wenn es eigentlich nur um deine persönlichen, eigennützigen Pläne und Wünsche geht? Und hast du nicht, als du dein Magiersiegel erhalten hast, einen Schwur geleistet, deine Magie nicht zum eigenen Vorteil zu missbrauchen, ebenfalls vor Hesinde - und wie mir von deiner Ehefrau berichtet wurde, auch dagegen verstoßen? Ganz ehrlich, du würdest dir doch nicht einmal selbst vertrauen. Trotzdem…!”, die junge Ingrageweihte hob warnend den Zeigefinger, ”...weißt du eigentlich, warum wir alle hier sind? Warum es überhaupt dazu kommen konnte, dass wir uns in Lebensgefahr begeben haben?”

Der Tsageweihte unterstützte Imelda dabei, sich aufzurichten und hörte ihr zu. Dann schaute er wieder zu Gudekar und wartete seine Antwort ab.

Gudekar blickte betreten zu Boden. Natürlich sah er die Weisheit in Imeldas Worten. Doch war sie kein Teil der Gemeinschaft, die beauftragt war, den Schaden zu heilen, den Pruch angerichtet hatte. Beauftragt von niemand geringerem als dem Muschelfürsten selbst und der Herzogenmutter, die vom Volk unter dem Wasser als ‘Königin über den Wassern’ bezeichnet wurde. Der Erfolg dieser Mission war das vorrangige Ziel, das es zu erreichen galt. Seine persönlichen Probleme, so bedeutsam sie auch für Merle, für Meta und für ihn waren, mussten dahinter zurückstecken. Rionn wusste auch das. Doch Imelda konnte er es nicht sagen, hatte die Gemeinschaft doch weitestgehendes Stillschweigen über ihre Mission geschworen. So konnte Imelda nicht verstehen, dass hier zwei unterschiedliche Belange aufeinandertrafen, die vermutlich nur mehr oder weniger zufällig miteinander verwoben zu sein schienen. “Ich weiß nicht, warum ihr wirklich hier seid. Ihr seid hier, weil die Baroness von Kaldenberg ihre persönliche Rache an mir ausüben will, weil ich ihren Stolz verletzt habe, als ich ihre fachliche Kompetenz in Frage gestellt habe. Ihr seid hier, weil ich seit zwei Jahren meinem Herzen folge, seit ich Meta kennengelernt habe, und weil der Weg, den ich gewählt habe, nicht in das Weltbild der scheinheiligen Nordmärker passt, die kein Problem damit haben, wenn verheiratete Männer sich eine Mätresse suchen und ihre Leidenschaft mit anderen Frauen ausleben, solange dem eigenen Weibe vorgegaukelt wird, man spiele den treu ergebenen Familienvater, obwohl im Geheimen oder auch nicht ganz so Geheimen die Liebschaften öfter gewechselt werden als die eigene Hose. Und wo auf den scheinheiligen Treueschwur vor der gütigen Mutter mehr gegeben wird als auf das praiosgefällige wahre Wort. Ihr verfolgt mich, weil ich die Wahrheit ausgesprochen habe, dass meine Liebe fortan allein Meta gehört, anstatt weiterhin Merle eine heile Welt vorzumachen, die so nicht mehr gegeben ist, anstatt sie über meine Gefühle im Unklaren zu lassen und zu belügen, nur um dem Wunsche der Traviakirche zu gefallen. Auch mir sind die Gebote der gütigen Mutter wichtig, und ich achte ihre Gebote vermutlich mehr, als manch ein Ritter oder Edelmann, der sich wünschte, sein angeblicher Treueschwur hätte niemals stattgefunden und sein Weib würde nicht länger existieren. Mir ist nicht einerlei, was mit Merle und Liudbirg geschieht, wenn ich fort bin. Doch ich weiß, dass die beiden hier im Schoß der Familie am besten aufgehoben sind, besser als in meiner Nähe, wo sie stets in unmittelbarer Gefahr vor Paktierern und Dämonen leben müssten. Ich würde nicht gehen und sie zurücklassen, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass dies das Beste für sie wäre. Ich weiß, die Worte, die ich gerade sprach, werden mir von dir, Imelda, wiederum als Frevelei gegen die gütige Mutter ausgelegt. Alles, was ich tue oder nicht tue, kann als solche ausgelegt werden. Doch deshalb sage ich ja, ich werde mich meiner Verantwortung stellen, sobald die Mission, für die ich bereit bin, meinen Leib und meine Seele zu opfern, um die Nordmarken, die Völker, die hier leben, zu schützen und den Frieden zurückzubringen, von dem die meisten noch nicht einmal wissen, wie sehr dieser bereits zerstört wurde. Scheitert unsere Mission, wird weit schlimmere Frevelei über das Land herziehen als jene, die ich an Merle begangen habe. Ja, ich habe bei Hesinde geschworen, meine Magie nicht zu meinem eigenen Vorteil gegen andere Menschen zu gebrauchen. Und dennoch habe ich sie gegen Merle eingesetzt, das ist richtig. Doch hast du nur die Geschichte gehört, die dir Merle erzählt hat, vermute ich. Es blieb mir keine andere Wahl. Ich musste gehen, aus den genannten Gründen. Aber Merle wollte mich nicht gehen lassen. Ich wollte, dass Merle mich begleitet, uns begleitet, damit ich Merle aus den Nordmarken in Sicherheit bringen kann, damit der Paktierer sie nicht erreichen kann. Doch konnte ich weder Merle noch Liudbirg in die Gefahr mitnehmen, in die ich mich begeben muss. Deshalb wollte ich sie unterwegs in sicherer Umgebung bis zu meiner Wiederkehr zurücklassen. Doch auch das wollte Merle nicht. Ich wusste, sie würde mich verraten, mich jagen lassen, so, wie ihr mich nun gejagt habt. Doch wenn ich nun wegen der Taten, die ich gegen Merle begangen habe, die ich zu dem Zeitpunkt bereits begangen hatte, vor das Tempelpaar gebracht werde, dann kann ich meine Aufgabe nicht weiter verfolgen. Und ich weiß, auch die Person, die hinter unserer Mission steht, kann mir dann nicht helfen. Deshalb musste ich versuchen, wenigstens einen Vorsprung für meine Abreise zu gewinnen. Doch suchte ich einen Weg, der Merle nicht schadet. Hätte ich solche Absichten, die mir hier immer und immer wieder unterstellt werden, dann hätte ich Merle auch sonst etwas antun können, an das ich nicht einmal zu denken wage. Mit oder ohne Einsatz meiner Kräfte hätte ich mir und Meta eine sichere Flucht verschaffen können. Ja, der Einsatz von Madas Gaben war falsch, doch war es der sanfteste Weg, eine Tür zu öffnen, ohne irgendjemandem ein Leid zuzufügen. Denn so wichtig der Erfolg der Mission auch sein mag, noch wichtiger ist mir, dass auf dem Weg dorthin niemandem ein Leid zugefügt wird.” Gudekar holte tief Luft. “Warum es dazu kommen konnte, dass ihr in Lebensgefahr geraten seid? Nun, Rionn sagte es, der Säer der Zwietracht ist nicht unbeteiligt, weil kein Freund mehr einem Freund zu trauen vermag. Doch vielmehr möchte ich glauben, dass die Zwölfe Euch hierher geschickt haben, denn die Schergen der Widersacherin der guten Mutter haben mich hier scheinbar erwartet. Und ohne Eure Hilfe, ohne Euer Eingreifen, hätte ich keine Möglichkeit gehabt, ihnen zu entkommen. Entweder hätte ich früher oder später ihren Verlockungen nicht länger widerstehen können, oder sie hätten mich und Meta direkt in die Niederhöllen gerissen. Ich bin den Göttern dankbar, dass sie euch im rechten Moment zu meiner Rettung geschickt haben!” Während Gudekar sprach, fiel sein Blick auf Merle und er sah ihr schmerzverzerrtes Gesicht, als sie aufzustehen versuchte. Eine innere Unruhe ergriff von ihm Besitz, die auch Imelda und Rionn bemerkten. Er verspürte den Drang, seiner Frau zu helfen.

“Nun, sicher wirst du mit etwas Abstand noch einmal über all das nachdenken und vielleicht in einigen Dingen zu anderen Einsichten gelangen können, vermute ich”, kommentierte Rionn, der Gudekars Blick zu seiner Ehefrau wahrgenommen hatte. “Und wir aber auch”, ergänzte er. “Also ich bin nicht hierher gekommen, um dich zu jagen, Gudekar”, erklärte der Tsageweihte und klang dabei aufrichtig. “Manche mögen den Gedanken gehabt haben. Ich nicht. Ich möchte dir signalisieren, dass es immer ein Zurück gibt. Und ich möchte dir signalisieren, dass du immer noch Teil der Gemeinschaft bist. Und dass wir dich brauchen. Du darfst und kannst dich jederzeit an mich wenden. In aller Freiheit. Aber in diesen Stunden werden wir vom Widersacher bedrängt. Und das, was ich gerade ausgesprochen habe, mag unter seinem Einfluss in Frage gestellt scheinen. Es ist es aber nicht. Denn es ist und bleibt wahr. Ich wollte dich auch warnen. Weil ich erkannt habe, dass wir vieles, was wir in diesen Stunden hier tun, bereuen werden. Freunde jagen. Familienmitglieder. Das kann nicht im Sinne Travias sein. Erst recht nicht im Sinne der Ewigjungen, die die Freiheit liebt. Du musst gehen. Da stimme ich dir zu, Gudekar. Das ist zum Wohle deiner Lieben und zum Wohle unserer gemeinsamen Sache. Aber du musst auch zurückkommen. Denk bitte darüber nach.”

“Danke, Rionn!” Gudekar lächelte den Tsageweihten an und ergriff seine Hände, drückte sie, als suchte er selbst Halt... “Ich weiß, dass ich euch vertrauen kann. Und ich gelobe, ich schwöre dir, dass ich zurückkommen werde, sobald die Zeit dafür gekommen ist, und mich unserer Aufgabe sowie meiner Verantwortung stelle. Doch bis dahin muss ich einerseits dem Einfluss des Widersachers entrinnen und mich andererseits auf das vorbereiten, was uns bevorsteht. Beides geht nicht in den Nordmarken. Ich habe eine Vereinbarung mit dem Baron von Tälerort getroffen. Meta und ich werden ihn in seinem Kampf gegen die Folgen für sein Land unterstützen, die die Dämonenbrut hinterlassen hat. Dafür kann ich dort vieles für den Kampf gegen die Dämonen lernen, das unserer Mission zugute kommen wird. Wunnemar von Galebfurten hat mir dafür zugesichert, mich von meinen Pflichten ihm gegenüber zu entbinden, sobald meine Fähigkeiten hier benötigt werden. Schickt nach mir, wenn es soweit ist, wenn das Herz wiedererschaffen wird oder der Frevler herausgefordert wird. Ihr erreicht mich nach dem Winter in Tälerort.”

“Ja, am Rande der Schwarzen Lande wirst du viel lernen”, bestätigte Rionn. “Vielleicht hast du auch Gelegenheit, nachzudenken, was deine Familie anbetrifft.” Der Tsageweihte wollte Gudekar aus dieser Pflicht nicht entlassen. “So geh. Ich werde Wege finden, dich zu benachrichtigen, wenn wir soweit sind, das `Herz´ zusammenzufügen. Dann werden wir dich brauchen.”

Dann wandte sich Rionn an die Ingrageweihte. “Bei den Zwölfen, Imelda. Bitte lass Gudekar ziehen. Ich verbürge mich für ihn. Vertrau mir bitte. Es ist zum Wohle aller… und es ist wirklich im Sinne der Zwölfe, glaube mir.”

Imelda hatte sich Rionns Worte und Gudekars Versprechen still angehört; dann nickte sie mit ernstem, traurigen Ausdruck in den blauen Augen. “Gudekar, es liegt nicht in meiner Macht, dich aufzuhalten, wenn du jetzt gehst. Doch genauso wenig kann ich dir meinen Segen geben. Ich glaube, du verstehst noch immer nicht, worum es hier geht. Nicht um Liebe, nicht um Rahja, nicht darum, deinem Herzen zu folgen. Es geht darum, dass du deine Familie, deine Frau und dein kleines Kind, verstoßen und allein lassen willst.” Gudekar schüttelte verzweifelt den Kopf. Imelda hatte es noch immer nicht verstanden. “Dass es dir lästig geworden ist, dich um deine Angehörigen zu kümmern, obwohl du das vor der gütigen Mutter geschworen und beeidet hast. Siehst du nicht, wie widersprüchlich alles ist, was du sagst? Einerseits behauptest du, dass Merle in Lützeltal am besten aufgehoben sei. Gleichzeitig sagst du, dass du sie und Lulu in Sicherheit bringen wolltest, damit der Paktierer sie in den Nordmarken nicht findet - wo sind die beiden denn nun in Gefahr? Wenn es in den Nordmarken wirklich so gefährlich für deine Familie ist, wie kann es traviagefällig sein, sie genau dort zurückzulassen?” Schonungslos und herausfordernd fixierte die junge Ingrageweihte den Anconiter mit ihrem Blick.

Gudekar schüttelte noch vehementer den Kopf. “Imelda, du verstehst es nicht. Mir wäre es lieber, Merle und Liudbirg in Almada bei Freunden und Familie von Meta in Obhut zu geben, wo sie nicht gefunden werden. Doch das hat Merle abgelehnt. Doch hier bei meiner Familie und Kalmans Schutz ist es allemal sicherer als in Tälerort. Das ist gewiss kein Ort, wo ich mein Kind aufwachsen sehen will.”

“Egal, ob hier oder bei der Familie deiner Geliebten, du wolltest Merle allein lassen, nicht wahr? Selbstverständlich hat sie abgelehnt. Was glaubst du denn, was im Sinne Travias wäre? Machst du dir keine Sorgen, den Zorn der Göttin auf dich zu ziehen? Und nochmal - ich verurteile dich nicht dafür, dass du dich verliebt hast. Und ich glaube dir auch, dass du nicht willst, dass Merle leidet. Aber Pruch hin oder her… nur, weil du eine Geliebte hast, heißt das doch nicht, dass du deine Familie verstoßen und im Stich lassen kannst.” Imelda atmete tief durch und sah den Anconiter nahezu verzweifelt an. “Meta und du, ihr seid hierher mit dem Plan gekommen, Merle ganz offiziell zu verstoßen. Du wolltest dich nach der Hochzeitszeremonie öffentlich von ihr trennen - und das ist nichts anderes als eine tiefe Demütigung deiner Ehefrau. Das kann man sich kaum schönreden. Und ich habe mich mitschuldig gemacht, diesem Vorhaben zu lange tatenlos zugesehen zu haben.” Unsicher wog die junge Geweihte den Kopf hin und her und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. “Ich hatte nicht das Gefühl, dass du, sobald dieser Paktierer gestellt sein wird, umgehend zu deiner Familie zurückkehren möchtest. Du und Meta, ihr habt doch ganz andere Zukunftspläne. Das weiß ich nun einmal.” Der Blick Imeldas wurde traurig und sie sah den Anconiter mit einem einfühlsamen und wehmütigen Lächeln an. “Und ich weiß, dass Meta ganz schön Druck auf dich ausübt; das kann sie gut.”

Gudekar schüttelte den Kopf. Seine Stimme nahm einen ernsten, traurigen Tonfall an. „Du hast recht und unrecht zugleich. Es sind zwei Dinge, die hier zusammenkommen. Meine Liebe zu Meta ist eine Sache. Ja, ich möchte mein Leben mit Meta verbringen. Und ich weiß nicht, wie das gehen soll, ohne Merle wehzutun. Doch meine Reise nach Tälerort hat damit nichts zu tun. Dies ist eine neue Aufgabe, die ich erwählt habe im Kampf gegen die Dämonen. Und dorthin hätte ich weder Liudbirg noch Merle mitgenommen, selbst, wenn meine Vereinbarung mit dem Baron nicht auch noch Metas Dienste beinhaltet hätte. Dort ist es viel zu gefährlich. Doch meine Rückkehr in die Nordmarken, um die Mission zu einem Ende zu bringen, war von Anfang an Teil der Abmachung mit seiner Hochgeboren.“ Er holte tief Luft. „Und die Verhandlungen mit dem Baron habe allein ich geführt. Meta hat erst hinterher erfahren, dass wir dorthin gehen werden! Das war nicht Metas Idee!“

Rionn schüttelte den Kopf. Gudekar war noch immer davon überzeugt, dass die Tatsache, dass er seit der Schweinsfolder Hochzeit Meta verfallen war, nichts mit dem Einfluss Lolgramoths zu tun hatte. Der Tsageweihte war nach allem was er hier in Lützeltal noch mehr davon überzeugt, dass es kein Zufall gewesen war, dass Gudekar in Herzogenfurt auf Meta getroffen war. Das war der Plan des Bäckerpruchs. Subversiv und perfide. Solange sich Gudekar jedoch der Seelenprüfung entzog, würde er nie herausfinden, ob er sich frei von Lolgramoths Einfluss in Meta verliebt hatte oder ob all das zum üblen Spiel gehörte.

Nun war es wieder an Imelda, unwillig den Kopf zu schütteln. “Ja, deine Rückkehr in die Nordmarken für die Mission mag mit dem Baron von Tälerort abgesprochen sein - aber ganz sicher nicht die Heimkehr zu deiner Familie.” Sie seufzte müde. “Ich weiß doch, dass ihr zwei danach nach Linnartstein ziehen werdet. Meta hat mir erzählt, dass sie dir da eine Anstellung verschaffen will. Dass Merle in Eurem zukünftigen Leben eine Rolle spielt, hat Meta ganz sicher nicht im Sinn gehabt.” Vorsichtig streckte Imelda ihre Hand aus und ergriff die des Anconiters. “Rionn hat recht. Es ist nicht zu spät, um dein Leben wieder in die Bahnen der Götter zu lenken.”

Der Magier kräuselte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen, als er von Imelda über Metas Pläne hörte. Er erwiderte Imeldas Händedruck. Wieder wirkte es, als suche er Halt. “Ich habe nicht die Absicht, nach Linnartstein zu ziehen.” Viel zu sehr widerte ihn die Nähe zum dortigen Kloster der Bannstrahler an, als dass er sich vorstellen konnte, dort sein Leben zu verbringen. Und insbesondere ein Bannstrahler, der Sohn des Edlen, war es, den Gudekar meiden wollte wie die Duglumspest. “Imelda, ich denke momentan nicht weiter als bis zu dem Tag, an dem ich diesen Pruch in die Niederhöllen schicken kann, wo er hingehört. Was danach kommt, falls es überhaupt ein ‘Danach’ für mich gibt, das kann ich jetzt noch nicht sagen. Aber der Welt mit Merle ein heiles Familienleben vorzuspielen, während ich die Frau, der mein Herz gehört, verstecken muss und nur hinter verschlossener Tür treffen kann, so wie dies in Traurigenstein üblich zu sein scheint, der ’guten Sitten’ wegen, das kann ich weder Merle noch Meta antun. Das ist nicht mein Bild von Anstand und Aufrichtigkeit.”

Der Tsageweihte schüttelte enttäuscht und verzweifelt den Kopf. Imelda hatte ihn und seine Worte einfach ignoriert, war einfach über Rionns Bitte hinweggegangen, als ob er Luft wäre. Sie war so sehr verstrickt in ihre Gedanken, die sie wider Gudekar hegte, die sich um Meta drehten, die an Merles Situation hingen, dass die Ingrageweihte nicht bereit war, über die Fährnisse und Einflüsse der Gegenwart hinauszugehen. So sehr war auch Imelda bereits eingenommen vom subversiven Wirken Lolgramoths. Wie konnten sie sich nur daraus befreien?

“Gudekar, niemand verlangt, dass du Merle falsche Gefühle vorspielst”, entgegnete Imelda und warf dem frustrierend unkritischen Rionn einen gereizten Seitenblick zu, “...aber du hast nun einmal einen heiligen Schwur geleistet, dich um deine Familie zu kümmern. Und deinen Eidbruch willst du uns allen Ernstes als anständig und aufrichtig verkaufen? Nur, weil es andere Adlige gibt, die ebenso ihre Ehefrauen demütigen und verstoßen, die schlimmer gegen die Zwölfe freveln - macht dies dein Verhalten, deine Sünde besser oder erträglicher? Ist das dein Maß der Dinge - dass es andere gibt, deren Verhalten noch kaltblütiger, noch ruchloser ist? Soll man dir deshalb vergeben, weil deine Taten weniger schlimm sind als die des Paktierers Pruch?! Und ist es wirklich im Sinne deiner wichtigen Mission, wegzugehen und deine Gefährten hier in den Nordmarken im Stich zu lassen?”

Der Anconiter blickte Imelda verzweifelt an. „Ich möchte niemanden im Stich lassen!“

“Gudekar, ich kann nicht für die anderen sprechen, aber ich will dir sagen, warum ich dir gefolgt bin. Es ging nicht darum, dich zu jagen”, Imelda rückte näher an ihn heran und in ihrem blassen Gesicht war die Erschöpfung des langen, auszehrenden Tages zu sehen, aber auch ihr tiefer, unerschütterlicher Götterglaube, “...es ging mir darum, meine Freundin Meta vor einem Mann zu schützen, der offenbar mit dem Bösen liebäugelt und an der Schwelle steht, sich erzdämonischen Einflüssen zu ergeben. Findest du es nicht bedenklich, auch nur darüber nachgedacht zu haben, dass du Merle ‘sonst was hättest antun können’? Dass solche Gedanken überhaupt in deinem Kopf waren?!”

Nun verdrehte er die Augen.

Sie schluckte, atmete einmal tief durch und sprach mit ganz ruhiger, sachlicher Stimme weiter: “Merle hat etwas in deiner Manteltasche gefunden. Einen zerknüllten Zettel, den du offenbar länger mit dir rumgetragen hattest. Deine Frau, die Baroness, Rionn und Rahjel haben ihn gesehen. Und du weißt, was darauf stand, in einer Handschrift, die der von der Kiste mit dem abgeschlagenen Kopf von Nivards armem Bruder glich - 'Was glaubst du, verbindet uns?’ Gudekar, du standest mit dem Pruch in Kontakt; du glaubst offenbar, dich und diesen Paktierer würde etwas einen! Deshalb sag mir, bitte, wie tief bist du schon in die Dunkelheit verstrickt? Warum sollte ich meine Freundin mit einem wie dir ziehen lassen?”

Mit einem Mal wurde Gudekar blass, doch war dies im fahlen Licht des Madamals nicht zu erkennen. “Ein Zettel? Welch ein Zettel?” Hatte er so fahrlässig gehandelt, Pruchs Antwort auf seinen ersten Brief in seinen Mantel zu stecken? Er war doch die ganze Zeit in seiner Tasche. Nur mühsam unterdrückte er den Drang, seine Umhängetasche zu öffnen und panisch darin nach der Nachricht zu suchen. Er schluckte. Dann blickte er Imelda an. „Niemals würde ich Meta etwas antun. So wie ich niemals Merle oder Lulu oder sonst jemandem von euch etwas antun würde. Hast du Rionns Worte nicht verstanden? Der Paktierer und seine Schergen tun alles, um Zwietracht in der Gemeinschaft zu säen, um uns zu diskreditieren, um uns zu schwächen. Wie kannst du nur annehmen, ich könnte mit diesem…, diesem …, dieser Ausgeburt der Niederhöllen, der meine Schwester entführt hat, gemeinsame Sache machen? Er ist mein Feind. Was sollte mich mit ihm einen?”

“Genau diese Frage hat dir Pruch gestellt und die Antwort ist mehr als offensichtlich… Ich vermute sehr stark, dass du selbst an den Paktierer geschrieben hast und sehr genau weißt, um was für eine Verbindung es ging. Natürlich hast du mit ihm keine gemeinsame Sache gemacht, das habe ich dir auch gar nicht unterstellt - doch stehst du offensichtlich in so großem Konflikt mit den Geboten der Herrin Travia, dass du Gemeinsamkeiten gesehen hast.” Sie sah mit ihren hellen blauen Augen Gudekar tiefgründig an. “Doch wie schon gesagt, bin ich nicht deinetwegen hier und habe mein Leben auch nicht für dich riskiert. Ich könnte nur nicht ruhig schlafen, wenn ich nicht wüsste, ich hätte alles unternommen, um meine Freundin zumindest darüber zu unterrichten, was wir gefunden haben.”

Erneut verdrehte Gudekar die Augen. „Dann gehe zu ihr und warne sie vor mir. Ich werde dich nicht aufhalten“, erwiderte der Magier pampig. Dann wurde seine Stimme versöhnlicher. „Ich habe versucht, ihn aus der Reserve zu locken. Ich habe versucht, sein Versteck zu finden. Ich habe versagt. Nun bin ich sein Ziel.“ Er machte eine Pause, weil er zu Merle blickte, die mit Hesindiard herübergehumpelt kam.

Der Tsageweihte hatte aufmerksam zugehört, als Imelda den Magier mit dem Fund des Zettels konfrontierte. Oh! Gudekar war so grenzenlos dumm! Wie konnte er sich nur so unermesslich selbst überschätzen? Gudekars Arroganz würde noch mal sein Tod sein. Dann sah er, wie Hesindiard und Merle näher kamen. Einerseits war Rionn froh, dass es Hesindiard besser ging. Andererseits nahm er auch wahr, dass beide schwer zu tragen hatten.   

Die Geweihte atmete erschöpft aus. “Mein lieber Gudekar, ich habe schon gesagt, es ist nicht an mir, dich zu richten oder zu verurteilen. Aber auch nicht, dir einen Ablassbrief zu geben. Ich werde dich mit mahnenden Worten gehen lassen und Meta mitteilen, was wir gefunden haben. Ich hoffe, es hat sich wirklich so zugetragen, wie du es uns schilderst und dass sich alles zum Guten klären wird. Ganz sicher vertraut Meta dir, doch möchte ich ihr diese Informationen nicht vorenthalten.” Imelda griff zu ihrem Tellerhelm, welcher neben ihr lag und durchbohrte nachdenklich mit einem Finger das Einschussloch des Armbrustbolzens. “Ich habe mein Leben riskiert, um meiner Freundin diese Warnung mit auf den Weg zu geben.”

Gudekar erschrak, als er das Loch in Imeldas Helm sah. Es war nie sein Wille gewesen, dass jemand seiner Freunde wegen ihrer Abreise verletzt werden würde. „Hätte ich geahnt, wer hier auf uns wartet und dass ihr alle auf dem Weg hierher wart, ich hätte mein Leben gegeben, um die Gefahr von Euch abzuwenden! Geh! Geh‘ und rette deine Freundin vor mir!“

***

Auch Merle und Hesindiard konnten Mikas Gebrüll hören.

“MEIN BRUDER IST EIN GUTER MANN!”, hörte man Mikas Stimme in den Wald schreien. “ER FÜHRT NICHTS ÜBLES IM SCHILDE!”

Merle, die noch immer zusammengekauert neben Hesindiard auf dem Waldboden saß, zuckte bei Mikas Worten zusammen, als hätte ein Schlag ins Gesicht sie getroffen, sagte jedoch nichts, sondern versuchte sich zu fassen, indem sie ein paarmal ein- und ausatmete und sich wieder auf den Krieger in ihrer Obhut konzentrierte. "Denkt Ihr, dass Ihr aufstehen könnt, Herr Hesindiard?” fragte sie ihn mit leiser, sanfter Stimme. “Möchtet Ihr zu Imelda?”

"Ja, bitte, das möchte ich."

Merle nickte und rappelte sich auf, wobei sie beim Auftreten mit ihrem verstauchten Knöchel ein wenig das Gesicht verzog. Ganz bewusst versuchte sie nicht auf das zu hören, was Gudekar gerade zu den beiden Geweihten sagte, hatte sie doch das Gefühl, dass es nur noch ein weiteres Quäntchen Schmerz brauchte, um sie völlig und endgültig zusammenbrechen zu lassen. Sie beugte sich zu Hesindiard, streckte die Hände aus, um ihm hochzuhelfen und lächelte den Krieger aufmunternd an. "Gut, versuchen wir’s."

Hesindiard vernahm sowohl Gudekars Worte, als auch Merles Schmerz. Den der Seele und den des Knöchels. Er nahm daher ihre Hand, verlagerte aber sein Gewicht so, dass er sich selbst aufrichtete, ohne Merle zu belasten. Auf dem Weg zu Imelda musste er sich zusammenreißen, möglichst langsam zu gehen, während er unauffällig Merle stützte.

Merle registrierte sehr wohl, wie Hesindiard versuchte, sie zu stützen, während er gleichzeitig so tat, als würde er sich von ihr helfen lassen. Dankbar lächelnd blickte sie zu dem großen Krieger auf und humpelte mit ihm zu der Stelle, wo Imelda mit völlig verkohlter Kleidung saß, Gudekar und Rionn an ihrer Seite.

***

Meta hatte die kleine Hütte erreicht, in der sie mit Gudekar zusammen auf den nächsten Morgen und ihre ersehnte Abreise nach Punin warten wollte. Hier hatte sie vorhin in einer Ecke einen Stapel Decken gesehen, den sie nun bringen wollte, um die Verletzten zu wärmen.

“MEIN BRUDER IST EIN GUTER MANN!”, hörte sie Mikas Stimme in den Wald schreien. “ER FÜHRT NICHTS ÜBLES IM SCHILDE!”

Mika! Meta fühlte in dem Moment ehrliche Zuneigung zu Gudekars kleiner Schwester. Und bei den Göttern, die Decken! Die Verletzten mussten frieren, sie wollte wenigstens etwas nützlich sein und die Decken bringen. Sie beschleunigte ihre Schritte und trat in die Hütte.

Und tatsächlich sah sie den Stapel Decken noch immer an der Stelle liegen, wo sie diese in Erinnerung hatte. Die Luft in der Hütte fühlte sich schwer an, dichter als normal, fast schon zäh. Das Atmen fiel Meta schwer.

Meta ging sofort nochmal ins Freie und atmete durch. Was war denn da los? Wie in einer vollen, ewig nicht gelüfteten Kneipe, aber noch anstrengender. Sie holte tief Luft und atmete tief durch. Dann begann sie sich den Weg zu den Decken und ihrem Rucksack, der auch dort in der Hütte war, zu erkämpfen. Ab und zu musste sie stehen bleiben und sich abstützen, sie kam aber voran, packte zwei Decken und ihren Besitz. Als sie endlich wieder draußen war, flirrte es kurz vor ihren Augen, nach etwas frischer, reiner Luft ging es aber besser. Entschlossen marschierte sie zu den Verletzten.

Als Meta die Hütte verließ, traf sie auf Mika, die mit verärgerter Miene aus dem Wald auf sie zustapfte.

„Mika, hier bin ich, schau.“ Sie ging auf sie zu und hielt ihr einen Arm, um den eine Decke hing, hin. „Die will ich den Verletzten bringen, Imelda und noch einem, hilfst du mir?… Ah, was ist denn los?“

Mika war genervt. „Ach, die dumme Wachfrau von Arda! Du erinnerst dich doch an den bewusstlosen Krieger, der bei mir lag? Ich wollte Gudekar holen, um ihm zu helfen, aber die blöde Ogerbraut hat das aus Stolz abgelehnt. Die lässt ihren Kumpanen lieber verrecken!“ Dann lächelte sie Meta an. „Das mit den Decken ist eine gute Idee! Hast du vielleicht noch eine für mich? Dann bringe ich diesem armen Kerl wenigstens eine, damit der nicht auskühlt.“

„Wer? Ach, der Kerl. Na, ich hab zwei Decken. Imelda ist verletzt, die braucht eine. Und noch einer von euren Leuten. Das war wohl so eine Flammenwalze, in die sie gelaufen sind.“ Meta grübelte kurz, reichte aber dann Mika eine Decke. „Kann sich die Wächterin nicht selber um ihren Kumpanen kümmern? Ich würde die Decke lieber einem von denen geben, die mit Imelda gekommen sind. Aber es ist jetzt deine Entscheidung.“ Sie drehte sich in die Richtung, in der ihre Freundin, Gudekar und Rionn waren. „Komm, hilf mir. Da steht auch noch Arda irgendwo rum, die kann doch auch nach ihrem Kerl sehen.“

Mika nahm die Decke von Meta entgegen. Und schaute zu Imelda, bei der Gudekar kniete und dem anderen Krieger, um den sich Merle kümmerte. Beiden schien es einigermaßen gut zu gehen. Beide waren bei Bewusstsein. “Aber der Kerl ist doch noch ohnmächtig. Wenn der keine Decke kriegt, kühlt er aus.“ Die Novizin wollte sich wegdrehen, doch dann blieb sie stehen. “Warte mal, Meta!” Sie blickte beschämt zu Boden. “Ich bin so froh, dass dieser Kerl dir nichts getan hat. Es tut mir leid. Ich hatte plötzlich so eine Angst, dass der Pfeil vielleicht dich statt den Angreifer trifft.”

„Das kam für mich allerdings wirklich überraschend“, bemerkte Meta trocken. „Das nächste Mal schau, ob du mir nicht irgendwie anders helfen kannst, zieh ihm mit irgendwas eine drüber, gib ihm einen Stoß oder erschrecke ihn, dann ist er von mir abgelenkt. Jetzt hast was für die Zukunft gelernt“, fügte sie versöhnlich hinzu. Ihre eigene Unsicherheit und Panik in dem Moment musste sie nicht vor jedem ausbreiten. „Ich bringe Imelda die Decke, beeil du dich, wir werden dich noch brauchen“, flüsterte sie.

“Alles klar”, stimmte Mika ein. “Ich komme gleich nach.”

Daraufhin trennten sich Mika und Meta und gingen mit den Decken in verschiedene Richtungen.

***

Gudekar hatte mit Imelda und Rionn über seine Pläne gesprochen, als Merle Hesindiard umklammernd zu den Dreien hinübergehumpelt kam.

Da Rionn es für sinnlos empfand, dem Disput zwischen Imelda und Gudekar noch etwas hinzuzufügen, wandte er sich den Neuankömmlingen zu. “Hesindiard! Merle! Kommt her. Gut, dass es dir besser geht, Hesindiard.”

“Mein Dank gilt Dir und Deiner Göttin. Diesen Feuerzauber habe ich nicht erwartet.”

“Gepriesen sei die Lebenspendende!”, stimmte der Tsageweihte ein. “Nein, ich habe auch nicht damit gerechnet.”

Merle nickte Rionn indifferent grüßend zu, schaute sichtlich überfordert zu ihrem Ehemann und dann wieder hoch zu Hesindiard. “Wollt Ihr Euch für einen Moment zu Ihrer Gnaden setzen?” raunte sie ihm leise und wies mit der Hand auf den Waldboden neben der Geweihten. Unwillkürlich ging ihr Blick erneut zu Gudekar; prüfend musterte sie seine Erscheinung; die verletzte, nur mit einem Tuch notdürftig verbundene Hand, das geschwollene Auge, die blutige Wunde an seinem linken Wangenknochen. Normalerweise wäre sie sofort zu ihm geeilt, um seine Verletzungen zu versorgen, doch stand nun eine Mauer aus Misstrauen und Bitternis zwischen ihnen, die sie davon abhielt. Dies war der Mann, der vor ein paar Stunden einen Beherrschungszauber auf sie gewirkt hatte, der ihre Liebe und Zuneigung nun schon seit zwei Götterläufen mit Füßen trat. Unwillkürlich wich sie einen halben Schritt von ihm zurück, entschlossen, sich so schnell wie möglich aus seiner Nähe zu entfernen.

Der Krieger war zu besorgt um die Geweihte, als dass er Merles Zustand bemerken konnte. So folgte er ihrem Ratschlag und setzte sich neben Imelda auf den Boden. Vorsichtig, zaghaft, zärtlich nahm er ihre Hand.

Rionn fand es gut, dass Hesindiard sich um Imelda kümmerte. Sie schien ihm etwas zu bedeuten. Darum stand der Tsageweihte auf, um den beiden etwas Privatsphäre zu lassen. Rionn ging ein paar Schritte. Dann entspannte sich ein Streitgespräch zwischen Merle und Gudekar, dem er hilflos zuhörte.

“Hesindiard!”, rief Imelda freudig, als sie diesen erblickte, er sich neben sie setzte und ihre Hand nahm. “Du… du bist unversehrt? Bei den Göttern!”, schluchzend versuchte sie ihn aus der sitzenden Position heraus zu umarmen. “Ich hatte schon gedacht, dir wäre etwas zugestoßen.”

Der Krieger nahm sie vorsichtig in den Arm und wiegte sie sanft hin und her. “Schhhhh! Schhhhh. Alles ist gut.” Er wiederholte die Worte und sie spürte etwas kleines, warmes, das ihr auf die Schulter fiel. Sein Körper begann zu zittern, als er sie so hielt. Die ganzen Gefühle des Tages brachen sich nun Bahn.

Es herrschte bei den Verletzten mittlerweile ein rechtes Getummel. Fast alle standen sie nur ein paar Schritt zusammen, als sich Meta der Gruppe näherte. Meta legte Imelda sachte die Decke über, ob diese das bemerkte, war nicht sicher, da nun auch der zweite Verletzte bei ihr war und sie, Gudekar und Rionn recht abgelenkt waren. Es schien sie zunächst niemand zu bemerken, so tief waren sie in ihr Gespräch versunken. Zumindest hatte Meta diesen Eindruck. Leise stellte sich Meta etwas hinter einen Baum, als Gudekar Merle sah und begann, mit ihr zu reden. Sie hatte vor, diesmal nur zu beobachten und einen geeigneten Zeitpunkt für die Flucht zu finden.

Merle bemerkte, dass sich Meta nun auch genähert hatte und sie fühlte, wie sich ihr Brustkorb vor Anspannung zusammenzog. Sie empfand die Ritterin als selbstsüchtig, widersprüchlich, rücksichtslos und gegenüber Gudekar schrecklich eifersüchtig und besitzergreifend; jede ihrer bisherigen Begegnungen war feindselig und von gegenseitigem Unverständnis geprägt gewesen. So versuchte sie, ihrer Rivalin nicht in die Augen zu schauen und wich unwillkürlich vor ihr zurück.

Imelda strich dem Krieger sanft über den Rücken, während sie diesen noch immer in ihren Armen hielt. “Wir haben es überstanden…”, flüsterte sie und begann langsam die Umarmung zu lösen. Die Geweihte wischte sich die feuchten, geröteten Augen und sah Hesindiard liebevoll an. Sie wollte gerade fortfahren, als sie bemerkte, wie Meta ihr eine Decke über ihre Schultern legte. Wehmütig rang sie um ein Lächeln. “Hesindiard, ich danke dir so unendlich, für alles, was du heute getan hast. Ohne deinen Heldenmut wären wir vielleicht nicht mehr hier.” Sie beugte sich vor und versuchte, dem Krieger sanft ein Küsschen auf die Stirn zu geben.

Stumm schaute er sie aus verheulten Augen an, nachdem er ihren Kuss empfangen hatte. 'Warum geht sie denn jetzt?' Schien sein Blick zu sagen.

“Hesindiard, verzeih bitte. Ich muss mit Meta reden. Der Grund, weshalb ich hier bin, ist, dass ich sie über das Gudekars Pergament in Kenntnis setzen wollte.” Zunächst etwas mühsam erhob sich Imelda. Sie versuchte sich das, was von ihrer Kleidung und ihrem Unterzeug noch übrig war, abzuklopfen. Bis auf einen kleinen Fetzen Stoff vom Rückenstück ihrer Tunika, worauf sie gelegen hatte, waren nur noch schwarze Kohlereste übrig. Umso dankbarer war die junge Hadingerin für die Decke, die ihren Körper verhüllte.

Er nickte. Sprechen wollte er gerade nicht. Dann erhob er sich ebenfalls. Sein Schwert müsste hier noch irgendwo rumliegen. Ardas Wutausbruch ließ ihn kurz aufblicken. Er hatte früher schon Adlige fluchen hören, als wären sie Bierkutscher oder Hafendirnen. Im Augenblick kümmerte es ihn nicht. Er hatte eigene Sorgen.

Dann trat Imelda langsamen Schrittes an Meta heran, welche sich hinter einem Baum zu verstecken schien. “Eine gute Nacht wünsche ich, Ritterin Meta Croy. Ist es im Sinne der Sturmherrin, erst Hilfe zu leisten und sich dann wie ein Eichhörnchen zu verbergen?” Sie blickte mit einem zaghaften Lächeln an sich herunter. “Danke dir für die Decke.”

„He, wie schön, dass es dir gut geht. Ich hab mir Sorgen gemacht.“ Meta lächelte Imelda lieb an und legte ihr sachte die Hand auf die Schulter. „Sind wir wieder Freunde? Ich glaub, da haben wir uns im falschen Moment falsch verstanden. Tut mir leid, wenn ich dich verletzt hab.“ Sie wandte ihren Blick Merle und Gudekar zu. „Löwen müssen nicht immer brüllen und gleich eingreifen. Das ist eine Sache zwischen den beiden. Ich horche zu, er kommt mir in den letzten Stunden seltsam vor. Aber das sind wir eigentlich alle.“

Imelda rang sich ein trauriges Lächeln ab. Ratlos zuckte sie mit der Schulter. “Weil ich deine Freundin bin, Meta, bin ich hergekommen. Ich bin hier, weil ich dich unbedingt etwas wissen lassen wollte. Es war mir so wichtig, dass ich bereit war, mein Leben dafür zu riskieren.” Die junge Hadingerin hüstelte ein wenig, hatte sie doch selbst für eine Ingrageweihte ungewohnt viel Rauch eingeatmet. Sie zog die Decke weiter über ihren Körper und sah Meta mit erschöpften Augen direkt an. Ungewohnt leise sprach die Geweihte, so dass kaum ein anderer die beiden Frauen hören konnte: “Wir haben eine Notiz in Gudekars Tasche gefunden. Sie war in der Handschrift des Pruchs und die Worte lauteten: ‘Was glaubst du, verbindet uns?’ Es war wohl die Antwort auf eine Nachricht, die Gudekar an den Paktierer geschrieben hat.” Imelda kniff unsicher die Augen zusammen und wartete ab, wie Meta darauf reagieren würde.

“Sieh ihn dir doch an!“ Meta deutete in einer ausladenden Geste auf die Gruppe, mit der sich Gudekar gerade unterhielt. „Er ist völlig am Ende. Körperlich und geistig. Sicher weint er gleich wieder. Als hätte er einen Feldzug hinter sich. Ich bin für ihn da, ich bin wegen ihm hier.“

Meta machte eine kurze Pause, dann lächelte sie Imelda verlegen an. „Imelda, aber ich bin froh, dass wir noch zamhalten. Ich hab hier doch sonst niemand, sie halten mich für… wie du ja auch wohl im Zorn angedeutet hast… eine Metze, die mit kalter Freude der armen Merle Leid bringt. Ich dachte auch, dass ihr uns alle jagen würdet.“

“Das habe ich nie so gesagt!” widersprach Imelda und schüttelte heftig den Kopf. “Auch nicht, dass du es aus Spaß tust. Ich verstehe dein Dilemma doch!”

Meta drückte die Hand der Geweihten freundschaftlich fester. Aber diese hatte noch etwas gesagt. „Moment, ein Zettel? Von dem Paktierer an Gudekar? Er hat den Brief aber nicht mehr? Zeig her. Es ist immer noch Gudi, er hat heute auch viel mitgemacht, aber er ist, ähh war der Einzige, dem ich vertraue. Vielleicht ist die Nachricht von jemand anderen, oder gar nicht an ihn? Vielleicht ist es auch Teil des großen Plans, mit dem sie diesen Kerl erwischen wollen?“

"Das Pergament hab ich nicht hier", entgegnete Imelda auf Metas Aufforderung, es ihr zu zeigen. "Es wurde, da ein erzdämonischer Fluch darauf lasten könnte, in Travias Herdfeuer verbrannt." Sie hob müde die Schultern. "Du wirst mir in dieser Sache vertrauen müssen, sowie mit Rionn und Rahjel zwei weiteren Geweihten der Zwölfe. Gudekar hat eben auch selbst zugegeben, dass er im Schriftwechsel mit dem Pruch stand. Er sagte, er hätte versucht, ‘ihn aus der Reserve zu locken’." Die junge Hadingerin rückte näher an Meta heran und sah ihrer Freundin eindringlich in die Augen. "Meta, denk einmal darüber nach... Gudekar hat offenbar geschrieben, er und dieser Paktierer hätten etwas gemeinsam. Du weißt, was der Pruch getan hat, wie er seine Familie…” Imelda schluckte mühsam und verzog das Gesicht. “Und du merkst doch selbst, wie unberechenbar und zwiespältig Gudekar wirkt, wie seltsam vieles klingt, was er sagt. Bitte…”, sanft drückte die Geweihte Metas Hand und schaute die Ritterin ernst an, “bitte, Meta, falls du wirklich mit diesem Mann gehen solltest, so sei zumindest wachsam und vorsichtig. Ich weiß, der Gedanke tut weh, du möchtest es nicht hören und nicht wahrhaben... aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass Gudekar unter einem dunklen, zerstörerischen Einfluss steht. Und dass er für dich zu einer großen Gefahr werden kann, wenn du bei ihm bleibst. Ich sage das nur, weil ich dich lieb hab’ und ich um dich so besorgt bin."

Nachdenklich lehnte sich Meta an einen Baum, hielt Imeldas Hand fest und kaute auf ihrer Unterlippe. „Kontakt mit dem Paktierer... danke, dass du mir das sagst. Ich weiß nur Bruchstücke von ihm, aber mir reicht, was ich heute gesehen habe und immer noch sehe.”

"Ich weiß auch nicht viel über den Pruch, nur, was man sich so erzählt...", Imelda senkte die Stimme zu einem düsteren Flüstern, "er soll seiner Ehefrau überdrüssig geworden sein und deshalb hat er sie, andere Familienmitglieder und auch sein Kind ermordet und zu Brot… verarbeitet. Das hat er den Leuten dann zu essen gegeben..." Imelda verzog vor Abscheu das Gesicht. "Dass Gudekar mit so jemandem Kontakt hatte - und mit diesem ruchlosen Mörder sogar Gemeinsamkeiten sah...", die junge Geweihte seufzte bedrückt, "Meta, ich sorge mich wirklich um dich!”

„So viele Details sind mir nicht bekannt, aber Gudekar ist nicht der Paktierer. Er ist ein durchschnittlicher Magier, der sich überschätzt hat und mich nun mehr braucht denn je. Irgendwer muss doch normal denken und ihm helfen.“ Verzweifelt sah Meta ihre Freundin an. „Und wir werden wiederkommen. Im Geist gestärkt. Sieh doch. Er ist ein Schatten seiner selbst.“

“Ich glaube nicht, dass es Gudekar gut tut, vor seiner Verantwortung wegzulaufen. Oder dass die Flucht seine Seele stärkt. Im Gegenteil. Doch…”, Imelda hob ratlos die Schultern, “...aufhalten kann ich euch nicht. Ihr beide müsst selbst über euren Weg entscheiden. Versprich mir jedoch, vorsichtig zu sein.”

„Das ist lieb. Es tut so gut, wenn ich weiß, dass da noch jemand ist, der doch irgendwie zu mir steht und sich sorgt.“ Meta klopfte Imelda zärtlich auf die Schulter. „Es wird gut gehen, du weißt, dass ich zwar chaotisch, aber nicht böse bin. Vertrau mir, das ist ein großer Beweis unserer Freundschaft. Wir müssen nun aber los. Ingra sei mit dir.“

Meta hatte sich schon zum Gehen abgewandt, doch liebevoll drehte sie sich noch einmal zu Imelda. „Danke. Du bist die Einzige, der ich hier noch traue. Und das werde ich auch, wenn ich wieder da bin. Wir werden unser Verhältnis geheim halten, das schulden wir Merle. Und alles, was hier getan und gesagt wurde, liegt unter dem Einfluss des Bösen. Immer noch. Deshalb muss ich ihn rausbringen, wenn er fertig ist.“ Sie umarmte Imelda spontan und emotional und küsste die überraschte Geweihte auf den Mund.

Imelda wollte gerade einwenden, dass es mit der Geheimhaltung des Verhältnisses ja nun wohl zu spät war, nachdem es ganz Lützeltal und ein Haufen Adliger aus den halben Nordmarken wussten, da wurde sie plötzlich von Metas spontaner Umarmung und Kuss überrumpelt. “Ähhh…”, brachte die Geweihte verdutzt raus, als sie versuchte, den spontanen Kuss ihrer Freundin zu verarbeiten. “Schön. Also, ja. Du solltest dich auf den Weg machen, bevor dein Gudi eifersüchtig wird.” Die junge Hadingerin seufzte und sah die Ritterin wehmütig an. “Egal, was passiert, ich bin immer auf deiner Seite und unterstütze dich, Meta! Wenn du meine Hilfe benötigst, dann schreibe mir und ich reise mit Hilbertio für dich ans Ende des Dererunds!”

Noch im Gehen drehte Meta sich um. Sie sah an Imeldas Miene, dass sie etwas nicht ganz verstand. „Gebt dem Einfluss des Paktierers die Schuld für das, was Gudekar zu unserer Beziehung gesagt hat. Dieser Bäcker will Gefühle verletzen, alles gegen Travia nutzen, Zweifel und Zwietracht bringen. Du bist schlau. Dir fällt etwas ein. Und du spürst doch, wie sein Plan uns hier noch beeinflusst.“

Wehmütig sah Imelda ihrer Freundin hinterher, winkte und wischte sich dann eine Träne von der Wange. "Lebwohl", murmelte sie leise.

Nivard stand unterdessen etwas abgesetzt von den anderen im Walde und blickte lauschend zu den verschiedenen Grüppchen, die sich nach dem Ende des Kampfs um ihn herum gebildet hatten. An verschiedenen Stellen mochte er vielleicht gebraucht werden. Besonders Merle hatte schwer an allen Geschehnissen zu tragen. Gekommen waren sie aber Gudekars wegen, einen letzten verzweifelten Anlauf zu unternehmen, ihn auf den rechten Weg zurückzuholen. Damit wäre auch Merle geholfen. Falls überhaupt noch etwas an ihrer Beziehung zu ihrem Gemahl zu retten war. Einmal noch atmete Nivard tief durch, dann setzte er sich in Bewegung, auf Gudekar zu.

***

Nachdem Mika von Meta eine Decke erhalten hatte, ging sie noch einmal zu Wolfrida und dem bewusstlosen Nerek. Bei ihnen angekommen, faltete Mika die Decke auseinander und hielt sie der Wachfrau hin. “Hier, damit Euer Kamerad nicht auskühlt. Es ist frisch geworden in dieser Herbstnacht. Ihr solltet ihn warmhalten, bis er wieder zu Bewusstsein kommt. Falls er wieder zu Bewusstsein kommt.”

Feindselig blickte Wolfrida der Novizin entgegen. "Und welche Bedingung knüpfst Du DA dran?!" Ihr Kinn zuckte in Richtung der Decke. Verächtlich schüttelte sie den Kopf. "Du solltest Dir sehnlichst wünschen, dass er wieder aufwacht." Ihr Blick war vieldeutig, bedrohlich.

Nerek, den Kopf noch immer auf den Schoß der anderen Leibwächterin gebettet, gab ein Brummen von sich. Seine rechte Hand erhob sich langsam und ungelenk, wie zu einer vagen Abwehrbewegung für einen Angriff, der schon längst erfolgt war.

"Ruhig, schhhhh…" Wolfrida streichelte über die stoppelkurzen Haare der Schläfe, peinlich genau darauf achtend, bei ihren Liebkosungen die beachtliche Schwellung am Unterkiefer auszusparen.

Mika seufzte laut aus. „Ich stelle gar keine Bedingungen. Ich wollte gleich Hilfe für ihn holen. Ihr habt das abgelehnt. Gudekar hätte ihn schon längst zusammengeflickt. Er ist ein großartiger Heilmagier! Soll ich ihn nicht doch besser rufen?“

"Du wolltest ihn nur holen, wenn ich etwas für ihn tue!" widersprach Wolfrida wütend. "Ich lasse mich nicht erpressen!" Und etwas leiser ergänzte sie: "Er würde mir das nicht verzeihen."

Sie lachte freudlos auf: "Weißt Du, dass er Dich mochte? 'Ha, irgendwie mag ich die Kleine', hat er gesagt." Sie wollte etwas ergänzen, presste dann aber die Lippen zusammen und sah Mika böse an.

Mika schaute traurig, denn es tat ihr leid, dass dieser Mann leiden musste, weil die Frau, die offensichtlich mehr für ihn war als nur eine Schwertgesellin, Mikas Worte wohl falsch verstanden hatte. “Ich wollte doch nur, dass Ihr Gudekar und Meta endlich in Ruhe lasst und sie fortziehen lasst. Um mehr wollte ich Euch doch gar nicht bitten.”

"Undankbar…" murmelte die Leibwächterin zwischen zusammengepressten Lippen.

 

***

Merle nickte Hesindiard mit einem schmalen, traurigen Lächeln zu, dann wich sie weiter zurück und schaute sich mit unstetem Blick in der Umgebung um, unsicher, wohin sie sich jetzt wenden sollte.

Als er seine Worte an Imelda beendet hatte, wandte sich Gudekar seiner Frau zu. „Merle, was ist mit deinem Bein passiert? Du humpelst ja!“ Der Anconiter klang ernsthaft besorgt.

Merle hob die gesenkten Lider, um Gudekars Blick flüchtig zu begegnen, schaute jedoch schnell wieder nach unten. "Nur umgeknickt", murmelte sie mit tonloser Stimme und wandte sich in die Richtung ab, wo Nivard stand, weg von Meta.

Gudekar folgte Merles Bewegung, ging vorsichtig auf sie zu. “Warte, Merle! Lass es mich bitte kurz ansehen!”

Merle hielt tatsächlich inne und drehte sich zu Gudekar, starrte ihn mit glasigen Augen an, mehr durch ihn hindurch, scheinbar gleichgültig und gebrochen; war ihr doch bewusst, dass ihre Anstrengungen und Kämpfe verloren waren. Dass Gudekar sich dem fremden Magus widersetzt hatte, hieß am Ende, dass seine Entscheidung, sie mit Meta zu betrügen, allein die eigene gewesen war. Gudekar stand weder unter dämonischem Einfluss noch unter einem Zauber. Nein, er hatte einfach aus freien Stücken beschlossen, sie, seine Merle, seine ‘Holde’, plötzlich kalt und abweisend zu behandeln - selbst als sie sein Kind unterm Herzen trug - sie von sich zu stoßen und zu schassen, weil er es so wollte, weil sie ihm und seiner Ritterin im Wege stand. Die Wucht dieser Erkenntnis fühlte sich an wie ein Dolchstich in ihre Brust; es war, als würde er sie kalt lächelnd verbluten lassen, alle Lebenskraft, alle Initiative aus ihrem Körper saugen, bis nur noch ein Schatten von ihr übrig war. Ja, natürlich würde sie weitermachen, wie es von ihr verlangt wurde, würde sich um die Kranken und Verletzten kümmern, wie sie es immer getan hatte. Doch ihre Energie und ihr Lebenswillen, ihr Kampfgeist und die Hoffnung, an die sie sich unerschütterlich geklammert hatte; dass sie es war, die Gudekar zu retten vermochte, dass er für sie noch Liebe und Zärtlichkeit empfand, alle Emotionen, die vor einer Stunde in ihr gebrodelt, gestritten und gewütet hatten - waren nun verschwunden, einfach verstummt. Da gab es nur noch Resignation und Leere, dunkle, kalte Leere. Es war vorbei. Alles war vorbei. Sie hatte nie den Hauch einer Chance gehabt. “Was willst du noch von mir? Mein Knöchel ist in Ordnung, kümmere dich um deinen Kram”, entgegnete sie mit tiefer, dunkler Bitterkeit in der Stimme. “Geh’ mit Meta. Verleugne deine Familie, verleugne Travia, verleugne dich selbst, ohne Rücksicht auf Verluste. Macht euch beide unglücklich und rennt in euer Verderben - mir ist es inzwischen egal. Für mich bist du gestorben, Gudekar.”

Merles Reaktion traf Gudekar wie ein Schlag in den Magen. Er schmerzte mehr als die Verletzungen, die er heute körperlich davon getragen hatte. Mehr noch sogar als der Tritt, den ihm Ardare zwischen die Beine verpasst hatte. Tränen sammelten sich in seinen Augen.

“Merle, es tut mir leid”, flüsterte er, kaum hörbar. “Ich habe das alles so nicht gewollt! Ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen, was ich dir vorhin in der Stube der Borkmunds angetan habe. Ich wollte dir nichts antun. Ich weiß, es war unverzeihlich. Und dennoch hoffe ich, du kannst mir dennoch eines Tages verzeihen.”

Neben Nivard hatte sich Arda erhoben und war einige Schritte auf Merle und Gudekar zugekommen. Den Ring des Paktierers hielt sie noch immer mit spitzen Fingern.

Den Ring ließ sie nun in einer Falte ihres Wams verschwinden. Ihre freien Hände streckte sie Merle nun an halb ausgestreckten Armen entgegen, um ihr körperlichen Halt und Unterstützung zu bieten.

Merle schluckte schwer bei Gudekars geflüsterten Worten; sie hielt weiterhin den Blick starr auf den Waldboden gerichtet, um ihren Mann nicht ansehen zu müssen. "Ich habe dich wirklich geliebt; ehrlich und wahrhaftig", murmelte sie leise, während Tränen über ihre Wangen liefen. “Ich dachte, ich würde dich kennen, wir würden zusammengehören. Nie habe ich daran gezweifelt, einen besonderen Platz in deinem Herzen zu haben - und es tut weh, so weh, lernen zu müssen, dass dem nicht so ist. Oder nicht mehr." Sie schüttelte unwillig den Kopf. “Ich war so naiv! Unsagbar dumm! Ich hätte wissen müssen, dass du mich irgendwann verletzen würdest. Dir jemals vertraut zu haben, war der größte Fehler meines Lebens.” Nun bemerkte die junge Frau Ardas Nähe und ließ sich erschöpft in deren Arme fallen, ohne darüber nachzudenken, ob dies bei einer Baroness angemessen war. Sie hatte einfach keine Kraft mehr und suchte nur noch zitternd Halt in der Umarmung der anderen Frau, um nicht an Ort und Stelle zusammenzubrechen.

Die Baroness störte sich nicht im geringsten daran. Im Gegenteil, sie schloss die Frau in ihre Arme und fuhr ihr tröstend übers Haar.

Über die Schulter Merles hinweg warf sie Gudekar einen Blick zu, der voll von Vorwurf und Verachtung war.

Nicht, dass Arda verstand, warum sie so empfand. Himmel, sie selbst hatte sich bei der Auswahl ihrer eigenen Liebhaber nicht dafür interessiert, ob diese einer anderen Frau verbunden waren. Natürlich hatte sie einen Ehebruch nicht so öffentlich zelebriert, wie es der Anconiter tat. Sein Verhalten kam ihr doch arg grausam vor - auch wenn er keinerlei Gespür dafür zu haben schien, was er da anrichtete.

“Es tut mir leid, dein Vertrauen missbraucht zu haben. Das hätte nicht geschehen dürfen.” Gudekar flüsterte noch immer. Aber nicht, damit ihn niemand hören konnte, sondern weil er selbst einen tiefen Schmerz verspürte. “Ich wünsche dir nichts sehnlicher, als dass du ein gutes Leben hast. Ich wünsche dir, dass du das Glück findest, das ich dir genommen habe. Ich kann es dir nicht geben. Nicht mehr. Nicht jetzt. Leb wohl!” Er wandte sich um.

Merles Kopf, der sich gegen Ardares Schulter gepresst hatte, fuhr abrupt zu ihm herum; sie schaute ihn jetzt direkt an, mit zusammengekniffenen Augen, einem Blick voll roher Wut und Enttäuschung. "Ja, leb wohl", zischte sie ihm entgehen. "Genieß’ dein restliches Leben mit deiner garstigen kleinen Ritterin, dein schönes, neues, freies Leben. Gut für dich! Geh’ deinen Weg, werde der große, mächtige Hofmagus, der du immer sein wolltest - während du auf den Menschen herumtrampelst, die dich einst geliebt haben, die dich in deinem Höhenflug bremsen und behindern. Ich hoffe, Meta tut dir am Ende genauso weh, wie du mir wehgetan hast! Dann wirst du vielleicht vermissen, was du zerstört hast, mein Schatz." Die blasse junge Frau nahm erkennbar alle Stärke zusammen, die sie noch aufzubringen hatte, um gegen den Klumpen in ihrer Kehle anzukämpfen und ihrem Mann mit einem gequälten, tränenüberströmten Lächeln entgegenzuschleudern: "Wahrscheinlich wirst du erst merken, was du an Lulu und mir hattest, wenn es zu spät ist. Ja, ich hoffe, dass du irgendwann erkennst, dass ich die große Liebe deines Lebens war; dass du mich bitterlich vermissen wirst - und dann endlich den Schmerz spüren musst, den ich jetzt fühle. Aber dann wird es zu spät sein. Viel zu spät.” Wieder ließ sie sich in die Arme der Baroness sinken und drückte ihr tränennasses Gesicht gegen Ardas Lederwams.

Merles Seele war schlimm verletzt. Und Lolgramoths Wirken verstärkte die dunklen Gefühle. Dies war der falsche Ort und die falsche Zeit an Heilung zu denken. Es stimmte Rionn tieftraurig, was die junge Frau durchmachen musste. Aber in diesem Moment konnte er ihr nicht helfen. Oh. Rionn fühlte sich ohnmächtig ob all dem, was in diesen Stunden hier in Lützeltal geschah.

Die Kaldenbergerin hielt Merle in ihren Armen, wiegte sie zur Beruhigung leicht hin und her.

Wieder loderte ihre Wut über den Anconiter auf. Wenn Blicke hätten töten können, wären ihre wild funkelnden, grauen Augen unweigerlich dem Feuertod zu überantworten gewesen.

Die Blicke von Rionn und Ardare ignorierend drehte sich Gudekar noch einmal zu der Frau, die er einst über alles geliebt hatte, und die er im tiefsten Inneren seines Herzens noch immer liebte. “Du hast mich niemals gebremst oder behindert, Merle. Du warst mir stets eine Stütze”, gab er kleinlaut zu. ‘Ja, doch das ist jetzt anders. Du musst sie loswerden. Mach es ihr leicht! Sag ihr etwas, damit sie dich nicht länger vermisst. Es macht es für sie leichter, wenn du gehst. Es macht es für dich leichter, zu gehen! Sag ihr, wie sehr du dich auf deine kleine, tapfere Ritterin freust, dich freust, etwas NEUES auszuprobieren, an einen NEUEN Ort zu gehen, NEUE Zauber zu lernen. Und dass sie dir dabei nur im Wege wäre mit dem Kind. Sag ihr, dass du sie nicht mehr brauchen kannst, da wo du hingehst! Sag ihr irgendetwas, damit sie froh ist, wenn du endlich weg bist!‘ Hedians Worte klangen sinnvoll. Sie klangen vernünftig. Was hatte ihn in der Vergangenheit am allermeisten aufgehalten zu gehen und zu tun, was sein Herz verlangte? Es war Merles Liebe. Es waren ihre ständigen Versuche, ihn mit Liebe zurückzugewinnen, die ihn schwach werden ließen. Er wollte nicht mehr schwach sein. Meta hatte ihm gezeigt, wie gut es ist, stark zu sein. Er wollte stark sein. Für sich. Für Meta. Für den Kampf gegen den Frevler. Er musste stark sein und Merle sagen, wie wenig er sie noch wollte, um dies endlich zu beenden. “Pass bitte auf dich auf, Merle, ich würde gerne für dich und Lulu da sein, wie du es dir wünschst. Doch ich kann es nicht. Bei Vater und Kalman seid ihr gut aufgehoben.” Sein Blick fiel zu Kalman, der noch immer durch den Zauber des Paktierers erstarrt mitten im Wald stand, von niemandem beachtet. “Und ich komme wieder und werde dafür sorgen, dass es euch gut geht.”

Merle drückte sich an Ardares warmen, tröstlichen Körper, schloss die Augen und blendete die Umgebung für einen kurzen, tröstlichen Moment aus, versuchte zu verdrängen, wer und wo sie war und was ihr Mann gerade zu ihr gesagt hatte. Auf Gudekars letzte Worte regte sie sich dennoch, sah ihn wieder an und löste sich etwas aus Ardas Umarmung. "Was soll das heißen, du kommst wieder?" fragte sie mit verwirrtem, konsternierten Blick. "Du hast gerade Lebwohl gesagt. Jetzt behauptest du, du wirst für uns sorgen?” Abwehrend schüttelte sie den Kopf. “Warum sollte ich dir noch irgendwas glauben, was du sagst? Ich brauche weder deine Lügen, falsche Hoffnungen noch deine hohlen Versprechungen! Merkst du nicht, dass du mir damit immer noch mehr wehtust… seit zwei Götterläufen machst du nichts anderes, als mir mutwillig weh zu tun! Warum, Gudekar, warum tust du mir das an?”

‚Ich habe es dir doch gesagt! Wenn du ihr nicht weh tun willst, musst du ihr einmal richtig wehtun! Mit deiner Liebenswürdigkeit machst du es für euch beide nur schlimmer und schlimmer. Merkst du denn nicht? Sie will deine Liebe nicht. Spar dir deine netten Worte für Meta auf!‘ – ‚Nein, Hedian, ich kann nicht.‘ „Ich kann nicht.“ Gudekar drehte sich um, um zu gehen. ‚Tue es!‘ Gudekar drehte sich nochmals um. „Sorge dich nicht. Ich bin sicher, dass irgendjemand von deinen vielen neuen Freunden für dich da sein wird, wenn…“ - ‚Sag ihr: wenn dich des Nachts einmal Rahjas Gelüste meine Leidenschaft vermissen lassen!‘ - „wenn du doch mal jemanden brauchst, der dir Rahjas Freude zeigt, nun, da ich nicht mehr für dich da bin.“

Rionn blickte Gudekar irritiert an. Was erzählte er da? Das klang befremdlich.

Für ein paar Wimpernschläge starrte Merle Gudekar mit zusammengekniffenen Augen an, versuchte zu verstehen, was er da gerade gesagt hatte. Irgendwas stimmte nicht, passte nicht... Als die volle Bedeutung seiner Worte in ihren Geist gesickert war, riss sie sich unwillig von Ardare los und stürmte mit einem wütenden Aufschrei in Gudekars Richtung, um ihm mit aller Kraft eine schallende Ohrfeige zu verpassen, gezielt auf diejenige Seite seines Gesichts, die ohnehin verletzt und aufgequollen war. "Oh, du beschissener, verlogener, großkotziger Arsch!" fauchte sie ihn an, halb weinend und halb schreiend, hieb weiter mit ihren Fäusten unkoordiniert, aber mit lange aufgestauter Aggression auf seinen Bauch, seinen Oberkörper und sein Gesicht ein. "Du Schweinehund denkst nur noch mit deinem Schwanz, was? Dann soll dir das Ding verwesen und abfaulen, damit deine debile kleine Schlampe dich genauso in den Dreck stößt wie du mich! Das war's dann mit Rahja Freude für dich, du elender Scheißkerl!”

Gudekar schluckte, ließ Merles Schimpf- und Wutattacken aber trotz aller Schmerzen über sich ergehen. „Siehst du, ohne mich hast du es viel besser! Pass auf dich auf, bitte! Ich möchte nicht, dass du weiter leidest.“

Als Gudekar unter ihren Schlägen zwar schmerzvoll zusammen zuckte, sich aber weder wehrte noch zumindest die Arme zur Deckung vor’s Gesicht hob, wurde Merle in ihren Attacken erst langsamer und kraftloser, hörte schließlich ganz auf, ihn zu schlagen und wich leicht von ihm zurück. Aus ihrem tränennassen Antlitz sprach absolute Verwirrung und Desorientierung. "Gudekar", brachte sie mit rauer, krächzender Stimme heraus und kniff die Augen zusammen. "Gudekar... warum hast du das eben gesagt? Du...", sie rieb sich fassungslos die Knöchel ihrer Hände, mit denen sie auf ihn eingeprügelt hatte, "...du versuchst wieder, mich zu... manipulieren? Hast du mir absichtlich wehgetan, damit ich dir wehtue?!"

„Ich habe das gesagt, damit du endlich einsiehst, Merle, dass du ohne mich besser dran bist“, erklärte Gudekar, der versuchte, den Schmerz seine Wunden zu ignorieren, was ihm jedoch nicht wirklich gelang.

“Haltet ein!”, rief Rionn verzweifelt und unvermittelt. Er trat zwischen Merle und Gudekar. “Merkt ihr es denn nicht?” Der Tsageweihte schaute sich ernst um. “Das seid doch nicht ihr! Was Gudekar da sagt und tut: Das ist doch nicht er! Wir gehen aufeinander los, wenden uns gegeneinander. So haltet ein! Es sind der Pruch und seine niederhöllische Herrin, die hier wirken. Subversiv, unerkannt und perfide. Gleich heben wir die Waffen gegeneinander wie jene Knechte, welche Totenwache halten wollten. Bitte haltet ein!” Als ob er Merle und Gudekar auseinander halten wollte hob er die Arme nach beiden Seiten und die Handflächen jeweils den beiden Eheleuten entgegen. “Bitte! Vertraut mir. Wenn wir weitermachen, dann gehen wir IHM auf den Leim. Dann wird ER heute Nacht siegen. Das alles ist Teil seines Plans.”

Meta betrachtete die Szene zwischen Merle und Gudekar mit verschränkten Armen an einen Baum gelehnt. Sie zog die Augenbrauen hoch. Merle weinte natürlich, Gudekar auch. Er war recht nah am Wasser, gerade, wenn es um Merle ging. Und jetzt ließ er sich auch noch lappig von ihr watschen und beschimpfen. Sie begann mit ernsthaften Überlegungen, die Zukunft betreffend.

Merle, die ohnehin vor Gudekar zurückgewichen war, ließ sich von Rionn noch ein Stück weiter zurückdrängen, blickte erstaunt, fast schon bestürzt zu dem Geweihten, dann wieder zu ihrem Mann. Der Anblick seines geschundenen Gesichts, den sie zumindest zum Teil selbst verursacht hatte, löste widerstreitende Gefühle in ihr aus, etwas wie Abscheu, wobei sie nicht wusste, ob vor ihm oder sich selbst. "Also behandelst du mich mit Absicht schlecht, damit ich den Glauben an unseren Traviabund verliere?" schluchzte sie. "Ist es das, was du die ganze Zeit mit mir tust? Wie rücksichtsvoll von dir!” Merles Kehle entwich ein freudloses, sarkastisches Lachen. “Dass mein Mann mich zwei Götterläufe lang schlecht und kaltherzig behandelt, dass er sogar während der Schwangerschaft und nach der Geburt unserer Tochter schroff und abweisend war - das soll das alles für mich jetzt irgendwie erträglicher machen?!"

Gudekar schüttelte den Kopf. „Nein, Merle, so bin ich doch gar nicht. Ich meinte nur das jetzt. Ich werde gehen, ich muss gehen. Und ich habe die ganze Zeit mit ansehen müssen, wie sehr du leidest. Unter mir leidest, weil ich zu feige war, dir zu sagen, was ich empfinde, wie sehr ich Meta liebe. Ich kann deinen Schmerz nicht länger ertragen, doch ich weiß, dass ich dir immer weiter Kummer bereiten werde, mit jedem Wort, das ich sage, und mit jedem Wort, das ich nicht sage, solange ich hier bei dir bin. Deshalb wollte ich dafür sorgen, dass du mich nicht vermissen wirst, wenn ich weg bin. Also, lass mich besser gehen. Ich bin sicher, dass irgendjemand von deinen vielen neuen Freunden für dich da sein wird, wenn du Hilfe brauchst.“

Wenn nicht jedes Wort, das er von sich gab, davon handeln würde, wie sehr er seine Buhle liebt… , dachte sich Arda, als sie erneut auf Merle zutrat, ihr die Hände auf die Schultern legte und sie mit sanftem Druck beiseite zog. "Lasst es. Jedes weitere Wort ist verschwendet an diesem… Hornochsen!", riet sie Merle. "Was könnte dieser… Schwachkopf! …schon sagen, was Euren Schmerz besänftigen würde?"

„Nichts, wie ich selbst gerade erklärt habe“, bestätigte der Magier Ardas Frage mit scharfem Tonfall.

Für einen Moment schloss Merle die Augen, versuchte, den an ihr zehrenden Herzschmerz in den Griff zu bekommen und irgendwie, trotz dieser surrealen Situation, ihre Fassung wiederzufinden. Als Arda sich anschickte, sie von Gudekar wegzuziehen, lächelte sie die Baroness traurig an, machte sich aber sanft von ihr los. “Tut mir leid… Ich muss einfach…” Noch einmal wandte die junge Frau sich ihrem Ehemann zu, nun wieder ruhiger und beherrschter, wenn auch mit zittriger Stimme: "Zwei Sachen, Gudekar. Du weißt, dass der Traviabund unauflöslich ist. Auch wenn du jetzt fliehst, selbst wenn du nie zurückkehrst, heißt das nicht, dass unser Bund nicht auf ewig fortbesteht und dein Schwur mir gegenüber nicht Gültigkeit behält. Vergiss' das nie." Mit einem tiefen Blick aus ihren großen, geweiteten Augen starrte sie ihn intensiv an. "Das zweite ist eine Frage. Wenn du jetzt, endlich, so ehrlich bist, wie du behauptest, beantworte mir eines: Damals, in der ersten Nacht mit Meta, da war es höchstens Verliebtheit und Begehren - nicht die große, ewige Liebe, als die du es jetzt verkaufen willst. Und du wusstest genau, dass ich es mitfühlen musste - du musst meinen Schmerz, mein Entsetzen, meine Qual doch empfangen haben! - dennoch hast du das Amulett abgenommen und zur Seite gelegt, hast den Ehebruch ungerührt vollzogen. Wieso hast du in dieser verfluchten Nacht nicht einmal an mich gedacht? War die Wärme und Zuneigung, die du früher für mich fühltest, plötzlich verschwunden, einfach erloschen - oder hast du mich ganz bewusst aus deinem Herzen ausgeschlossen, deine Liebe zu mir verleugnet, absichtlich verdrängt, weil Meta es so wollte? Dann, Gudekar”, sie humpelte an Rionn vorbei wieder auf ihn zu und ihr ernstes Gesicht näherte sich dem seinen, “sag mir wenigstens die Wahrheit, damit ich aufhören kann, darüber zu grübeln, was ich falsch gemacht habe.”

Rionn nahm seinen Arm leicht herunter, mit dem er Merle von Gudekar zurückhalten wollte, als sie wieder in seine Richtung schritt. Der Tsageweihte hatte nicht wirklich vor, sie mit Gewalt zu trennen. Gewalt war seinem Wesen fern. Doch er blickte sowohl Gudekar und auch immer wieder verzweifelt Merle an. All das hier war schrecklich zerstörerisch für ihre Seele. Dieser vermaledeite Pruch! Rionn wusste nicht recht, wie er helfen konnte. Ohnmächtig ließ er Gudekar daher noch antworten, bevor er weiter einschreiten wollte.

Ardas Wut war nach Gudekars selbstgefälliger Replik so weit hochgekocht, dass sie sich benommen fühlte. Während Merles Antwort hatte sie die Flamme ihrer Wut weiter genährt. Ihr reichte es jetzt.

Ihre Lippen bewegten sich unversehens, schrien einen Fluch heraus: "Mit Absicht fügst Du niederträchtiger feister Hodenkobold, Du am eigenen Schwanz saugender Grottenolm, Du peinliches Imitat eines misslungenen Versuchs eines Mannes, dieser Frau - Deiner eigenen Frau! - Schmerz um Schmerz zu! Genussvoll stürzt Du widerlicher, aufgeblasener, eitriger Pickel am Furunkel eines Geschwürs, Du Blindschleiche, Du madiges Taubengekröse, Du Schneckenfürst sie ins Unglück! Geilst Dich dran auf wie ein Tsatagsfreier bei einer altersschwachen 5-Heller-Hure, sie leiden zu sehen! Ich wünsche Dir, Du Schweineschänder, Bettkastenstratege, Du splittrige Krummlanze, Nachttopfnascher, aus vollem Herzen, möge Dich der Blitz beim Scheißen treffen, mögest Du bei Deinem neuen Flittchen stets das richtige Loch verfehlen, möge sich der Festbaum immer vor dem Schmause legen, Du einarmiger Latrinenschwimmer! Möge das Unglück, das Du stiftest, auf Dich zurückfallen! Möge Dich das Unglück auf Schritt und Tritt verfolgen in Deinem schönen neuen Leben, Gudekar von Weissenquell!"

Dem Tsageweihten klappte der Unterkiefer nach unten. Er war so beeindruckt, dass er gar nicht merkte, wie sein Mund staunend offen stand. Boah!, dachte er. Arda war beinahe so gut wie der Kobold Luch Halbschuh, wenn er sich im Aal Bösch mit den Kindern des Tsa-Tempels in Eisenstein um die Wette Schimpfwörter im Wechsel entgegen schleuderte. Rionn hatte das einmal beobachten dürfen und hatte seine helle Freude daran gehabt. Doch das hier war wohl bitter ernst gemeint von Arda.

Irritiert wich Merle instinktiv einen Schritt von Ardare zurück, als diese plötzlich in eine laute Schimpftirade gegen Gudekar ausbrach. Sie fühlte sowohl Wärme und Dankbarkeit für die Unterstützung der Baroness, andererseits war sie peinlich berührt, dass hier eine nahezu Fremde so vehement für sie eintrat, dass Gudekars Verhalten diesen heftigen Ausbruch der anderen Frau ausgelöst hatte. Unsicher, wie sie reagieren sollte, senkte sie verlegen den Blick und raunte ein scheues 'Danke' in Ardas Richtung.

Gudekar, der sich gerade eine Antwort auf Merles Frage zurechtlegen wollte, klappte förmlich der Kiefer herunter und er schaute die Baroness sprachlos und verdattert an. So hatte es noch nie jemand gewagt, mit ihm zu reden.

Obwohl die Schimpftirade, wie nicht anders zu erwarten, wieder mal auf ihre gegenseitige Liebe zielte, musste Meta schmunzeln. Diese Baroness verfügte über einen erlesenen Wortschatz, woher auch immer. Es lohnte sich sicher, sich etwas davon zu merken.

Aber Gudekar stand natürlich wieder nur stumm und tatenlos rum. Meta spann ihre Überlegung, die nahe Zukunft betreffend, weiter.

Arda blickte in die Runde und sah erschrockene, staunende Gesichter um sich herum. Die Stille war ohrenbetäubend. Die nächtlichen Waldgeräusche waren allesamt zum Erliegen gekommen.

Sogar Tharga war instinktiv etwas zurückgewichen und saß brav und mit gesenktem Haupt auf ihren Hinterläufen, um nicht den Zorn ihrer Herrin abzubekommen.

Die Baroness pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie wusste, dass der Fluch seine Wirkung entfalten würde. Nach diesem Wutausbruch - wie nach jedem Streit, wenn der Zorn abebbte, war ihr zum Weinen zumute. Sie schluckte mehrfach, und umarmte Merle nochmals kurz und heftig, vor allem um sich abzulenken.

Merle erwiderte die Umarmung ebenso heftig, immer noch überwältigt davon, dass die Baroness, diese mutige, kluge, unabhängige Dame, sie und ihre unbedeutenden Probleme nicht nur sah, sondern sich auch noch derart kämpferisch und kompromisslos für sie einsetzte. Sie wollte Ardare so vieles sagen, brachte aber keinen Ton aus ihrer trockenen, rauen Kehle heraus. So suchte sie nur den Augenkontakt mit der anderen und nickte ihr zaghaft zu.

Die Situation eskalierte immer mehr und entglitt ihnen allen zunehmend. Wie konnte Rionn das noch aufhalten? “Hört auf!”, schrie er. “Alle male!” Zornesröte stieg in sein Gesicht - und er ahnte, dass er gerade selbst Opfer des verdammten Pruch geworden war. “So! Jetzt gibst du noch die Antwort, Gudekar, die du deiner Frau schuldig bist… oder auch nicht… das ist mir orkendrecksegal… und dann verschwindest du! Hau endlich ab! Das wird hier nichts mehr werden.” Rionn merkte, wie seine Beine anfingen zu zittern und er sackte zu Boden auf seine Knie. Dann schlug er die Hände vor sein Gesicht und murmelte nur noch: “Hört endlich auf.”

Merle eilte zu dem Tsageweihten, der plötzlich auf die Knie zusammengesackt war. "Rionn, ist alles in Ordnung?" fragte sie, legte ihm sanft die Hand auf die Schulter und schaute ihn besorgt an. Auch Gudekar kniete sich zu Rionn und seiner Frau und schaute besorgt und mitleidsvoll. "Geht es? Ich, ähm…", zögerlich, mit angespannter Miene schaute sie zu Gudekar, der still ihren Blick erwiderte, "...ich würde gerne noch mal mit meinem Mann sprechen. Vielleicht ist es dumm, wahrscheinlich ist es dumm… aber ich habe das Gefühl, dass ich… Dinge wissen muss, bevor er geht. Kannst du das ein bisschen verstehen, Rionn?"

Gudekar schloss die Augen, kniff sie zusammen, als müsse er einen tiefen Schmerz unterdrücken.

Der Tsageweihte öffnete die beiden Hände vor seinem Gesicht leicht, so dass er hindurch hinauf zu Merle blicken konnte. Ohje!, dachte er. Jetzt musste ausgerechnet Merle, die so sehr in ihrer Seele verletzt worden war, ihm, dem Seelsorger, tröstende Worte zusprechen. Verkehrte Welt. Rionn schluckte. Er atmete einmal tief durch. Dann bemühte er sich, ruhig und leise zu sprechen, dem Zorn keinen Raum mehr zu schenken. “Selbstverständlich, Merle. Bitte verzeih mir. Aber bestimmt ist es besser, wenn wir euch beide in Ruhe zu zweit sprechen lassen und wir uns ein wenig zurückziehen. Wir machen nur alles schlimmer, wenn wir uns einmischen.” Dann blickte er zum Magier. “Und du: Reiß dich zusammen, Gudekar.” Rionn rappelte sich auf und versuchte mit Gesten die anderen von Merle und Gudekar hinfort zu komplementieren.

“Nein, Rionn”, versuchte Gudekar den Geweihten aufzuhalten. “Ihr, ähm, du machst nichts schlimmer. Du bist mir immer eine Stütze gewesen, seitdem wir uns kennengelernt haben. Ich wäre dir dankbar, wenn du bei uns wärst, wenn ich versuche, Merles Frage zu beantworten. Zu Merles Schutz bitte ich dich darum.”

“Meinst du?”, fragte Rionn skeptisch. Er hatte sich wieder umgedreht und kniff die Augen zusammen. Warum sollte er Merle schützen müssen? “Aber nur, wenn Merle auch einverstanden ist.”

“Danke, Rionn!” Gudekar legte seine Hand auf Rionns Schulter und lächelte ihn dankbar und erschöpft an.

Merle seufzte müde. Sie verstand nicht ganz, warum Gudekar unbedingt Rionn dabei haben wollte. Hatte er Angst, dass sie wieder auf ihn losgehen würde und er in Versuchung käme, erneut gegen sie zu zaubern? Ach, wie war es nur so weit mit ihnen gekommen? Wie konnte der Mann, der einst ihr engster Vertrauter gewesen war, nun glauben, er könnte, würde ihr etwas antun? “Ich habe keine Angst vor dir”, behauptete sie an Gudekar gewandt, auch wenn sie sich nicht wirklich sicher war, ob das stimmte. “Aber natürlich bin ich einverstanden. Ich möchte dich, Rionn, jedoch bitten, in etwas Abstand zu verweilen. Es gibt Sachen, die mein Mann und ich einander sagen müssen, sehr persönliche Dinge. Wir beide, nur wir beide.”

Gudekar nickte in Rionns Richtung, wobei er kurz bestätigend die Augen schloss.

Rionn hob die Hand, um zu signalisieren, dass er Merles Wunsch verstanden hatte, nickte und ging ein paar Schritte beiseite und blieb in Sichtweite stehen.

Gudekar wandte sich zu Merle und fasste ihre Hände. Er sagte nichts, doch seine Augen sprachen eine deutliche, verzweifelte Sprache: Was willst du noch von mir? Wie kommt es, dass ich dir noch immer derart wichtig bin, nach allem, was ich dir angetan habe?

Merle ließ etwas überrascht zu, dass Gudekar ihre Hände nahm und schaute ihn verwirrt und fragend an. Ihr kam der Gedanke, ob sie sich bei ihm dafür entschuldigen sollte, ihn geschlagen zu haben, doch schüttelte sie diesen Impuls mit einem unwilligen Schlucken ab und ließ auch seine Hände wieder los. “Gudekar, ich versteh’ einfach nicht, wie du dich in so kurzer Zeit von mir abwenden konntest”, begann sie leise ihre Frage zu formulieren. “Vor dieser Hochzeit in Schweinsfold warst du unsagbar lieb und zärtlich zu mir; ich hatte stets das Gefühl, dass du meine Nähe genießt, dass du gerne mit mir zusammen bist, meine Liebe so sehr brauchtest, wie ich die deine - dass du glücklich mit mir warst. Und dann willst du plötzlich nichts mehr von mir wissen, redest kaum noch mit mir, bist abweisend und kalt… Ich meine, ich verstehe ja, dass du dich in Meta verliebt hast, wirklich, ich verstehe das! - Aber wie hat sich dein Gefühl, dein Verhalten mir gegenüber so stark gewandelt? Du hast dich schon bei der allerersten Entflammtheit für sie von mir angewandt, als du gar nicht wissen konntest, ob es Liebe ist, oder? Als du die Kette des Muschelfürsten abgelegt hast, hast du auch mich abgelegt, hast mich weggeworfen, wie ein Kind ein langweilig gewordenes Spielzeug in die Ecke schmeißt.” Ihre Stimme war ganz leise, scheinbar neutral, ohne jegliche Emotion und auch ohne Anklage. Der intensive Blick ihrer braunen, im fahlen Mondlicht fast schwarz wirkenden Augen vermittelte ihm, dass sie es wissen musste, dass sie es einfach nicht verstand. “Hast du in dieser Nacht denn mein Leid überhaupt nicht gespürt?”

Gudekar schluckte. Er schluckte zweimal. Dreimal. Seine Kehle fühlte sich zu trocken an, um zu antworten. ‘Sag ihr, dass du es nicht mehr ausgehalten hast mit ihr und dass die Nacht in der Gartenhütte mit Meta eine Befreiung von deinen Ketten für dich war! Ich habe dir immer gesagt, lass dir deine Freiheit nicht nehmen!’ Hedians Stimme klang deutlich in seinem Kopf, ja, sein Freund hatte ihn schon immer davor gewarnt, dass so etwas einst geschehen könnte. Doch nicht jetzt! Jetzt war nicht der Augenblick, auf ihn zu hören. ‘Geh weg, Hedian!’

Die Augenblicke verstrichen. Es musste auf Merle wirken, als wolle er nicht antworten, doch seine Zunge wollte sich einfach nicht von seinem Gaumen lösen. Fast so, wie vorhin in der Hütte, nur nicht so magisch. – Magisch? Ihm stieß auf, dass da etwas eigenartig war. War es ein Zauber gewesen, der seine Zunge gelähmt hatte? Hatte der Paktierer ihn vielleicht bereits vorab verzaubert, um leichteres Spiel zu haben und keinen Gegenzauber von Gudekar fürchten zu müssen? Doch irgendetwas passte nicht. Er müsste der Sache noch einmal auf den Grund gehen! – Die kurze Ablenkung der Gedanken mache es leichter, die Worte für Merle zu sortieren. “Ich war glücklich mit dir. Ich war zufrieden mit meinem Leben. Meinem Leben mit dir. Meinem Leben im Kloster. Ich war zufrieden, solange ich nicht ahnte, was Dere da draußen noch alles zu bieten hat. Ich war glücklich mit dir, bis zu jenem Moment, als ich Meta traf. Ja, selbst nach meinem… Ausrutscher mit Tsalinde hätte ich wieder glücklich mit dir werden können, wenn du mir diesen je verziehen hättest. Doch als ich Meta traf, war alles anders. Es war, als hätte Rahja selbst mir den Weg gewiesen. Ich wusste es von Anfang an. Es war so offensichtlich, dass ich für sie bestimmt bin.” Er schaute mit festem Blick zu Merle. “Ob ich deinen Schmerz nicht gespürt habe? Oh, doch sehr wohl habe ich ihn gespürt. Und zu gut hatte ich ihn noch vom Vorabend in Erinnerung. Was hätte ich denn tun sollen? Hätte ich die Kette umbehalten sollen, damit du noch einmal jede meiner Gefühlsregungen mitfühlen musstest? Ich konnte dir diesen Schmerz kein zweites Mal antun. Und als ich heim kam, was hätte ich dir da sagen sollen? ‘Travia zum Gruße, Merle. Ich habe mich in eine andere Frau verliebt und möchte mein Leben ab sofort mit ihr verbringen!’ Hätte ich dir das sagen sollen? Wie hätte ich dir das sagen sollen? Vor allem, wo du doch von Tsa gesegnet warst! Ich konnte nicht mit dir darüber reden.”

Merle nickte verstehend; nicht, weil sie seinen Worten zustimmte, sondern weil sie ihm signalisieren wollte, dass sie zumindest für seine Ehrlichkeit dankbar war. "Tatsächlich hätte ich mir gewünscht, dass du sagst, was los ist, zu einem Zeitpunkt, wo dir noch etwas an mir lag - selbst wenn es mir unendlich weh getan hätte. Aber dann hätte ich eine Chance gehabt, um dich zu kämpfen. Hätte Dinge ändern können, die du vielleicht vermisst hast in unserer Ehe, hätte mich ändern können… Da hätte es noch Hoffnung für uns gegeben." Sie seufzte melancholisch und blickte hinauf zum Madamal, dessen kalter Schein sich hinter den schwarzen Schattenrissen der Baumkronen abzeichnete. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, als ob sie fröstelte. "Hast du dich schon mal gefragt, ob ich mir etwas anderes vom Leben erhoffe, ob ich vielleicht auch gerne etwas von Dere gesehen hätte? Aber mich hast du nicht nach meinen Träumen und Wünschen gefragt. Nein, es ging und geht immer nur um dich, oder?" Ein trauriges Lächeln erschien kurz auf ihren Lippen und verschwand wieder. "Hast du nach der ersten Nacht mit Meta überhaupt noch einmal an mich gedacht, an uns, an unseren Bund? An alles, was wir hatten?" Sie musterte ihn, versuchte den ihr fremd gewordenen, selbstgefälligen Magus vor sich mit dem liebevollen, fast schüchternen jungen Mann in Einklang zu bringen, der ihr damals in Albenhus den Hof gemacht hatte. "Kannst du mir das wenigstens beantworten, wann und wie deine Liebe für mich gestorben ist? Ist das einfach plötzlich passiert oder hast du alle Gedanken an mich, alle Schuldgefühle absichtlich verdrängt?"

Als Merle ihre Arme um sich schlang, hätte er sie gerne tröstend gedrückt. Doch er spürte, dass dies in dieser Situation nicht angebracht gewesen wäre. Gudekar antwortete für lange Zeit nichts. Seine Augen verrieten Merle, dass er nachdachte, angestrengt nachdachte. Sein Blick wanderte zu den Bäumen hinter ihr. Er wanderte zum Boden. Er blickte zum Madamal und zu den Sternen am Himmel. Er überlegte angestrengt nach und es herrschte Stille. Selbst in seinem Kopf. Hedian verweigerte ihm seinen Rat. “Es liegt mir noch immer viel an dir. Doch du hättest nichts ändern können”, sagte er schließlich mit ruhiger Stimme. Seine Worte klangen sanft und ehrlich. “Ich hätte nie gewollt, dass du dich änderst. Du warst doch perfekt! Nichts von all dem, was geschehen ist, lag an dir. Es lag allein an mir. Niemals hätte ich gedacht, geahnt, dass mir etwas fehlte, dass es ein anderes Leben geben könnte. Und auch nicht, dass du etwas anderes gewollt hättest. Niemals wollte ich fort. Doch dann, als ich Meta traf, da war es um mich geschehn. Dieser Moment hat mein Leben verändert. Und dennoch, du hättest nichts ändern können und ich will nicht, dass du dich änderst. Es tut mir leid, dass ich nicht der Mann bin, den du verdienst, der Mann, der ich so lange zu sein versucht habe. Ich habe dich wirklich geliebt. Doch nun gehört all meine Sehnsucht allein Meta. Ich wünsche dir, dass auch dir etwas Ähnliches widerfährt, dass auch du den Menschen findest, der zu dir gehört, auf ewig. Ich weiß, dass wir einen Bund geschlossen haben, den wir nicht lösen können. Ich weiß, dass ich mit diesem Bund eine Verantwortung trage. Für dich, aber noch mehr für Lulu, meine geliebte Tochter. Ich möchte Lulu ein guter Vater sein. Bitte gib mir Zeit, mich selbst zu finden. Ich habe Rionn gelobt, zurückzukehren, um der Gemeinschaft beizustehen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Und ich gelobe dir, dass ich zurückkommen werde, um Lulu beizustehen, wenn sie meinen Beistand braucht. Ich kann mein Leben nicht mit euch verbringen, mein Leben wie mein Herz gehören ab jetzt Meta. Doch ich möchte alles, was in meiner Macht steht, dafür tun, dass ihr ein gutes, sicheres Leben habt. Merle, es tut mir leid!” Sein Blick wanderte weg von Merle, suchend, nach Meta Ausschau haltend, die doch irgendwo hier sein musste. Er brauchte jetzt ihren Halt.  

“Ich bin dankbar, dass du die Verantwortung für deine Tochter zu tragen bereit bist, dass auch in Zukunft in deinem Leben Platz für Lulu sein wird”, erklärte sie mit festerer, bemüht kontrollierter Stimme, auch um seine Aufmerksamkeit wieder zurück auf sich zu lenken. “Dennoch kann ich nicht verleugnen, dass ich enttäuscht bin. Enttäuscht, weil du unseren Bund sofort abgeschrieben hast, sobald die erste Versuchung daran gerüttelt hat. Du hast entschieden, dass es mit uns vorbei ist, ohne mich ein einziges Mal anzuhören. Du bestimmst das, du bestimmst alles… dabei haben wir im Tempel geschworen, eine Gemeinschaft, eine Familie zu sein.” Mit einem traurigen Seufzen hielt sie kurz inne, um ihre Gedanken zu ordnen. “Liebe ist immer auch eine Entscheidung”, wiederholte sie etwas, das Mutter Liudbirg ihr einst gesagt hatte, kurz vor ihrem Hochzeitstag. “Ja, es gibt den Gefühlssturm der ersten Verliebtheit, ein den Verstand verschlingendes Chaos von Leidenschaft, Besessenheit, fast Wahnsinn - ich kann mich gut daran erinnern und weiß, dass man sich dagegen kaum wehren kann.” Merle lächelte verträumt, als sie an ihr erstes gemeinsames Stelldichein am Flussufer dachte, dabei wischte sie sich fast verstohlen eine Träne ab und verschmierte noch mehr Schmutz auf ihrer Wange. “Aber auch, wenn du diese unbändige Verliebtheit für Meta empfunden hast und jetzt empfindest - irgendwann wird deine brennende Leidenschaft für sie schwinden und du wirst dich nach einem neuen, spannenden Abenteuer sehnen… dann nach dem nächsten und übernächsten, doch wirst du niemals für lange Zeit Befriedigung erfahren - und irgendwann bleibt dir nur kalte Leere und Einsamkeit. Denn die Art von Liebe, die nach der wilden, leidenschaftlichen Verliebtheit kommt, die sich in Treue, Unterstützung, blindem Vertrauen und gegenseitiger Fürsorge ausdrückt, im Schaffen eines traviagefälligen Heims, in Harmonie und tiefer Verbundenheit, für diese Art Liebe musst du dich immer wieder neu entscheiden, musst aktiv dafür arbeiten, mit aller Kraft kämpfen und jeden Tag aufs Neue daran festhalten”, nun waren ihre zuvor vorsichtigen, bemüht neutralen Worte doch emotionaler, fast flehentlich geworden und sie trat einen kleinen Schritt näher, um ihm direkt in die einst so geliebten grauen Augen zu schauen. “Ich bin fest davon überzeugt; letztendlich ist diese Liebe beständiger und wertvoller als jedes stürmische Auflodern rahjanischer Begierde, kann sie dir doch an Travias warmem Herdfeuer auf Dauer Kraft und Rückhalt geben bis ans Ende deiner Tage. Das ist es, was wir miteinander hatten, noch immer haben könnten. Was du entschieden hast, achtlos wegzuwerfen und aufzugeben für die aufregende Liebelei mit einer jungen, frechen Knappin. Ja, du sagst, mit ihr wird alles anders sein, mit ihr wird das Leben niemals langweilig und auf ewig von Glück erfüllt, wie Rahjas Zelt auf Dere - doch sage ich dir, auch bei euch wird der Alltag Einzug halten. Vielleicht denkst du dann wieder an Travia und ihre Gaben."

Immer wieder wichen seine Augen ihren Blicken aus. Voller Scham und Schmerz vermied er es, sie anzusehen. “Was hätte ich denn tun sollen? Hätte ich zu dir kommen und dich um Erlaubnis fragen sollen, das Lager mit meiner Geliebten zu teilen? Hätte ich dir unter die Augen treten sollen und darum betteln, dass du es duldest, dass ich mich mit Meta vergnüge? Hätte ich zu dir gehen sollen und quasi bei dir um Metas Hand anhalten sollen, als wir uns entschieden, den Rahjabund zu schließen? Du hast mich gefragt, ob ich nach der ersten Nacht mit Meta überhaupt nicht mehr an dich gedacht habe, an das, was uns verbunden hat, ob ich keine Reue empfunden habe. Ich sage, oh doch, das habe ich. Immer und immer wieder tat es mir leid für dich, dass ich dir das angetan habe. Und das machte es umso schwerer, dir gegenüberzutreten. Wie hätte ich denn noch mit dir reden sollen? Wie hätte ich dir in die Augen sehen sollen? Ich hatte mich entschieden. Entschieden für ein Leben mit Meta. Du hast mich gefragt, wann diese Entscheidung gefallen ist. Du hast mich gefragt, ob ich dies alles getan habe, weil Meta es so wollte. Und ich sage dazu Nein! Es war allein meine Entscheidung! Ich habe mich dazu entschieden, Meta einen Kuss zu geben, als ich noch gar nicht wusste, ob sie mir je Beachtung schenken möchte. Ich habe entschieden, mit ihr in jene kleine Hütte zu gehen, um im Licht von Madas Gaben mit ihr Rahja zu huldigen. Ich habe entschieden, davor diese Kette abzulegen.” Er machte eine Pause, in der er tief ein und aus atmete. “Ich habe entschieden, nachdem wir unseren Auftrag in Eisenstein erfüllt hatten, nicht direkt mit den Gefährten nach Albenhus zurückzukehren, sondern im Geheimen nach Traurigenstein zu reisen, um dort Meta im Haus ihres Schwertvaters zu überraschen. Sie hatte es weder von mir verlangt, noch überhaupt etwas von meinen Plänen geahnt. Es war allein meine Entscheidung. MEINE! Niemand hat mir gesagt, was ich zu tun oder zu lassen habe.” Gudekar schloss die Augen und atmete tief durch. Mit wieder sanfter Stimme sprach er weiter: “Es tut mir leid, Merle, du hast etwas besseres verdient als mich. Es mag alles meine Entscheidung gewesen sein, doch habe ich dabei nicht tiefer nachgedacht. Ich habe mich allein von meinen Gefühlen leiten lassen, ohne zu bedenken, was ich dir damit angetan habe. Das war gewiss nicht das, was ich wollte. Es tut mir leid. So unendlich leid.”

Sie hob den Blick und ihre Gesichtszüge waren hart und unnachgiebig geworden, als hätte sie um sich selbst herum eine unsichtbare Schutzmauer errichtet, um nicht weiter verletzt zu werden. "Ja, du hättest zu mir kommen sollen! Wir hätten über vieles reden können... und müssen. Es hätte Wege gegeben, trotz deiner Liebe zu Meta deinen Eid zu erfüllen, Travia und deine Familie zu achten, mich weiterhin mit Respekt zu behandeln. Aber du hast dich ja entschieden, das nicht zu tun. Schön für dich, wie du freier, starker Mann so gar nicht unter Metas Fuchtel stehst, wie alles allein deine Entscheidung ist!” Der sarkastische Ton in ihrer Stimme und ein unterdrücktes Augenrollen ließen eine Spur ihrer sonst so lebhaften Persönlichkeit und spitzen Zunge durchscheinen. “Du möchtest dich also selbst suchen und finden, Gudekar? Du willst dir von niemandem mehr etwas sagen lassen? Weißt du, was ich denke? Dass du dich in deinem Bestreben, Grenzen zu übertreten und neue Erfahrungen zu machen, am Ende selbst verloren hast. Du willst anscheinend ein neuer Mensch werden, ein Mann ganz nach Metas Gusto - stärker, selbstbestimmter, frei von Zwängen und Pflichten, hab ich nicht recht? Doch das, was geschehen ist, mein Herz”, ihre Stimme wurde ganz leise, sanft und traurig, fast zärtlich, “...ist, dass du dich selbst aufgegeben hast. Das, was dich früher ausgemacht hat; deine Wärme, dein Einfühlungsvermögen, deine Freundlichkeit, dein Mitgefühl - das hast du für dieses neue, selbstbewusste, machtvolle Ich geopfert.” Sie zuckte resigniert mit den Schultern. “Deshalb bin ich so niedergeschlagen, bin ich am Boden zerstört - weil der Mann, in den ich mich unsterblich verliebt hatte, den ich geheiratet habe vor dem Altar der Gütigen Mutter, augenscheinlich gar nicht mehr existiert. Um diesen Mann, meinen geliebten Ehemann, werde ich fortan weinen und trauern. Denn die Erinnerung an die glücklichen Tage, die wir miteinander hatten, an die Leidenschaft und Zärtlichkeit, die wir teilten, die Geheimnisse, die wir uns nachts im Schutze der Dunkelheit ins Ohr geflüstert haben - das kannst du mir niemals nehmen. Auch wenn du den Mann tötest, der du einmal warst. Auch wenn du mit deiner ‘tapferen, kleinen Meta’ ans andere Ende von Dere fliehst. Zu guter Letzt, mein Liebster”, sie schluckte sichtlich bewegt, aber tapfer den harten Kloß in ihrer Kehle herunter, “...wird einfach nichts mehr von dir übrig sein. Dann ist es für mich wirklich so, als wärst du tot.”

Gudekar hatte die Augen geschlossen und zusammengekniffen, um die Tränen zu unterdrücken. ‘Wirf die Fesseln ab, mein Freund, befreie dich von den Ketten! Du bist auf dem richtigen Weg. Befreie dich! Lege das Joch ab, unter dem du stehst. Lass deine Gefangenschaft hinter dir! Wähle die Freiheit. Sag ihr, dass sie recht hat!’ – ‘Nein, mein Freund, ich bin doch frei! Frei, zu tun oder zu lassen, was ich will. Ich brauche niemanden, der mir Freiheit schenkt. Ich habe die Freiheit zu entscheiden, wem ich folge. Ich brauche keine Hilfe, um frei zu sein.’ Wort- und regungslos stand Gudekar da und ließ Merles Worte auf sich wirken. Hatte sie Recht? Gab er mehr von sich auf, als er durch die Liebe, die Meta ihm schenkte, gewann? Er war sich sicher, dass Merle sich täuschte. Er würde durch ihre gemeinsame Liebe mehr werden, stärker werden, aufblühen. Er hatte sich gefunden, nicht verloren.

Gudekar stand einfach nur da in der kalten dunklen Nacht. Eine Träne lief über seine Wange.

Merle sah die Träne über Gudekars Gesicht rinnen; sie fühlte sich ohnmächtig und unsagbar allein. Alles in ihr schrie danach, ihn einfach in die Arme zu schließen und tröstend an sich zu drücken, ihm sanfte Küsse auf die Wange zu drücken und beschwichtigendes Geplapper ins Ohr zu flüstern. Oh, wie sehr sie diesen Mann liebte, sich aus tiefstem Herzen nach ihm verzehrte; wie sehr sie ihn gleichzeitig hasste für alles, was er ihr so leichtfertig angetan hatte. Nein, sie konnte und würde nicht mehr zu ihm hingehen. Er war nicht mehr ihr Liebster, wollte sie nicht mehr, würde sich wahrscheinlich unwillig von ihr losmachen und sie von sich stoßen, wenn sie sich ihm jetzt näherte. So blieb sie an Ort und Stelle stehen, schaute ihren Ehemann eindringlich an und nickte ihm schließlich hilflos zu. "Pass' gut auf dich auf, mein Herz", brachte sie fast lautlos heraus, "mögen die Zwölfe dich behüten. Vielleicht…", Merle zögerte, schluckte schwer und schob sich fahrig eine zerzauste, lange Haarsträhne hinters Ohr, "vielleicht gibt es in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, in einer anderen Welt eine Zukunft für uns… vielleicht auch nur in Borons Armen", ihre Stimme brach und sie wandte sich ab, um nicht diejenige zu sein, die vor ihm zusammenbrach. Ihr Herz fühlte sich an, als würde es freiliegen und langsam mit einem Messer zerschnitten werden. Sie wollte ihm sagen, wie sehr sie ihn vermisste, wollte ihn auf Knien anflehen, seinen Entschluss über den Haufen zu werfen und doch nicht fortzugehen, doch wusste sie, dass es zu spät war. Viel zu spät. So wandte sich Merle nur langsam, mit gesenktem Haupt ab und humpelte die paar Schritte zum Stamm einer mächtigen Buche, an die sie sich kraftlos und niedergeschlagen anlehnte und mit bebendem Oberkörper die Augen schloss.

„Dein Knöchel! Du humpelst so sehr. Soll ich ihn nicht doch heilen?“ Gudekar blickte besorgt auf Merles Bein.

Merle öffnete die Augen wieder, atmete mühsam aus und schüttelte vehement den Kopf. "Nein, spar dir deine Kraft", lehnte sie erschöpft ab. "Du wirst sie auf der Reise sicher brauchen."

Gudekar wollte gerade etwas erwidern, als Rionn auf Merle zukam.

Rionn beobachtete die beiden mit etwas Abstand. Er konnte nur erahnen, was Merle und Gudekar miteinander besprachen. Als Merle sich abwandte, zum Baum humpelte und dort Halt suchte, schritt der Tsageweihte wieder näher hinzu. Während der Anconiter nach Merles körperlichen Gebrechen fragte, sorgte er sich vielmehr um ihre Seele. All das musste wie eine Seelenmühle wirken, durch die all ihre Liebe, alles was ihr wichtig war, gedreht und zermahlen wurde. Darum schritt er langsam und vorsichtig zu Gudekars Frau. “Merle?”, fragte er leise und sanft. “Kann ich etwas für dich tun?”  

Wieder schüttelte Merle den Kopf. “Danke, Rionn, aber ich wüsste nicht was.” Ihre Stimme klang schwer und belegt, als würden unzählige Schluchzer in ihrer Kehle nur darauf warten, dass sie endlich allein war und bitterlich weinend zusammenbrechen konnte.

Der Tsageweihte jedoch ließ nicht locker. “Darf ich dich in die Arme nehmen?” Rionn sah ihr an, dass sie jetzt nur noch Trost brauchte, sehr viel Trost.

Sie zuckte nichtssagend mit den Achseln, ließ die Umarmung des Geweihten aber zu, ohne sie groß zu erwidern. Innerlich kämpfte sie einzig und allein damit, sich nicht vollständig von den Tränen überwältigen zu lassen.

Rionn schloss sie in die Arme. Er sagte nichts. Er wusste, dass seine Worte nicht helfen konnten. Es war soviel zerstört und Worte konnten das nicht heilen. Jedenfalls nicht sofort. Daher war der Tsageweihte einfach nur da. Wenn Merle jetzt weinen wollte, dann sollte sie es tun dürfen. Wenn sie nichts tun wollte, sollte sie einfach nur in Rionns Armen bleiben, solange, wie sie diesen Halt bedurfte. Merle sollte es selbst entscheiden.

Gudekar hatte das Gefühl, hier und jetzt nichts Passendes tun oder sagen zu können. Deshalb wandte er sich ab, damit sich Rionn ungestört Merle annehmen konnte, denn er ahnte, dass sie in seiner Gegenwart ihrer Gefühle nicht ihren Lauf lassen konnte.

Merle klammerte sich an Rionns Kleidung fest, suchte und fand Halt in seinen tröstenden Armen. Nach einigen Herzschlägen des Schweigens hob sie jedoch den Kopf, um dem großgewachsenen Geweihten in die Augen zu schauen. "Ich kann jetzt nicht weinen", murmelte sie leise. "Sonst höre ich gar nicht mehr damit auf... und wir müssen doch raus aus diesem Wald."

“In Ordnung”, bestätigte der Tsageweihte mit sanfter Stimme. Gleichzeitig lockerte er seine Umarmung, damit Merle sich lösen konnte, wenn sie es wollte. “Dann sollten wir das aber bald tun, den Wald verlassen.” Er spürte, dass Merle am Ende war. Nun war es wichtig, dass sie an einen vertrauten Ort zurückkehrte, um dort ihren Emotionen Lauf lassen zu können.

Gudekar blickte sich indes erneut nach Meta um und entdeckte sie bei Imelda stehend. Er war nicht sicher, was Imeldas Worte bei Meta anrichten würden, doch hoffte er, dass sie keine zu großen Zweifel bei seiner Geliebten wecken würden. Er sah aber auch, dass Meta ihre Tasche bereits aus der Hütte geholt hatte und wollte nun auch seine Satteltasche holen, um sich für die Abreise bereit zu machen. Auch, wenn die Nacht inzwischen weit fortgeschritten war, war es klar, dass sie nicht länger hier verweilen konnten. Sie würden sich einen anderen Ort suchen müssen, wo Meta schlafen und sich erholen konnte.

Endlich schien das Gespräch zu Ende zu sein. Sie würde später mit Gudekar darüber reden, er hatte wieder geweint und Meta fühlte einen unangenehmen Kloß im Hals. Sie ging zwei Schritt Richtung Gudekar, damit er sie nicht übersah und nahm Blickkontakt mit ihm auf. Er sollte wissen, dass sie gewartet hatte und stellte erleichtert fest, dass er nun seine Tasche aus der Hütte holen würde. Desolat und wie gebrochen wirkte er. Metas vergrabene Angst bahnte sich wieder einen Weg in ihren Kopf. Es war noch nicht vorbei. Gudekar war gefangen im Chaos seiner Gefühle. Immer wieder, immer wieder, egal, wie sehr er ihr gegenüber das Gegenteil behauptete. Aber sie mussten endlich weg von diesem Ort. Sie würde sich um ihn kümmern, bis seine körperlichen und seelischen Wunden ein ernsthaftes Gespräch zuließen. Davor hatte Meta Angst.

Als Metas Blick Gudekar traf, lächelte er kurz und deutete mit den Lippen einen Kuss in ihre Richtung an. Dann deutete er mit dem Zeigefinger erst auf sich, dann die Hütte, dann auf sie beide, und schließlich machte er mit zwei Fingern eine Geste, die wie laufen aussah. Er hoffte, dass sie verstand.

Meta hatte Gudekars recht eindeutige Geste wohl verstanden. Umso verwirrter war sie, als er nicht zu seinem Gepäck ging, sondern sich mit einem Schulterzucken sofort umdrehte und wieder zur Gruppe zurückging.

***

Als Merle sich vorsichtig aus Rionns Umarmung löste und eine einzelne Träne aus ihrem Auge wischte, fiel ihr Blick auf Kalman. Auch Rionn folgte ihren Augen und sah ebenfalls den Edlensohn, der noch immer erstarrt mitten zwischen den Bäumen stand, an der Stelle, an der vor einer Weile das Nebelfeld begann.

Nivard, der inzwischen etwas abseits stand und die Gespräche von Imelda nicht stören wollte, erblickte Gudekars Bruder ebenfalls.

“Oh nein!” entfuhr es Merle erschrocken und sie zeigte aufgeregt auf ihren Schwager. “Was ist mit ihm?” Sie machte sich nun vollends von Rionn los und eilte zu Kalman, wo sie umgehend versuchte, seinen Puls zu fühlen und an seiner Schulter zu rütteln.

Doch Kalmans Schulter fühlte sich starr und hart wie Stahl an, seine Haut und Haare waren vollkommen bleich. Sein Schwert hielt er noch fest umklammert in der Hand.

Merle hielt die Hand vor Kalmans Mund und Nase, um zu prüfen, ob er noch atmete. "Kalman!" rief sie ihn lautstark an. "KALMAN!" Zunehmend panisch drehte sie sich um und suchte Blickkontakt mit Rionn und Nivard. "Ich glaube, er wurde verzaubert!"

Atem oder etwas der Art konnte Merle bei Kalman nicht feststellen, doch hatte sie den Eindruck, seine Augen würden sie ansehen oder irgendetwas suchen.

Sie versuchte sich zur Besonnenheit zu zwingen und sprach Kalman erneut an, diesmal leiser und betont ruhig: "Kalman, wenn du mich hörst oder siehst, hier ist Merle. Es ist alles in Ordnung, der Kampf ist vorbei. Wir werden versuchen, dir so schnell wie möglich zu helfen, ja?"

Als Merle zu ihrem Schwager eilte, warf Rionn erst noch einen prüfenden Blick zu Gudekar. Hier konnte er nichts mehr tun, dachte er. Da war nichts mehr zu machen. Darum wandte er sich zu Kalman, der wie erstarrt dastand. Auch hier blieb der Tsageweihte zunächst einen Moment stehen und schaute sich Gudekars Bruder an, um vielleicht mit Abstand noch etwas Wichtiges entdecken zu können. Irgendwie war es Rionn, als habe er so etwas schon mal gesehen. Als Merle mutmaßte, dass Kalman verzaubert worden war, nickte er zustimmend. Dann ging er auch rüber zu diesem Ritter und schaute ihn sich von Nahem an. Rionn hatte aber noch keine Idee, was er tun konnte. “Keine Sorge, Merle”, sagte er dem zum Trotz, “wir werden ihn befreien aus seiner misslichen Situation.”

Merle blickte dankbar zu Rionn und wies auf Kalmans Augen. "Es scheint mir, als könnte er uns sehen."

Tatsächlich schien in Kalmans Augen Leben zu sehen sein, auch wenn er sonst aus einer eigenartig harten Substanz statt aus Fleisch und Blut zu sein schien, stellte Rionn ebenso wie Merle fest.

Der Tsageweihte schaute dem Ritter in die Augen und betete leise: “Oh Lebenspendende. Lass die Lebendigkeit in Kalman zurückkehren, du Gnadenvolle.”

Merle sprach das Gebet an Tsa im Stillen mit, dann schaute sie Rionn mit geweiteten Augen an. "Rionn, sein Zustand... das erinnert mich an etwas, das Gudekar einmal erzählt hat. Es ist wirklich ein Zauber, da bin ich mir ganz sicher!"

“Ja, es ist ein Zauber”, bestätigte Rionn. “Paralüs paralein,,, oder so ähnlich.” Der Tsageweihte atmete tief ein. Er dachte nach. Was wusste er über den Zauber? Und vor allem: Warum wusste er etwas über den Zauber? Rionn versuchte diese Fragen nach dem Warum und Woher zur Seite zu drängen. Jetzt war es doch nicht wichtig, danach zu forschen, woher er all dieses Wissen in seiner Vergangenheit gesammelt hatte. Es ging jetzt darum, Kalman zu helfen. Oder doch? Würde Rionn ihm helfen können, wenn er jetzt wüsste, warum er wusste, was das für ein Zauber war?

Merle nickte bestätigend. "Ja, genau… oder so ähnlich. Gudekar kann den. Er hat ihn wohl mal auf den Herrn von Mersingen angewendet, als sie Streit hatten", für einen Moment wurde sie nachdenklich, als ihr bewusst wurde, was sich ihr Mann schon vor fast zwei Jahren für Ungeheuerlichkeiten geleistet und diese einfach so abgetan hatte, als wäre es völlig normal gewesen. Sie biss sichtlich angespannt auf ihrer Unterlippe herum und senkte die Stimme zu einem Flüstern: "Was meinst du, Rionn, sollten wir Gudekar herholen, damit er seinem Bruder hilft?"

Merle riss den Tsageweihten aus seinen Gedanken, in die er gerade abzudriften drohte. “Gudekar?”, fragte er leicht aufgeschreckt. “Ja… vielleicht kann Gudekar helfen…” Rionn drehte sich um, schaute sich um und suchte den Magier. “Gudekar!”, rief er ihn. “Dein Bruder! Kannst du ihm helfen?”

Gudekar hatte fast den Eingang der Hütte erreicht, in der sein Reisegepäck noch immer irgendwo liegen musste, als er Rionns Ruf hörte. Er seufzte kurz und zuckte dann mit den Schultern. Dann also noch einmal zurück…

Merle zuckte leicht zusammen, als Rionn sogleich nach Gudekar rief. Sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück, innerlich nicht bereit, ihrem Mann gleich nach dem seelenverzehrenden Gespräch gegenüber zu treten. Angestrengt versuchte sie die rohen, ihr das Herz zerreißenden Emotionen zur Seite zu drängen und in einer dunklen Kammer am Rande ihres Bewusstseins einzuschließen. "Er…", sie war selbst überrascht, wie krächzend ihre Stimme klang und räusperte sich mühsam, "er steht anscheinend unter so einem 'Paralü', du weißt schon…" Sie zwang sich, Gudekar direkt ins Gesicht zu schauen. "Bitte versuch, den Bann zu brechen."

Gudekar betrachtete seinen Bruder von allen Seiten und schaute ihm einen Moment in die Augen. „Tatsächlich, Merle! Auch ohne tiefere magische Analyse würde ich dir zustimmen, ein Paralysis. Das hast du gut erkannt“, lobte er seine Frau, wie er sie schon so oft gelobt hatte, wenn sie etwas von seinem Wissen gelernt hatte. „Tja, da kann ich wohl nix machen.“ Er hätte es versuchen können, die Verwandlung zu beenden, doch schätzte er die Aussicht auf Erfolg eher als gering ein, und so wiegelte er ab.

Rionn musterte den Anconiter prüfend und hob die Augenbrauen. Konnte oder wollte Gudekar nichts tun?

"Wie, du kannst nichts machen?!" entfuhr es Merle sichtlich erschrocken. "Du kannst deinen Bruder doch hier nicht so stehen lassen! Versuch' doch zumindest, ihm zu helfen!"

„Ich kann auch nicht jede Art von Zauber brechen“, erklärte Gudekar. "Aber der Zustand wird nicht ewig anhalten. Noch eine Weile und die Verwandlung wird sich umkehren. Er wird sicherlich dann etwas seelischen Beistand benötigen.“

Nun, ob Kalman seelischen Beistand benötigte, dachte Rionn, das konnte der Magier noch gar nicht wissen.

"Weißt du das sicher?" fragte Merle mit skeptisch zusammengekniffenen Augen. "Ich erinnere mich, dass du mal gesagt hast, es gäbe auch permanente Zauber?"

Gudekar lächelte versöhnlich. „Du hast schon recht, manche Zauber lassen sich zu dauerhafter Wirkung weben. Doch erfordert dies längere Konzentration auf das astrale Geflecht und einen weit höheren Einsatz der eigenen Kräfte. Meist muss man dafür auch dauerhaft einen Teil der eigenen Kräfte opfern. Es ist nichts, was man mal so eben im Getümmel eines Kampfes tut.“ Der Anconiter konnte sich keinen Grund vorstellen, warum der Feind dies bei seinem Bruder hätte tun sollen.

Diese Erläuterung des Anconiters leuchtete dem Tsageweihten ein. Jetzt war nur noch die Frage, wie lange sein Bruder noch in diesem Zustand blieb.

Merle war sich sicher, dass die Leute, die heute Gwenn entführt und so viele Unschuldige ermordet hatten, durchaus auch Kalman etwas Schlimmes antun würden. Doch merkte sie, dass hier mit Gudekar nicht mehr zu diskutieren war. "Ich hoffe, dass du recht hast…", murmelte sie leise, offensichtlich nicht vollständig überzeugt.

„Merle, mach dir um Kalman bitte keine Sorgen. Ich bin sicher, es wird ihm wieder gut gehen. Doch ich werde jetzt aufbrechen. Mein Versuch, die Abreise auf morgen hinauszuzögern, um nicht in der Nacht zu reisen, hat bereits genug Schaden angerichtet. Hätte ich nicht hier das Licht des Tages abwarten wollen, wärt ihr alle nicht in Gefahr geraten. Bitte, versuche nicht, mich aufzuhalten. Wie ich es bereits Rionn gelobt habe, verspreche ich auch dir noch einmal: sobald die Zeit reif ist und ich keine Gefahr mehr für euch darstelle, werde ich zurückkehren und nach dir und Lulu sehen. Dann werden wir gemeinsam überlegen, wie die Zukunft zu gestalten ist. Doch zuerst muss ich dafür sorgen, dass es für uns alle überhaupt eine Zukunft geben wird. Bis dahin seid ihr in der Obhut meines Vaters wohl am Besten aufgehoben. Lebe wohl! Es wird kein Lebewohl für immer sein, sofern uns die Götter beistehen, doch vorerst lebe Wohl!“

“Wenn du ihm nicht helfen kannst”, murmelte Rionn etwas enttäuscht, “dann geh jetzt auch. Geh endlich.”

Merle blickte gedankenverloren zu Gudekar, während sie mit hängenden Schultern still und unbewegt neben Kalman verharrte; das blasse Gesicht erhellt von einem durch die Bäume fallenden Streifen des Madalichts. 'Das ist jetzt das Ende', dachte sie niedergeschlagen. Obwohl sie sich innerlich darauf eingestellt hatte, Gudekar ziehen zu lassen, merkte sie, wie ihr der unvermeidbare Abschied doch das Herz brach. Nun war es real. Da stand ihr Ehemann, dem sie ihr Leben versprochen hatte, ihr Liebster, ihr Ein und Alles, und schickte sich an, mit einer anderen Frau fortzugehen, die ihm besser gefiel als die seine, wie er es auf grausame Weise wieder und wieder freimütig verkündete. Es wollte noch immer nicht in ihren Kopf, wie es dazu hatte kommen können, wie Mutter Travia das zulassen konnte. Wann und wo sie, Merle, hätte verhindern können, dass Gudekar ihr entglitt. Sie verzehrte sich danach, ihn noch einmal zu berühren, einfach in eine Umarmung zu ziehen und eng an sich zu pressen, um seine Wärme, seinen vertrauten Geruch, seine tröstenden Arme um ihren Körper zu spüren; kurz ging ihr die Vorstellung durch den Kopf, wie es wäre, ihn ein allerletztes Mal zu küssen, damit sich sein Geschmack und der vertraute Druck seiner Lippen für alle Zeit in ihre Seele einbrannte. Merle schloss kurz ihre von Tränen brennenden Augen und schluckte schwer, um diese verzweifelten, unsinnigen, erbärmlichen Gedanken aus ihrem Geist zu verbannen, sprach ihren Mann aber noch einmal leise, sehr zögerlich an: "Ich weiß, dass es dir nichts mehr bedeutet und du es nicht hören möchtest - aber ich werde dich vermissen. Schon jetzt vermisse ich dich." Ihre sanfte Stimme zitterte hörbar, klang hilflos und verletzlich, voller Schmerz. "Und ich bin noch immer überzeugt, dass es ein Fehler ist, was du tust.” Nach kurzem Zögern und einem tiefen Atemzug rang sie sich durch, fast lautlos zu ergänzen: "Gudekar, ich… ich liebe dich. Und werde dich immer lieben. Ich möchte, dass du das weißt."

Gudekar hielt noch einmal inne. Er legte die Hände vor sein Gesicht und strich mit den Fingern mit Druck die Augenbrauen entlang. Aus nächster Nähe nahmen Merle und Rionn ein Zittern wahr, das seinen ganzen Körper zu durchfahren schien. Ein innerer Kampf schien in ihm erneut aufbrechen zu wollen. Kaum hörbar flüsterte er: “Ich werde dich auch vermissen. Auf irgendeine Art werde ich dich auch vermissen.” Dann atmete er tief durch und mit fester Stimme sprach er zum Tsageweihten. “Danke, Rionn! Du bist ein wahrer Freund! Möge die Allesspendende stets deinen Weg und dein Leben beschützen!”

Merle ertrug es nicht länger, Gudekar direkt anzuschauen; sie hatte das Gefühl, den Blick senken zu müssen und wich mit einem kläglichen, seufzenden Schluchzer einen Schritt zurück, um auf den dunklen Waldboden vor ihren Füßen zu starren. Einerseits hoffte sie, er würde endlich verschwinden, damit sie sich nicht noch mehr erniedrigte, sich vor ihm in den Dreck warf, seine Beine umklammerte und ihn anflehte, nicht zu gehen. Gleichzeitig nagte die verzweifelte Hoffnung an ihr, er würde doch noch einmal aufgehalten werden, noch ein paar letzte, winzige Momente länger in ihrer Nähe verweilen. Sie biss sich so fest auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte, versuchte, sich einzig und allein auf diesen Schmerz zu konzentrieren und den in ihrer Brust zu ignorieren. Wenn er erst richtig fort wäre, sie ihn nicht mehr vor sich sähe, dann würde es vielleicht auch nicht mehr so entsetzlich wehtun, hoffte sie.

Rionn blickte den Magier ernst an. Er schien immer noch zu zögern, zu gehen. “Ich bin dein Freund, Gudekar. Ich bin es, weil ich dich noch nicht aufgegeben habe. Und weil wir einen gemeinsamen Feind und eine gemeinsame Aufgabe haben. Aber jegliches Verweilen an diesem Ort spielt diesem Feind in die Arme. Siehst du nicht, wie es Merles Herz zerbricht. Darum geh nun und beende das alles hier. Tsa möge mit dir gehen und dich erneuern, dich freimachen von allen üblen Einflüssen. Wenn du dann zurückkehrst, werden wir gemeinsam streiten. Ich werde für dich da sein, um dir zu helfen, nach allem, was geschehen ist, einen neuen Weg zu finden. Vielleicht gibt uns Tsa mit etwas Abstand die Gnade, das, was in diesen Stunden hier geschehen ist, ein wenig zu heilen. Wer weiß. Aber nun geh!”

Gudekar nickte Rionn lediglich noch ein letztes Mal zu, vermied es aber, Merle anzusehen. So wandte er sich ab, ging zu der kleinen Hütte und holte seine Tasche heraus. Dann verließ er die Hütte und wandte sich ohne einen letzten Blick in die andere Richtung, wo sein Pferd angebunden stand. Dann schaute er sich nach Metas Pferd suchend um. Als er es erblickte, führte er sein Pferd an die Stelle in der Nähe des Ortes, wo noch immer Arda auf Mika einredete. Er schenkte den beiden jungen Frauen jedoch keinerlei Beachtung. Stattdessen wartete er dort, dass auch Meta zu ihm kam.

Nivard hatte gesehen, dass Gudekar und Merle noch einmal zusammenstanden. Also war er wenige Schritt zurückgeblieben, hatte in des nächtlichen Waldes Schatten gewartet und zugehört, ohne daran zu glauben gehofft, dass Merle und Gudekar in Rionns Beisein und durch göttliche Fügung doch noch Versöhnung und zueinander finden würden. Würde er etwas ausrichten können, was den beiden nicht geglückt war? Wohl kaum.

"Das war es jetzt also?" merkte er mit Bitterkeit in der Stimme an, als er aus dem Schatten auf Gudekar zutrat. Im selben Moment übertönte ein lautes Schreien ganz aus der Nähe seine Worte.

Hesindiard indessen suchte weiterhin sein Schwert.

***

Arda hatte bereits auf dem Absatz kehrt gemacht. Sie eilte zu der Stelle, an der ihre beiden Leibwächter kauerten oder lagen, und auch Mika stand.

Mika wirkte vollkommen erschöpft. Seit der Stunde vor dem Morgengrauen war sie unterwegs, zunächst für die Jagd, dann um ihre verwundete Hand versorgen zu lassen, anschließend die Jagdbeute einbringen und schließlich, um ihrem Bruder zu helfen. Nun stand sie den Rücken zu Arda gewandt vor der Leibwache und deren verletztem, geliebten Gefährten. Die Erschöpfung und die Enttäuschung, an diesem Tag alles falsch gemacht zu haben, in jeder ihrer Handlungen versagt zu haben, übermannte die junge Novizin, als sie sich bewusst machte, dass sie aus Stolz und Eigensinn - ihrem eigenen, aber auch dem der Wachfrau - das Leben dieses Mannes riskiert hatte. Die Kräfte verließen die Weissenquellerin mit einem Mal und ihre Knie sackten zusammen. Weinend kauerte sie sich am Boden zusammen.

"Was ist denn hier los?", verlangte die Baroness nicht unfreundlich, aber doch bestimmt zu wissen. Sie hatte sich wieder gefangen und war ganz die Dame aus hohem Hause, die völlig selbstverständlich die Kontrolle über die Situation übernahm. Nichts deutete darauf hin, dass sie gerade eben noch geflucht hatte wie ein Fuhrkutscher.

Wolfridas Antwort war ein langer, pointierter Blick in Richtung Mikas, während sie Nereks immer wieder in Richtung seines Gesichts fahrende Hand festhielt.

Mika kauerte weiter am Boden und schien Arda gar nicht zu bemerken. Weinend schluchzte sie immer wieder: “Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr!”

Die Baroness rollte genervt mit den Augen, was Mika, in deren Rücken dies passierte, nicht sah.

Sie lief an der Novizin vorbei zu ihren Leibwächtern. Ein Blick verriet ihr, dass der Kiefer des Mannes nicht so stand, wie er sollte, doch ihr fehlte jegliche Erfahrung mit solchen Verletzungen.

Sie würde recht undifferenziert ihre Magie wirken müssen - wirken lassen müssen - um das zu heilen.

"Lass mich sehen", forderte sie Wolfrida auf, geradezu barsch, da sie sich über ihr eigenes Versagen ärgerte.

Sie tat so, als betaste sie den Kiefer, während die andere Hand wie zufällig auf dem Brustkorb des bulligen Kämpfers ruhte.

Mit einem kaum hörbaren, gleitenden Geräusch, das den Anwesenden dennoch durch Mark und Bein ging, setzte sich der Unterkiefer wieder in Position. Wolfrida wurde bleich, Nerek versuchte sich benommen aufzusetzen.

Mit einer kurzen Kopfbewegung forderte die Kaldenbergerin ihre Leibwächterin auf, sich mit Nerek zurückzuziehen.

Wolfrida tat, wie ihr geheißen, und half dem Kämpfer auf die Beine. Dabei deutete sie trotzig mit dem Kinn auf die Novizin: "Sie hat mich arg getrietzt, wollte mir nicht sagen wo er ist!" Arda antwortete nichts darauf und wartete, bis sich die beiden Leibwächter in Richtung der Hütte auf den Weg machten.

Auch Tharga machte sich auf den Weg, nachdem sie kurz zu ihrer Herrin aufgemacht hatte, streunerte sie in Richtung ihrer neuen Freundin mit dem Feuergeruch, um nach ihr zu sehen.

Dann setzte sich Arda plump und erschöpft neben Mika auf den Waldboden. Sie gab der jüngeren einen launischen Schubser, dass diese umkippte und auch mit dem Oberkörper im Moos lag. "Was kannst Du nicht mehr?"

Mika reagierte nicht weiter auf Ardas Schubser und blieb einfach so liegen, wie umgefallen war. „Ich fühl mich so erschöpft. Ich will nur schlafen. Lass mich einfach hier schlafen. Ich will nur noch göttergefällige zwölf Tage am Stück schlafen. Nur schlafen.“

Die Baroness schwankte kurz zwischen einer scharfen Zurechtweisung und einer sanfteren, weicheren Strategie, um die Novizin wieder in die Spur zu bringen. Sie entschied sich für letzteres: “Schade…” entgegnete sie. “Wirklich schade…” Sie ließ ihre Stimme etwas verträumt klingen, als hänge sie Gedanken nach. “Jammer-, jammerschade…”

Mika hob ihren Kopf und müde Augen schauten Arda neugierig an. “Was ist schade?”

“Na, dass Du hier die nächsten 12 Tage und Nächte herumliegen möchtest.” entgegnete Arda mit einem milden Bedauern in der Stimme. “Nicht nur, dass Dich dann bestimmt wilde Tiere, und die Würmer, und die Maden auffressen werden… Ich wollte doch, dass Du mich nach Punin begleitest. Das geht ja dann nicht, wenn Du hier herumliegst…”

Mikas Augen weiteten sich. „Nach Punin?“ fragte sie ungläubig. „Ich soll dich begleiten? Nach Punin? Aber warum? Was soll ich denn dort? Seine Gnaden wird mich sicher nicht gehen lassen.“ Ihre Lebensgeister schienen langsam zurückzukehren, da sie sich vorsichtig aufrichtete.

Die Baroness zuckte mit den Schultern: “ICH gehe nach Punin. Und ich dachte mir, nach all den Ereignissen hier könnte ein Kulissenwechsel gut tun. Und seine Gnaden wird Dir gewisslich die Möglichkeit geben, Deine Lebenstüch… Lebenserfahrung etwas zu erweitern.”

Und mir gäbe es die Gelegenheit, die Familie dieses vermaledeiten Magiers im Auge zu behalten, dachte sie sich.

Mika fing an zu lächeln. „Ich bin mir sicher, seine Gnaden wird Wert darauf legen, dass ich meine Erfahrungen bei ihm sammle. Falls er mich überhaupt noch weiter ausbilden will.“ Die Novizin machte eine Pause. „Aber du würdest mich wirklich mitnehmen?“

Ein aufgesetztes Lächeln erschien auf Ardas Gesicht. “Sehr gerne sogar!”, log sie. In Gedanken fragte sie sich jedoch, ob sie diese Unwahrheit möglicherweise einmal bereuen oder gar teuer bezahlen würde.

Mika strahlte. „Danke, Arda! Du bist eine wirklich gute Freundin! Möge Firun stets ein wachsames Auge auf dich haben!“ Die Novizin des grimmigen Jägers raffte sich auf und versuchte trotz ihrer Erschöpftheit aufzustehen.

Ihre Bemühungen wurden von der Kaldenbergerin sabotiert, die ihr kurzerhand die Kuppe des Zeigefingers in die Ellenbeuge des abstützenden Armes drückte. Der Druck reichte aus, um bei der erschöpften Novizin das Gelenk umschlagen zu lassen, woraufhin deren Oberkörper wieder auf dem Waldboden landete.

“Gemach! Ruh’ Dich erstmal ein wenig aus”, forderte Arda sie auf.

Mika schaute sie überrascht an. „Aber eben hast du doch gesagt, ich soll hier nicht liegen bleiben…“ Mika war verwirrt.

“Ja - keine ‘zwölf Tage und Nächte’!” Arda ahmte die Novizin recht gekonnt nach, wobei sie deren Erschöpfung theatralisch übertrieb. “Aber bevor Du vor Müdigkeit gegen den nächsten Baum rennst und Firun Deinetwegen sich ein Grinsen nicht verkneifen kann!” Sie grinste, als sie sich vorstellte, wie der grimme Gott der Jagd die Hand vor den Mund nahm, um ein Feixen zu verstecken. “Atme etwas durch. Sammle Dich. Hör auf, hier herum zu rennen wie ein aufgescheuchtes Huhn. Leiste mir etwas Gesellschaft. Ich bin nämlich auch müde, mir tut alles weh und selbst die wunden Stellen an meinen Füßen haben wunde Stellen. Ich glaube, ich kriege eine Erkältung.” Sie gähnte herzhaft.

„Wenn das so ist“, raffte sich Mika mühsam wieder auf, „solltest du heim und ins warme Bett gehen und nicht des nachts durch herbstkalte Wälder ziehen.“ Mika versuchte erneut aufzustehen. „Komm, wir schauen, ob wir noch jemandem helfen können und dann führe ich euch heim.“ Mika redete, als kehrten sie von einem Praiostagsausflug zurück, und nicht, als hätten sie gerade eine Schlacht gegen Dämonenpaktierer geschlagen.

"Geh ruhig, wenn Du musst... Ich bleibe hier noch sitzen", sagte Arda, nicht ohne die Gleichgültigkeit in ihrer Stimme mit dem Hauch eines beleidigten Untertons zu würzen.

Verwundert hielt Mika inne. “Das verstehe ich jetzt aber nicht. Eben hast du noch gesagt, ich solle aufstehen, und jetzt willst du selbst hier auf den kalten nassen Boden sitzen bleiben, obwohl du eh schon denkst, dass du einen Schnupfen bekommst? Geht es dir so schlecht? Soll ich meinen Bruder holen, damit er nach dir schaut? Vielleicht hat er ein Kraut dabei, damit es dir gleich besser geht.”

"DAS wäre niemandes Gesundheit zuträglich", kommentierte Arda den ziemlich furchtbaren Vorschlag der Jüngeren trocken.

Mika verstand nicht, was ihre Freundin meinte und schaute verwirrt.

***

Getrennte Wege

Merle und Rionn blickten Gudekar noch kurz hinterher, als sie eine Veränderung an Kalman wahrnahmen. Langsam nahm die versteinerte Gestalt wieder Farbe an. Die ersten Muskeln fingen an zu zucken, als Merles Schwager versuchte, sich zu bewegen, obwohl sein Inneres zuerst noch versteinert war. In den Adern begann das Blut zu pulsieren und sein Brustkorb hob und senkte sich wieder unter seinen schweren Atemzügen. Er blinzelte, um die ausgetrockneten Augen zu befeuchten. Schließlich war die Rückverwandlung beendet und Kalman sank erschöpft auf die Knie.

Kalman versuchte, sich sogleich wieder aufzurichten. “Wo ist er, dieser Mistkerl? Ich bringe ihn um”, brüllte Kalman wütend. “GUDEKAR KOMM HER UND STELL DICH!”

Merle stürzte an Kalmans Seite, um ihn zu stützen und ihm beim Aufrichten zu helfen. "Ruhig, Kalman, ganz ruhig atmen", redete sie auf ihn ein. "Geht es wieder?"

Auch Rionn sprang Kalman zur Seite, um ihm aufzuhelfen und zu stützen. “Kalman, halte ein. Du brauchst noch einen Moment, um zu dir zu kommen…” Und außerdem, dachte der Tsageweihte, war es jetzt unnötig wieder Unruhe zu schaffen, da sich die Situation gerade langsam zu entschärfen schien.

„Einhalten?“, protestierte Kalman. „Diese Missgeburt wird fliehen, wenn wir ihn nicht aufhalten. Er wird sich seiner Verantwortung niemals stellen und ist es nicht wert, vor ein Gericht gebracht zu werden. Ich werde ihn in Vaters Namen gleich hier richten!“ Kalman suchte sein Schwert, das ihm beim Erwachen aus der Hand gefallen war.

Der Tsageweihte stellte sich vor ihn und hielt Kalman mit seinen Händen an dessen Schultern fest. “Halt! Kalman”, sagte Rionn eindringlich und bestimmt. “Wir lassen ihn gehen. Die Götter werden es fügen.”

„Ihr lasst ihn gehen? Habt ihr nicht seinen Blick gesehen?“ Kalman war perplex. Zu sehr brodelte noch die aufgestaute Wut in ihm, die mit Gudekars Blick in die hilflosen Augen seines Bruders aufkam.

Merle musterte Kalman, besorgt, aber nur milde alarmiert. Sie kannte ihren Schwager und wusste, dass seine Drohungen nicht so heftig zu verstehen waren, wie sie gerade klangen. “Was meinst du?” fragte sie ihn betont leise und ruhig. “Was denn für ein Blick?”

“Du hättest seinen Blick sehen müssen, als er mir in die Augen sah”, Kalman schien von Gudekar angewidert zu sein. “Starr und stechend schaute er, ein sarkastisches Lächeln auf den Lippen, als wollte er mir sagen: ‘Bruder, ich könnte dir helfen, aber es freut mich, dich leiden zu sehen. Du hast meine Magie immer gehasst. Nun enthalte ich sie dir vor. Ich genieße jeden Moment, in dem ich dir überlegen bin.’” Ein kalter Schauer lief über Kalmans Rücken.

Der Tsageweihte hatte nun den Ritter wieder losgelassen, da er den Eindruck hatte, dass Kalman nicht sofort losstürmen würde. Rionn musterte Gudekars Bruder und hörte seinen Ausführungen zum Blick des Anconiters aufmerksam zu.

Merle legte ihm sanft die Hand auf den Oberarm. “Er versicherte uns glaubhaft, dass die… Starre nicht lange anhalten und sehr schnell von allein enden würde. Und so war es dann ja auch.” Aus einem Impuls heraus umarmte sie ihren Schwager und drückte ihn kurz an sich. “Ich wäre die letzte, die Gudekar verteidigt, doch Euer Verhältnis war eigentlich nie besonders gut, oder? Mich hätte es eher überrascht, wäre er dir sogleich tatkräftig zu Hilfe geeilt.”

Kalman erwiderte Merles Umarmung. “Du hast wahrscheinlich recht, Merle. Doch diesen Blick werde ich nie vergessen. Ich glaube, er hätte mich gern…, nein das kann nicht sein.” Kalman blickte resigniert zu Boden. Dann schaute er in die Gesichter der Umstehenden, zu Nivard, zu Hesindiard, zu Imelda, schließlich zu Rionn, der gerade etwas davon gesprochen hatte, Gudekar gehen zu lassen. “Ihr wollt ihn wirklich ziehen lassen, Eure Gnaden, hohe Herren?”.

Merle musterte ebenfalls die Gesichter um sich herum, dann schüttelte sie unwillig den Kopf. “Ich für meinen Teil habe nicht gesagt, dass ich Gudekar gehen lassen will! Ich hab das nur akzeptiert, weil es nicht in meiner Macht steht, ihn aufzuhalten.” Ihr Blick traf den ihres Schwagers. “Wenn du ihn festhalten kannst, Kalman, damit er sich seiner Verantwortung stellt - dann tu es.”

“Ich verbürge mich für deinen Bruder”, intervenierte Rionn mit fester Stimme. “Lass ihn ziehen.”

"Nein. Ich halte es für falsch, Gudekar ziehen zu lassen." bekundete nun Nivard, der inzwischen herangeeilt war. "Auch um seiner selbst, seiner unsterblichen Seele Willen. Nach allem was heute und auch jetzt gerade geschehen ist, soll er, nein muss er hierbleiben, und sich mit uns gemeinsam einer Prüfung seiner Seele unterziehen. Dann sehen wir weiter."

Merle warf Nivard einen dankbaren Blick zu. Sie hatte keine große Hoffnung, dass Kalman, Nivard und Ardare ihren Mann gegen den Willen des Tsageweihten aufhalten würden, doch tat es gut, dass zumindest noch einmal darüber gesprochen wurde, wie falsch das hier alles war. “Es war vorhin schon beschlossene Sache gewesen, dass alle Gefährten sich der Seelenprüfung unterziehen, wenn meine Eltern morgen eintreffen”, ergänzte sie mit einem kritischen Blick zu Rionn. “Auch Gudekar hatte dem zugestimmt.”

“So ist es”, nickte Nivard. “Und ich sehe seitdem nicht weniger Gründe für eine solche Prüfung. Eher mehr! Sollte sich seine Seele als unbefleckt erweisen… nun, dann müssen wir seine Entscheidungen hinnehmen, auch wenn sie uns noch so sehr missfallen. Sollte sie dagegen bereits Schaden davongetragen haben und unheiligem Einfluss unterliegen, so wäre es Verrat an unserer Sache, besonders aber an Gudekar selbst, ihn damit - jenen Mächten ausgeliefert - in die Welt zu entlassen. Er MUSS geprüft werden. Das sind wir nicht zuletzt Gudekar schuldig.”

Die Ingrageweihte hatte sich gerade von ihrer Freundin Meta verabschiedet, als sie nun, in eine Decke gehüllt, zu der Gruppe zurückkam. Ihr Gesicht war schwarz vom Ruß und es war nur zu erahnen, dass ihre eigentliche Haarfarbe einen rotblonden Ton hatte. “Wir sind uns, denke ich, alle einig, dass der gelehrte Herr mit seiner Flucht erst recht ein Zeichen setzt. Und es wäre in der Tat für ihn selbst das Beste, sich einer baldigen Seelenprüfung zu unterziehen.” Prüfend sah sie zu Rionn, bei dem sie so langsam zweifelte, ob er noch auf der richtigen Seite stand. “Ich gehe davon aus, dass Gudekar gute Gründe für seine sofortige Abreise hat und bin mir nicht sicher, ob eine gewaltsame Festnahme der richtige Weg ist.” Noch einmal räusperte sich Imelda. “Es wird der Tag kommen, an dem über ihn gerichtet werden muss, über seine Sünden und seine Flucht. Ich hoffe, dass bis dahin nicht noch mehr Unschuldige zu Schaden kommen.”

Unschlüssig blickte Kalman noch einmal von einer zum anderen. Während Merle verständlicherweise Gudekar zurückhalten wollte, und auch der junge Krieger ihn nicht ziehen lassen wollte, wenn auch aus ganz anderen Gründen als Merle, schienen die Geweihten die Sache etwas differenzierter zu sehen, obwohl auch sie von Gudekars Flucht nicht begeistert zu sein schienen. Seine Gnaden Rionn hatte sich trotz aller Sorgen deutlich dafür ausgesprochen, Gudekar ziehen zu lassen. Und da Ihre Gnaden von Hadingen nicht das direkte Gegenteil empfahl, sollte sich wohl auch Kalman nicht gegen den Wunsch des erfahrenen und fast schon heilig wirkenden Geweihten stellen, zumal Rionn seinen Bruder gut zu kennen schien. „Na schön, ich muss gestehen, nach allem, was in den letzten Stunden geschehen ist, ist mir das Seelenheil meines Bruders äußerst egal. Vielmehr bin ich um das Wohl aller anderen besorgt. Euer Gnaden, Rionn, wenn Ihr Gudekar nicht als direkte Gefahr für uns anseht und seine Abreise sogar empfehlt, um den Frieden zurück in unser Tal zu bringen, dann soll es so sein. Lasst ihn ziehen. Sollen die Niederhöllen ihn holen, wenn er ihre Nähe sucht. Ob er seine Gemeinschaft – Eure Gemeinschaft – verraten hat, mag ich nicht beurteilen. Jedoch hat er die Familie verraten, indem er geht, obwohl Gwenn noch vermisst wird, und Merle und Lulu zurück lässt. Ich sehe ihn nicht länger als meinen Bruder an. Ich kann nicht für meinen Vater sprechen, doch sollte ich eines Tages Edler dieses Tales sein, so verweigere ich ihm, dieses Land je wieder zu betreten und den Namen ‚von Weissenquell‘ zu tragen. So wahr mir Praios und Rondra beistehen!“

Rionn hatte ihnen allen zugehört und ihre Worte ernsthaft erwogen, um zu prüfen, ob seine Einschätzung richtig war. Er blickte noch einmal in die Runde und dann sprach er vor allem an die Ingrageweihte gewandt. “Ihr habt alle Recht, die ihr fordert, dass Gudekar sich einer Seelenprüfung unterziehen sollte, wie wir es alle auch tun sollten. Um seiner Selbst Willen und Wohl, um seines Seelenheils Willen und Wohl, aber auch um unser aller Willen und Wohl. Ich selbst habe dies gefordert als wir vor Stunden uns versammelt haben im Herrenhaus, bevor Merle, Doratrava und Rahjel entschwanden. Ich habe den dringenden Verdacht, dass bereits damals in Schweinsfold etwas geschehen ist, was Gudekar fast auf unbemerkbare Weise beeinflusst und ihn anderes handeln und verhalten lässt, als er es eigentlich hätte gewollt.” Der Tsageweihte atmete noch einmal tief ein und aus. “Aber oft sind die Dinge nicht so einfach.” Dann blickte er Hadingerin in die Augen. “Imelda. Du hast mitgeholfen, die dämonischen Kräfte aus jener Kiste und aus unserer Sphäre zu vertreiben. Du hast auch wahrgenommen, welch immenser niederhöllischer Einfluss die Widersacherin der Gütigen Mutter unter uns gewirkt hat. Wenn wir jetzt Gudekar und Meta festsetzen, dann tun wir das womöglich in einem falschen Geist. Vielleicht hattest du selbst schon merkwürdige Gedanken, wie vielleicht die Frage, ob jemand von uns noch auf der richtigen Seite steht oder nicht. Diese Kräfte wirken Spaltung und Entzweiung. Sie lassen uns gegen unsere Familie, gegen unsere Freunde handeln.” Jetzt blickte Rionn wieder in die Runde, dann zu Nivard. “Wir müssen jetzt alles dafür tun, die Gefahr hier in Lützeltal so gut wie möglich zu entschärfen. Dazu gehört, dass Gudekar diesen Ort und seine Familie so schnell wie möglich verlässt. Wir haben vorhin gesehen, was er anzieht. Willst du wirklich, dass die Familie Weissenquell ausgelöscht wird? Gudekar ist eine akute Gefahr für alle in diesem Tal.” Noch einmal atmete Rionn tief ein und aus. “Wahrscheinlich gilt das in abgeschwächter Form auch für alle anderen, welche sich wider den Bäckerpruch zusammengetan haben, Nivard. Daher müssen auch wir prüfen, wann der richtige Zeitpunkt ist, das Lützeltal zu verlassen. Zuvor müssen wir aber noch Doratrava befreien.”

Während Rionn sprach, hatte Merle sanft die Hand ihres Schwagers gedrückt und blickte ihm jetzt warm und gefühlvoll in die Augen. “Ach Kalman… ich weiß, dass dir dein Bruder nicht egal ist. Dass es dir auch weh tut. Ich versuche mir genauso einzureden, Gudekar wäre für mich gestorben… doch die Wahrheit ist, dass ich nie aufgehört habe, ihn zu lieben." Die junge Frau seufzte schmerzvoll und schloss kurz die Augen. "Auch nicht, als ich gelernt habe, ihn zu hassen."

Kalman antwortete nicht auf Merles Worte, nahm sie aber in den Arm und drückte sie tröstend an sich.

Imelda seufzte laut und sah traurig zu Boden. “Ein Ehrenmann flieht nicht und stellt sich seinem Schicksal. Auf die paar Stunden, die er für eine Seelenprüfung noch hätte hier bleiben müssen, wäre es auch nicht mehr angekommen.” Sie trat an Rionn heran und legte sanft ihre Hand auf seine Wange. Dies war nicht ganz einfach, da sie wirklich nur eine Decke trug, die sie mit der anderen Hand festzuhalten versuchte. “Du und Gudekar, ihr zwei habt wohl schon viel gemeinsam durchgemacht, auf eurer Jagd nach dem Pruch?” Die Stimme der Ingrageweihten klang ehrlich mitfühlend. “Lieber Rionn, dann kannst du besser als ich beurteilen, seit wann schon etwas mit Gudekar nicht mehr stimmt und du kennst vermutlich die Antwort. Ich habe nur gesagt, dass ich ihn nicht mit Gewalt aufhalten möchte… doch hätte ich mir gewünscht, dass er sich aus freien Stücken seiner Verantwortung stellt.” Noch einmal seufzte sie leise und sie musste schwer mit den Tränen kämpfen. “Egal, ob schuldig oder nicht, Meta ist eine meiner engsten Freundinnen und eine Ritterin und auch gelehrte Herren rennen nicht vor ihrem Gewissen davon… dieses ehrlose Verhalten wird man ihnen immer ankreiden. Selbst dann, wenn sich alles zum Guten aufklären sollte. Ich hatte so sehr gehofft, dass sie zur Einsicht kommen.”

„Mein Bruder ist kein Ehrenmann!“, warf Kalman ein.

“Imelda.” Auch Rionn seufzte vernehmlich. “Ich bin keineswegs glücklich über all das. Ich hätte mir auch gewünscht, Gudekar würde nicht fliehen und sich freiwillig der Seelenprüfung stellen. Aber eine solche Prüfung dauert Stunden, wenn nicht sogar einen halben Tag. Während dieser Zeit wären wir, wäre die Familie, wären alle Menschen hier in Lützeltal wahrscheinlich dämonischen Angriffen ausgesetzt. Weitere Menschen würden sterben. Wir müssen diesen niederhöllischen Kreis durchbrechen, Imelda. Es ist in allem Übel das Beste, dass Gudekar geht. Was er zerstört hat, wird er nimmer mehr heilen. Doch die Götter geben uns die Chance für einen Neuanfang, wenn wir aufrichtig reuen.”

"Du hast wahrscheinlich Recht, Rionn, dass Gudekar und wir alle, die wir uns dem Kampf gegen Pruch verschrieben haben, das Verderben anlocken, das Lützeltal und seine Bewohner in Gefahr bringen, besonders, solange wir hier sind", räumte Nivard auf Rionns Worte hin leise ein. Er musste dabei an all das denken, was heute geschehen war. Und an das Los seines Bruders, der nur sterben musste, weil Pruch ihm weh tun, ihn verspotten wollte.

Nivard atmete tief durch, dann hob er seine Stimme: "Doch teile ich Deine Schlussfolgerung nicht. Gudekar jetzt gehen zu lassen, heißt nicht, die Gefahr zu bannen, sondern nur, sie an andere Stelle zu tragen. An Orte, an denen niemand damit rechnet. Anders als hier. Ich halte das für fahrlässig. Gudekar muss geprüft werden, ehe seine Wege ihn wohin auch immer führen. Und mit uns ist es nicht anders."

Nachdenklich blickte Merle zwischen Nivard und Rionn hin und her. "Schon vorhin hat sich Gudekar mit Händen und Füßen gegen eine solche Prüfung gesträubt. Dann hat er darauf bestanden, dass es unbedingt mein Vater machen soll - aber vielleicht war das auch nur ein Versuch, genug Zeit zu schinden, um rechtzeitig abhauen zu können? Und letztendlich hat er sogar einen Zauber gegen mich gewirkt, damit er unbehelligt fliehen kann..." Sie atmete mehrmals ein und aus, bevor sie die nächsten Gedanken aussprach: "Ich glaube, er weiß es. Er weiß, dass die Prüfung bei ihm einen Schatten, einen Einfluss, irgendetwas Böses finden würde, das auf seiner Seele lastet - oder zumindest vermutet er es ganz stark. Er spürt das selber, da bin ich mir jetzt sicher; ich kenne meinen Mann! Gudekar will vor etwas weglaufen, was er mit sich, in sich trägt." Entschlossen stellte sich Merle vor Kalman und schaute ihm intensiv ins Gesicht. "Er wird sich nicht dazu drängen lassen, sich dieser Seelenprüfung zu unterziehen, nicht ohne einen Kampf. Wenn ich selbst kämpfen könnte, würde ich es versuchen. Doch kann ich dir, kann ich euch allen", sie ließ ihren Blick über die Umstehenden schweifen und verharrte einen Moment länger bei Nivard, "nicht sagen, was ihr tun sollt. Ihr müsst das selbst für euch entscheiden."

Nivard lächelte Merle einen Moment lang traurig an, dann nickte er: "Ich finde, wir sollten ihn aufhalten. Nein. Wir müssen. Denn ich glaube, es ist genau, wie Merle sagt. Ich hoffe nur, dass es dazu nicht bereits zu spät ist." Sein Blick ging in die Richtung, in der er Gudekar wähnte. Hoffentlich war der Anconiter nicht bereits über alle Berge.

Noch schien er zu warten, war aber für den Aufbruch bereit.

“Ich halte es für gut möglich, was Merle meint”, bestätigte Rionn. “Möglicherweise ahnt oder weiß Gudekar sogar, dass er besessen ist. So ist er eine Gefahr. Doch ich schlage euch allen einen Kompromiss vor. Wenn wir unser Bestes getan haben, die Menschen in Lützeltal in Sicherheit zu wissen und Doratrava befreit haben, dann werde ich Gudekar hinterher reisen und mich um seine Seele kümmern. Denn allein wegen der Rituale, für die wir Gudekar brauchen, muss ich mit ihm in Verbindung bleiben. Er ist Teil unserer Gemeinschaft, Nivard. Ich werde mein Möglichstes tun, ihn zu einer Seelenprüfung zu bewegen und ihn davor zu bewahren, anderen Menschen etwas anzutun. Ich schwöre es bei der freiheitsliebenden Göttin!”

Bewegt von seinen Worten, aber noch immer sichtlich beunruhigt, trat Merle einen Schritt auf den freundlichen Geweihten zu. "Ich danke dir, Rionn, für alles, was du für meinen Mann getan hast und zu tun beabsichtigst. Aber ich frage mich", fahrig schob sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn, "...stellt es nicht ein Risiko dar, Gudekar unter diesen Umständen in eurer Gemeinschaft zu belassen?" Zweifelnd zog die junge Frau die Stirn kraus. "Ich meine, ich teile Eobans Vorbehalte gegen Doratrava nicht, doch in einem hat er sicherlich recht - wenn eure Mission so wichtig für die Nordmarken ist, so schwierig, wie ihr sagt, dann solltet ihr sie vielleicht nicht dadurch gefährden, dass ihr jemanden mitwirken lasst, der - wenn auch wohl unabsichtlich - eine Gefahr darstellt. Und Gudekar ist eine Gefahr! Rionn, du sagtest eben selbst, dass er keinen halben Tag länger in Lützeltal verweilen sollte, weil wir alle sonst dämonischen Angriffen ausgesetzt sind. Aber du willst ihm ganz allein gegenübertreten, willst ihn immer noch in eurer Mitte dulden?” Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie in Richtung des Waldstücks, wo ihr Mann sein Pferd hingeführt hatte und auf seine Geliebte zu warten schien. “Jetzt gäbe es vielleicht eine letzte Gelegenheit, Gudekar gemeinschaftlich zur Seelenprüfung und damit zur Umkehr zu zwingen. Mit Gewalt, ja, denn anders geht es nicht. Später wird diese Möglichkeit unwiederbringlich verstrichen sein. Wenn ihr ihn jetzt nicht aufhaltet, dann ist er euch entglitten.” Die junge Frau seufzte, müde und resigniert. “Aber ich bin nicht Teil eurer Gruppe oder eurer Mission. Es ist nicht an mir, über diese Dinge zu entscheiden. Auch wenn ich glaube, dass es ein Fehler ist. Und dass nicht nur ich heute meinen Ehemann verloren habe - sondern auch ihr euren Freund und Gefährten.”

“Niemanden kann man zur Seelenprüfung zwingen”, erläuterte der Tsageweihte. “Und ob die Gefährten ihn noch dulden wollen, werde ich nicht allein entscheiden.” Kurz blickte er zu Nivard. “Wir brauchen ihn aber. Das ist meine Einschätzung. Und ob es gefährlich ist, wenn ich ihm allein begegne? Die Lebenspendende wird mich schützen.” Rionn spürte ganz tief in seinem Innern, dass er nicht sterben werde, ehe Jast-Brin von Pruch in die Niederhöllen gefahren war.

'So, wie die Lebenspendende Eoinbaiste beschützt hat', ergänzte Merle düster in Gedanken, erwiderte aber nichts mehr, sondern blickte mit hängenden Schultern an sich hinunter und versank in ihren eigenen, schwermütigen Grübeleien.

Imelda fiel es sichtlich schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Es gab kein Richtig oder Falsch, nur zwei Wege, welche sich auftaten. Und sie würden wohl nie herausfinden, welcher der beiden der Bessere gewesen wäre. Gudekar und Meta ohne eine Seelenprüfung ziehen zu lassen, bereitete ihr ein flaues Gefühl in der Magengegend. So sehr sie auf ein gutes Ende hoffte, hatte sie doch die unheilvolle Ahnung, dass sie alle einen schweren Fehler begingen.

"Ja. Wir brauchen ihn. Und nicht nur wir: seine Familie braucht ihn auch. Wir können uns alle nicht erlauben, ihn zu verlieren, am allerwenigsten an die Gegenseite..." konstatierte Nivard.

"Und gerade deswegen bin ich fest davon überzeugt, dass Merle Recht hat. Wir müssen ihn jetzt aufhalten, hier und heute alles in unserer Macht stehende tun, ihn zu retten." Oder unschädlich zu machen, fügte er düster in Gedanken hinzu.

"Rionn, ich glaube Dir, dass die Ewigjunge Dich beschützen wird. Aber, wie ich bereits vorhin erwähnte: Wer schützt all die Unschuldigen, die Ahnungslosen, die in seine Nähe geraten werden?... Nein! Manche Dinge dulden keinen Aufschub. Diese Seelenprüfung ist so eine Sache!"

Nivard sah sich nervös um. War Gudekar schon weg? "Und deswegen dürfen wir nicht weiter diskutieren, sondern müssen handeln. Ehe Gudekar Tatsachen geschaffen hat. Ich schnapp ihn mir. Wer kommt mit?"

Merle sagte nichts mehr, hob aber den Kopf, um fragend die Gesichter der anderen zu mustern.

„Ihr habt recht, Herr von Tannenfels. Ich gehe und halte ihn auf.“ Kalman wartete keine Antwort ab, als er sah, dass Gudekar und Meta im Sattel saßen und bereit zum Abritt waren. Er zog sein Schwert und eilte in die Richtung der beiden, Nivard folgte ihm auf dem Fuße.

Rionn seufzte nur, als Nivard und Kalman in Aktivismus verfielen, und hob leicht entnervt die Augen nach oben. Gütige Tsa, betete er im Stillen, lass uns hier gewaltfrei rauskommen.

Merle zuckte überrascht zusammen, als Kalman sich dann doch so plötzlich in Bewegung setzte. Sie folgte ihm und Nivard humpelnden Schrittes, so schnell sie es mit ihrem verstauchten Knöchel vermochte; mit etwas Abstand, um alles beobachten zu können, aber den Kriegern nicht im Wege zu stehen.

***

Gudekar stand bei den beiden Pferden und wartete auf Meta, und er hoffte, dass sie ihm gleich folgen würde. Meta hatte ihn schon eine Weile staunend ob seines Verhaltens beobachtet und schätzte ab, wie sie mit ihm in Zukunft umgehen sollte. Ardare hatte nur ein paar Schritt weiter auf Mika eingeredet, die eigentlich vor Müdigkeit fast am Zusammenbrechen war, von Ardare jedoch noch einmal motiviert wurde, sich aufzurappeln. Beide wurden von Gudekar einfach missachtet.

Als sich Mika wieder hochgerappelt hatte, sah sie, wie Gudekar sein Pferd zu dem von Meta führte und dort auf sie wartete. Als Meta dann kurz darauf ebenfalls zu den Pferden ging, war ihr sofort klar, dass nun die Zeit des Abschieds gekommen war. Panisch sagte sie zu Arda: „Arda, warte! Sie wollen los! Mein Bruder wird jetzt gehen, und wir sollten ihn nicht länger aufhalten. Ich möchte mich noch kurz von ihm verabschieden. Ich muss ihnen doch zumindest eine gute Reise wünschen!” Damit lief Mika zu Gudekar hinüber.

Die Baroness verbiss sich eine zynische Bemerkung und rollte lediglich genervt mit den Augen. Die anderen Gäste und wohl auch der Bruder des Magiers hatten wohl beschlossen, ihn gehen zu lassen. Nun gut, Arda würde eine Möglichkeit finden, Gudekar irgendwann zurechtzustutzen. Hieß es nicht, Rache wäre ein Gericht, das am Besten kalt serviert werde? Nun, Arda aß eigentlich lieber warm.

Meta hatte ihre Entscheidung, die nahe Zukunft betreffend, gefällt. Gudekar war an ihr vorbei zu den Pferden gegangen, ohne sie anzusehen oder anzusprechen. Da stand er nun, ein Häuflein Elend, und wartete. Er musste gebrochen sein, versehrt. Nie hätte er in normalem Zustand so gehandelt. Meta stemmte die Fäuste in die Flanken und ging auf ihn zu. „Gudekar, jetzt reiß dich mal zusammen. Wir müssen hier weg! Komm, schwing dich auf dein Pferd, oder soll ich dir helfen? Aber mach irgendwas.“ An Alrik angelangt, löste sie einen Strick - er war länger als ein gewöhnlicher Führstrick und schon oft bei Ritten von Taverne zu Unterkunft nützlich gewesen - diesmal befestigte sie ein Ende aber an Gudekars Pferd. Er würde sich nur im Sattel halten müssen und sie konnte ihn führen.

“Meta, da bist du ja!” Gudekar lächelte seine Geliebte erfreut an. “Ja, lass uns endlich aufbrechen. Es ist zwar mitten in der Nacht, aber wir sollten einfach nur noch fort. Hast du noch genug Kraft?”, fragte er sie, während er sich überraschend wendig und frisch in den Sattel schwang. Dann hielt er Meta die Hand hin. “Kommst du?” fragte er voller Tatendrang.

„Bald ist es nicht mehr mitten in der Nacht. Wir sind spät dran und dir geht’s nicht gut. Hilf mir, den richtigen Weg zu finden, dann kannst du dösen.“ Seltsam, wie er plötzlich aus seiner Lethargie erwacht war. „Wenn wir in Sicherheit sind, dann können wir reden. So lange reicht es, wenn du mir wenigstens ein bisschen antwortest.“

„Dir antworten?“ Gudekar lachte. „Aber du hast mir doch gar keine Frage gestellt.“

„Ich werde dir noch Fragen stellen, keine Sorge.“

“GUDEKAR! META! WARTET!”, rief Mika zu ihnen, als Gudekar gerade aufgesessen hatte, während sie zu ihnen kam. “Reitet nicht los, ohne dass ich Lebwohl sagen kann!”

Meta zügelte verblüfft ihr Pferd. „Mika? Ich hatte dich schon abgeschrieben, dachte nicht, dass du nochmal kommst.“

„Aber ich hab mich doch noch nicht von euch verabschiedet!“ Mika wirkte nachdenklich. „Wollt ihr wirklich mitten in der Nacht durch den Wald reiten?“

„Mika, wir können nicht länger warten“, erklärte Gudekar selbstsicher. “Ich sorge mich, sie könnten es sich noch einmal anders überlegen.”

Arda blieb im Schatten der Bäume sitzen. Sie sah ohnehin keine Notwendigkeit, sich von dem Anconiter zu verabschieden. Sie hatte ihm ihre Worte zum Geleit bereits mitgegeben.

“Dann reitet los, wenn ihr müsst. Ich werde euch vermissen! Lebt wohl!” rief Mika ihnen zu und winkte traurig.

“Leb wohl Mika! Pass auf dich auf!” Gudekar hatte ein ungutes Gefühl, länger zu warten. Er drehte sein Pferd und wandte sich an seine Gefährtin. “Los, Meta, es eilt!”, rief er ihr zu, während er sein Pferd antrieb, loszutraben.

Meta ließ ihre Augen lange auf Mika ruhen. Noch immer konnte sie Gudekars Schwester nicht richtig einschätzen. „Die Götter seien mit dir. Vielleicht bekommen wir zwei nochmal eine Chance, wenn du dazu bereit bist. Jetzt müssen wir aber wirklich los. Und, Kleine, denk an das, was ich dir gesagt habe. Wähle deine Freunde mit Bedacht. Du kannst nicht von jedem die beste Freundin sein.“ Sie lächelte trocken. „Schau, ich bin in der Sache ein kleines Licht. Nur die, wegen der Gudekar abhaut. Und bis auf Imelda sind mir wohl alle feindlich gesinnt. Was soll’s? Ich muss Gudekar helfen und wir halten zusammen.“

„Es tut mir leid, Meta, dass wir so wenig Zeit hatten, miteinander zu reden. Ich hatte mich so darauf gefreut, dich kennenzulernen, nachdem Gudekar von dir erzählt hatte. Ich wünsche Euch gutes Gelingen und hoffe sehr, dass Ihr bald zurückkehrt, damit Gudekar seine Jagd zu einem Erfolg führen kann. Gib bitte gut auf ihn Acht. Er ist nicht darauf vorbereitet, was ihn dort in der großen, weiten Welt erwartet. Er kennt doch eigentlich nur die Akademie und sein Kloster. Behüte und beschütze ihn, wie auch Ifirn über uns wacht und der Grimmige seine hütende Hand über uns hält, wenn wir auf der Pirsch sind. Lebt wohl!“

„Mika, freilich.“ Meta lächelte liebevoll, sah dann aber, dass ein Teil der Gruppe, Kalman, natürlich Merle und Nivard - hatte sie ihm nicht eben im Kampf beigestanden? Das war wohl, wie so vieles, mal wieder unbemerkt untergegangen oder nicht bemerkt worden -  entschlossen ihre Verfolgung wieder aufnahm. „Einer der Gründe ist das, warum ich so für ihn fühle und wir zusammengehören. Er ist, und bleibt, schusselig. Und ich habe ihn entscheiden lassen. Was er fühlt, ist seine Sache, das muss er selbst wissen, er kennt mich gut genug… allerdings, mit etwas mehr Zeit hätten wir gerne Lulu und auch Merle an einen sicheren Ort gebracht. Pass auf sie auf, bis wir wieder kommen, aber sieh selbst, wir müssen los.“ Noch während sie Mika mit einem Kopfnicken zeigte, dass die Jagd weiterging, trieb sie Alrik energisch an. „Bin schon da, Gudi!“

“Kommt bald zurück!”, murmelte die Firunnovizin mehr zu sich selbst.

Zurück blieb eine winkende und traurig schauende Mika. Und Gudekars Satteltasche, die sich unbemerkt gelöst hatte und zu Boden gefallen war…

Tharga, die Hündin der Baroness, streunerte zwischen dem toten Paktierer, der Hütte und den Anwesenden hin und her. Mochte die große Hündin bei denjenigen, die noch nicht mit ihr vertraut waren, anfangs noch Aufmerksamkeit oder gar ein wenig Beklemmung ausgelöst haben, wurde sie nach einiger Zeit, als es hin und her ging zwischen den Weissenquell-Geschwistern, den Verletzten und den Priestern, zum Teil der Kulisse. Niemand schenkte ihr mehr Aufmerksamkeit, wie sie nur für sie sichtbaren Fährten nachging, dort mit der Pfote im Boden scharrte und hier einen Baum markierte.

Auf ihren nur für sie nachvollziehbaren Wegen kam die Hündin schließlich an der Satteltasche vorbei. Der Geruch des Menschen, den die Herrin so wenig mochte, ging deutlich von ihr aus. Tharga war eine schlaue Hündin, also schnappte sie die Tasche mit ihrem Maul und trug sie im Schatten der Bäume zu ihrer Herrin.

“Was hast Du denn da gefunden?”, verlangte Arda zu wissen, die noch immer im Schatten der Bäume saß - dort, wo Nerek zu Beginn des Kampfes niedergeschlagen worden war.

Die Baroness nahm Tharga die Tasche ab und begann, diese zu durchsuchen. Schnell wurde ihr offenbar, wessen Gepäck das war - nicht zuletzt aufgrund der Gefühle, an welchen ihre Hündin sie teilhaben ließ.

Die Tasche enthielt das übliche Reisegepäck eines Heilmagiers. Vor allem dreckige und saubere Wechselkleidung, darunter auch die Festtagsrobe, die der Anconiter vermutlich am folgenden Tag zur Feier der Hochzeit seiner Schwester tragen wollte, aber auch sein Nachthemd. Darüber hinaus eine kleine Sammlung von Tiegelchen und kleinen Elixierfläschchen mit unbestimmtem Inhalt und einige getrocknete Kräuter. Dazu ein kleines Notizbüchlein, das auf den ersten Blick in der Dunkelheit verschiedene Rezepte enthielt. Ganz unten offenbarte sich noch eine Geldkatze mit einer Handvoll Münzen. Und dann entdeckte Arda zwischen seinen Kleidern noch ein in ein Leinentuch gewickeltes Bündel. Tharga roch sofort, dass dieses auch einen anderen Geruch verströmte. Es roch nach einer der Frauen, die an diesem Abend durch den Wald streiften.

Vorsichtig entwickelte die Baroness das kleine Bündel. Auch Tharga lehnte sich neugierig vor, um einen Blick - oder ein Aroma - zu erhaschen.

Zum Vorschein kamen ein Bündel Briefe, ein Amulett an einer Kette sowie eine Haarspange. Tharga nahm den Duft auf, der aus dem Bündel drang und blickte zu der Menschenfrau, die schon den ganzen Abend immer wieder heulte und schrie, insbesondere, wenn sie mit dem Mann in der Kutte gesprochen hatte, und die jetzt mit den anderen Menschen auf das Mädchen zulief, das am Vormittag mit Arda und ihr durch den Wald spazieren gegangen war.

***

Kalman fing an zu spurten, als er sah, dass Meta und Gudekar nun tatsächlich losreiten wollten, doch kamen er, Nivard, Merle und Imelda zu spät an.

Rionn beobachtete mit größer werdendem Abstand die Spurtenden. Er schüttelte verzweifelt den Kopf. Alle seine Interventionen hatten nichts bewirkt. Lolgramoth hatte sie alle im Griff.

„Bleib stehen, Elender!“, brüllte Kalman seinem Bruder hinterher, während er spurtete.

Mika hatte sich umgedreht, als sie die Schritte und Rufe ihres heranstürmenden Bruders hörte. Breitbeinig und mit ausgestreckten Armen stellte sie sich in die Mitte des Weges und versperrte Kalman den direkten Durchgang.

Obwohl es ein Leichtes gewesen wäre, Mika zu umgehen oder zur Seite zu schubsen, hielt Kalman inne.

"Gudekar! Komm doch zur Vernunft! Bleib hier, und reiße nicht alle Brücken nieder!" rief Nivard dem Anconiter hinterher. "Dein Platz ist hier!" Soweit es seine Blessuren zuließen, beschleunigte der Krieger seinen Laufschritt und versuchte, Mika im Spurt links zu umgehen. Sie würde nicht ihn und ihren Bruder gleichzeitig aufhalten können.

"Mika, was tust du denn?" rief Merle ihre junge Schwägerin an. "Wenn wir Gudekar jetzt gehen lassen, dann ist er für immer verloren!"

Mika streckte ihr Bein aus und stellte es Nivard in den Weg, als er versuchte, an ihr vorbeizukommen. “Lasst ihn gehen, bitte! Sie haben nicht verdient, von allen immer nur gejagt zu werden.”

Nivard versuchte, dem Bein Mikas auszuweichen, verfing sich dabei aber im Gestrüpp. “Dann sollen… sie sich… stellen!” presste er ärgerlich heraus, während er unter knackenden, raschelnden und brechenden Geräuschen versuchte, sich aus dem Geäst zu befreien. Nach wenigen Augenblicken, die in dieser Situation aber nichts anderes als kleine Ewigkeiten waren, hatte er seine Beweglichkeit wieder zurückgewonnen. “Wir wollen ihnen doch nichts Böses, verdammt noch mal! Aber jetzt ist es eh zu spät…” Konsterniert sah der Krieger Gudekar und Meta in der Dunkelheit verschwinden. Schwer atmend ließ Nivard sich auf den Boden sinken und blickte den Flüchtenden hinterher.

Für einen winzigen Augenblick machte sich ein winziges schadenfrohes Lächeln auf Mikas Gesicht breit, als sie diesen Moment des kleinen Erfolges genoss.

"Sie rennen in den Abgrund!" Merle war näher gekommen und hatte sich ein paar Schritt vor Mika aufgebaut. "Gudekar wirft sich dem Bösen in die Arme und wird daran zugrunde gehen! Ist es das, was er deiner Meinung nach verdient hat?!"

“Gudekar ist kein böser Mann!” protestierte Mika nun wieder mit finsterem Blick und zunehmend verzweifelter und wütender. “Und Meta keine böse Frau. Nur weil du eifersüchtig bist, weil die beiden sich ehrlich lieben, musst du sie nicht gleich auf den Scheiterhaufen wünschen! Du sorgst doch selbst dafür, dass er zugrunde geht bei dem ganzen Hass, der ihnen entgegen weht!”

“Du weißt gar nichts, Mika!” entgegnete Merle bitter. “Du weißt nicht, was Gudekar alles getan und gesagt hat! Und du willst nicht wahrhaben, dass mit ihm etwas nicht stimmt, dass da etwas ist, was seinen Geist mehr und mehr vergiftet… Wenn du bereit wärst, deine Augen aufzumachen, dann würdest du es auch sehen, würdest erkennen, dass es hier nicht darum geht, ob er ‘böse’ ist oder ich eifersüchtig - sondern darum, seine Seele zu retten! Aber ich bin es leid, mit dir darüber zu diskutieren. Mach’ und denk doch, was du willst!” Merle wich ein paar Schritt zurück, lehnte sich an einen Baumstamm und schloss die Augen, völlig erledigt und mehr von Mikas wütenden Worten getroffen, als sie zugeben wollte.

Tränen liefen über Mikas Gesicht und sie machte einen Schritt auf Kalman zu, um ihn zu umarmen, zu umklammern. Sie presste ihr Gesicht an seine Brust. “Kalman, ihr dürft ihm nichts tun! Bitte! Was ist nur ist mit allen? Ihr seid ja alle außer Rand und Band.” Sie schaute zu Merle, die ihr Angst machte. “Alle habt ihr euch so verändert! Alle!”

“Psst, Kleines! Schon gut! Es sind schlimme Dinge geschehen, die uns alle betreffen.” Kalman legte seine Hände auf Mikas Kopf und strich beruhigend über ihr Haar. “Es hat uns alle verändert. Die Frage, wer gut und wer böse ist, ist nicht immer eindeutig zu beantworten. Bei keinem von uns.” Er blickte Gudekar hinterher, dessen Pferd zwar noch zu hören, in der Dunkelheit der Nacht jedoch nicht mehr zu sehen war. Dann wandte er sich an seine Mitstreiter. “Ich fürchte, ohne Pferde können wir ihn nicht mehr einholen. Hoffen wir, dass er wirklich nicht die Seiten gewechselt hat und es auch nicht tun wird. Jetzt können wir nichts mehr tun, als auf seine Worte vertrauen.”

Rionn war nun doch ein wenig erleichtert, dass sie es nicht geschafft hatten, ihn aufzuhalten. Vielleicht konnten sie dem Pruch ja doch noch einen Strich durch seine üble Rechnung machen.

Nivard schnaubte. "Ja, das war's. Mehr als Hoffen können wir jetzt nicht mehr." Seiner Stimme war die schwere Enttäuschung anzuhören. Er hatte bis zuletzt darauf gehofft, dass Gudekar zur Vernunft käme und sich für die Gemeinschaft und seine Familie entscheiden würde.

"Ehe wir nicht entlastende Kunde von Deiner Seite vernommen haben, Rionn, oder andere Beweise zu seinen Gunsten vorliegen, müssen wir ihn fürderhin als Bedrohung ansehen." konstatierte er weiter, fast tonlos. Dann suchte er den Blickkontakt zu Merle. “Es tut mir so leid, Merle. So leid für Dich und Lulu.”

Merle erwiderte seinen Blick; sie wirkte mutlos, geknickt und besonders von Mikas Reaktion völlig überfordert. Innerlich brach es ihr das Herz, wie Nivard an ihrer Situation so großen Anteil nahm, wo er doch um seinen armen Bruder trauerte und vermutlich völlig neben sich stand. Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf, ohne selbst genau zu wissen, was sie damit meinte. Vielleicht, dass es ihm nicht leid tun musste, dass er sich keine Sorgen um sie machen sollte. Oder einfach, dass sie gerade nicht zu sprechen vermochte und kein Wort herausbekam.

Kalman schüttelte nur noch den Kopf. “Ich werde ihn niemals verstehen. Kommt, wir sollten uns sammeln und zurückkehren. Wir können hier eh nichts mehr machen.” Doch dann packte er Mika doch noch einmal am Kragen und schaute ihr ernst in die Augen. “Und über das, was du gerade getan hast, bei allem Verständnis für deine Liebe zu deinem Bruder, werden wir noch einmal in Ruhe reden müssen. Und du wirst mir sehr gut darlegen, warum ich nicht mit seiner Gnaden über dein Handeln reden soll, Schwesterchen Gernegroß!”

Rionn war erleichtert, dass sie die Verfolgung aufgegeben hatten. Doch wollte er sich das nicht anmerken lassen, um die anderen nicht zu provozieren. Ihm tat Merle leid. Gudekar hatte Schlimmes angerichtet. Gudekar? Oder war es doch das Werk des Pruch? Lolgramoth? Nun auch Nivard war schlimm geschlagen. Und was sollte Rionn den Eltern von Eoinbaiste erzählen. Ohje, dachte er. Das würde noch ein schwerer Gang.

***

Rückweg

Merle hatte begonnen, leise, fast lautlos zu weinen. Um ihren Mann, wie er früher gewesen war, gütig und liebevoll, um ihre Ehe, die glücklichen, friedlichen Zeiten, die niemals zurückkommen würden. Verkrampft schlang sie die Arme um sich selbst, krallte sich die Fingernägel in die Oberarme, ein kleines, gebrochenes Häufchen Elend. Dann, plötzlich peinlich berührt vom eigenen, erbarmungswürdigen Zustand, presste sie die Lippen zusammen, straffte ihren Oberkörper und schien tief in sich drin etwas zu verschließen. Mit erzwungener Entschlossenheit im Blick nickte sie Rionn zu, dann Kalman und den anderen. “Es ist, wie es ist - und hier nichts mehr zu tun. Ich möchte Doratrava helfen. Und ich muss endlich zurück zu meiner Tochter.” Tapfer wischte sie sich die Tränen ab und schluckte den erneut aufwallenden Impuls zum Weinen herunter. Ohne weitere Worte humpelte die junge Frau zu der Stelle, wo sie vorhin der Feuerball getroffen hatte und klaubte Gudekars Mantel vom Waldboden, den sie beim Löschen der Flammen panisch abgestreift hatte. Das Kleidungsstück hatte nun zusätzlich zu den Schmutzflecken ein paar Brandlöcher, doch legte sie sich das Ding mit einem fast trotzigen Ausdruck wieder um die Schultern. Dann ging sie zur Gruppe zurück und schaute sie anderen auffordernd an. “Gehen wir nach Hause.”

Imelda nickte und wischte sich mit einem Zipfel ihrer Decke die feuchten Augen. Als sie sich anschickten, loszulaufen, gesellte sie sich zu Hesindiard. “Tut mir leid, da ist jetzt eine kleine Kerbe in deiner Klinge.” Sie biss sich auf die Unterlippe und wog den Kopf leicht schief. “Die kann man vermutlich nicht vollständig rausschleifen… du kannst es jedoch wahrscheinlich trotzdem weiter benutzen. Es wird kein tieferer Riss entstehen. Oder… naja, ich könnte dir auch ein neues Schwert schmieden. Eines, was mit seinen Eigenschaften auf deine persönlichen Vorlieben im Kampf zugeschnitten ist. Würde vermutlich so drei bis fünf Tage dauern.”

"Besser eine Kerbe im Schwert, als in Dir", lächelte er. In seinen Augen sah man dennoch etwas Trauer.

“Da stimme ich mit dir überein und bin auch nicht traurig, dass mein Kopf von größeren Kerben verschont wurde. Das war ja ganz gerade schön aufregend; ich habe den Gegner nämlich erst viel zu spät gesehen und habe dann so einen Parierschlag gemacht, wie es mir Hardomar, also mein Bruder, gezeigt hat.” Aufmunternd versuchte sie den Krieger anzulächeln. “Aber schön, dass auch du keine Kerbe abbekommen hast!”

***

Für einige Zeit hielt sich Imelda am Ende der Gruppe und versuchte, das Geschehene hinter sich zu lassen. Irgendwann beschloss sie, mit Mika aufzuschließen, beschleunigte ihre Schritte, so dass sie direkt Schulter an Schulter neben ihr ging. “Schon echt übel, wie? Ich kann das alles noch gar nicht fassen.”

“Du kannst das nicht fassen?” fragte Mika leicht verärgert zurück. “ICH kann es nicht fassen, dass ihr alle versucht habt, Gudekar zu jagen und zu verurteilen. Das hätte schlimm enden können!”

“Du verstehst das falsch, Mika. 'Jagen' ist so ein unpassendes Wort… also zumindest in diesem Sinne.” Unsicher versuchte sie im Gehen Blickkontakt herzustellen, wobei sie sich bemühte, ihrer Freundin ein Gefühl von Milde und Mitgefühl zu vermitteln. “Wir alle", sie schielte kurz zu Ardare hinüber, "na ja, die meisten von uns, wir haben Gudekar ja irgendwie gern und sind hierher gekommen, um ihn daran zu hindern, einen großen Fehler zu begehen, indem er überstürzt abreist.” Sie schluckte kurz und fuhr dann vorsichtig fort: “Du weißt noch nichts von dem Pergament des Pruchs in Gudekars Mantel, oder?”

Mika hielt an und blickte zu Imelda. Sie war noch recht wütend über den Verlauf des Abends, auch wenn sie sich selbst nicht klar war, auf wen sie eigentlich am meisten wütend war. Der ganze Tag war nicht so verlaufen, wie sie erhofft hatte, vom Beginn der Jagd an, bei der sie lediglich eine Laterne halten sollte anstatt selbst aktiv zu werden, bis jetzt, wo sie doch lediglich einem verliebten Paar, ihrem geliebten Bruder und Meta, helfen wollte, in Ruhe ihr Glück zu finden. Mika hatte so sehr gehofft, auf dem Weg die Ritterin, der Gudekar sein Herz geschenkt hatte, noch ein wenig besser kennenzulernen, doch die Gelegenheit dazu war nun endgültig verstrichen. „Imelda“, fing sie deshalb in einem scharfen Ton an zu reden, „ich weiß auch nicht, wer von euch welchen Grund hat, Gudekar aufzuhalten. Ja, ich weiß vielleicht auch nichts von irgendwelchen Pergamenten, und ich weiß auch nicht, ob ich es wissen will. Ich weiß auch nichts von diesem Bruch oder sonst irgendwas. Ich bin ja diese dumme kleine Novizin, die zu nichts etwas taugt, die es noch nicht einmal schafft, ihrem Bruder zu helfen, wenn er am dringendsten Hilfe braucht. Lasst mich doch einfach alle in Ruhe! Du, Arda, Merle, … Gudekar … Firumar! Macht ihr doch alle euer eigenes Ding und lasst mich in Ruhe! Ich will das alles, alles nicht wissen, und ich habe keine Lust mehr, euch zu helfen. Schaff‘ ich ja eh nicht!“ Dann drehte sie sich wieder um und stapfte weiter Richtung Dorf.

Imelda schnaubte und verdrehte genervt die Augen. War es nicht schon genug, dass der Pruch so viel Leid und Unheil anrichtete? Die ganze Zeit musste sie sich schon das Gejammer von ihrer Freundin Meta anhören und nun auch noch von Mika. “Es ist immer einfach, sich im Selbstmitleid zu wälzen oder dem Schicksal die Schuld zu geben. Ja, dieser Tag war vermutlich der schwerste Tag deines Lebens, so unsagbar schlimme Dinge sind passiert.” Die Geweihte trat näher an Mika heran und sprach ihr laut und deutlich ins Gesicht: “Mika von Weissenquell, morgen wird sich zeigen, aus welchem Holz du geschnitzt bist. Du wirst sehen, dass es einen Weg geben wird. Der Herr Firun mag dich prüfen, doch du wirst bestehen. Wer weiß, vielleicht erlernst du das Bogenschießen mit links und was deinen Bruder angeht…” Die Geweihte atmete einmal tief aus und versuchte etwas mehr Ruhe in ihre Stimme zu bringen. “Wir wollen ihn retten, Mika. Wir sorgen uns um ihn… und um Meta…, doch können wir nunmal nicht zaubern.”

“Retten?” fragte Mika. Langsam wurde sie doch neugierig. “Wovor wollt ihr ihn retten? Es ging ihm doch gut, bis ihr angefangen habt, ihn zu verfolgen.”

“Ich glaube nicht, dass es ihm gut geht…”, widersprach Imelda mit leiser, nachdenklicher Stimme. “Mir scheint dein Bruder auf einem Pfad der Dunkelheit zu sein, möglicherweise schon seit längerer Zeit. Er stand mit dem Paktierer im Briefwechsel, hat Magie gegen seine Frau gewirkt, möchte seine Seele auf gar keinen Fall untersuchen lassen... Mir scheint er Angst zu haben vor dem, was eine solche Prüfung ergeben könnte. Mika, du willst es wahrscheinlich nicht hören, aber ich mache mir wirklich Sorgen um Meta, wenn sie in seiner Nähe bleibt. Ich fürchte, dass Gudekar sie in Gefahr bringt - ohne, dass er es selber will oder merkt. Aber”, sie bemerkte Mikas verzweifelte, widerwillige Miene und schaute ihre Freundin mit liebevollem Blick an, während sie eine beruhigende Hand auf ihre Schulter legte, “...es ist so viel passiert und das alles ist nicht einfach zu erklären. Also, vielleicht sollten wir darüber sprechen, wenn wir beide nicht vor Erschöpfung und Müdigkeit neben uns stehen. Lass’ uns lieber morgen treffen und ganz in Ruhe über alles reden, meinst du nicht auch?”

“Ja, was Gudekar mit Merle gemacht hat, war nicht richtig.” Mika wirkte einfach nur noch genervt, war es doch Ruhe und Schlaf, was sie sich jetzt am sehnlichsten wünschte. “Aber ihm deshalb dunkle Machenschaften vorzuwerfen, ist einfach nur gemein! Aber du hast recht, wir sollten darüber schlafen. Ich bin sicher, morgen im Schein von Praois’ Antlitz werden dir deine Worte selbst albern und töricht vorkommen.”

Imelda atmete tief ein und presste die Lippen zusammen, um sich zu beherrschen und Mika keine gepfefferte Erwiderung an den Kopf zu schleudern. Es fiel ihr nicht leicht, sich 'gemein', 'albern' und 'töricht' nennen zu lassen, doch war ihr klar, in welch' verstörter und aufgebrachter Verfassung die junge Novizin gerade war. "Mika, das ist nicht das einzig Bedenkliche, was Gudekar getan hat", erklärte sie bemüht langsam und sanft. "Es gibt noch weitere Gründe, warum wir es für notwendig erachteten, ihn aufzuhalten und zu einer Seelenprüfung zu bewegen. Doch nun ist es eh zu spät…", die junge Geweihte seufzte müde, "also lass' uns zusehen, dass wir alle etwas Ruhe und Schlaf kriegen, ja?"

“Ja”, seufzte Mika. “Etwas Schlaf wäre jetzt ein Segen. Und morgen wirst du es sicher alles ganz anders sehen.”

Einfühlsam strich Imelda sanft über die Schulter ihrer Freundin und nickte ihr nur schweigend zu.

***

Gute Nacht!

Während Ciala neben ihr leise mit Kalman sprach, rollte Merle sich auf ihrem Nachtlager in der Zehntscheuer zusammen. Kraftlos und bedrückt war sie aus dem Wald zurückgekehrt; hatte es nicht mehr über sich gebracht, die Blessuren an ihrem Körper zu versorgen oder auch nur das schmutzige Kleid auszuziehen, sondern sich am Lager der Weissenquells bloß auf den Boden niedergelassen und eine Decke über sich gezogen. Sie versuchte, die Augen geschlossen zu halten, sich zu entspannen, sich auf Lulus gleichmäßige Atemzüge neben sich zu konzentrieren und die kreisenden Gedanken in ihrem Kopf endlich zum Anhalten zu zwingen. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie Gudekar sie früher im Arm gehalten hatte, wenn sie nach einem langen Arbeitstag im Kloster zu Bett gegangen waren; wie schön es gewesen war, wenn sich sein warmer Körper im Halbschlaf an ihren drückte und sie ihr Gesicht an seine Brust oder in seine Halsbeuge schmiegen konnte. Vor genau einem Jahr, als er für zwei Nächte zurückgekehrt war, hatte es sich fast angefühlt wie immer. Fast. Er war so wundervoll gewesen, liebevoll, nur vielleicht ein wenig selbstsicherer und fordernder als zuvor, hatte ihren Körper und ihr Herz wieder zum Dahinschmelzen gebracht - aber auch da war seine Zärtlichkeit bloß eine Lüge gewesen, wie sie jetzt wusste, auch da hatte er insgeheim nur an Meta gedacht. Sie ballte die Hände zu Fäusten; der Gedanke an seinen Verrat versetzte ihr immer noch schmerzhafte Stiche in die Brust. Um sich vom Grübeln über Gudekar abzulenken, dachte sie stattdessen an Doratrava, an den hinreißenden, schlanken, doch muskulösen Körper der jungen Halbelfe, die weiße, zarte Haut, das faszinierend-fremde und doch so süße, liebenswerte Antlitz; wie aufregend und sinnlich es war, sie zu küssen und zu berühren. Sie wusste, dass Doratrava ihr Liebe und Zuneigung schenken wollte, ihr wahrscheinlich unendlich viel mehr geben konnte als Gudekar es vermochte, und doch spürte Merle, dass ihr Herz nicht bereit war, sich vollends darauf einzulassen. Sie würde lange brauchen, bis sie über Gudekar hinweg war, wenn sie das überhaupt irgendwann wäre. Durfte sie Doratrava so benutzen, als Ablenkung von ihrem Kummer, als indirekte ‘Vergeltung’ für Gudekars Untreue? Nein, das war falsch, das hatte Doratrava nicht verdient - doch wenn sie sie jetzt abwies, würde es ihr genauso das Herz brechen. So oder so würde sie ihrer Freundin weh tun, bis Doratrava davonflog wie der Schmetterling, mit dem Liana die Tänzerin verglichen hatte. Dann wäre sie, Merle, wieder allein, und vielleicht war das auch richtig so, vielleicht musste es so sein. Merle zog den kleinen Körper ihrer Tochter enger an sich heran und streichelte zart deren feines blondes Haar, vergrub kurz ihr Gesicht darin, um dem Mädchen einen Kuss auf die Stirn zu geben. Ja, sie würde für ihre Kleine da sein, würde nur für Lulu leben, sie vor allem Schmerz und Übel beschützen und bewahren. Das war das Wichtigste, das Allerwichtigste, dass es Lulu gut ging, ihrer wundervollen kleinen Lulu, dachte Merle benommen, während sie endlich in einen unruhigen Halbschlaf sackte.