LH5-Für Efferd

5. Akt: Für Efferd – Der Sturm

(13. Travia 1045 BF, mittags)

  • Als die Jagd langsam zu Ende kommt, ein Sturm zieht auf und schlechte Nachrichten treffen ein.

Ein Kapitel der Lützeltaler Hochzeit


Auf Efferds Wegen zu Travias Segen (ganztags)

In Lützeltal gibt es eine alte Tradition. Wenn zwei sich Liebende aus dem Tal den Traviabund begehen wollen, dann werden aus Holz, Stoffen und anderen Materialien von den Kindern des Dorfes und vielen Erwachsenen kleine Flöße, manchmal auch Schiffchen gebastelt. Auf ein kleines Stück Pergament werden dann Glück- und Segenswünsche an das Brautpaar geschrieben oder - von denen, die nicht schreiben können – gemalt. Die Pergamente werden anschließend auf dem Bötchen befestigt, beispielsweise am Mast. Manche besonders geschickten Handarbeiter fertigen sogar die Segel aus den Pergamenten.

Sobald am Vorabend der Hochzeit die Sonne untergeht, werden dann Kerzen auf die Bötchen gestellt und angezündet. Die leuchtenden Boote werden anschließend in der Dunkelheit auf dem Lützelbach ausgesetzt. Oftmals versammelt sich dann das halbe Dorf auf oder an der Brücke über den Bach. Jeder hofft, dass sein eigenes Boot besonders weit getragen wird, aber die Kinder machen sich einen Spaß daraus, die Boote und Flöße mit Steinen und Stöckchen zu bewerfen, um diese zum Kentern zu bringen und die Wünsche an das Brautpaar somit dem Flussvater zukommen zu lassen.

Auch für Gwenn und Rhodan sollte es eine solche Segens-Prozession am Abend geben. Deshalb hatte Perainhulda Waldgrun, die Frau des Dorfschulzen, auf dem Dorfplatz einen großen Tisch unter der aufgespannten Zeltplane in Beschlag genommen und allerlei Bastelmaterialien darauf ausgebreitet. Auch Farben und Pinsel standen  bereit, um die Boote hübsch zu bemalen. Jede Dorfbewohnerin, jeder Dorfbewohner und alle Gäste durften hier den ganzen Tag über gegen eine freiwillige Spende eigene Boote und Flöße bauen und mit Segenswünschen versehen. Die so gesammelten Spenden sollten dann am Tag der Trauung an die Traviageweihten Liudbirg und Reginbald Dreifeld für das albenhuser Waisenhaus übergeben werden.

Wer des Bastelns überhaupt nicht mächtig oder sich zu fein dafür war, konnte gegen eine angemessene (höhere) Spende auch ein fertiges Boot oder Floß erwerben.

Die fertigen Boote wurden tagsüber auf einem Tisch aufgestellt und konnten bewundert werden. Am Abend sollten die Boote dann ebenfalls dem Bach übergeben werden.

Als gegen Mittag zur Praiosstunde der Wind stärker zu wehen begann und auch der Regen, der zwischenzeitlich nachgelassen hatte, wieder einsetzte, eilte sich Perainhulda mit Hilfe ihres Mannes, die Bastelaktion ins Innere ihres Hauses zu verlegen, so dass die Gäste dann in der guten Stube im Trockenen basteln konnten.


Merle von Weissenquell:

  • bastelt nicht selbst, sondern erwirbt ein vorgefertigtes Floß
  • spendet 1 Silbertaler
  • Merle bittet Perainhulda, die Botschaft für sie in schöner Schrift auf ein kleines Pergament zu schreiben:
  • “Liebe Gwenn, lieber Rhodan! Ich wünsche euch, dass ihr in schweren Zeiten nicht aufgebt, sondern immer zusammen haltet, euch unterstützt und füreinander da seid. Seid liebevoll und geduldig miteinander, verzeiht euch Fehler! Lasst eure Herzen offen, lasst euch nicht los. Mögen Travia und Rahja euch auf eurem gemeinsamen Weg begleiten und behüten. Eure Merle.”  

Ihre Gnaden Rajalind

  • Bastelt selbst eines und hat wider eigener Erwartungen sogar recht viel Freude dran
  • “Die Liebe zu leben bedeutet Geben und Nehmen, Schenken und Beschenktwerden, Sorglosigkeit und Sorge, Genuss und Reue, Frohsinn und Besinnung, Tanzen und Innehalten, Weinen und Lachen, Worte und Gedanken, Trubel und Stille, Halten und Loslassen… Doch niemals allein. Immer zu zwein. Dann lebt die Liebe in euch.”

Tsalinde und Lys

  • Es wird gemeinsam ein Boot gebastelt. Holz hat die Familie mitgebracht. In der Kutsche wird stets Holz und Feuerstein für Notfälle mitgeführt. Ein Stück Stoff erhalten sie von der Bauernfamilie, bei der sie untergekommen sind.
  • Lys lässt sich einige Tricks zeigen und schnitzt einen einfachen Bootsrumpf mit einem Mast. Das Boot ist ausbalanciert, aber ansonsten keine Schönheit. (Probe knapp bestanden)
  • Siegmund bekam ein paar Farben und hat den Rumpf kunterbunt bemalt.
  • Isavena hat die Kanten des Stoffes mit sauberen Stichen versäubert, unten und oben mit einem Tunnel, durch den sie kleine Stöckchen fädelt. (Probe locker bestanden)
  • Tsalinde bemalt das “Segel” wie folgt: (Probe mit 2 bestanden)

Nebeneinander:

  • Das Symbol der Göttin Rahja mit dem Text: Möge eure Liebe auf ewig halten
  • Das Symbol der Göttin Tsa mit dem Text: Möget ihr stets einen Weg des Friedens finden und möge euer Bund mit Fruchtbarkeit gesegnet sein.
  • Das Symbol der Travia mit dem Text: Möget ihr stets eine Familie haben, die hinter euch steht und euch begleitet.

Darunter:

  • Mögen die zwölf Götter und der Flussvater euch stets wohl gesonnen sein.

Gudekar von Weissenquell:

  • Der Magier, im Basteln völlig ungeschickt, erwarb eines der von Perainhulda vorgefertigten Flöße und beschriftete lediglich ein Stück Pergament, dass er um den Segelmast rollte.
  • Spendet zwei Silbertaler.
  • “Liebe Gwenn, ich wünsche dir und deinem Gatten den Segen der Zwölfe. Möge Rahja euch Liebe und Feuer schenken. Möge Tsa euch gesunde Kinder schenken. Möge Hesinde dir Weisheit schenken, dass dein Handeln in Zukunft zum Wohle deiner Liebsten ausfällt. Möge Peraine euch den Hunger nehmen und Gesundheit schenken. Möge Phex deinem Gatten gute Geschäfte bescheren. Möge Travia ihre schützende Hand über Eure Familie halten. Möge Praios gnädig sein und Euch auch Fehler verzeihen. Mit den besten Wünschen für Eure Zukunft, Dein Bruder, der dir stets vertraute, Gudekar.”  
  • Das Pergament wickelt er um den Mast und verschnürt es mit einem dünnen Lederbändchen.

Meta Croy

  • Schnitzen gefiel ihr und wirkte beruhigend meditativ. Das kleine Boot wurde recht hübsch. Es sollte aber trotzdem die Reise mit den anderen antreten.
  • Gudekar dachte, dass es viel zu schade wäre, dieses wunderschöne Boot den Bach entlang fahren zu lassen, um es seiner Schwester zu opfern.
  • spendet 1 Dukaten
  • Gwenn und Rhodan, mögt Ihr in Eurer Großherzigkeit im Leben das erhalten, was Ihr mir gegeben habt. Meta
  • Das Pergament wird auch um den Mast gerollt und befestigt.

Imelda von Hadingen

  • Der Ingrageweihten lag die Arbeit mit Holz, hatte sie beruflich in der Schmiede bei der Verarbeitung von Griffen doch viel mit der Holzverarbeitung zu tun, sei es bei Waffen, einfachen Werkzeugen oder Gerätschaften für die Landwirtschaft. ‘Ach, das wird großartig und mein Schiff wird das Schnellste sein’, ging es ihr schmunzelnd durch den Kopf, als sie überlegte, wie sie das Boot noch flinker gestalten könnte, ohne dass es seitlich kentern konnte. Schlank, schnittig und tief sollte der Rumpf sein, entschloss sich Imelda. Fröhlich summte sie eine Melodie, die ihr durch den Kopf ging.
  • Für den guten Zweck im Dienste der Kirche und für die armen Waisenkinder spendete die Geweihte 15 Silbertaler. Die Familie der Hadinger galt als wohlhabend und großherzig.
  • Auf das Pergament schrieb sie langsam mit der besten Schrift, die ihr möglich war:
  • “Möge Rahjas Leidenschaft euch stets begleiten und Travias schützende Hand in guten und schlechten Zeiten über euch wachen. Möge Ingras Feuer immer in euch glühen und eure Herzen wärmen. Möge die Liebe euch daran erinnern, dass das Leben ein Segen ist. Seid immer liebevoll und zärtlich zueinander, dann wird das Glück euer ewiger Begleiter sein.

Herzlichst, Imelda von Hadingen, Gesellin des Ingra.”

“Aber das wäre doch sehr schade!”, sagte Liana mit Bedauern in ihrer Stimme, als sie das schöne Schiff betrachtete, das sie gekauft hatte.

“Aber so ist es eben Brauch, Euer Hochgeboren", antwortete Eduina, ihre treue Zofe, mit einem Schulterzucken.

“Die Schiffe mit Steinen abwerfen, um sie im Wasser zu versenken … das ist so, als würde man Braut und Bräutigam all die guten Wünsche nicht gönnen.”

Eduina ließ nicht locker: “Man kann es auch anders sehen: Die Wünsche, die durchkommen, sind halt diejenigen, die am stärksten waren. Oder vielleicht gefällt Euch diese Interpretation besser: Diejenigen Wünsche, die auf den gekenterten Schiffchen waren, landen beim Flussvater - und wenn sie ihm gefallen, hat er vielleicht ein besonderes Auge darauf, dass sie in Erfüllung gehen.” Die Zofe lächelte spitz.

Ihre Herrin schien nicht überzeugt.

“Mir gefällt das trotzdem nicht.”

Da kam ihr ein Gedanke.

“Geh zum Krämer und besorge so viel Naschwerk, wie du erhalten kannst: Äpfel, Nüsse, Küchlein - was auch immer. Und wenn die Kinder sich sammeln, um die Schiffe zu bewerfen, dann halt’ ihnen die Süßigkeiten vor die Nase, auf dass sie von den Schiffen ablassen.”

Das Lächeln der Herrin von Rodaschquell war breit und nicht frei von einer gewissen - fast schelmischen - Selbstzufriedenheit.

Eduina kicherte. “Das sieht Euch mal wieder ähnlich!”

~*~

Der Sturm

Der Dauerregen, der bereits seit dem frühen Morgen auf das Lützeltal hinunterfiel, hatte den Boden im ganzen Dorf dort, wo es keine gepflasterten Wege gab, in einen rutschigen Schlamm verwandelt. Der Wind frischte immer weiter auf und hatte sich zum Mittag hin in einen kräftigen Sturm verwandelt, der nun über das Dorf und die Wiesen rundherum hinweg fegte.

Die Planen der Marktstände und die Fähnchen, mit denen der Dorfplatz geschmückt worden war, wehten immer stärker hin und her. Ab und an löste sich eines der Bänder, mit denen die orangenen Wimpel befestigt waren und diese flogen davon. Zum Ärger der Markthändler, die sich auf dem Traviafest gute Geschäfte erhofften, mussten die Stände zur Sicherheit abgebaut werden, nachdem ein herabstürzender Ast auf eine Zeltplane aufschlug und nur dank Travias schützender Hand den Händler nicht erschlagen hatte. Eilig versuchten die Marktschreier, ihr Hab und Gut auf ihre Karren zu laden und diese in der Scheune des einen oder anderen Bauern in Sicherheit zu bringen. Dieses Unterfangen gestaltete sich schwieriger als erhofft, da auch die Zugpferde vor dem Sturm zu scheuen begannen.

Ein ähnliches Bild bot sich auch auf der Streuobstwiese am Rande des Dorfes, auf der nicht nur das fahrende Volk untergekommen war, sondern auch einige Gäste der Hochzeitsgesellschaft ihr Lager aufgeschlagen hatten.

Es wurden alle helfenden Hände des Dorfes gebraucht, um den Gästen beim Umsiedeln zu helfen und die Aufbauten für die Feierlichkeiten auf dem Dorfplatz zu sichern. So entschied der Dorfschulze Praiogrimm Waldgrun kurz vor Beginn der Efferdstunde, die Sturmglocke zu läuten.

Der Sturm zieht auf

Einen Brief zu öffnen

(13:45)

Merle Dreifelder von Weissenquell hatte sich alleine in ihre Kammer im Gesindehaus des Gutshofs zurückgezogen, nachdem Kalman seine Schwester Gwenn zu sich gerufen hatte. Den Brief für Gudekar, den ihr der Knecht Bernhelm am Morgen gegeben hatte, trug sie wieder bei sich, nachdem Gwenn diesen beinahe verloren hatte. Außerdem hatte ihr Gwenn noch die scharfe Klinge zum Öffnen und das Siegelwachs zum anschließenden Reparieren des Siegels mitgegeben. Die Neugierde fraß an Merle. War es eine wichtige Nachricht? Konnte sie das Wissen darüber nutzen, ihren Gatten zurückzugewinnen und seine Geliebte loszuwerden? Sollte sie den Brief öffnen? Oder sollte sie das Briefgeheimnis wahren und den Brief ungelesen an Gudekar übergeben. Sie war sich sicher: Gwenn und ihr Bräutigam hätten wohl wenig Skrupel, sich die Informationen aus dem Schreiben anzueignen. Kalman hingegen würde der ritterlichen Ehre wegen das Siegel nicht anrühren. Es gab noch eine dritte Option: Merle konnte den Brief auch einer anderen Person, der sie vertraute, aushändigen. Wie würde sich Merle wohl entscheiden?

Für einen Moment saß Merle wie erledigt an ihrem Tischchen und betrachtete nachdenklich den Brief in ihren Händen. Sie fühlte sich verunsichert, weil Gwenn nicht mehr an ihrer Seite war und ihr Halt und Orientierung gab. Wenn sie das Siegel jetzt brach, wäre es ganz allein ihre eigene Verantwortung. Und wenn sie es nicht wieder reparieren konnte, müsste sie Gudekar unter die Augen treten und zugeben, ein privates Schreiben geöffnet zu haben. Sie seufzte leise. Wie er sich aufregen und aufspielen würde und das sicher gleich zu seinem Vorteil auslegen - wenn auch sie mal etwas unmoralisches tat und ihn betrog. Grimmig verzog sie das Gesicht. Gudekar war ganze zwei Götterläufe frohgemut durch die Lande gezogen, um eifrig seine blöde almadanische Hure zu begatten wie ein wildgewordener Rammler - während sie hochschwanger und später mit einem kleinen Säugling vor Sorgen fast verging. Und dann kam er kaltschnäuzig und selbstgerecht hier an, als wäre am Ende alles irgendwie ihre Schuld, als sollte sie, sein keifendes, heulendes Eheweib, sich halt einfach nicht so haben… Nein, der brauchte ihr gar nichts vorhalten! Und sie wollte jetzt auch nicht zu jemand anderem rennen und um Hilfe bitten. Sie war eine gestandene Frau und würde das allein hinkriegen. Entschlossen erwärmte sie die Klinge über einer Kerze, dann ließ sie sie wieder etwas abkühlen und prüfte vorsichtig mit dem Finger die Temperatur. Nicht zu heiß und nicht zu kalt, hatte Gwenn gesagt. Sehr behutsam setzte sie an, das Siegel zu durchtrennen.

Ganz vorsichtig glitt das Messer durch das Siegelwachs. Die Wärme weichte das Wachs auf, so dass die scharfe Klinge hindurchgleiten konnte, ohne dass das Siegel vollkommen schmolz. Merle war zufrieden mit ihrem Werk, das klappte doch gut! Doch am Ende, Merle war fast durch, da war das Messer bereits derart abgekühlt, dass es im Wachs stecken blieb. Warum ausgerechnet jetzt? Es waren doch nur noch wenige Bruchteile eines Halbfingers zu schaffen. Doch die Klinge steckte fest. Merle versuchte, sie vorsichtig zurückzuziehen, doch war sie dabei zu hektisch und das letzte Stück des Siegels, dort, wo  die Wachsschicht bereits dünner wurde, zerbrach. Aber der Umschlag war geöffnet.

“Ach, Scheiße”, fluchte Merle leise, von sich selbst enttäuscht. Da bildete sie sich sonst was ein auf ihre ach so ruhige Hand und dann zerbrach ihr dieses dusselige Siegel am Ende doch! Egal. Sie legte die Siegelreste in ein kleines Schälchen, atmete ein paar Mal tief durch und entfaltete den Brief.

Die Zeilen dieses Briefes waren fahrig, hektisch geschrieben worden. Es war nicht das übliche Schriftbild, dass man bei einer Korrespondenz zwischen Angehörigen zweier Adelshäuser erwarten würde, insbesondere, wenn es sich vielleicht um den Besuch auf einem freudigen Fest wie einer Hochzeit handelte. Die Schrift war unsauber und die Buchstaben teilweise verschmiert. Merle hatte einige Mühe, die Zeichen zu entziffern.

Werter Gudekar,

die Dinge überschlagen sich.

Traurige Kunde aus Hlutarswacht. Verzeiht, das ich nicht die Kraft habe die richtigen Worte zu finde und einen wohlformulierten Brief aufzusetzen.

In tiefer Trauer muss ich euch leider mitteilen, das die Vermählung zwischen Tabea und mir am Tag der Treue nicht stattfinden wird.

Die Umstände machen mir Angst ...

er ...

Ihr wisst wen ich meine, treibt noch immer sein Unwesen ...

und er hat zugeschlagen ... und hat getroffen ...

meine Zukünftige wurde sein Opfer. Mein Schwiegervater Gundeland hat Tabea gefunden ...

Sie lag tot am Fuß des Bergfried, außerhalb der Burg ...

... die Federn, man hat gebrochene Gänsefedern unter ihrem gebrochenen Körper gefunden ...

Und zwei Tage später noch eine Magd der Familie ... tot.

Steht zusammen und achtet auf euch.

Radulf von Grundelsee

Flusswacht, 11. Travia

Merle, ohnehin nicht allzu versiert im Lesen, kniff die Augen zusammen, um das unsaubere Gekritzel zu entziffern. Sie schluckte, als sie sich die geschundenen Leiber dieser Frauen vorstellte. Gebrochene Gänsefedern… Bei allen guten Göttern… Erschüttert ließ sie die Hand mit dem Brief sinken und schloss kurz die Augen, um das aufsteigende Gefühl von Übelkeit zu unterdrücken. Wenn der Mörder vor ein paar Tagen in Hlutharswacht zugeschlagen hatte, war auch ihre Familie hier in Gefahr! Gwenn... sie musste sie warnen! Fast wäre sie zur Tür gestürmt, dann hielt sie inne. Durfte sie damit zu Kalman und Gwenn gehen oder musste sie das Tun dieses Frevlers weiter geheimhalten? Gudekar hatte immer großen Wert auf die Verschwiegenheit seiner Mission gelegt, auch wenn inzwischen im Familienkreis einiges bekannt war. Doch ihrem Mann vertraute sie nicht mehr, nicht, wenn es um Frevel wider der Gütigen Mutter ging. Wen aus dem Kreis der Eingeweihten könnte sie also informieren? Nivard, Doratrava und der Herr Lares waren auf der Jagd; Eoban und diesen Barden kannte sie kaum... Tsalinde. Ja, Tsalinde würde wissen, was zu tun war! Hastig steckte Merle den Brief in ihre kleine Ledertasche zurück und schnappte sich ihren warmen Mantel. Hoffentlich hielten sich Tsalinde und ihre Familie bei der Bauernfamilie auf, wo sie untergekommen waren. Aber wo sollten sie bei dem Mistwetter sonst unterwegs sein? Schnellen Schrittes stürmte sie nach draußen.

~ * ~

Eine Zeltstadt wird abgebaut

(Etwa ab 13:00, Rondrastunde)

Das schlechte Wetter, das bereits seit der Nacht anhielt, machte das Zeltlager ungemütlich. Der Boden, obwohl mit Stroh und Rindenmulch ausgelegt, war schon bald durchgeweicht. Die kalte Feuchtigkeit kroch unter die Zeltplanen. Auch das Brennholz war bald feucht, und so qualmten die entfachten Lagerfeuer mehr, als dass sie wärmten. Als jedoch gegen Mittag zu dem Dauerregen auch noch ein Sturm aufzog, war es fast unmöglich, die Zelte ungefährdet stehen zu lassen. Die fahrenden Händler und Spielleute, die für den Markt und das abendliche Fest angereist waren, begannen bereits recht früh, ihre Zelte abzubauen und in Sicherheit zu bringen. Der Dorfschulze hatte ihnen zugesagt, beim Edlen vom Lützeltal, Friedewald von Weissenquell, um die Genehmigung zu bitten, den Markt ausnahmsweise am folgenden Tag, dem Tag der Hochzeit abhalten zu können, sollte dann das Wetter besser sein. So waren die meisten Händler bereits damit beschäftigt, mit Hilfe der lokalen ihre Zelte auf die Karren zu verladen und in den Scheunen des Dorfes unterzustellen. Ein geschäftiges Treiben herrschte deshalb auf dem Zeltplatz, als vom Dorfplatz aus die Sturmglocke zu läuten begann.

Die Zelte der adeligen Gäste schienen etwas stabiler, doch auch an ihnen rüttelte der Wind gefährlich.

Murla war in Sorge. Zum einen war ihr Mann Borix bei dem Wetter noch immer nicht von der Jagd im Wald wiedergekehrt und war somit dort in großer Gefahr. Bei solch einem Wetter sollte ein Angroscho die sichere Stollendecke über dem Kopf haben. Zum anderen war sie so allein, um das eigene Zeltlager zu retten.

Etwas besser hatte es da Rondrad von Storchenflug, der nicht nur seine beiden Knappen, sondern auch ansonsten ein halbes Dutzend Gefolgsleute dabei hatte, die sich um die Sicherung des Lagers sorgen konnten.

Besorgt nahm sich Rondrard die Zeit, sich einen Überblick zu verschaffen. Er sah, wie sehr sich die Baumkronen im Wind beugten, hörte die Sturmglocke im Dorf läuten und spürte den Regen im Gesicht. Sein Koch, Dorcas Lausinger, hatte schon gleich nach dem Frühstück Bedenken wegen des Wetters geäußert und, ohne auf einen Befehl seines Herrn zu warten, damit begonnen das Innere des Koch- und Vorratszeltes zusammenzupacken. Somit war bereits eins der drei Zelte abgebaut und auf dem Wagen verstaut. Das Sonnensegel, dass nun eher ein Regendach war, flatterte knarzend im Wind, einige der Händler waren bereits auf dem Weg ins Dorf, als sein Blick auf das Zelt der Angroschim fiel. “AELFHELM, PRIKT”, rief er durch den aufkommenden Sturm, “HELFT DER ANGROSCHA!” Die beiden hievten gerade eine Kiste auf den Wagen. Ein kurzes Nicken deutete an, dass sie den Befehl verstanden hatten und sie eilten Murla zur Hilfe, nachdem sie die Kiste gesichert hatten.

Als Murla die beiden Helfer auf sich zu laufen sah, winkte sie ab.

“Vielen Dank für eure Hilfe”, rief sie ihnen gegen den Wind entgegen, “aber unsere Bedeckung müsste hoffentlich bald ihr Bier ausgetrunken haben und mich unterstützen.”

Kaum hatte die Angroschna den Ruf beendet, als sich auch schon die vier Angroschim, die den Bergvogt und seine Gemahlin auf ihrer Reise als Schutz gedient hatten, herbeigeeilt und mussten sich von Murla erst einmal eine ziemlich heftige Standpauke - die im harten Rogolan gehalten wurde - anhören.

Aber das hatte sie soweit ernüchtert, dass sie relativ diszipliniert begannen, erst Borix’ und Murlas Zelt abzubauen und sich dann dem ihren widmeten. Die Reisekosten, die auf dem Hinweg auf den Ponies verstaut waren, türmten sich vor den aufgerollten Zeltplanen und als alles aufgehäuft war, begannen die vier und der Führung Murlas die in eine der Scheunen zu tragen.

Auf, auf! Helft im Dorf!

(14:00)

Der Sturm zerrte auch am Haus der Familie Wohlgedei, doch schien das alte Bauernhaus sicher zu sein. Das Dach war erst vor zwei Götterläufen von Gerfried neu gedeckt worden und hielt dem Wind stand. Gerfried war schon vor einiger Zeit ins Dorf gerufen worden, um dort bei der Rettung der Marktstände zu helfen. “Wir werden wohl noch den einen oder anderen Händer mit bei uns aufnehmen müssen”, entschuldigte er sich bei Tsalinde von Kalterbaum und ihrer Familie. “Aber bleibt am besten hier, bis der Sturm sich gelegt hat”, empfahl er den adeligen Gästen. Dies hatten sie auch getan, doch nun, da die Sturmglocke im Dorf läutete, erwachte in Tsalinde das Bedürfnis, ebenfalls im Dorf zu helfen anstatt hier nur tatenlos herumzusitzen.

“Lys, wir sollten ins Dorf gehen und schauen, wo wir helfen können. Isavena sitzt mit den jüngeren Kindern in der Stube und erzählt ihnen Geschichten, sodass sich Traviana um die geflüchteten Händler kümmern kann. Hier stehen wir nur im Weg und bei dem Gedanken, dass wir uns woanders noch nützlich machen könnten werde ich wohl kaum Ruhe vor dem Feuer finden.”

Lächelnd strich Lys ihr durch das offene Haar. “Würde ich dich nicht so gut kennen, würde ich eine Diskussion darüber beginnen, dass es im Dorf viele fleißige Hände gibt und wir dort vermutlich nicht viel ausrichten können.”

Tsalinde wollte gerade etwas dazu sagen, da legte Lys ihr sanft einen Finger auf die Lippen. “Aber da ich dich kenne, spare ich mir die Worte.” Dann nahm er den Finger runter und küsste sie.

Tsalinde genoss den Kuss und schlang ihre Arme um ihn.

Nach kurzer Absprache trennten sich die Beiden. Tsalinde lief los, informierte Isavena und Traviana, während Lys ihre gewachsten Umhänge holte und schon wenige Minuten später liefen sie Hand in Hand durch den Sturm ins Dorf.

So kämpften sich Tsalinde und Lys gegen den Wind in Richtung Gutshaus, da sie hofften, dort in Erfahrung bringen zu können, wo ihre Hilfe am ehesten gebraucht würde. Der Sturm peitschte ihnen den Regen ins Gesicht. Schon nach wenigen Schritt fühlten sich beide trotz der gewachsten Umhänge durchnässt. Blätter wirbelten wild durch die Luft und ab und an mussten sie kleineren Ästen ausweichen, die Armbrustbolzen gleich durch die Gegend geschleudert wurden. Sollten noch nicht alle Äpfel und Birnen von den Obstbäumen geerntet worden sein, jetzt wurden sie endgültig von den Zweigen gerüttelt.

~ * ~

Aufregung im Gutshof

Rückkehr zum Gutshof

(13:55)

Außer Atem erreichte Mika von Weissenquell den Gutshof ihres Vaters, gefolgt von Ardare von Kaldenberg und der Tänzerin Doratrava. Mikas Hand pochte nun besonders stark vor Schmerz, da sie ihren hohen Puls zusätzlich spürte. Unter dem Geläut der Sturmglocke passierten sie das Tor zum Hof, wo ihnen Merle Dreifelder von Weissenquell, Mikas Schwägerin, entgegenkam. Merle hatte sich auf den Weg gemacht, um Tsalinde von Kalterbaum zu suchen, nachdem sie den Brief von Radulf von Grundelsee, der an Gudekar gerichtet war, gelesen hatte.  

In ihrem dunklen Mantel wirkte Merle sehr blass; die großen braunen Augen waren rot umrandet, als hätte sie viel geweint, auch wenn sie sich sichtlich bemühte, sich nichts anmerken zu lassen. Höflich neigte sie den Kopf vor der Baroness und lächelte Mika und Doratrava freudig an, doch erstarb ihr Lächeln, als sie in die Gesichter der Frauen blickte. "Die Jagd ist schon vorbei?" fragte sie, erst verdutzt, dann alarmiert. "Ist alles in Ordnung?"

Doratrava freute sich im ersten Moment, Merle zu sehen, aber sie musste nur einen Blick in deren Gesicht werfen, um zu erkennen, dass irgendetwas Schlimmes passiert sein musste. “Nein, die Jagd ist nicht vorbei, aber Mika hat sich verletzt und muss schnell zu Gudekar”, antwortete sie aber zunächst auf Merles Frage.

“Ach, das ist doch nicht so schlimm!”, versuchte Mika ganz tapfer abzuwiegeln.

“Es ist recht dringend und wohl nur noch mit Magie richtig zu heilen”, fügte Doratrava mit einem um Bestätigung heischenden Blick zu Arda hinzu, die schon einen empörten Blick in Richtung Mika abgesetzt hatte, aber dann musste sie doch fragen, da ihr Merles Zustand, den sie wohl zu verbergen suchte, nahe ging: “Ist mit dir denn alles in Ordnung?” Gleich darauf biss sie sich auf die Lippen, denn wenn Merle etwas verheimlichte, würde sie wohl kaum vor einer ihr Fremden wie Arda darüber sprechen.

Wortlos sah Merle Doratrava an und schluckte, um nicht wieder in Tränen auszubrechen, zögerte für einen Moment, in dem sie wie versteinert da stand und mit einer Hand krampfhaft ihre kleine Hartledertasche umklammerte, dann fasste sie sich und nickte Doratrava bestätigend zu. "Ja, ja, alles gut", winkte sie ab. "Lass' uns später reden." Sie wandte sich Mika zu, entdeckte den blutdurchtränkten Verband an deren Hand und drückte ihre Schwägerin in eine schnelle, enge Umarmung. "Oh Kleines, was hast du denn gemacht!?" seufzte sie entsetzt und schob die Novizin energisch an der Schulter in Richtung des Gutshauses.

“Ach, das ist nur ein kleiner Schnitt. Ich bin ausgerutscht und auf Firumars Laterne gefallen”, fasste die Novizin zusammen.

"Erstmal rein ins Haus”, meinte Merle. “Gudekar war eben noch mit Rhodan im Salon."

Doratrava nickte und presste kurz die Lippen zusammen, da sie sich über ihren Fehler ärgerte, sie wollte Merle nicht in Verlegenheit bringen. Und dann folgte sie ihr und Mika. Ihre selbst auferlegte Pflicht endete erst, wenn Mika in Gudekars Händen war und dieser auch etwas tun konnte.

Arda setzte voraus, dass die Einladung selbstverständlich auch sie umfasste.

Mika freute sich und zeigte diese Freude deutlich. Ganz aufgeregt fragte sie nach. “Gudekar ist da? Das ist gut! Dann wird bestimmt alles gut.”

"Ja, das wird es, meine Süße", bekräftigte Merle und drückte Mika eng an sich. "Gudekar hat schon ganz andere Verletzungen geheilt." Auch wenn sie versuchte, Mika Zuversicht zu vermitteln, blickte sie sichtlich besorgt zu Doratrava und Arda.

Hinter Mikas Rücken verzog Doratrava eher zweifelnd ihr Gesicht, aber laut sagen wollte sie nichts, auch wenn sie Mikas Schönrederei nicht guthieß. Aber da sie ja hoffentlich gleich in die richtigen Hände gelangen würde, beließ sie es dabei. Sie konnte Merle nachher ausführlicher erzählen, was tatsächlich passiert war.

Die vier Frauen betraten das Herrenhaus der Familie von Weissenquell. Dort kam ihnen die Magd Wiltrud Bächerle entgegen. “Ach, Frau Merle, Junge Dame von Weissenquell, was ist denn los? Ihr wirkt so aufgeregt!” Dann sah sie den blutdurchtränkten Verband um Mikas Hand. “Mika, was ist denn passiert? Du bist ja verletzt!” Obwohl der alten Magd bewusst war, dass ihr auch eine Baroness gegenüberstand, vergaß Wiltrud die Etikette, als sie Mikas Verletzung sah, und wechselte in die vertrauliche Anrede.

"Wiltrud, weißt du, ob mein Mann noch im Haus ist?" fragte Merle eindringlich, während sie Mika, um die sie den Arm gelegt hatte, weiter hinein dirigierte. "Wir brauchen Gudekar. Schnell."

„Nein“, musste Wiltrud eingestehen, „Gudekar hat vorhin den Hof mit seiner Geleitschützerin verlassen.“ Die Magd, die die Aufgaben einer Beschützerin bereits von Gwenns Begleiterin kannte, interpretierte die Präsenz der jungen Ritterin entsprechend.

Doratrava verdrehte die Augen. Wieso hatte sie sich so etwas nur gedacht? “Wann? Wohin?”, fragte sie dazwischen. Wenn jemand die beiden noch zu Fuß und ohne erst ein Pferd satteln zu müssen einholen konnte, dann sie, aber nur, wenn sie noch nicht zu weit gekommen waren.

Merle stieß frustriert die Luft aus. "Er hat doch eben noch mit Rhodan gesprochen, oder nicht? Weit kann er bei dem Wetter jedenfalls nicht sein.” Sie seufzte und dachte kurz nach, dann blickte sie fragend zu Wiltrud. "Meta hat ein Zimmer bei Rodenbachs. Ist Marno hier? Vielleicht kann er da schnell rüberrennen."

Mika stand nur da und schaute von einer zur anderen. Sie zitterte vor Kälte und Erschöpfung am ganzen Leib.

Wiltrud nickte eifrig. „Ja, Marno ist drüben im Stall und passt auf, dass die Pferde ruhig bleiben. Ich gehe rüber und schicke ihn ins Dorf, nach Meister Gudekar suchen. Vielleicht geht Ihr solange in den Speisesaal, da könnt ihr euch setzen und ausruhen.“ Sie blickte Arda, Doratrava und Mika an. „Ihr seid ja völlig durchnässt! HARKA!“, rief sie ihre Tochter, „Hol trockene Tücher, Decken und Umhänge, bevor sich jemand einen Dumpfschädel einfängt. Und bring den Gästen dann von der warmen Suppe!“

Völlig abwesend, fast schon lethargisch folgte Mika der Aufforderung Wiltruds und ging in den Speisesaal, um sich auf einem der Stühle niederzulassen.

Doratrava machte ein Gesicht, weil ihre Fragen nicht beantwortet wurden. Die Magd wusste wohl selbst nicht, wohin Gudekar und Meta gegangen waren. Es hatte aber auch keinen Sinn, kopflos auf eigene Faust loszufahren. “Hat Gudekar nicht gesagt, wo genau sie hingehen?”, fragte sie trotzdem noch einmal.

“Nein, ich habe die beiden nur vorhin Richtung Dorf weggehen sehen”, erklärte Wiltrud, bevor sie zu Marno in den Stall eilte. Den Zusatz ‘Hand in Hand’ wollte sie vor Merle lieber nicht aussprechen.

Unzufrieden drehte sich Doratrava zu den anderen. Nass war sie sowieso schon, es würde ihr nichts ausmachen, nochmal in den Sturm hinauszulaufen. “Soll ich auch nach Gudekar suchen?”, fragte sie, hauptsächlich an Mika und Merle gewandt.

"Vielleicht wär’ das ganz gut..." Merle nickte der Gauklerin dankbar zu. "Wie gesagt, ich denke, sie könnten bei der Brauerei Rodenbach sein." Für einige Augenblick starrte sie Doratrava an, sichtlich verloren und überfordert mit der Situation, aber immer noch nach außen beherrscht.

Viel lieber wäre Doratrava nun mit Merle allein gewesen. Sie versuchte sich zu beherrschen, um ihr keinen sehnsuchtsvollen Blick zuzuwerfen, aber es gelang ihr nicht. Aber im Moment ging Mika vor, sie hatte Ardas ernste Worte noch im Ohr. “Brauerei, gut”, bestätigte sie, dann war sie nach einem erneuten, sehr intensiven Blick zu Merle schon wieder zur Tür hinaus.

“Auf jeden Fall. Oder wir suchen ihn gemeins...”, schlug die Baroness vor, doch ihre Stimme erstarb, als ihr Vorschlag offensichtlich zu spät kam.

Es dauerte nicht lange, nachdem Doratrava das Haus verlassen hatte, bis Harka tatsächlich mit einem Stapel trockener Tücher und Decken die Treppe hinunter kam und in den Speisesaal brachte. “Oh, nein, Mika! Was ist dir denn passiert?” Voller Schreck, ließ sie den Haufen fallen, hob aber sogleich ein großes Tuch auf, um damit zu Mika zu laufen und sie abtrocknen, was diese wort- und anteilslos über sich ergehen ließ.

“MERLE, HOLT MIR MERLE!” hörte man plötzlich die Stimme der alten Tante Caltesa aus dem Obergeschoss rufen.

Merle blickte der Gauklerin ebenso sehnsüchtig hinterher. Wie gerne wäre sie einfach in Doratravas Arme gefallen und hätte den Tränen freien Lauf gelassen. Heute in der Früh, als Nivard sie geweckt hatte, sie warm und geborgen in Doratravas Armen gelegen hatte, da war ihr Leben noch anders gewesen, friedlicher, unschuldiger - so viel war seitdem passiert, so viel war zerbrochen… Sie schluckte mühsam und versuchte sich zu fokussieren. "Ich hole dann vielleicht schon mal Gudekars Ausrüstungstasche aus dem Zimmer... ", begann sie, als sie den schrillen Schrei der Baroness hörte, die in Bedrängnis zu sein schien. Immer noch unter dem Eindruck des schrecklichen Briefes verstärkte sich das klamme Gefühl drohenden Schreckens in ihrer Magengrube. "Kommt ihr hier klar? Ich muss mal nach ihrer Wohlgeboren sehen."

“Ja, ich kümmere mich um Mika und Ihre Wohlgeboren”, antwortete Harka. Auch Mika nickte stumm. “Geht Ihr nur, Frau Merle, schaut bitte nach der Hohen Dame.” In Harkas Blick lag Dankbarkeit und Erleichterung, aber auch Mitleid für die Schwiegertochter des Edlen, die Harka gerne als Freundin bezeichnet hätte.

"Bin gleich wieder da", versprach Merle. Zumindest hoffte sie das. Sie lächelte Harka freundlich an, verneigte sich von Ardare und wollte sich schon zur Tür wenden, wandte sich aber noch einmal zu ihrer jungen Schwägerin, um sie ganz fest an sich zu ziehen. "Mach' dir keine Sorgen, Kleines! Gudekar ist gleich hier." Sie blickte Mika liebevoll in die Augen, strich sanft eine Haarsträhne aus deren Stirn und hauchte einen zarten Kuss darauf. "Bestimmt tut es sehr weh… Aber halte noch ein kleines bisschen länger aus, ja? Ich weiß, dass du das schaffst." Nachdem sie Mikas Schultern noch einmal gedrückt hatte, eilte sie schnell die Treppe hinauf.

“Das geht schon. Es ist auch nicht schlimmer, als auf dem Weg hierher. Geh nur und lass dir Zeit. Ich bin hier doch gut versorgt, bis Gudekar kommt.” Mika gab sich tapfer.

Arda wunderte sich über das komische Verhalten, das Doratrava in der Anwesenheit jener ‘Merle’ an den Tag legte. Außerdem begann sie sich Sorgen zu machen, ob Mika denn nun WIRKLICH verstanden hatte, wie es um ihre Hand stand - und ob sie am Ende sogar selbst, sprichwörtlich, Hand anlegen musste. Ein schiefes Lächeln bildete sich auf ihren Lippen ob dieses Wortspiels, das ihr unbewusst in den Sinn gekommen war. Um sich abzulenken, fragte sie : “Woher kommt dieses Geschrei?”

“Ach, das ist meine Großtante Caltesa, eine liebe, aber recht extravagante Person”, erklärte Mika, während Harka begann, sich um Mikas nasse Kleider zu kümmern.

“Wollt ihr Euch vielleicht auch trocknen, Euer Wohlgeboren?”, fragte die junge Magd Harka.

“Du kannst mir eine Decke reichen”, antwortete Arda huldvoll. Zum ersten Mal, seitdem sie den Gutshof betreten hatte, machte sich die Baroness Gedanken darüber, wie es ihr eigentlich körperlich ging. Ihre Kleidung war von vorzüglicher Machart, und das Leder hatte das Wetter erstaunlich gut abgehalten. Dennoch hatte sie den Mantel bereits geöffnet und hängte diesen, ohne weiter auf die Magd zu achten, über eine Stuhllehne nahe des Kachelofens. Kurz prüfte sie die Wärme, die vom Ofen abstrahlte, nickte zufrieden, und kehrte dann zum Platz neben Mika zurück, um sich die Decke um die Schultern zu ziehen.

~ * ~

Auch Rhodan Herrenfels, der Bräutigam der Edlentochter Gwenn, der noch im Salon saß und über die vergangenen Gespräche nachdachte, als die Sturmglocke zu läuten begann, konnte das Gespräch im Speisesaal mithören.

~ * ~

Gestörte Mittagsruhe

(14:05)

Der Wind pfiff durch die Fenster des Gutshauses. Fenster, die nicht richtig gesichert waren, klapperten, als sie vom Sturm auf- und zugeschlagen wurden. Dann setzte auch noch das Läuten der Sturmglocke ein. Auch aus dem Unteren Stockwerk, aus dem Speisesaal des Herrenhauses, waren aufgeregte Stimmen zu hören. Dort müssen andere Gäste eingetroffen sein, scheinbar jedoch mit schlechter Nachricht. “HARKA!” war die aufgeregte Stimme der Magd Wiltrud durch das ganze Haus zu hören.  An einen ruhigen Mittagsschlaf war so kaum zu denken. Andererseits zog von unten ein wohliger Duft nach Eintopf aus der Küche durch das Haus.

“Was ist das für ein Getöse? Einer alten Frau wird aber auch nichts vergönnt.” Leise vor sich hin schimpfend hievte sich die Baroness Caltesa von Immergrün aus dem großen, äußerst bequemen Bett. Flugs griff sie nach einem fliederfarbenen Mantel, schlüpfte hinein und ging dann zu der Kommode, die einen Spiegel besaß. Geschickt griff sie nach ihrer ebenfalls fliederfarbenen Perücke und stülpte sie sich über ihren kurzen, grauen Haarschopf. Dann griff sie zu einem silberfarbenen Glöckchen und ließ es mehrmals erklingen, in der Hoffnung, dass einer der Bediensteten sie hören würde. Zur Sicherheit nahm sie ihren Gehstock, den sie eigentlich nicht benötigte, und stampfte damit ordentlich auf den Holzboden. “MERLE, HOLT MIR MERLE!”, brüllte sie.

Es dauerte eine Weile, während der keine Reaktion auf Caltesas Ruf erfolgte. Die Bediensteten waren offenbar gerade nicht verfügbar. Wiltrud war zu den Stallungen gegangen, um Marno ins Dorf zu schicken. Harka war mit den Tüchern und Decken für die durchnässten Gäste beschäftigt. Und Bernhelm hatte das Haus offenbar verlassen.

Die Baroness schüttelte ungläubig mit dem Kopf. “Was hab ich auch erwartet. Gutes Personal, hier?”, murmelte sie vor sich hin und setzte sich vor den Spiegel. Vorsichtig fing sie an, ihr Lippenrot aufzufrischen.

Von draußen klopfte es an der Tür und Merles Stimme erklang: "Wohlgeborene Dame, seid Ihr wohlauf? Darf ich eintreten?"

“Ohhh, Phex sei dank! Nicht alle haben das sinkende Schiff verlassen und eine alte, arme Frau im Stich gelassen, komm herein gutes Kind!”, sagte die Alte.

Merle trat ein, schloss leise die Tür hinter sich und verneigte sich ehrerbietig vor der Baroness. Im Vergleich zum Vortag wirkte die junge Frau blass und aufgelöst. "Euer Wohlgeboren, ist alles in Ordnung? Geht es Euch gut?" fragte sie besorgt.

Geschmeidig wie eine Katze drehte sich Caltesa von ihrem Stuhl um und schenkte Merle ein herzliches Lächeln. “Ach wie schön, dass du fragst, aber mir geht es gut. Doch sage mir, was ist das da für ein Geschrei? Können die Weissenqueller nicht mit ein bisschen Wind und Regen umgehen?” Dann tappte sie mit ihrer Linken auf die Sitzfläche des Stuhles. “Komm ruhig näher, Merle.”

Etwas verdutzt trat Merle näher und musterte die alte Dame. Offenbar war diese nicht in unmittelbaren Schwierigkeiten. "Ähm, tatsächlich gibt es unten einen Notfall", erklärte sie. "Mika... meine Schwägerin, sie war bei der Jagd dabei und hat sich schwer an der Hand verletzt. Wir versuchen gerade Gudekar zu finden."

Die Baroness griff zur Puderquaste und bearbeitete ihr Gesicht. “Diesen Stümper? Der ist doch bestimmt damit beschäftigt, diese almadanische Stute zu bearbeiten. Ich weiß, meine Worte müssen wie Dolchstiche auf dich wirken, aber du hast besseres verdient. Genau wie ich.” Sie ließ ihren Blick über den Raum schweifen. “Nun, sag mir, wie schwer ist die Verletzung? Vielleicht kann ich ja helfen.”

Kurz riss Merle erschrocken die Augen auf und presste die Lippen zusammen. Wusste jetzt schon jeder hier über Gudekars Ehebruch Bescheid? Sie bemühte sich, ihren Schmerz und ihre Wut ganz tief in ihrem Inneren einzuschließen und eine unbewegte, versteinerte Maske nach außen zu tragen. Was blieb ihr anderes übrig; sie musste weiter funktionieren. "Sie ist wohl mit der Hand in eine Glasscherbe gefallen und kann nicht mehr alle Finger bewegen. Wir hoffen, dass es magisch geheilt werden kann." Merle blickte fragend zu der alten Dame, die Erlaubnis erhoffend, sich wieder entfernen zu dürfen.

Energisch schlug Caltesa beide Hände auf die Kommode und erhob sich kerzengerade. Merle fiel auf, dass von den Wehwehchen der alten Dame nichts mehr zu sehen war. Kein Humpeln, kein Ächzen, keine langsamen Bewegungen. Dann ging sie zu einem Kästchen und ließ ihren Gehstock links liegen. “Wir Frauen müssen zusammenhalten. Ich denke, ich habe etwas, was helfen könnte.” Nur kurz sah Merle eine Reihe von silbernen Phiolen, die in dem Kästchen aufbewahrt waren. Caltesa zog eine heraus und zog ihren lavendelfarbenden Mantel enger. Dann deutete sie auf ihren Gehstock. “Kannst du mir den bitte reichen? Und dann führe mich zu dem armen Geschöpf.”

Skeptisch kniff Merle die Augen zusammen. Die Baroness hatte offenbar ihre Geheimnisse und war nicht die alte, etwas grantige Dame, für die sie alle hielten. Doch wenn die wohlgeborene Dame von Kaldenberg sich offenbar in der Heilkunst auskannte, mochte auch die Baroness von Immergrün hierin bewandert sein. Nach kurzem Zögern nickte Merle der Alten freundlich, aber ohne große Hoffnung zu und reichte ihr wie verlangt den Stock. "Dann kommt, ich führe Euch hinunter."

Behäbig und mit leichtem Humpeln folgte die Baroness.

~ * ~

Unerwartete Hilfe?

(14:10)

Nachdem Harka der verletzten Mika geholfen hatte, die nassen Kleider abzulegen und sie in einen trockenen Umhang und eine warme Decke gehüllt hatte, ging sie in die Küche, um etwas Eintopf für die beiden Jagdabbrecherinnen zu holen. Kaum war Harka zur Tür raus, legte Mika ihren Kopf auf den gesunden Arm gebettet auf den Tisch und fiel vor Erschöpfung in den Schlaf.

Arda hatte sich neben Mika gesetzt, um aufzupassen, dass diese in ihrem Schlaf nicht vom Stuhl rutschte.

So fanden Merle und die Baroness Caltesa die beiden jungen Frauen vor, als sie von oben in den Speisesaal traten.

Merle nickte Ardare zu, setzte sich an die andere Seite von Mika und legte vorsichtig die Hand auf die Schulter der Novizin. "Wach auf, Liebes", flüsterte sie sanft, um Mika nicht zu sehr aufzuschrecken. "Deine Großtante möchte sich einmal deine Hand anschauen."

Mika öffnete langsam die Augen. Zunächst flackerten ihre Augenlider noch ein paar mal auf und zu, bevor sie sacht den Kopf hob. “Was? Was ist?” Dann besann sie sich, wo sie war, und richtete sich auf. “Tante Caltesa?”

Die alte Dame mit dem kunstvoll geflochtenen, fliederfarbenen Haar, war in einem Mantel der selben Farbe gekleidet, setzte sich behäbig neben das Mädchen. Ihr Gesicht war akkurat gepudert und Augen und Lippen wohl betont. “So, so meine Kleine. Du bist die Mika, richtig?”, sagte sie ruhig und nahm vorsichtig die Hand des Kindes. Prüfend, nachdem sie den Verband gelöst hatte, schaute sie sich die Wunde an und zog ihre kunstvoll gemalten Augenbrauen hoch. “Ja, das sieht nicht gut aus.” Ihr Blick wanderte zu Merle, Harka und zuletzt zu Ardare. “Wie schön Euch endlich einmal zu treffen, Baroness Ardare von Kaldenberg, Edle zu Forstland. Ich habe schon so viel von Euch gehört”, sagte Caltesa beiläufig. Ohne eine Antwort abzuwarten, richtete sie wieder ihre Worte an die Verletzte: “Dein Tantchen wird dir versuchen zu helfen. Doch bevor ich das tue, kannst du mir versprechen, wenn ich dich eines Tages mal um einen Gefallen bitte, dass du mir ihn dann gewährst?” Prüfend schaute sie in Mikas Augen und hielt dabei noch immer ihre Hand.

Mika schaute ihre Großtante fragend an. „Seid ihr auch eine Heilerin, Tante Caltesa?“ Die Novizin war überrascht, wie viele Personen in ihrer Umgebung sich plötzlich angeblich mehr oder weniger gut mit der Heilkunst auskannten. Und dennoch war ihre Hand noch immer nicht besser. „Sollte man sich in der Familie nicht immer darauf verlassen, dass der eine der anderen einen Gefallen macht?“ fragte sie unbedarft.

Caltesa lächelte ehrlich. “Leider ist dem nicht so, aber das wirst du noch lernen, Täubchen. Doch sage mir, versprichst du mir einen Gefallen?” Geschickt zog sie eine silberne Phiole aus ihrer Manteltasche.

Merle beobachtete schweigend und warf Mika einen ratlosen Blick zu. Sie selbst fühlte ein instinktives Vertrauen zu Caltesa, doch musste Mika dies selbst entscheiden.

„Selbstverständlich werde ich Euch einen Gefallen tun“, antwortete Mika, ohne sich bewusst zu sein, was genau das bedeuten würde. Für sie war es selbstverständlich, sich in der Familie gegenseitig zu helfen. „Ist das ein Heiltrank?“ Mika deutete auf die Phiole.

Mit dem Nagel ihres Zeigefingers schlug Caltesa gegen die Phiole und der Klang, der dabei ertönte, hörte sich fast wie eine klimperne Münze an. “Deine Worte in Phexens Ohren. Und ja, du bist sehr aufmerksam, Mika. Das ist ein Heiltrank. Teuer und schwer zu bekommen. Doch du hast Glück. Ein alter ´Geschäftspartner´ war mir ein Gefallen schuldig und gab diesen mir. Nun wird er dir hoffentlich helfen.” Problemlos öffnete sie das metallene Gefäß und hielt es der jungen Weissenquellerin an die Lippen. “Trink. Nur Mut.”

Etwas unsicher nippte Mika an der Phiole. Noch nie hatte sie einen Zaubertrank zu sich genommen, auch wenn sie wusste, dass Gudekar immer den einen oder anderen Trank bei sich trug. Doch sie war noch nie in der Situation, selbst einen Heiltrank zu benötigen, wenn er in ihrer Nähe war. Sie war von dem erfrischenden Geschmack überrascht. Zügig, aber nicht hastig, trank sie die Phiole aus. Sogleich setzte ein wohliges Kribbeln in ihrem Körper ein, das sich in ihrer linken Hand besonders intensiv anfühlte. Die junge Novizin schaute auf ihre Hand und sah, wie sich die Wunde langsam von innen heraus schloss. Zunächst stoppte der Blutfluss, dann wuchsen Muskelstränge wieder zusammen. Schließlich bildete sich eine frische Hautschicht über der Wunde. Der Schmerz in der Hand war wie vom Sturm weggeweht. Dankbar blickte Mika zu ihrer Großtante.

“Und nun bewege die Finger.” Weiter gespannt schaute sie auf die Hand ihrer jungen Verwandten.

Mika versuchte die Finger der linken Hand zu bewegen. Sie hatte Angst vor dem Ergebnis ihres Versuchs und so begann sie mit dem Daumen, der jedoch auch zuvor beweglich war. Der Daumen ließ sich frei in alle Richtungen bewegen, in die er sich bewegen sollte. Nun testete sie den Zeigefinger. Dieser ließ sich beugen und anschließend wieder strecken. Doch auch das war keine Verbesserung. Mika zögerte, bevor sie sich auf den dritten Finger konzentrierte. Sie schaute auf den mittleren Finger. Dann spannte sie die Muskeln des Fingers. Doch der Finger blieb gerade. Sie versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Panisch zog sie die Muskeln der Hand zusammen. Drei der Finger beugten sich. Doch der mittlere und der vierte Finger blieben gerade. Tränen sammelten sich in Mikas Augen.

Merle, die gespannt den Atem angehalten hatte, schluckte mühsam. Sie eilte an Mikas Seite, um deren Oberkörper in eine enge, liebevolle Umarmung zu drücken. "Keine Sorge, das muss nichts heißen...", beschwor sie die junge Frau, "...Gudekar kann es bestimmt wieder gut machen..." Sie schloss die Augen, um nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen. "Verlier' nicht den Mut, Kleines, wir kriegen das hin."

Nun konnte Mika nicht mehr an sich halten. Die Selbstbeherrschung, die Stärke, die ihr Lehrer Firumar sie gelehrt hatte, waren vergessen. In Merles Armen begann sie bitterlich zu weinen.

Merle, die nicht wusste, was sie sonst tun konnte, hielt die schluchzende Mika ganz fest und strich immer wieder beruhigend über ihren Haarschopf. Insgeheim fürchtete sie, dass Gudekars Heilmagie tatsächlich nicht mehr ausrichten würde als Caltesas Trank, doch war sie noch nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben. Wenn ihr Mann nur endlich hier wäre…

Arda war vom Donner gerührt. Die Ereignisse hatten eine Dynamik angenommen, hinter der sie hergelaufen war. Wer war diese Baroness Caltesa? Keinen Augenblick glaubte sie an die Geschichte mit dem Geschäftsfreund mit dem Gefallen…

Gut möglich, dass dieser Zaubertrank nicht mächtig genug gewesen war, um die vollständige Heilung der Hand zu erwirken. In diesem Fall stand zu befürchten, dass die arkane Komponente des Tranks die Aura der Wunde abgeschlossen und damit einen “endgültigen”, neuen Status Quo geschaffen hatte. Dann würde Arda mit dem Einsatz ihrer eigenen Magie nichts mehr erreichen können. Es war jedoch auch denkbar, dass eine Schwellung zurückgeblieben war, welche die Hand nur noch temporär immobilisierte. Die dritte und letzte Möglichkeit, die ihr in den Sinn kam, war, dass der Körper selbst den neuen Zustand der beschädigten Sehne bereits als neuen Status Quo akzeptiert hatte und die Sehne unheilbar beschädigt war.

Doch Arda machte sich noch darüber hinaus weitere Gedanken, sie hatte einen Verdacht, und diesen musste sie erst bestätigen oder verwerfen, bevor sie sich weitere Gedanken dazu machte, wie sie dieser sturen Göre, die sie irgendwie doch ins Herz geschlossen hatte - sie überraschte sich selbst mit diesem Gedanken - helfen konnte.

Also suchte sie Blickkontakt mit Caltesa, und als sich ihre Blicke kreuzten, ließ sie ein klein wenig ihrer arkanen Kraft fließen.

Behutsam strich Caltesa dem weinenden Mädchen über die Schulter. “Das tut mir sehr leid, Mädchen. Ich hatte gehofft, dass der Trank helfen würde. Ich nehme an, die Wunde besteht zu lange. Zeit ist leider ein wichtiger Faktor bei so etwas. Du wirst das überstehen und daraus wachsen. Das ist ein Versprechen.” Es fiel der Alten schwer, ihre Emotionen zu unterdrücken, doch blieb sie bei ihrem neutralen Ton. Das Mädchen tat ihr sehr leid und sie hatte gehofft, dass sie helfen konnte. Dann fiel ihr der Blick der Baroness Kaltenberg auf und sie hielt diesem stand. “Tragisch. Nicht wahr? Das Leben ist nicht immer fair. Würdet Ihr da zustimmen, Wohlgeboren?”

“Das würde ich, in der Tat.” antwortete Arda ein wenig gestelzt. Sie war überrascht und auch ein wenig enttäuscht, in der Alten keine Schwester erkannt zu haben, und wie so oft bei widrigen Erfahrungen zog sie sich in ihre Arroganz zurück.

Mika zog kurz die Nase hoch und wischte sich die Tränen aus den Augen. “Ach, schon gut, Tante Caltesa, die Hand ist doch wieder in Ordnung.” Sie hob die Hand hoch und winkte wild, um zu zeigen, wie gut es ihr wieder ging. “Und wenn ich die beiden Finger nicht bewegen kann, ist dies Firuns Wille, um mich zu prüfen.” Sie gewann langsam wieder ihre Fassung und Selbstbeherrschung. “Ich werde diese Herausforderung annehmen und die Prüfung bestehen. Ich werde dem Alten vom Berg beweisen, dass ich auch so seiner würdig bin!”

Merle traute Mikas plötzlichem Optimismus nicht recht, drückte aber bestätigend deren Schulter. "Ja, das wirst du, ganz sicher", murmelte sie sanft.

“Das ist eine gute Einstellung, Kind. Die Götter stellen uns immer Herausforderungen und jedem gefällt es, wenn wir uns diesen stellen. Nur so bekommen wir ihre wahre Aufmerksamkeit.” Stolz schaute Caltesa Mika an.

So entging der Baroness, dass ihre jüngere Standesgenossin aus Kaldenberg mit dem Augenrollen garnicht mehr fertig wurde.

Arda lagen etliche spöttische Gedanken auf der Zunge, etwa zum defätistischem Herumkriechen vor den Göttern, oder zur Selbstüberschätzung im Kontext kosmischer Mächte. Doch da es ihr nicht gelang, diese Gedanken in Bemerkungen umzumünzen, die nicht zu ketzerisch und umstürzlerisch klangen - zumal für das hier anwesende Publikum - spitzte sie lediglich spöttisch den Mund.

Mika lächelte ihren beiden Familienmitglieder an. Es tat gut, eine so sorgsame Familie zu haben. Wieder fiel ihr das Gespräch hierher zwischen Doratrava und Arda ein und sie blickte sorgenvoll zu ihrer Begleiterin. Dort sah sie wieder diese Härte, diese Kälte, die Arda bereits am Anfang des gemeinsamen Wegs gezeigt hatte. Dann war diese Fassade aber nach und nach abgebröckelt und der wahre, verletzliche Kern der Baroness war zum Vorschein gekommen. Mika lächelte auch Arda mitfühlend an. “Euer Wohlgeboren, seid Ihr warm genug?” fragte sie. Doch ohne eine Antwort abzuwarten bemerkte die junge Novizin: “Wo bleibt eigentlich Harka? Wollte sie nicht etwas Eintopf holen? Die Dame von Kaldenberg muss doch genauso einen Mordshunger haben wie ich.”  

Merle nickte. “Ich schau’ mal, wo sie steckt. Und dann hol’ ich gleich Gudekars Ausrüstung.” Sie drückte Mika noch einmal fest an sich und erhob sich, um in der Küche nachzusehen.

“Ich habe keinen Hunger”, warf die Kaldenbergerin mit flacher Stimme ein. Langsam begann sie sich um Mikas Hand Sorgen zu machen. Wie lange konnte es schon dauern, den Anconiter herzuschleppen? Und wie lange konnte die Hand noch warten?

Merle deutete vor Ardare eine Verbeugung an. "Vielleicht kommt der Hunger beim Essen, Wohlgeboren. Ich seh' auf jeden Fall mal nach Harka." Mika schenkte sie ein aufmunterndes, mitfühlendes Lächeln. "Was Warmes im Bauch tut auf jeden Fall gut, glaub mir, Liebes."

“Vielleicht”, entgegnete die Baroness in einem Ton, der ihre Ablehnung noch bekräftigte. Sie drehte sich leicht von Merle weg, um anzuzeigen, dass sie diesbezüglich nicht mehr angesprochen werden wollte.

Die junge Frau seufzte lautlos, hielt sich nicht länger auf und eilte schnellen Schrittes in die Küche.

Nun unterbrach Calteasa die kurze Stille. “Verzeiht euer Wohlgeboren, geschuldet der Situation wurde versäumt mich vorzustellen. Baroness Calteasa Imelda von Immergrün, Botschafterin der Reichskanzlei. Wir sind uns noch nicht begegnet, doch habe ich schon viel von euch gehört.” Die Alte setzte sich nun gerade hin und schenkte Arda einen äußerst selbstbewussten Blick. “Ihr scheint Euch oft in ´Stürme´ zu verirren…”

“Bisher habe ich den Hafen noch immer wohlbehalten erreicht.” entgegnete die Kaldenbergerin. Sie blieb höflich, doch ohne Zeichen abzugeben, dass sie sich der anderen unterzuordnen gedachte. “Die Situation droht in der Tat gerade etwas unübersichtlich zu werden. Meine Familie scheint wirklich kein Händchen dafür zu haben, an ruhigen Hochzeitsfeiern teilzunehmen…” räsonierte sie mit einem ironischen Lächeln. “Die Aussage bezieht sich selbstverständlich nur auf die Grafschaft Albenhus.” schob sie augenzwinkernd hinterher, als unterschwelligen Hinweis, dass Arda das Haus Immergrün in der Baronie Schweinsfold verorten konnte - und damit durchaus wusste, wen sie da vor sich hatte.

Und da sie durchaus auch hier war, um Verbindungen zu knüpfen, fügte sie etwas freundlicher hinzu:  “Erlaubt mir Euch die Aufwartung zu machen, wenn ich das nächste Mal in Elenvina weile, Wohlgeboren. Seitdem mir Gut Forstland, hm, zugefallen ist, weile ich des öfteren in der Herzogenstadt.”

“Genau davon sprach ich. Konntet Ihr denn den Ärger mit dem Edlen Herrn von Mersingen aus dem Weg räumen? Seine Anschuldigungen waren ja sehr verstörend. Da Ihr hier auf der Hochzeit seid und Lares von Mersingen ebenfalls, nehme ich an, dass Ihr das habt?”, Caltesa sprach mit freundlicher Stimme, doch ihr Blick sprach von Neugier und Scharfsinn.

Mika lauschte gebannt dem Gespräch der beiden Frauen und ihre Augen folgten wie die eines Falken dem Geschehen. Obwohl beide der anderen Höflichkeit und gegenseitigen Respekt vorgaukelten, schienen sie sich eher wie vor einem Kampf zu umkreisen als sich ernsthaft für die andere zu interessieren. Das Gespräch mochte interessant werden. Mika hoffte, ihre Anwesenheit würde das Gespräch nicht behindern. Ach, wie viel einfacher es doch immer war, Gesprächen zwischen Vater und Kalman zu lauschen, wenn sie sich oben in ihrem Zimmer vor den Kamin setzte…  

Arda reagierte mit einer wegwerfenden Handbewegung: “Herr von Mersingen hat mir erst gestern glaubhaft versichert, dass ihm die Anschuldigungen aus dem Greifenspiegel in den Mund gelegt worden seien. Er habe nichts dergleichen gesagt. Sein exakter Wortlaut war ‘Schmierblatt’, als er seine Meinung über den Greifenspiegel kundtat - wenn ich mich recht entsinne.” Arda lächelte spöttisch, um zu demonstrieren, dass sie spätestens seit gestern die Meinung des Mersingers teilte. “Ich habe auch keinen Herzschlag lang geglaubt, dass er so etwas gesagt haben könnte. Lares und ich sind freundschaftlich verbunden. In Hlutharswacht haben wir vor ein paar Jahren gemeinsam einen durchaus bemerkenswerten dieser - wie sagtet Ihr: Stürme? - überstanden. Aber ich vermute, dass Ihr davon auch bereits gehört habt.”

Caltesa lachte dunkel, aber zurückhaltend. "Ach meine Liebe, und ob ich davon gehört habe, tatsächlich habe ich die Worte des Herr von Mersingen selbst gehört. Der Gute war da nicht ganz ehrlich mit Euch. Und 'götterlästige Machenschaften' waren da noch das Harmloseste. Die Worte waren durch die Türe vom Allwasservogt zu hören. Ich kenne ihn ja auch und sein … Temperament ist wohl bekannt in der Kanzley.” Elegant spielte sie mit einer ihrer fliederfarbenen Locken. “Ich nehme an, er hat davon abgesehen, die Bannstrahler nach Forstland zu entsenden? Doch sagt mir und entschuldigt meine Neugier, gab es denn Anlass für solche Verdächtigungen? Ich weiß ja, dass Ihr es ja erst 'geerbt' habt.”

Arda bemühte sich um ein liebenswürdiges Lächeln - ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. “Ich bitte Euch, diese Aussagen in seiner Anwesenheit zu wiederholen. Vielleicht noch hier, auf dieser Hochzeit. Ein Mann, der sich derart dem Herrn Praios und den Feinheiten der Jurisprudenz verschrieben hat, wie es bei Lares der Fall ist, wird sicher auch hierfür eine stichhaltige Erklärung liefern.” Nun funkelten ihre Augen doch, von listigem Spott, als sie vielsagend hinzufügte: “Schließlich ist es nicht die Aufgabe des Beklagten, seine Unschuld zu beweisen. Vielmehr verhält es sich ja bekanntlich umgekehrt.”

Arda lehnte sich zurück, als sinnierte sie, um dann unvermittelt zu fragen: “Sagt, wie wird es eigentlich in der Reichskanzley bewertet, dass die Kirchen verstärkt auf die Anwendung von Kirchenrecht pochen - auch bei Sachverhalten, die vor einigen Jahren noch ohne Zweifel dem weltlichen Recht zugehörig galten? Gerade in den Nordmarken hat dieses Gebaren ja geradezu um sich gegriffen…” Die Baroness schüttelte in gespielter Besorgnis den Kopf. “Die Kirchen als Staat im Staate… Eine Erosion weltlichen Rechts… Bannstrahler als Hilfsbüttel… Als würden die Kirchen den weltlichen Herrschaftsstrukturen ihre Ordnungsfunktion abstreitig machen.” Mit vorgeblich naivem Interesse blickte Arda ihre Gesprächspartnerin an.

Verständnisvoll nickte Caltesa. “Sicherlich können wir den Hohen Herrn von Mersingen befragen. Und um die Frage zu beantworten, die Ihr mir gestellt habt, gleich zu ihm weiterleiten. Ich habe keine Ahnung, warum es gleich Bannstrahler sein sollten. Irgendetwas muss ihn arg erschreckt haben… nehme ich an.” Dass ihre eigene Nichte auch auf dem Gut Forstland gewesen war und von einem äußerst seltsamen Abend berichtet hatte, verschwieg sie. “Nun, falls Ihr das aber alles geklärt habt, freue ich mich sehr für Euch. Die Ruhe habt Ihr verdient; wer weiß wie viele Stürme da noch so kommen mögen.” Dann setzte sie sich gerade auf. “Nun, da ich für den Greifenspiegel schreibe, könnt Ihr noch eine Aussage treffen zu diesem Thema. Ich bin mir sicher, dass der aufmerksame Leser, der Adel der Nordmarken, gespannt Eure Geschichte verfolgt.”

Eine Person verfolgte jedenfalls die Geschichte bereits aufmerksam, auch ohne dass es im Greifenspiegel stand: Mika, die gerne dabei zuhörte, wenn andere etwas erzählten. Eine Eigenschaft, die sie mit ihrer Schwester Gwenn teilte, wenn auch mit anderen Zielen. Bei Mika war es reine Neugierde.

Das Gesicht der jungen Baroness blieb freundlich, doch ihr Lächeln wirkte nun aufgesetzt, sogar ein wenig verkrampft.

SIE!!! Caltesa von Immergrün! Sie war die Urheberin jenes Artikels, der die neue Edle von Forstland verunglimpft hatte. Natürlich! Siedend heiß fuhr es Arda den Rücken herab, als sie sich des Umstands bewusst wurde.

“Selbstverständlich könnt Ihr etwas schreiben. Nachdem wir uns mit dem Herrn von Mersingen unterhalten haben. Wie wäre es mit… einer Richtigstellung? Vielleicht sogar einer Entschuldigung? Einer von Euch hat mir immerhin Unrecht getan - der Herr von Mersingen oder Ihr.”

“Entschuldigung? Es wurde nur von Tatsachen berichtet. Aber Ihr habt Recht, der Herr Mersinger sollte sich bei Euch entschuldigen. Sicherlich hatte er überreagiert. Ich schreibe gerne über eine Stellungnahme der Beteiligten. Warten wir den Sturm ab.” Caltesa war zufrieden.

Arda hingegen war nun zusätzlich verärgert. Diese Familie - Tante wie auch Nichte gleichermaßen - war eindeutig ihrem Seelenheil nicht zuträglich! Sie gab sich Mühe, ihre Wut zu verbergen, doch in ihr kochte es.

Mika zog sich ein wenig zurück in eine Ecke des Raumes. Das Gespräch war ihr unheimlich geworden, es nahm eine Wendung, die ihr Angst machte.

***

Der Sturm zieht über das Dorf - fast überall

Das Geläut der Sturmglocke und das hektische Treiben der Dorfbewohner war im ganzen Dorf zu hören. Auch die hohen Gäste der Hochzeitsgesellschaft blieben nicht von der Unruhe am Anfang der Efferdstunde verschont. Wer sich zum Essen im Gasthaus aufhielt, wurde ebenso gestört, wie diejenigen, die sich zu einer Mittagsruhe in ihre Zimmer zurückgezogen hatten.

Windstille auf dem Dorfplatz

(13:55)

Das stärker werdende Rauschen der Blätter in den Wipfeln der Bäume war der erste Vorbote gewesen. Dann die schnell und wild ziehenden Wolken, die schwer und bleiern den Himmel verdunkelten.

Liana war allein. Eduina war irgendwo im Dorf, um nach Naschwerk für die Kinder Ausschau zu halten.

Anfangs hatte die Elfe noch ihren Kopf leicht gehoben und ihre Augen geschlossen. Sie liebte es, dem Wind zuzuhören. Manchmal, wenn sie sich voll und ganz auf seine Melodie einließ, war sein Wehen wie ein Flüstern. Ein Flüstern, das ihr Gedanken, Ahnungen und auch Visionen zuteil werden ließ …

Doch diesmal war der Wind wild. Er würde ihr nichts erzählen, was sie verstehen konnte, sondern nur von der Macht des nahenden Sturms künden, zu dem er sich mehr und mehr entfachte.

Sie stand etwas abseits neben einer alten Buche, deren Stamm ihr Schutz versprach - und schaute sich um.

Sie spürte die zunehmende Aufregung. Furcht. Sah die Händlerinnen und Händler, die eilig die Zelte abbauten.

Mit Sorge betrachtete sie die zunehmende Gefahr. Planen, die weggeschlagen wurden von plötzlichen Windstößen. Körbe, Schalen und Krüge, die umgestoßen wurden. Menschen, die sich in Sicherheit brachten - während andere zugleich ihr Hab und Gut in Sicherheit bringen wollten.

Intuitiv spürte sie ihr Mandra in sich.

Konnte jemand sie sehen? Würde er oder sie gewahr werden, was Liana nun zu tun im Begriff war? Es blieb wenig Zeit.

Einmal mehr schloss sie die Augen. Hob langsam ihre Hände, so dass sich ihre Fingerkuppen fast berührten. Ließ sich ein auf das Spiel der Winde und deren Macht. Um etwas zurückzugeben und einen Teil ihrer eigenen Kraft einfließen zu lassen. Eins zu werden mit dem Wind. Sie erinnerte sich an die alten Worte, die nötig waren, um den Sturm zu besänftigen. Ließ ihre zarte Stimme erklingen, die im Rauschen, Tosen und Heulen der Winde fast unterging. Dann breitete sie langsam und anmutig ihre Arme aus …

… und der Wind antwortete. Umspielte sie. Ließ nach in seiner ungestümen Wut.

Ein feines Lächeln zierte das Antlitz der Elfenzauberin, als sie spürte, dass sie eins mit dem Wind war - und ihn bitten konnte, in seiner Macht nachzulassen.

Die Ritterin Alana von Altenberg wurde von dem Sturm überrascht wie alle anderen, doch waren ihre Instinkte geweckt. Zwei Kinder, die ziellos und weinend umher rannten, waren ihr sofort aufgefallen und ließen sie nicht zögern zu helfen. Alana schnappte sich die beiden, suchte Obdach an einem Fuhrwerk und hielt ihre Arme schützend über die Kinder. Plötzlich brach der Wind ab, und sie sah die Elfe, die sie von der Hochzeit in Schweinsfold kannte. Vorsichtig erhob sie sich und schritt mit den beiden Kleinen an den Händen auf sie zu.

Die beiden Zwillinge Henna und Rabanna weinten noch immer bitterlich vor Angst, obwohl der Sturm nachgelassen hatte, ließen sich jedoch von Alana zu der fremden Frau führen. Immer wieder jammerten die beiden dreijährigen Mädchen nach ihrer Mutter.

“Ganz ruhig Mädchen, wir werden eure Mutter schon noch finden”, sagte Alana vorsichtig und ging näher zur Baronin. Wenn sie eines wusste, dann, dass es im Umfeld der Elfe sicher war. Wieder erinnerte sich Alana daran, wie diese gegen einen Dämon im Sumpf gekämpft hatte. “Hochgeboren, sind wir jetzt in Sicherheit?”

Alana erhielt keine Antwort - doch bemerkte sie gleich den Grund dafür. Zu sehr war die Elfe in dem Rausch gefangen, den der sich entfachende Wind mit sich brachte. Wobei: Gefangen fühlte sie sich ganz und gar nicht, sondern eher befreit - die Gedanken eins mit den Wirbeln und Böen. Da blieb nur wenig Raum für andere Eindrücke. Ein Sturm duldete nichts neben sich, und ihn zur Ruhe zu legen, erforderte viel Konzentration, denn er war ein unnachgiebiger und ungeduldiger Gefährte. Es war so viel leichter, einen Wind zu entfachen, als ihm Einhalt zu gebieten …

Dann endlich bemerkte Liana, dass sie und der Wind nicht allein waren. Hörte das Schluchzen der Kinder. Sah die Ritterin, welche sie mit einem fragenden Blick betrachtete.

Sie erkannte Alana wieder. Und so, wie die Ritterin die beiden Kinder schützend an sich hielt, erfasste sie langsam die Situation. Und spürte erst jetzt zum ersten Mal bewusst, dass der Wind tatsächlich nachgelassen hatte in seiner Wucht und Wut.

Sie lächelte, fast etwas zaghaft. Entschuldigend.

“Wie gut, dass Ihr die beiden gefunden habt”, sagte sie, während sie in die Hocke ging, um den Mädchen kurz über die Wange zu streichen. Dann schaute sie hoch zu Alana.

“Hier ist es ruhig. Der Sturm wird uns hier nicht behelligen.”

Die Zwillinge beruhigten sich etwas, als Liana sie streichelte, doch noch immer standen Tränchen in ihren Augen und sie schluchzten “Mama!”

Doratrava hatte das Gutshaus verlassen und war nun auf dem Weg zum Brauhaus der Rodenbachs. Auf halbem Weg, als sie gerade den Dorfplatz überqueren wollte, flachte der Sturm ab, wandelte sich zu einem lauen Lüftchen. Doratrava schaute sich unwillkürlich um und sah, dass hinter ihr, wo sie gerade herkam, der Wind noch immer genauso toste, wie noch vor einem Augenblick. Es war, als wäre sie durch ein unsichtbares Tor in ein unsichtbares Haus gegangen. Als sie wieder nach vorne blickte, sah sie etwa 30 Schritt vor sich die ihr bekannte Elfe Liana neben Alana und zwei Kindern des Dorfes stehen.

Kurzzeitig verwirrt schaute Doratrava sich um. Als sie Liana und Alana entdeckte, winkte sie diesen kurz zu, ein wenig verwundert über die Selbstzufriedenheit, die Liana ausstrahlte. Aber sie hatte jetzt leider keine Zeit, um Kontakte zu pflegen, daher orientierte sie sich gleich wieder in Richtung der Brauerei und lief weiter.

Aus den Augenwinkeln sah Liana den Gruß und hob ihrerseits die Hand, um ihn zu erwidern. Die Gauklerin hatte es offenbar sehr eilig - was angesichts der Situation aber keinesfalls verwunderlich war.

Alana blickte sich noch einmal um, ob sie vielleicht eine Frau sah, die die Mutter der beiden Mädchen sein konnte. Da entdeckte sie am anderen Ende des Dorfplatzes, dort wo Lianas Schutzzone vor dem Sturm nicht mehr hinreichte und der Wind ungehindert wüten konnte, etwas Verdächtiges. Ein dicker Ast war anscheinend von einer der alten Eichen abgebrochen und auf einen Marktstand gefallen. Der Stand vor dem Fachwerkhaus, Alana erinnerte sich, dass dies die Dorfmetzgerei gewesen sein musste, war völlig zertrümmert. Eine Leinenplane, die mit einer Ecke unter dem Holz eingeklemmt war, wedelte im Wind wild hin und her und drohte, bald vollends wegzufliegen. Doch lag da nicht ein menschlicher Körper unter den Trümmern? Wieso hatte sich noch niemand darum gekümmert?

Alana ging in die Hocke und schaute den Zwillingen in die Augen. “Hier seid ihr sicher. Ich muss jetzt jemandem helfen. Könnt ihr bei der Elfe bleiben? Und bleibt zusammen. Hier seid ihr sicher.” Dann fügte sie die Hände der Mädchen zusammen, winkte den zwei anderen zu und deutete auf den zusammengebrochenen Stand.

“Alana!” Lianas Stimme klang besorgt. “Wo wollt Ihr hin? Wir sollten die Kinder ins Haus bringen.” Den Verletzten hatte sie offenbar nicht bemerkt.

“Dort drüben im Sturm bedarf jemand Hilfe!”, rief die Ritterin der Baronin zu.

Rabana zeigte auf den zertrümmerten Stand und rief unter Tränen: Da ist unsere Mama!”

Die Baronin folgte dem Blick Alanas und der Kleinen in die Richtung der Unglückseligen. Das Heulen und Tosen nahm wieder zu. Sie musste sich konzentrieren, damit die Verbindung nicht abbrach. Derweil riefen die beiden kleinen Mädchen noch nach ihrer Mutter.

“Bitte, wartet nur einen kleinen Augenblick!”, sagte sie an Alana gewandt.

Sie sammelte sich.

Dort drüben war jemand offenbar schwer verletzt. Wenn die Mutter noch am Leben war, war offenbar dringend schnelle Hilfe geboten.

Sie kniete sich wieder auf den Boden und blickte abwechselnd Henna und Rabanna an. Wissend, dass die völlig verängstigten Mädchen sie ohnehin kaum verstehen würden. Dennoch sprach sie einige Worte in ihrem melodiösen Singsang, teils auch elfische Worte. Ruhe. Frieden. Zuversicht. Vertrauen. Sie versuchte, all das auszustrahlen, um den Kindern zumindest ein klein wenig Trost geben zu können in der Eile, und sprach mit Mandra in ihrer Stimme.

“Wir helfen eurer Mama”, sagte sie dann.

Sie erhob sich. Schloss einen Moment wieder ihre Augen, um sich einmal mehr auf ihren eifersüchtigen, unnachgiebigen Gefährten zu konzentrieren, der an ihren Gedanken zehrte. Und versuchte einmal mehr, ihn zu besänftigen. Ihn gewogen zu halten.

Sie würde Alana keine große Hilfe sein, wenn es darum ging, schwere Äste fortzuschaffen. Aber sie würde diese Kinder in Sicherheit bringen - und vielleicht reichte ihr Wille, um der Ritterin den Weg zu erleichtern, um mit ihr nach der Mutter zu schauen.

Sie nickte Alana zu.

“Ich gehe mit Euch!”

Die Damen gingen zügig, aber ohne zu rennen, mit den beiden Mädchen an der Hand über den Dorfplatz in Richtung der Metzgerei und näherten sich so dem zertrümmerten Stand.  

Die Baronin achtete jedoch darauf, nicht zu nah heranzugehen, sondern nur so weit, dass Alana die Gelegenheit hatte, sich ein Bild zu machen, ohne selbst zu Schaden zu kommen -  und um zu helfen, wenn es möglich war.

Vor ihnen beruhigte sich der Sturm langsam mit jedem Schritt, den sie machten, hinter ihnen frischte der Wind dafür in gleichem Maße wieder auf. Vor dem Fachwerkhaus angekommen sah Alana das ganze Ausmaß des Unglücks. Holzbalken und Bretter waren zersplittert, die Plane zerrissen. Rundherum auf dem Boden lagen verschiedene Würste und Schinkenstücke verstreut, ebenso belegte Brote. Einige Katzen stritten sich mich einer Handvoll Ratten um die besten Stücke. Unter dem heruntergefallenen Ast lag der leblose Körper einer jungen Frau. Aus einer  großen Platzwunde am Kopf lief Blut in ihr braunes, schulterlanges Haar. Das beigefarbene Kleid war vom feuchten Matsch völlig verdreckt. Die Augen der Frau waren geschlossen. Der linke Arm war unnatürlich abgewinkelt, ein Knochensplitter ragte aus ihrer Haut. Henna und Rabanna fingen wieder an zu weinen, als sie ihre Mutter aus der Ferne sahen.

Hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, Alana zur Seite zu stehen, und andererseits den Kindern den Anblick ihrer vielleicht ums Leben gekommenen Mutter zu ersparen, legte Liana sanft ihren rechten und ihren linken Arm jeweils um die Schultern der beiden Mädchen, um diese festzuhalten. Der Gasthof war nicht weit weg. Dort wären die Kleinen vorerst in Sicherheit. Sie hielt sie fest und drehte sich sacht nach rechts, um zum Gasthof zu gehen.

“Kommt, wir müssen in Sicherheit!”

Doch vorher schaute sie noch einmal zu Alana, um zu sehen, wie es um sie stand.

Die Ritterin prüfte, ob die Verletzte noch atmete. Es war zwar nur noch ein sehr flacher Hauch, den die Bewusstlose von sich gab, aber noch war nicht alles Leben aus ihrem Körper gewichen. Dann riss sie ein Stück aus einer Plane und band es fest um den blutenden Kopf der Frau. “So meine Liebe, bringen wir dich in Sicherheit”, sagte Alana vor sich hin und hievte die junge Mutter auf ihre Arme. Intuitiv - oder aus Erfahrung - hielt Alana den Körper der bewusstlosen Frau so, dass sie ihr keinen weiteren Schaden zufügte. Dann folgte sie der Elfe.

“Rasch, ins Gasthaus, dort können wir uns um sie kümmern”, rief Liana ihr entgegen und wandte sich um, damit sie die verängstigten Töchter in das Haus bringen konnte.

~ * ~

Ein viel zu kurzer Schlaf

(13:55)

Imelda hatte das Gefühl, gerade eben erst eingeschlafen zu sein, als direkt neben ihrem Kopf die Glocke läutete. Nun ja, es fühlte sich für sie zumindest so an. Allerdings kam das Läuten der Sturmglocke auch direkt aus dem Haus neben dem Fenster in Imeldas Schlafkammer. Es dauerte eine Weile, bis sich Imelda orientieren konnte, denn ihr Geist war noch immer halb in der Traumwelt gefangen, in der sie Meta und Gudekar getroffen hatte. Erst langsam nahm sie die Realität wieder wahr. Natürlich, sie lag auf dem Bett im Obergeschoss von Limrogs Haus. Aber der Traum wirkte so real. Naja, nicht wirklich.

Was hatte das Glockengeläut nur zu bedeuten?

Imelda, noch immer in ihren Kleidern und mit zerzauster Sturmfrisur, schreckte wie vom Blitz getroffen hoch. “Ahhh, was ist denn? Brennt es?”, rief sie angespannt, ohne Hoffnung, irgendwoher eine Antwort zu erhalten. Sie rappelte sich auf, lief zum Fenster und öffnete dieses, um sich hinauszulehnen und sich einen Überblick zu verschaffen.

Der Sturm drückte gegen den Fensterflügel, den Imelda zu öffnen versuchte, und fast hätte sie sich die Finger eingeklemmt. Doch natürlich schaffte es Imelda schließlich, das Fenster zu öffnen. Der Sturm tobte über das Dorf, ja, soweit sie sehen konnte, über das Tal den Bachlauf hinab. Überall flogen kleinere Gegenstände durch die Luft. Die Menschen unten versuchten krampfhaft, sich und ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. Der Markt auf dem Dorfplatz war fast vollständig abgebaut, doch einige Stände waren eingestürzt. Drei Häuser weiter war ein Ast von einer Eiche abgebrochen und auf einen Stand gestürzt. Doch was war das? In der Mitte des Dorfplatzes bildete sich plötzlich in einem Kreis von etwa 60 Schritt Durchmesser eine Zone der Windstille. In der Mitte dieser Zone erkannte Imelda die Baronin Liana Morgenrot.

Verdutzt erblickte Imelda die Elfenbaronin, die offenbar mit Magie gegen den Sturm ankämpfte. Mit einem kräftigen Ruck schloss sie das Fenster, rannte aus ihrer Stube heraus und die Treppe hinunter. “Meister Limrog!” rief sie aufgeregt und hoffte auf eine Antwort. “Habt Ihr die Glocke gehört?”

Der Schmied stand mal wieder an der Esse und schürte das Feuer. “Ja, da draußen ist ein bisschen Wind.” Scheinbar brachte ihn das Glockengeläut nicht aus der Ruhe.

“Ein bisschen Wind?!”, rief sie aufgebracht und schnappte nach Luft. “Das ist der stärkste Sturm seit Bosparans Fall! Draußen stürzen die Buden vom Markt zusammen, die Bäume fallen um und die Dächer fliegen gleich weg… Wir müssen da raus, den Leuten helfen! Die Baronin von Morgenrot ist auch draußen. Sie kann uns schützen!”

„Nun mal ganz langsam!“ Es wirkte nicht so, als wäre der Angroscho besonders beunruhigt. „Wenn ihr so aufgeregt seid, seid Ihr da keine Hilfe und bringt Euch nur in Gefahr. Wenn die da draußen Hilfe brauchen, werden sie schon kommen. Wir sollten das Feuer bereit machen, falls irgend etwas auf die Schnelle repariert werden muss.“ Oder, falls nach einer Amputation eine Wunde ausgebrannt werden musste, ergänzte er in Gedanken.

“Wir wissen doch gar nicht, wie lange der Sturm andauert. Wenn tatsächlich was geschmiedet werden muss, können wir die Esse immer noch schnell entfachen. Aber wer wird denn jetzt ans  Reparieren denken, wenn da draußen alles wegfliegt!? Und wer weiß, vielleicht benötigt jemand dringend unsere Hilfe. Die Baronin kann uns Schutz bieten. Ganz sicher!” Imelda lief eilig zur Tür, um sich ihren Umhang umzulegen.

“Na gut, ich werde Euch begleiten. Wartet, ich hole mir meinen Mantel.” Limrog verschwand durch eine Tür in einen kleinen Nebenraum. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder herauskam. Imelda hörte immer wieder Geklapper und Geschepper. Nach einem einfachen Mantel hörte sich das nicht an.

Zwischenzeitlich zog sich die Hadingerin ihre hohen Stiefel aus Schweinsleder an. “Ähhh, Meister Limrog? Alles okay da drinnen?”, fragte sie dann angesichts der Geräusche doch zaghaft nach und trat zur Tür des Nebenraums.

Limrog hatte eine große Truhe und einen Schrank geöffnet und suchte darin nach verschiedenen Dingen. Neben der Tür lehnte eine schwere Axt. “Ja, alles gut. Ich bin mir sicher, er muss hier irgend… ah, da! Na endlich.” Limrog kam aus dem Schrank hervor und hielt einen Tellerhelm in den Händen. Strahlend hielt er ihn Imelda hin. “Ich denke, er müsste Euch passen. Damit Euch nichts auf den Schädel fällt. Das wäre bedauerlich.”

Imelda schmunzelte und nahm den Tellerhelm entgegen. “Oh, der ist ja praktisch! Und nicht zu vergessen, dass dann meine Haare auch nicht nass werden.” Prüfend klopfte sie einmal zufrieden auf das Metall, um sich von dessen Qualität zu überzeugen, strich sich die wilden Locken hinters Ohr und setzte den Helm mit einem neugierigen Grinsen auf. “Und, steht er mir?”

Der Helm hatte eine gute Qualität. Imelda war sich sicher, dass er den einen oder anderen Schlag abhalten würde. Auch saß er recht bequem. Limrog wirkte zufrieden. “Scheint zu passen”, stellte Limrog fest und dachte: ‘Bezaubernd!’. “Ihr solltet ihn tragen, wenn Ihr da raus geht. Behaltet ihn am besten gleich auf.” Er selbst zog sich einen alten, recht verbeulten Topfhelm auf, aus dem nur noch sein Bart herauszuschauen schien, und ergriff die Axt. “Nur, falls ein Baum umgestürzt sein sollte. Braucht Ihr auch noch irgend etwas?”

“Eine gute Idee!”, kommentierte Imelda die Axt Limrogs und trat an die Tür heran. Sie hielt ihre heilige Laterne vor sich und schloss kurz die Augen. “Ingra, steh’ uns bei. Hilf uns!”, rief sie ein Stoßgebet aus. Das Feuer der Laterne begann sofort stark und ungezügelt aufzuflammen. Die Flamme spiegelte sich in Limrogs Augen, der das Licht bestaunte. Das gesamte Innere in der kleinen Verglasung verwandelte in ein Flammenmeer und die Hitze war bis zu Limrog deutlich zu spüren, welcher neben ihr stand. Sie atmete noch einmal tief durch. “Ich schätze, wir sollten uns nun dem Sturm stellen.” Mutig betätigte die Hadingerin den Türhebel und öffnete die Pforte der Schmiede.

Sogleich wehte ihr eine Windböe entgegen, was das Licht in der Laterne noch stärker zum Flackern brachte. Der Dorfplatz hatte sich schon weitestgehend geleert, doch einige Personen überquerten den Platz noch immer. Limrog trat hinaus und schaute hinaus. er stellte seine fast zwerghohe Axt auf den Boden und stützte sich darauf. “Und, was schlagt ihr vor? Wo sollen wir unsere Hilfe anbieten?”

“Weiß nicht… Die Baronin war eben irgendwo da hinten!”, schrie Imelda gegen den Sturm an und hoffte, Meister Limrog würde sie hören. In der einen Hand schaukelte ihre lodernde Laterne, mit der anderen hielt sie den Helm fest. Obwohl der Regen ihr in die Augen peitschte, versuchte sie etwas zu erkennen. “Schaut’ mal! Da hinten sind irgendwelche Gestalten!”

“Bei dem Weinstand? Meint Ihr die?” Limrog schaute zu dem kleinen Weinstand an der Ecke vor seinem Haus. “Wieso sind da überhaupt noch Leute an dem Stand? Bei dem Sturm? Die müssen ja irre sein!”

“Vermutlich wollen sie den kostbaren Wein bewachen?”, mutmaßte Imelda und versuchte weiter gegen den Sturm anzuschreien. Ihr Gesicht  unter dem Helm war bereits klitschnass und sie wischte sich das Wasser aus den Augen, um etwas erkennen zu können. “Helfen wir den beiden? Der Stand könnte ja jeden Moment davonfliegen und jemanden erschlagen!”

“Ja, gute Idee”, stimmte Limrog zu. Dann schlug er vor: “Vielleicht können wir wenigstens die Weinfässer in Sicherheit bringen.”

~ * ~

In Rahjas Mission

(14:00)

Der Rahjageweihte Rahjel von Altenberg war noch immer trunken von der Zeremonie seiner Göttin, die er am Altar abgehalten hatte. Ihm war auch nicht entgangen, dass der Edle von Udenau, ein Adliger, den er aus dem Schweinsfoldischen kannte, seiner Frau eher aus dem Weg ging, als gemeinsam die Zeit bei der Festlichkeit zu verbringen. Die Entscheidung war für ihn schnell gefallen und er sah eine Möglichkeit, beide wieder auf Rahjas Pfade zu führen. Höflich hatte er beide zu einem Krug Wein auf dem Marktplatz unter einer schützenden Zeltplane geladen, als plötzlich der Sturm einbrach und eine Windböe diese wegblies. Der Weinhändler hatte sich  beim Aufkommen des starken Sturmes mit den Worten “Passt Ihr weiter auf die Fässer auf, Euer Gnaden?” in das Gasthaus auf der anderen Straßenseite verzogen. Den Wein schützend, der sich unglücklicherweise auf das Kleid der Gemahlin, Ativana von Adelsmannfelden, ergossen hatte, versuchte Rahjel, Schutz unter einem anderen Marktstand zu finden. Der Wind machte dieses unmöglich, da die anderen Stände inzwischen alle abgebaut waren, und so ergriff er die Hand der Adligen, um einen besseren Ort auszumachen. Auch wollte er den alten Edlen mitnehmen, doch war dieser verschwunden. Fragend schaute er Ativana an. “Wo ist denn Euer Gemahl hin?” brüllte er gegen den Sturm an.

“So a Sauerei”, schimpfte Ativana. “Habt trotzdem Dank für den Wein, Euer Gnaden, dieser hinterfotzige Wind, des is ja nimmer normal.” Hinter den Beiden erklang eine wohlbekannte Stimme. “Ah, da bist, ja wie schaugst denn du aus? Euer Gnaden, habe die Ehre, des kann man vor Rahja ned oft genig sagen.” AdelmannXI trotzte mühevoll dem Wind, seine Orden klimperten wie ein Musikinstrument dazu. Seine Gattin trank schnell den verbliebenen Wein aus ihrem Kelch. “Des war der Wind, Adi, mei schönstes Kleid. Was kimmst a jetzt angsoffen daher?” Adelmann XI wirkte wirklich zerknirscht. “Mei, Schatzi, wann des vorbei is, dann kaum ma a neues Kleid. Und I bin dabei. Auf das Rahja Zeuge sei.” Er sah besonders zu Rahjel. “Euer Gnaden, Ihr habts es gehört. I vertrau earna jetzad mei Frau an...” Möglichst würdevoll straffte er sich. “Die Pflicht ruft, I muass de Leid helfen.” Sein Blick ging umher nach einer möglichst hilfebedürftigen Person.

Ativana lächelte niedlich. “Deh Rahjel. Mein Kleid is eh schon versaut. Habt Ihr noch einen Wein?"

Verwundert schaute er die Adelmannsfelden an. “Wir sollten aus dem Sturm raus.” Er blickte sich um.

Da sah er zwei Gestalten aus der Schmiede, vor der der Weinstand aufgebaut war, herauskommen, eine rotgelockte junge Dame mit einem Tellerhelm auf dem Kopf und einer Laterne in der Hand und ein grimmig wirkender Zwerg, dessen Kopf von einem Topfhelm verdeckt war. Dieser führte eine Axt in der Hand, die fast größer als er selbst war. Die beiden kamen direkt auf den Weinstand zu.

Rahjel wartete ab, griff aber nach der Hand der Adligen.

“Angrosch zum Gruße!” Der Zwerg deutete eine Verbeugung an. “Bei diesem Wetter solltet ihr hier nicht so sinnlos herumstehen! Sucht Euch besser schnell ein festes Dach über dem Kopf! Hat Meister Maltichio seine Fässer einfach so hier zurückgelassen?”

“Der Liebholden Rahja zum Gruße!”, erwiderte der Geweihte. “Sinnlos stehen wir hier nicht, sondern verbreiten einen schönen Anblick, ganz im Sinne der Göttin der Schönheit. Euch ist die Schönheit der hohen Dame Ativana von Adelmannsfelden doch sicherlich nicht entgangen. Und … wer könnte besser auf ein Fäßchen Wein aufpassen als einer ihrer Diener? Für Wein widerstehen wir Wind und Wetter!” Nun zwinkerte er Ativana zu.

Limrog blickte zu Ativana, was unter seinem Helm jedoch nicht zu erkennen war. “Ah, eine von Adelmannsfelden? Sehr erfreut! Dann seid Ihr eine Schwester von der Dame Ciala?”

Ativana stützte sich mit den Unterarmen auf ein Weinfass, blieb aber mit Rahel in Kontakt. Natürlich mussten sie hier raus. Er würde einen Weg finden. “Ja, richtig erkannt, auch, wenn ich schon recht lange nicht mehr hier war…” Schmied, Zwerg… ihr mochte der Name nicht mehr einfallen. Diese Angroschim aber auch mit ihrem Gedächtnis. “...Meister. Ihr habt ein feines Gedächtnis. Rahja und Ingerimm zum Gruße und das Lob Hochwürdens muss ich zurückgeben, er sorgt hier für ein Nest Rahjas im Sturm. Mit Wein und Schönheit.” Sie lächelte entzückend, hielt sich dann aber die Haare, als der Wind stärker wurde. “Drin könnten wir das aber auch. Es wäre aber schade um den Wein, oder?”

“Ähhh…”, gab Imelda von sich, erst einmal sprachlos. Sie hatte das Gefühl, dass die Nässe des stürmischen Regens sofort bis zu ihren Unterkleidern vorgedrungen war. “Also, das Fass wird mit oder ohne euch überleben. Und geklaut wird’s ja sicherlich auch nicht gleich. Aber ihr solltet euch wirklich in Sicherheit bringen. Wenn ihr Wein genießen möchtet, dann doch sicherlich nicht draußen bei Sturm und Regen? Wäre ein Wein am wohlig-warmen Feuer eines Kamins nicht viel angenehmer?”

Hatte er diese Frau wirklich schon einmal gesehen? Er überlegte, konnte sich aber nicht mehr erinnern. Schweigend dachte er nach, wann das gewesen sein könnte.

“Euer Gnaden Imelda, wenn nicht Ihr, wer könnte uns das beste und sicherste Feuer vor Ort zeigen”, sagte Rahjel fröhlich. “Liebliche Ativana. Wir sollten der feurigen Schönheit folgen.”

„Nichts lieber als das.“ Ativana hakte sich bei Rahjel unter. „Führt uns an einen gemütlichen Ort, warm, rahjagefällig. Etwas Wein tut euch sicher auch gut.“

Limrog schaute Imelda mit einem schwer einzuschätzenden Blick an. War er freundlich, einladend? Oder doch eher verärgert, abweisend? Ohne seinen Helm wäre es leichter gewesen. “Hm, Gewölbekeller?” fragte er kurz angebunden.

“Meister, das klingt nach einer wundervollen Idee.” Sie klatschte in die Hände und wandte sich an Imelda und Rahjel. “Was meint ihr?”. Ihren Haushelden AdelmannXI schien Ativana vergessen zu haben.

“Da wären wir zumindest sicherer als hier draußen im Sturm!”, schrie sie gegen den peitschenden Regen an. Vermutlich waren die Haare unter ihrem Tellerhelm das Einzige, was noch von ihr trocken war. Flüchtig versuchte sie zu erkennen, ob irgendjemand noch Hilfe benötigte.

Imeldas Blick fiel auf zwei Frauen, eine Ritterin und eine Elfe, die über den Dorfplatz gingen. Die Ritterin half einer verletzten Frau am anderen Ende des Dorfplatzes. Um die Elfe, die zwei kleine Mädchen an der Hand hielt, herrschte eine Zone absoluter Windstille, die auch den Weinstand gerade noch streifte. Ob es ernst um die Verletzte stand, war nicht zu erkennen, doch schienen die beiden Frauen die Situation unter Kontrolle zu haben. Fast am Weinstand vorbei lief die Gauklerin Doratrava, vom Brauhaus zum Gasthof, die jedoch keine Notiz von den Vieren zu nehmen schien.

“Wir sollten Euch erst einmal ins Trockene und in Sicherheit bringen, Euer Gnaden, Euer Wohlgeboren!”, riet Limrog mit einem Blick auf Rahjel und Ativana. “Nicht, dass Euch auch noch etwas zustößt. Das wäre bedauerlich!”

Dann schrie Imelda zu den anderen: “Na los! Worauf warten wir! Beeilen wir uns!!!”

Rahjel nahm Ativana in den Arm und folgte den beiden.

Und so beendeten die vier gemeinsam den kurzen Ausflug von Imelda und Limrog und gingen in die Schmiede, um sich beim Feuer und etwas Bier und Wein aufzuwärmen.

~ * ~

Der Esel und die Bäuerin. Und ein Adeliger.

(14:05)

Adelmann XI hatte, als er zusammen mit seiner Gattin und dem Rahjageweihten Rahjel unter der Plane des Weinstands stand, den kleinen Pfad zwischen Gast- und Brauhaus entlang gesehen. Dort bemühte sich Gratfriede Wolfshag, eine junge Frau in bäuerlichem Kleid, einen kleinen Eselkarren, der durch den Wind vom Weg abgekommen war, wieder flott zu bekommen, doch steckte das Rad im aufgeweichten Boden fest.

“Du störrisches altes Mistvieh!” schimpfte sie den unschuldigen Esel an. “Nun gib dir mal ein wenig mehr Mühe!” Der Esel ih-ahte aus Protest.

Eine Frau in Not mitten im Sturm. Das fiel dem Edlen sofort auf. “De Pflicht ruft!” plärrte er noch zu Ativana und Rahjel, dann rannte er klimpernd zu dem Eselskarren. “Wartets edle Maid, Rettung naht.” Es lag sicher am Wind, dass er nicht mehr so geschwind war, wie früher, dachte Adelmann. Alter und Wampn schloss er sofort aus, ein ordentliches Mannsbild kam stattlich daher. Eine plötzliche Böe ließ das Gewand  der Bäuerin gefährlich aufblähen, als würde sie bald wie ein Wölkchen wegschweben.”Ich kenn mich mit de Viecha aus, glei..” Dann verzichtete er und sparte seine Luft für den Spurt durch den Matsch.

Gratfriede sah auf und erblickte den Mann in seiner prächtigen Uniform. Ein dankbares Lächeln erschien in ihrem Gesicht. “Der Karren ist vom Weg abgekommen und hat sich im Modder festgefahren. Das störrische Tier hat aber keine Lust, kräftig daran zu ziehen. Ich könnte Eure Hilfe wirklich gebrauchen.”

Gerne hätte AdelmannXI der Holden geantwortet, doch eine unmenschliche, wie er fand, Windböe raubte ihm die Luft. Er rutschte im Matsch und platschte mit dem Bauch hinein. Doch ein echter Held lässt sich von sowas nicht aufhalten. Ächzend rappelte er sich hoch und stolperte die letzten Schritte schlammverschmiert zu der Frau und dem Karren. “Holde Maid, da bin ich, um euch zu retten.” sprach er in seinem besten Garethi. Sein dreckiger Aufzug zeigte nur, wie sehr er sich angestrengt hatte. “Lass ma den Esel da und I brng eich in Sicherheit? Oder soll I mal gscheit anpacken?”

Gradfriede musste grinsen, als der Edelmann ausrutschte und selbst in den Matsch fiel. Es war ein erhebendes Gefühl, wie er sich bemühte, ihr zur Hilfe zu sein, auch wenn es schnell offensichtlich war, dass er sich eher ernsthaft wehtun würde, als ihr tatsächlich zu helfen. Aber sie wollte ihn nicht bloßstellen. Das wäre bei einem solchen Edelmann nicht angemessen. Wenn er sie ‘retten’ wollte, dann wollte sie ihm den Gefallen tun. “Ich denke, wir bringen den Esel am besten in den Stall. Den Karren können wir noch holen, wenn das Unwetter vorbei gezogen ist. Es ist nichts wichtiges geladen. Sie ging zur Deichsel und spannte das Grautier ab. Dann, wie zum Zufall, schwang sie einen Fuß durch den Matsch und ließ sich in den Dreck fallen. “Oh weh! Nun hat auch mich eine Böe erwischt” rief sie dramatisch aus. “Könnt ihr mir bitte hochhelfen, edler Herr?”

„Gerade des woit I Eich vorschlagen. Der Esel hat Angst, da huift koa ziagn ned.“ Er wollte gerade den Wagen genauer inspizieren, als Gradfriede im Matsch landete. „Eh, hoppala. Holde Maid, hier, greifts meinen Arm. De Böen, de san tückisch.“ Sich selbst mit einer Hand am Karren festhaltend, reichte er der Frau hilfsbereit seine andere Hand.

Die Bäuerin ergriff die Hand des Edlen und ließ sich von ihm aufhelfen. Sie schaute an sich hinunter. ‘Alles voller Dreck’, dachte sie. ‘Das wird wieder eine Arbeit, das sauber zu bekommen!’ Doch die Kleider des Edlen waren ebenso verschmutzt. Gratfriede musste lachen. “Es tut mir leid, hoher Herr, dass Ihr meinetwegen Euren Gehrock eingesaut habt. Bringen wir den Esel weg, vielleicht kann ich Euch dann für Eure Unannehmlichkeiten entschädigen?”

Auch AdelmannXI wischte an seinem Gewand, aber er war sehr stolz auf sich. “Aber nicht doch. Des is mei Aufgabe, den Schwachen in Not muss man helfen.” Er bemühte sich wieder um feine Sprache. Die Bäuerin oder Magd wohnte ja am hintersten Ende der Zivilisation. “I helf earna no, mit dem feschn Esel. O mei, earna Kleidl is ja ganz dreckad.” Adelmann XI nahm den Esel am Halfter und grübelte unzufrieden. Er hatte nicht verhindern können, dass die holde Maid in den Matsch geplatscht war. Ein Blick zu seiner Frau, die süffisant lächelte, brachte die Entscheidung. “Mia bringen eia Tier gemeinsam in den Stall, dann schaug I mir mal des Kleidl an. Des ist mir ja peinlich.” Er fischte in seinem Wams nach seiner Geldkatze und gab der Frau genug, um sich ein prachtvolles Kleid zu kaufen. Das Geschäft mit dem Fisch war gut gelaufen und Kleider konnte er sich leisten.

“Ach, das ist doch gar nicht nötig! Dem Kleid ist doch fast gar nichts passiert”, wiegelte Gratfriede ab, steckte die Münzen aber sofort sehr zügig in eine kleine Tasche, die sie unter ihrem Rock versteckte. Dabei musste sie den Rock für einen Moment soweit hochziehen, dass Adelmann einen Blick auf ihre strammen Schenkel werfen konnte. “Nun lasst uns aber ins Trockene eilen. Mit wem habe ich eigentlich das Vergnügen?”

AdelmannXI zog die Augenbrauen nach oben. Diese hübschen Schenkel. Wahrscheinlich wollte die gute Frau ihn verführen. Er hatte sie gerettet. „Passt scho. Kaufts Eich was Ihr braucht.“ Er lehnte sich betont lässig gegen eine Wand. „Jetztad bring ma den Esel in den Stall und Ihr könnt’s mir was von da vertzählen I kimm ja von weit her.“ Den Esel, der den Geruch seines Stalles und des Futters roch, konnte er grad noch halten. Den anderen Arm bot er der Maid an. „Oisi hold Maid, war gleich eier lieblicher Name? Vorhin war es wichtiger,  Eich in Sicherheit zu bringen. Kommt ihr von hier? Dann kennt’s sicher alle alle Leit hier? Seits denn mit gar mit wem verheiratet?“

„Ah, wo bleiben denn meine Manieren, AdelmannXI, Edler und Vogt von Udenau. Des ist weit weg.”

“Sehr erfreut, Euer… Wohlgeboren?” Gratfriede nahm die Einladung an und hakte ihren Arm unter seinen. “Mein Name ist Gratfriede Wolfshag. Mir gehört ein kleiner Hof, hier ganz in der Nähe. Eigentlich ist es ja der Hof meines Mannes, aber der ist vor drei Götterläufen gestorben, als ein Ochse durchgegangen ist. Seitdem lebe ich allein auf dem Hof. Aus Udenau stammt Ihr? Das klingt aber schön, so geheimnisvoll. Bestimmt ist es ein interessantes Land, mit viel Abwechslung, nicht so eintönig wie Lützeltal.”

“Ja eh. Des schönste Land.” Nicht so ein Nest am Ende der Welt, das im Regen noch viel trister wirkte. Er setzte sich, als sie bei einem Unterstand angekommen waren, auf einen Holzklotz. “Hier wohnts Ihr, oder? Und wie kommt Ihr über die Runden?” Die Frau war hübsch und zugänglich. Das schmeichelte AdelmannXI. Aber andererseits war es frisch und seine Frau stand bei diesem Geweihten, den sie anscheinend so unterhaltsam fand und da war auch der Wein.

“Ach”, bemerkte die Bäuerin, “es geht schon. Das meiste schaffe ich alleine, ich habe ja glücklicherweise keine Kinder zu versorgen. Und wenn mal viel zu tun ist, zum Beispiel bei der Ernte, dann helfen die Nachbarn aus dem Dorf. Aber mit einem Mann an der Seite wäre vieles leichter. Und nicht so einsam!” Gratfriede öffnete die Tür in die Bauernstube, die einfach und rustikal, aber gemütlich eingerichtet war. “Wollt Ihr nicht eintreten, Euer Wohlgeboren?”

***

Im Forsthaus

(13:55)

Es war zum Ende des Mittagsmales, als draußen in weiter Ferne plötzlich die Sturmglocke zu vernehmen war. Lucilla von Galebfurten, die ihren Teller bereits geleert hatte, erhob sich sofort, wie in einem Reflex. Erst dann huschten ihre Augen hin und her und sie wirkte für einen kurzen Moment irritiert, bevor sie zu ihrem Begleiter sprach, der verdutzt vor ihr saß, Messer und Gabel noch in der Hand.

“Lûthard rasch, hol unsere gewachsten Mäntel und die Stiefel von oben, wir müssen sehen, ob wir helfen können.”

“Jawohl Herrin”, kam es zur Antwort und das Besteck klirrte in dem Moment auf den Tisch, da der junge Rittersmann der Aufforderung der Adligen nachkam.

Lucilla schritt derweil zum Fenster und blickte nach draußen. Die dunklen Wolken hatten sich noch weiter zusammengezogen und bildeten nun eine finstere Front am Himmel. Starke Böen ließen die Bäume sich in ihrer unermesslichen Kraft biegen. Die Naturgewalten begannen zu wüten.

Ohne weiter nachzudenken, vor allem nicht wer sonst noch zusehen konnte, zog sich Lucilla ihr Kleid über den Kopf und warf es achtlos über den nächstbesten Stuhl, so dass sie nur noch in langen, aber weniger züchtig, weil eng anliegenden Untergewändern am Fenster stand, als Lûthard wieder unten ankam und zu seiner Herrin eilte, um ihr den langen Mantel umzulegen.

Praiotrud Häsler, die Frau des Jagdmeisters, war gerade dabei, die Reste des Mittagsmahls abzuräumen. Ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, fragte sie besorgt: “Hohe Dame, wollt ihr bei diesem Unwetter wirklich da hinausgehen? Es kann bei Sturm im Wald sehr gefährlich sein, wenn ein dicker Ast abbricht oder gar ein Baum entwurzelt wird. Hier im Haus sollten wir sicher sein.” Wie, um ihre Worte zu unterstreichen, war in der Ferne ein tiefes Donnergrollen zu hören.

Die Tür zum Wohntrakt der Jägerfamilie öffnete sich und Luzia trieb ihre Tochter Firunlieb in den großen Aufenthaltsraum. Traviana, das jüngere Kind der Familie, trug sie auf dem Arm. “Kommt Kinder, wir bleiben hier lieber beisammen. Eure Großmutter kann ein wenig auf euch Acht geben, während ich die Küche richte.” Sorgenvoll blickte Luzia zu ihrer Schwiegermutter. “Sie sind schon so lange unterwegs auf der Jagd, Und das bei dem Wetter. Hoffentlich ist Wulfhelm nichts geschehen. Und Vater Leodegar.” Schnell ergänzte sie: “Und den hohen Herrschaften natürlich auch nicht.”

Es klopfte an der Eingangstür. Als Praiotrud die Tür öffnete, trat ein kräftiger Mann in einfacher Kleidung ein. “Ah, Dankhuld, hast du den Weg trotz des Sturms gut geschafft?” fragte die Frau des Jagdmeisters.

“Travia zum Gruße, Praiotrud! Naja, ganz leicht war es nicht. Auf halbem Weg hat der Sturm einen Baum entwurzelt, um Haaresbreite hätte er mich erwischt. Nun ist der Weg zurück ins Dorf blockiert.” Der Dorfmetzger schaute sich um. Besorgt fragte er: “Die Jäger sind noch nicht zurück?”

“Nein, leider noch nicht”, antwortete Praiotrud leise, um Luzia nicht noch weiter zu beunruhigen. “Setzt dich erst einmal an den Kamin um dich zu trocknen.”

Als er weiter in den Raum eintrat, erblickte Dankhuld dann auch Lucilla und Lûthard. “Travia zum Gruße, hohe Dame, hoher Herr!”

“Ist draußen alles gesichert, oder gibt es noch etwas zu tun, bei dem wir anpacken helfen können?”, fragte Lucilla energisch und frei heraus. “Was ist mit den Jägern, sind sie überfällig? Gibt es Schutzhütten hier draußen, in denen sie bei dem Unwetter Unterschlupf finden können?”

“Ja, es gibt zwei Schutzhütten im Haderholz”, erklärte Praiotrud. “Eine in der Nähe der Quelle, die andere direkt an der Straße nach Hart. Firumar sollte sie kennen und sie Jäger dort hinführen bei dem Sturm.”

Dankhuld schaute zu den anderen. “Nun, den Baum auf dem Weg zum Dorf können wir auch bis nach dem Sturm liegen lassen. Ich glaube nicht, dass außer mir so verrückt ist, jetzt noch hierher kommen zu wollen. Oder wollt Ihr in das Dorf zurück?”

Die Adlige überlegte. Man sah ihr an, dass sie Optionen und Risiken abwog.

“Wie stellt sich aller Wahrscheinlichkeit nach die Lage dort dar?”, fragte sie nach kurzer Pause. “Geht ihr davon aus, dass dort Hilfe benötigt wird?”

“Keine Ahnung!” Der kräftig gebaute Metzger zuckte mit den Schultern. “Als ich das Dorf verlassen habe, war der Sturm noch nicht so stark. Doch die Händler fingen schon an, ihre Waren in Sicherheit zu bringen. Meine Frau wollte auch gleich die Würste und Schinken zurück ins Haus bringen. Bei dem Regen waren eh keine Gäste mehr draußen auf dem Markt, um was zu kaufen. Ich hatte noch gefragt, ob ich ihr nicht erst einmal helfen soll, auch, weil sie ja die Kinder um sich hatte. Aber Traviahold meinte, sie schafft das schon. Ich solle lieber pünktlich hier sein, wenn die Jagdgesellschaft kommt. Wir wollen doch den Edlen Herrn und seine Gnaden nicht warten lassen. Tja, und auf dem Weg hierher ging es dann richtig los mit dem Sturm.”

Während die junge Adlige, auf die Worte des Mannes hin, langsam ausatmete, wich ihre Anspannung. Ja, ihre ganze Haltung entspannte sich. Die Aussage des Mannes hatte ihr den Wind aus den Segeln genommen. Die Einsicht, dass es fahrlässig war, sich ohne triftigen Grund sinnlos in Gefahr zu bringen, sickerte in ihren Verstand.

Die Verantwortung, die Lucilla zuhause in Galebfurten und darüber hinaus als Erbvögtin von Galebquell trug, hatten sie zu einer pragmatischen, anpackenden Frau geformt, die sich nicht zu schade war, selbst mit anzupacken, wenn es von Nöten war. Auch an der Galebra, nahe dem Koschmassiv, schlug das Wetter schnell um und wenn wichtige Dinge anstanden, wie die Ernte einbringen, dann war auch sie auf den Feldern zu finden, wenn die Zeit drängte. Doch Eifer schlug schnell in Übereifer um. Und Übereifer wäre es gewesen, in diesem Falle den Schutz des Forsthauses zu verlassen, das sah sie ein.

“Also seid ihr der Meinung, es wäre das Beste hier das Unwetter abzuwarten und auf die Jagdgesellschaft zu warten?”, fragte Lucilla nach einer kurzen Pause, in der sie die Situation für sich bewertet hatte.

“Momentan würde ich keinen Fuß vor die Tür setzen. Außer ich wüsste, jemand schwebt in großer Lebensgefahr und benötigt meine Hilfe”, war die Antwort des Dorfmetzgers.


~ * ~

Erwachen im Gasthaus

13:55

Was war das für eine Glocke? Meta schreckte aus ihrem Traum auf. Das passte nicht. Nun gut, was passte in dem Traum schon zusammen, doch die Glocke wirkte realer. Sie öffnete die Augen und erwartete für einen Moment, die Kinder, Gudekar und Imelda zu sehen. Und all die anderen. Doch da war nur Gudekar, direkt neben ihr. Sie hatte sich an ihn gekuschelt. Nun war die Realität wieder da. Sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen oder ärgern sollte. Aber dennoch: was war das für ein Glockengeläut?

Ein ergrauter Ritter polterte die Treppe in die Gaststube hinunter und wirkte aufgeregt. Gekleidet war er nur in einem langen Unterhemd; seine Brust zierte ein Amulett mit dem Kopf einer Löwin aus Silber, darunter trug er eine dunkle Lederhose und feste Stiefel. In seiner Rechten hielt er ein Schild, das ´auf silber eine grüne Tanne´ zeigte. Der Mittfünfziger war groß und breitschultrig und trug einen gepflegten Vollbart. “Alarm! Auf, auf! Es ist jetzt keine Zeit faul rumzuliegen!”, sagte er mit befehlsgewohnter Stimme und deutete auf die beiden Verschlafenen.

Der Anconiter Gudekar erkannte Jartgar von Immergrün, den Schwertvater seines Bruders, auch wenn er ihn sonst in deutlich angemessener Aufmachung gesehen hatte. Zuletzt, dachte Gudekar, hatte er Jartgar bei Kalmans Hochzeit gesehen. Das war nun auch schon lange her. Der Magier nahm seinen Arm vorsichtig von Metas Schultern, darauf achtend, dass sie im Halbschlaf nicht umkippte, und stand auf, um auf Jartgar zuzugehen. “Hoher Herr, es ist alles in Ordnung! Uns droht keine Gefahr, es ist nur ein Sturm da draußen. Hier im Haus wird uns nichts geschehen. Aber, wenn Ihr schauen wollt, ob Ihr draußen helfen könnt, solltet Ihr euch erst einmal vollständig ankleiden. So viel Zeit muss sein.”

Der Wirt Hagunald des Gasthauses, das inzwischen halb gefüllt war mit Gästen, die vor dem Unwetter Schutz suchten, stand neben der Tür zur Küche und schüttelte nur verwundert den Kopf. Er kam heute immer mehr zu dem Schluss, dass die hohen Herrschaften heutzutage keinen Anstand mehr hatten.

Jartgar schnaubte kurz aus. “Jetzt aber zack, zack, Ritterin! Und du, unnützer Vetter, erinnere dich an deinen Eid, Menschen zu retten. Ob nun in Robe oder nicht.” Mit geschwollener Brust machte er einen Schritt auf die beiden zu.

Gudekar war verwundert. Er kannte ja die Schrulligkeiten seiner Großtante, doch ihren Sohn hatte er stets als integren Ritter vom alten Schlag wahrgenommen. Doch heute schien er einer geistigen Verwirrung zum Opfer gefallen zu sein. Gudekar hoffte sehr, dass er mit zunehmendem Alter nicht immer mehr seiner Mutter ähneln würde. Aber vielleicht hatte ihn nur die Glocke aus einem tiefen Schlaf gerissen und er musste erst vollständig erwachen. Gudekar näherte sich Jartgar und legte seine Hände beruhigend auf die Schultern des alternden Ritters. “Kommt, setzt Euch erst einmal.” Er lotste Jartgar zu einem freien Stuhl und winkte den Wirt herbei. “Hagunald, bringt meinem Vetter bitte einen Becher warmes Honigbier!”

Jartgar schlug die Hand des Magiers zur Seite. “Setzen? Jetzt? Wir müssen Euren Leuten helfen!” Verwundert, aber auch verärgert schaute er Gudekar an.

Inzwischen war Meta wieder in der unangenehmen Wirklichkeit angekommen. Der Sturm, diese Wolken, die hatten ihr schon länger Sorge bereitet. Jetzt füllte sich das Gasthaus natürlich und vor ihnen stand ein zauseliger Ritter, der rumbrüllte. Sobald ein paar Männer aufeinander trafen, war das keine Seltenheit. Sie hatte keine Ahnung, wer der Kerl war. Anscheinend ein Verwandter. „Bei Rondra, was für ein Sturm!“ Meta straffte sich und legte unbemerkt eine Hand auf Gudekars Rücken. „Hoher Herr, Ihr habt recht. Hurtig, wir müssen nach Verletzten suchen und uns nicht anschreien. Aber lasst den Heiler dort, wo er heilen kann. Dem darf nix passieren.“ Sie gab ihr Schwert an Gudekar. „Pass darauf auf.“ Zu dem unbekannten Mann sagte sie: „Ihr scheint den Überblick zu haben. Wie viele Verletzte haben wir schon? Und wir brauchen mehr Leute, schnell. Kommt mit. Starke Männer und Frauen.“ Geschwind, da sie voll bekleidet gedöst und dann geschlafen hatte, schlüpfte sie an Gudekar vorbei und gab dem Ritter ein Zeichen, ihr zum Ausgang zu folgen.

“Recht so. Solange mir nicht von der Not eines Verletzten berichtet wird, werde ich nicht da raus in den Sturm gehen und mein Leben unnütz gefährden.” Gudekar schüttelte verständnislos den Kopf. “Wenn es aber so schlimm werden sollte, wie Ihr befürchtet, sollte jemand zum Hof meines Vaters gehen und meine Tasche mit den Utensilien holen. Merle hat sie ja nicht nebenan gelassen, dann hätte ich sie jetzt schneller parat. Ich werde hier ein paar Tische als Notliegen zurechtrücken lassen.” Als Meta aufsprang, um das Haus zu verlassen, sprang Gudekar auf und legte ihr noch schnell ihren Umhang über die Schultern. “Du solltest nicht ohne Mantel hinausgehen.”

Jartgar legte das verärgerte Gesicht ab, als er merkte, dass zumindest die Ritterin die Lage richtig einschätze. “Ich hätte mehr Mut erwartet”, sagte er zu Gudekar, doch lenkte er seine volle Aufmerksamkeit auf den Wirt. “Wirt, helf dem Gelehrten Herrn alles für Verletzte vorzubereiten.” Dann schaute er in die Masse der Gäste. “Wer kräftig und mutig ist, folgt der Ritterin und mir in den Sturm. Wenn ihr etwas finden könnt, das wie ein Schild ist”, er deutete auf seines, ”dann nehmt es mit.” Dann drehte er sich zu Meta. “Wie ist Euer Name? Ich bin Ritter von Immergrün. Bitte übernehmt die Leitung hier, ich schaue schon mal draußen nach, wie die Lage ist.”

Gudekar war zufrieden. Sein erster Eindruck über seinen Vetter war wohl falsch. Jartgar war vielleicht übereifrig, aber anscheinend doch klar bei Sinnen. So lächelte er und nickte dem Ritter zustimmend zu. „Ich werde bereit sein, wenn man mich braucht. Sondiert die Lage und ruft mich, wenn es Verletzte gibt.“

Meta dachte kurz über die Worte des Ritters nach, ob sie nun hierbleiben oder ihm folgen sollte. “Meta Croy, Hoher Herr. Ich folge Euch raus und wir schauen uns getrennt um.“ An Gudekar gewandt sagte sie: “Danke für den Mantel, du schaffst das hier? Ich nehme mein Schwert doch lieber mit. Pass auf dich auf.” Sie gab ihm einen Kuss und zwinkerte ihm zu.

Gudekar erwiderte den Kuss. „Ja, ich schaff’ das“, bestätigte er. „Pass auf dich auf!“

~ * ~

Am Brauhaus

Auch das Brauhaus diente als provisorischer Unterschlupf für einige Händler, die ihre Waren auf die Schnelle in der Braukammer und dem Lagerraum unterbringen wollten. Erlwulf und Vitold waren am Hintereingang damit beschäftigt, für etwas Ordnung zu sorgen. Erlwulf war besorgt, nicht nur wegen der Gefahr, die der Sturm bedeutete und dem Durcheinander, dass die plötzlich aufgetauchten Asylanten verursachten. Nein, er war auch besorgt, wie die Braut Gwenn von Weissenquell reagieren würde, wenn wegen des Chaos ihre Pläne für den späteren Nachmittag durcheinander gebracht wurden. Allerdings bezweifelte Erlwulf aufgrund des Wetterumschwungs, dass die Aktion überhaupt stattfinden konnte. Dennoch hatte er seine Tochter Lindwin damit beauftragt, darauf zu achten, dass niemand Unberechtigtes die Brennkammer betrat.

Der Gastraum, der seit zwei Tagen von den Rahjageweihten zu einem vorübergehenden Rahjaschrein umgestaltet worden war, hingegen war zur Zeit unbesucht. Lediglich ihre Gnaden Rajalind und ihr Novize Leander versuchten, den Raum aufzuräumen und für spätere Besucher am Abend herzurichten, in der Hoffnung, dass sich das Unwetter bis dahin beruhigen würde.

***

(14:10)

Als Doratrava am Brauhaus ankam, diskutierte Erlwulf vor dem Haus mit einem weiteren Händler und versuchte diesem deutlich zu machen, dass hier kein Platz mehr für einen weiteren Marktkarren war.

Da die Sache mit Mikas Hand eilig war, wartete Doratrava nicht, bis der Knecht mit dem Händler fertig war. “Entschuldigt, aber es ist dringend”, sprach sie daher dazwischen. “Hat jemand von euch Gudekar von Weissenquell gesehen? Ist er hier?”

“Der Gudekar?” fragte Erlwulf und überlegte. “Ich weiß nicht. Heute Vormittag hab’ ich ihn ein paar mal gseh’n. Er war dann eine Weile im Rahjaschrein mit…, naja aber danach habe ich ihn nicht mehr b’merkt. Ich vermute, er ist im Herrenhaus. Immerhin hat seine Gattin ja sein Gepäck von Vitold wieder dorthin bringe’ lassen.”

Der Händler schaute hingegen nur unwissend, aber gefesselt auf die Gauklerin, die auch durchnässt und in einen dichten Umhang gehüllt eine gewisse Faszination auf die Männer ausübte.

Doratrava entging die Aufmerksamkeit des Händlers nicht, aber mehr als einen kurzen Blick aus meerblauen Augen hatte sie gerade nicht für ihn übrig, stattdessen wandte sie sich wieder Erlwulf zu. “Nein, von dort komme ich ja gerade, es hat geheißen, Gudekar sei mit seiner Begleitung gerade eben Richtung Brauerei gegangen. Wenn er aber nicht hier ist, hast du dann eine Ahnung, wo er sonst sein könnte? Bei dem Sturm wird er ja wohl kaum einen Ausritt machen wollen, und so groß ist das Dorf ja nicht.”

Erlwulf war verwundert, dass die Gauklerin nicht selbst auf die Antwort auf diese Frage kam. „Habt‘s mal beim Hagunald probiert?“, deutete er auf die ‚Weiße Quelle‘, das große Gasthaus am Dorfplatz direkt neben dem Brauhaus.

“Hm, gut, dann schaue ich dort mal nach, danke”, erwiderte Doratrava nur, winkte knapp zum Abschied und war schon wieder auf dem Weg, diesmal zum Gasthaus.

~ * ~

Wo ist hier ein Heiler?

(14:15)

Doratrava drehte sich um und eilte die wenigen Schritte hinüber zum Gasthaus. Als sie die Klinke der Eingangstür anfassen wollte, öffnete sich diese wie von selbst. Hinaus kam ein gesetzter Ritter, gekleidet in ein Unterhemd, Hose und Stiefel, gerüstet lediglich mit seinem Schild, gefolgt von einer jungen Ritterin, die Doratrava kannte. Es waren Jartgar von Immergrün und Meta Croy.

Nur kurz ließ sich Doratrava von der seltsamen Aufmachung des Ritters ablenken, dann wandte sie sich sofort Meta zu. “Meta, ist Gudekar da drin? Es ist dringend, seine Schwester hat bei der Jagd eine schwere Handverletzung davongetragen!”

“Mika, bei den Göttern! Ja er ist da drin. Alle Verletzten bringen wir hierher. Ich schaue nach Opfern.” Völlig unerwartet klopfte sie Doratrava auf die Schulter. “Alles Gute, danke, dass du Mika gebracht hast. Ich muss weiter.” Konzentriert, aber voller Tatendrang sah Meta sich um. Doratrava und Gudekar würden das alleine schaffen, auch wenn sie gerne dabei gewesen wäre. Sie mochte Mika.

Fast schon befremdet blickte Doratrava Meta an, solche Vertraulichkeit war sie von ihr nicht gewohnt. Aber sie konnte sich ein andermal Gedanken darüber machen, nun würde sie erst Gudekar aufsuchen, er sollte dann entscheiden, ob er mit in den Gutshof kommen wollte oder ob der Zeitverlust gerechtfertigt war, um Mika hierher zu bringen. Sie öffnete also die Tür und betrat das Gasthaus, um sich nach dem Magier umzusehen. Meta hatte von noch mehr Verletzten gesprochen, hoffentlich waren Gudekars magische Kräfte noch nicht erschöpft.

“Rein mit Euch, Holde! Im Gasthaus seid ihr sicher”, sagte der Ritter Jartgar und rannte nun in den Sturm mit einem schützenden Schild.

***

Doratrava betrat die Gaststube. Dort hatten sich einige Dörfler und fahrende Händler ins Trockene gebracht. Einige Männer waren damit beschäftigt, unter den Anweisungen des Anconiters Tische zusammenzuschieben, während die Wirtsleute saubere Tücher, Schüsseln mit Wasser und scharfe Messer herbei brachten. Auch die eine oder andere Flasche Branntwein wurde auf die Tische gestellt. Die Magd Vea war eifrig dabei, die  Tischplatten gründlich abzuschrubben. Offensichtlich wurde hier gerade ein provisorisches Lazarett eingerichtet. Dieses Bild stand im krassen Widerspruch zu dem wohligen Geruch nach geschmorten Zwiebeln und würzigem Gulasch, der aus der Küche strömte.

“Ist irgendjemand schon unterwegs zum Gutshof, meine Tasche holen?” rief der Heilmagier in die Runde.

‘Na endlich’, dachte Doratrava bei sich und steuerte sofort auf den Magier zu, der ja offensichtlich noch nicht unmittelbar beschäftigt war. “Gudekar!”, rief sie schon aus drei Schritt Entfernung ohne anzuhalten, “deine Schwester braucht dich. Sie hat sich bei der Jagd die Hand zerschnitten und kann ihre Finger nicht mehr bewegen. Ardare von Kaldenberg sagt, da kann man nur noch mit Magie etwas retten!”

Erschrocken blickte Gudekar von seinem Tun zu der Gauklerin. “Mika? Oh weh! Wo ist sie? Ist es sehr schlimm, Doratrava?”

“Sie ist im Gutshaus”, erklärte die Gauklerin. “Es sieht für jemanden wie mich jetzt nicht sonderlich schlimm aus, obwohl es ein tiefer Schnitt war und stark geblutet hat. Mika ist im Wald gestolpert und auf ihre Laterne gefallen, die gesplittert ist, dabei haben sich Glasscherben in ihre Handfläche gebohrt. Aber Ardare, die die Wunde versorgt hat, sagt, es könne sein, dass sie ihre Finger nie mehr würde bewegen können, wenn ihr nicht schnell auf magischem Wege geholfen würde!” Doratrava sprach nicht panisch, sondern ruhig und ernst. Gudekar würde sicher beurteilen können, wie nötig seine Hilfe war.

Aber der Anconiter war hin und her gerissen. Einerseits spürte er einen inneren Drang, sofort zu Mika zu gehen und nach seiner kleinen Schwester zu schauen. Selbst wenn Arda sich irrte – was verstand die Baroness wohl schon von den Heilkünsten? – wollte er Mika die Qualen ersparen und ihr so schnell wie möglich helfen. Andererseits wusste er, so arg wie der Sturm inzwischen geworden war, könnte es sehr schnell Schwerverletzte im Dorf geben, insbesondere, wenn gerade so viele Fremde im Ort waren. Und dann würde er hier gebraucht werden, müsste schnell handeln. Eine mehr oder minder leichte Handverletzung, selbst wenn die Sehnen verletzt sein sollten, war da ein kleines Übel. Immerhin hatte es Mika ja wohl aus dem Wald hierher geschafft. Nervös lief er auf und ab. Hingerissen zwischen Geschwisterliebe und Pflichtbewusstsein. Was sollte er tun? Dann entschied er: “Doratrava, könntest du zurück zum Gutshaus laufen und Mika hierher schicken? Das wäre wohl das Beste. Und bringt bitte meine Tasche mit. Merle weiß, welche ich meine und wo diese ist.” Den letzten Satz sprach er betont scharf aus. Eigentlich sollte diese Tasche nämlich nebenan im Brauhaus stehen. “Ich glaube, ich sollte hier jetzt nicht weg.”

Doratrava warf Gudekar einen scharfen Blick zu, einerseits wegen seines Tonfalls und nervösen Getues, andererseits, um sich zu vergewissern, dass er es ernst meinte. Aber nachdem er seine Entscheidung trotz ihres Zögerns nicht revidierte, zuckte sie mit den Schultern, dann nickte sie wortlos und drehte sich herum, um das Gasthaus wieder zu verlassen. Er war der Spezialist, er musste es wissen.

Doch da hatte sie ihn völlig falsch eingschätzt. Als Doratrava gerade die Türklinke drücken wollte, rief er ihr hinterher. “Warte, Doratrava! Ich begleite dich!” Der Magier ging zu dem Tisch, an dem er mit Meta gesessen hatte, und holte seinen Mantel. Dann folgte er ihr nach draußen in den Sturm.

Die Gauklerin verdrehte die Augen und seufzte innerlich, dann drehte sie sich wieder herum, um auf Gudekar zu warten, sie verkniff sich aber einen Kommentar. Gudekar gehörte offenbar zu der Sorte Leute, die nicht wussten, was sie wollten. Sie waren nun zwar schon zusammen unterwegs gewesen, aber nicht lange, und außerdem war der Magier kein Ausbund an Gesprächigkeit und Geselligkeit, so hatte sie ihn bisher noch nicht wirklich kennengelernt. Am lebhaftesten war ihr tatsächlich das Gespräch damals in Elenvina in Erinnerung geblieben, wo er sehr freundlich und zugänglich gewirkt hatte, aber in der großen Gruppe, die sie dann in Albenhus gewesen waren, hatte er sich mehr in sich zurückgezogen, da hatte sie kaum ein Wort mit ihm gewechselt. Nun ja, müßige Gedanken, jetzt galt es erst einmal, Mika zu helfen und auf dem Weg dorthin nicht vom Sturm weggepustet zu werden. Oder ob es wieder so eine Zone der seltsamen Windstille gab? Sie wollte sich nicht darauf verlassen.

“Ein furchtbares Wetter!” bemerkte Gudekar unnötigerweise, als er den Fuß vor die Tür setzte. “Ich hoffe, die anderen sind auch schon von der Jagd zurück!”

“Keine Ahnung”, gab Doratrava zurück. “Als wir gegangen sind, war die Jagd gerade in vollem Gange. Ich vermute, die werden noch eine Weile brauchen, bis sie kommen.”

“Oh je, hoffentlich stößt ihnen bei dem Wetter nichts zu.” Der Anconiter sorgte sich, da er wusste, wie gefährlich es bei einem Sturm im Wald sein konnte.

Doratrava und Gudekar hatten nur wenige Schritt von der Tür des Gasthauses zurückgelegt, als sie Liana und Alana auf sich zukommen sahen.

~ * ~

Zwei Ritter im Sturm

Meta Croy stand noch vor dem Gasthaus, in das die Gauklerin gerade verschwunden war, während Jartgar von Immergrün sehr zielstrebig seinen Weg gesucht hatte. Nachdem sich die Elfe Liana in die entgegengesetzte Ecke des Dorfplatzes bewegt hatte, brauste der Sturm vor dem Gasthaus abermals auf, als wollte er, von einer kurzen Pause erfrischt, das Versäumte nachholen.

~ * ~

(14:15)

Jartgar hatte den Dorfplatz auf der südlichen Seite überquert. Einer Eingebung folgend wollte er schauen, ob in dem Lager auf den Streuobstwiesen, wo sowohl einige Gäste als auch das fahrende Volk seine Zelte aufgeschlagen hatten, Hilfe gebraucht wurde. Fast hatte er den Platz sich stetig gegen den Wind stemmend überquert, da trug der Wind ihm eine ihm vertraute Stimme entgegen. Er blicke in die Richtung und sah vor der Eingangstür eines großen Fachwerkhauses seinen Vetter und ehemaligen Knappen Kalman im Gespräch mit dem Dorfschulzen Praiogrimm Waldgrun. Worüber die beiden Männer diskutierten, war nicht zu verstehen.  

“Alles in Ordnung? Braucht jemand Hilfe?”, brüllte er gegen den Sturm an.

Kalman drehte sich zu dem Neuankömmling um und setzte ein freudiges Lächeln auf. “Ah, Jartgar, alter Freund! Kommt näher! Nein, es gab eine Verletzte dort hinten, aber die wurde bereits versorgt. Meister Waldgrun und ich überlegen gerade, wie wir die Feierlichkeiten für Gwenns Hochzeit noch retten können. Auf dem Dorfplatz, wie geplant, können wir ja nicht feiern. Da hat der Wind ja alles zerstört. Sehr ärgerlich, wollte das Volk doch heute Abend zum Tanz aufspielen. Wir haben gerade die Zehntscheuer inspiziert. Wenn das Volk nach dem Sturm tatkräftig anpackt, könnten wir sie vielleicht soweit ausräumen. dass wir die Zeremonie und das Festessen morgen hier durchführen können. Was meint Ihr?”

Praiogrimm blickte ebenfalls fragend zu dem Ritter. Vielleicht hatte ein Außenstehender ja noch eine zündende Idee.

“Seid ihr sicher, dass alle in Sicherheit sind? Ansonsten hört sich Zehntscheuer gut an”, sagte der Ritter Jartgar.

Mit einem Achselzucken erklärte Kalman: “Nun, zumindest hier im Dorfkern scheinen fast alle Leute in Sicherheit und die Verletzten versorgt zu sein. Wie es draußen auf den Gehöften aussieht, weiß ich natürlich nicht.” Nun wandte sich Kalman wieder an Praiogrimm. “Also gut, dann machen wir das so. Sobald der Sturm etwas abflaut, ruft ihr tatkräftige Männer aus dem Dorf zusammen und räumt die Scheuer soweit leer, dass Tische und Bänke aufgestellt werden können. Die Frauen sollen derweil alles so gut wie möglich in der kurzen Zeit schmücken. Vielleicht können wir dann schon am späteren Abend zum Tanz aufspielen lassen. Die Spielleute sind eh schon entlohnt, dann sollen sie auch etwas tun für ihre Taler.”

“Und morgen die Zeremonie?”, fragte der Dorfschulze nach.

“Die halten wir natürlich auch hier drinnen ab. Selbst, wenn der Regen noch nachlassen sollte, draußen ist alles zu nass und zu kalt.” Kalman hat gesagt, was zu sagen war. Den Rest musste Praiogrimm selbst in den Griff bekommen. Also wandte er sich an seinen alten Freund und Schwertvater. “Komm mit, Jartgar, wir gehen ins Gutshaus, suchen uns ein gemütliches Plätzchen, trinken ein frisches Bier und du erzählst mir, wie es dir in den letzten Götterläufen ergangen ist.”

Misstrauisch schaute er sich um, doch dann lächelte er Kalman an. “Wenn die Gefahr gebannt ist, so will ich dir folgen mein Sohn.” Väterlich klopfte er ihm auf die Schulter und folgte.

Der Lützeltaler, etwas jüngere Ritter legte seinem Schwertvater freundschaftlich den Arm um die Schultern, damit sie gemeinsam besseren Stand gegen die erneut aufbrausende Windböe hatten. “Deine Mutter hat sich vor dem Sturm zur Ruhe gelegt. Wenn wir Glück haben, hat die Sturmglocke sie nicht geweckt und wir können unbemerkt in Vaters Weinkeller verschwinden. Dort kann man sehr gemütlich ungestört reden.”

“Worauf waren wir?”, sagte Jartgar und lachte.

Die beiden alten Freund – vor Urzeiten Schwertvater und Knappe – gingen zum Gutshof und schlichen sich in den Weinkeller des Edlen.

~ * ~

(14:15)

Meta blickte in einer Vorahnung nach oben, was sich jedoch aufgrund des Windes als schwerer herausstellte, als gedacht. Der Regen und aufgewirbelte Blätter peitschten ihr in das Gesicht und zickten an ihren Augen, die sie immer wieder zukneifen musste. Doch dann sah sie, wie sich an einem Haus am südlichen Rand des Platzes ein paar Dachschindeln im Wind lösten und herunterzufallen drohte. Sie blickte an der Hauswand hinab und entdeckte einen jungen Mann, der sich an den Hauswänden gedrückt auf das Gasthaus zubewegte. Gleich würde er an dem Haus mit den losen Schindeln vorbeilaufen.

„Obacht, bleib stehen!“ rief Meta dem Mann zu und lief dem jungen Mann entgegen. Es musste nicht jetzt passieren, aber es konnten ihn herabfallende Schindeln treffen. Sie rannte durch den Wind und hoffte, dass er sie hören würde und sie schnell genug war.

Durch den Wind, der um die Hausecke pfiff, wurden Metas Rufe jedoch verschluckt. Als er die Ritterin auf sich zustürmen sah, blieb der junge Mann jedoch verdutzt stehen – genau unter den losen Dachschindeln.

Mist, blöder, der konnte oder wollte natürlich nicht hören. Wenigstens sah er sie und blieb an der ungünstigsten Stelle stehen. Bei dem Wind würden die Schindeln jeden Moment fallen. Meta hatte die Wolken schon für unheilig gehalten und aus denen war dieser Sturm hervorgegangen. Der Lützener schaute sie grad nicht besonders intelligent an, Meta war fast bei ihm, da meinte sie, ein Bersten auf dem Dach zu hören. Die zusätzlichen Jahre bei Thymon zahlten sich nun aus, immer wieder dieselben Übungen, bis sie tief im motorischen Gedächtnis verankert waren. Der junge Mann war kurz vor ihr, als sie das Geräusch hörte. Meta sprang auf ihn mit dem Ziel, ihn wegzuschubsen und zu Fall zu bringen. Sie spürte scherzhaft den Aufprall auf den Boden und ihr fehlte kurz die Luft. Der Mann lag halb neben, halb unter ihr. Bevor sie noch zu einer Erklärung ansetzen konnte, grollte es und Schindeln mit Teilen von Gebälk fielen auf die Stelle, wo der Dorfbewohner eben noch stand.

Der Mann schaute Meta vor Schreck mit großen, strahlend blauen Augen an. Der Aufprall, erst auf dem Boden, dann von oben auch noch Meta auf seiner Brust, hatte ihm die Luft aus den Lungen gepresst. Der junge Mann, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als die Ritterin, schaute sich um und sah, was ihm geblüht hätte, hätte Meta ihn zu Boden geworfen. Er brauchte einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen. Schwer atmend mit leiser Stimme flüsterte er: “Habt Dank, hohe Dame! Ihr habt mit das Leben gerettet.” Seine Augen wanderten wieder zu denen seiner Retterin und verharrten dort.

“Na kommt, Ihr müsst ins Gasthaus, da ist es sicher. Meine Aufgabe ist es, die Leute aus der Zone der Gefahr zu holen.” Sie sah sich um und der Weg schien ihr frei. Sie grinste keck. “Das schafft ihr alleine, tut mir leid, wenn es etwas grob war, aber das musste sein. Ich werde euch schon nichts gebrochen haben.”

Der junge Mann versuchte aufzustehen, wobei sein Blick immer wieder zu der Ritterin wanderte. Als er sich auf seinen rechten Fuß stellen wollte, knickte dieser jedoch ein. “Autsch! Scheiße! Oh je, da bin ich mir nicht so sicher.”

Meta fluchte innerlich, ließ sich aber nichts anmerken. “Komm, stütz dich auf mich, ich bringe dich rüber.”

“Danke!” Der Mann strahlte Meta an, legte seinen Arm um ihre Schulter und ließ sich dann von ihr ins Gasthaus führen. “Wie heißt Ihr, hohe Dame?” fragte er auf dem Weg.

“Ihr könnt mich Meta nennen, ich bin als Ritterin für Gudekar hier. Zum Glück ist Euch nicht mehr passiert. Wie heisst Ihr und was macht Ihr so im Dorf?” Meta überbrückte die Zeit, die sie mit dem humpelnden Mann brauchte mit Fragen.

“Angenehm, Frau Meta, Mein Name ist Gorwin Lützelfisch, und meinem Vater gehört die Forellenzucht. Ich habe eine Kiste geräucherter Forellen zu den hohen Herrschaften gebracht, als der Sturm losging. Ihr bewacht den Magier?” fragte er imponiert.

“Ja, die Zeiten sind unsicher, dieser Sturm ist ja auch etwas, was nicht alle Tage vorkommt.”

“Ja, so einen Sturm hatten wir hier noch nicht, zumindest habe ich so noch keinen erlebt”, bestätigte der Lützeltaler.

Meta lächelte den Mann nun an. “Wenn es vorbei ist, werde ich nach einer Forelle zu Mittag fragen, wenn man mir etwas gibt. Ah, da schau her. Schon sind wir da.” An der Tür zum “Lazarett” blieb sie kurz stehen. “Wahrscheinlich braucht Ihr den Magier noch nicht. Es gehen die lebensgefährlichen Verletzungen vor. Aber hier sammeln wir alle.” Da ihre Kapuze bei der Rettungsaktion verrutscht war, klebten Meta die Locken nun am Kopf und sie wischte ein paar nasse Strähnen aus dem Gesicht. “Vielleicht sehen wir uns später noch. Ich komme kurz mit rein.”

“Vielen Dank!” Der junge Mann, der nach frischem Räucherfisch roch, lächelte Meta dankbar an.

 

~ * ~

Vor der Tür des Lazaretts

(14:20)

Doratrava und Gudekar hatten das Gasthauses, das gerade in ein provisorisches Lazarett umgestaltet wurde, verlassen, um zu Mika ins Herrenhaus zu gehen. Da sahen sie Liana und Alana auf sich zukommen. Der Sturm auf dem Dorfplatz flaute mit ihrem Näherkommen abrupt ab. Liana lief vorweg und hatte zwei Kinder an der Hand, die Gudekar als Kinder des Dorfes erkannte. Doch fiel ihm nicht ein, zu welcher Familie des Dorfes sie gehörten, dazu war er zu selten in Lützeltal in den letzten Jahren. Einige Schritt hinter Liana lief Alana. Sie trug eine leblose Frauengestalt auf dem Arm.  

Es galt, keine Zeit zu verlieren. “Schnell, öffnet die Tür”, rief Liana. “Alana trägt die Mutter der beiden, und der Sturm hat die Frau sehr schwer verletzt.”

Eng drückte sie die beiden verängstigten Mädchen an sich, um ihnen das bisschen Nähe, Trost und Sicherheit zu geben, das ihr in dieser Lage möglich war. Dann schloss sie für einen kleinen Moment ihre Augen, hob leicht ihren Kopf und wirkte konzentriert und abwesend zugleich, während unweit von ihr im selben Moment eine plötzliche Windböe aufbegehrte.

“Oh je!”, rief der Anconiter aus. Nun ging es also los. Zu Doratrava gerichtet sagte er: “Mikas Hand muss dann wohl doch warten. Hier geht es um Leben und Tod!” Er blickte zur Alana. “Bringt sie schnell rein! Wir haben bereits Tische zu provisorischen Lagern zusammen gestellt!” Der Magier öffnete die Tür und hielt sie weit geöffnet, so dass Alana problemlos eintreten konnte. An Liana gerichtet fragte er, während er der Ritterin in die Gaststube folgte: “Was genau ist der guten Frau geschehen?”

Liana führte die beiden Mädchen hinein - immer noch bemüht, sie bei sich zu halten.

“Ich habe es nur aus einiger Entfernung gesehen, aber sie lag unter einem schweren Ast, als die Ritterin sie bemerkte und sie hierher brachte. Die beiden hier sind ihre Töchter, wie es scheint.” Sie war sichtlich bekümmert, fasste sich jedoch.

Dann sah sie Gudekar mit ihren schillernden Augen tief und ernst an.

“Ihr wisst, dass ich Euch helfen kann, wenn Ihr dieser Hilfe bedürft. Ich werde mich so gut es geht um die Kleinen kümmern - und weiß ihre Mutter in besten Händen.”

Gudekar lächelte dankbar Liana an. “Vielen Dank, ich schaue sie mir an und entscheide dann, ob ich Eure Hilfe benötige. Ich fürchte, dies könnte noch der Fall sein, sollte der Sturm länger anhalten und mehr Opfer eintreffen. Noch sind meine Kräfte frisch, aber sie sind begrenzt. Wir werden vielleicht, wann immer es geht, auf profane Heilkünste zurückgreifen müssen. Aber wenn es anderen so ergeht, wie dieser Frau, …”. Der Heilmagier blickte Liana in die Augen.

Die Konzentration ließ nach, und draußen heulte es wieder lauter.

“Wie lange dieser Sturm wohl anhalten wird?”, sagte sie nachdenklich und mit einem Blick aus dem Fenster, ehe sie sich wieder darauf konzentrierte, die Wut zu besänftigen. Zumindest eine Weile …

“Ich hoffe, er flaut bald von allein wieder ab”, antwortete Gudekar mehr zu sich selbst. “Der Tag war auch so schon stürmisch genug.”

Es sah nicht danach aus, als könnte Doratrava, die Alana und Liana den Umständen geschuldet lediglich ein müdes Winken geschenkt hatte, hier noch etwas tun. “Ich …”, begann sie zögernd. “Soll ich Mika dann doch herbringen? Hat das jetzt überhaupt einen Sinn?”, fragte sie dann etwas hilflos.

Gudekar blickte entschuldigend zu Doratrava und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist es besser, wenn sie herkommt. Hier kann ich mir zwischendurch vielleicht mal ihre Hand ansehen.“ Doratrava tat ihm leid. Er war ihr so dankbar, dass sie sich derart um Mika kümmerte, obwohl sie aussah, als könnte sie selbst Ruhe gebrauchen. Mit sanfter Stimme sprach deshalb zu ihr: „Danke für Eure Hilfe! Das werde ich nicht vergessen, was Ihr für Mika getan habt.“ Er wollte sich gerade der Verletzten zuwenden, als ihm noch etwas einfiel. „Und denkt Ihr an meine Tasche?“

Seufzend nickte Doratrava, dann wandte sie sich ab und lief zum Gutshaus zurück, so schnell sie konnte. Nicht, weil es wegen Mika eilig gewesen wäre, das war es wohl jetzt nicht mehr, aber weil auch sie die Grenze ihrer Toleranz für das Aushalten von Sauwetter erreicht hatte.

~ *~

Im Lazarett “Zur Weißen Quelle”

“Ach, bei Praois, dem Gerechten! Was macht ihr denn hier?” rief Hagunbald Bachschenk, der Wirt des Gasthauses den beiden Zwillingen Henna und Rabanna fragend entgegen, als er sie an der Hand einer Elfe in die Gaststube kommen sah. Dann fiel sein Blick auf den leblosen Körper der Frau, die er sogleich als Traviahold Eichholz, die Frau des Metzgers und Mutter der Kinder erkannte, und die von Alana vorsichtig auf einen der Tische gelegt wurde. Dahinter betrat glücklicherweise der Heiler Gudekar den umgeräumten Schankraum. Fragend und erschrocken blickte er zu den hohen Gästen.

“Vielleicht gibt es einen Raum etwas abseits?”, fragte Liana den Wirt. “Die Kinder sollten ihre Mutter so nicht sehen müssen. Und ich denke, Herrn Gudekar wäre auch geholfen, könnte er sich der Ärmsten an einem Ort annehmen, an dem mehr Ruhe gegeben ist als hier.”

“Aber natürlich”, entgegnete Hagunbald, “folgt mir!”

“Nein, die Frau schaue ich mir hier an, wo sie liegt”, wehrte der Heilmagier ab.

Der Wirt blickte zu Gudekar und zuckte mit den Schultern. Er winkte Liana, ihm zu folgen und führte sie und die Eichholz-Zwillinge durch den Schankraum zu einer versteckten Tür an der vertäfelten Rückwand. Er öffnete die Tür und die abgestandene, muffige Luft schlug ihnen entgegen.

Liana hielt es nicht für weise, die Frau hier inmitten all des Trubels zu versorgen, aber das musste Gudekar selbst wissen. Doch wohin wollte der Wirt sie nun führen?

Als sie den abgestandenen, muffigen Geruch wahrnahm, hielt sie unweigerlich einen Ärmel vor ihre Nase.

Der Geruch zeugte einerseits davon, dass der Raum nicht oft genutzt wurde. Andererseits roch Liana, dass er vor nicht allzu langer Zeit genutzt wurde. Von zwei Menschen, einem Mann und einer Frau. Ein Geruch von rahjagefälligem Treiben lag noch schwer in der Luft.

“Wohin wollt Ihr uns nun führen?”, fragte sie ihn dann offen.

“Ich will die Kinder nicht in einen dunklen Raum mit schlechter Luft bringen. Im Zweifelsfall werden wir in ein anderes Haus gehen müssen, damit sie nicht mitansehen müssen, wie ihre Mutter dort so liegt.”

“Moment, ich lüfte schnell.” Hagunbald ging zu einem der Fenster des Raums und öffnete es. Als er den Fensterladen aufmachte, kam ein wenig Licht in den Raum. Liana sah, dass auf dem einzigen Tisch des Raumes einige benutzte Stoffservietten lagen.

All das gefiel ihr gar nicht. Die Kinder brauchten Ruhe. Und dieser Raum schien ihr aus mehreren Gründen nicht geeignet. Abgesehen davon, dass es hier kein Bett gab.

“Sagt, habt Ihr ein freies Gästezimmer mit einem Bett, in das die Kleinen sich legen können?” Dann fiel ihr ein, dass die Feierlichkeiten in Lützeltal vermutlich dazu geführt hatten, dass jedes freie Zimmer belegt war. Eilig fügte sie daher hinzu:

“Wenn nicht, so sorgt bitte für ein frisches, sauberes Bett - egal, wo in diesem Haus. Ich komme selbstverständlich dafür auf.”

Dann ging sie - noch ehe der Wirt antworten konnte - auf eines ihrer Knie und sah die beiden Mädchen an,  gütig, mit einem warmen, freundlichen Lächeln. Vorsichtig legte sie wieder ihre Hände auf die Schultern der beiden.

“Ich weiß, ihr wollt zu eurer Mama. Aber eure Mama muss nun eine Weile ausruhen. Der Herr Gudekar wird auf sie aufpassen. Und ich möchte, dass ihr nun mit mir kommt.”

“Ähä”, nickte Henna und zog die Nase hoch. “Mama ist müde?”

Hagunbald wuschelte ihr über den Kopf. “Na, dann kommt mal mit!, Ihr könnt euch im Bett von Vea und Fulgar ein wenig hinlegen, bis euer Vater euch holen kommt.” Der Wirt blickte zu der Elfe. “Wäre das recht für euch? Ihr könntet euch daneben in einem Schaukelstuhl ausruhen, wenn Euch das beliebt. Die Gästezimmer sind alle belegt mit den hohen Herrschaften. Oder wollt ihr lieber das Zimmer Eures Gefolgsmannes nutzen?”

“Habt Dank. Ich denke, das wäre einstweilen angemessen. Ich möchte sichergehen, dass die beiden etwas zur Ruhe kommen. Sagt, wisst Ihr, wo ihr Vater ist?”

“Ist er denn nicht im Haus gewesen? In der Metzgerei?” fragte Hagunbald, während er die Baronin hoch zu den Gästezimmern führte.

“Aber Vater”, ertönte von hinter ihnen die Stimme seines Sohnes Fulgar. “Dankhuld ist doch raus zum Jagdschloss, die Beute der Jagd entgegennehmen, wenn die Herrschaften zurückkehren.” – “Ach ja, stimmt. Da sollten wir bei dem Sturm aber lieber nicht hin. Wir können ihn später rufen”, entschied Hagunbald.

“Nun, dann lasst uns seine Töchter ins Zimmer bringen”, sagte die Baronin. “Sobald es sich ergibt, wird er dann nach ihnen sehen können. Ich bin sicher, dass Herr Gudekar derweil alles tut, damit die Mutter wieder wohlauf ist.”

Hagunbald nickte zustimmend.

Sie wandte sich wieder den beiden Mädchen zu.

“Eurer Mama geht es nicht gut, deswegen muss sie sich ausruhen." Aber wir werden ihr helfen. Und bis euer Papa kommt, werden wir auf euch Acht geben. Kommt.”

Hagunbald nickte auch der Baronin zu. “Folgt mir bitte.” Er führte die Elfe mit den beiden Kindern an ihrer Seite, die noch immer verängstigt und waren und hin und wieder nach ihren Eltern riefen, in ein kleines Zimmer mit einem einfachen Bett, das jedoch groß genug war für beide. Bis auf ein paar einfache Möbel - ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, einem Schrank und einer Truhe - gab es nichts Besonderes. Ein Krug mit Wasser, ein Becher, eine Schale und ein Tuch standen  noch auf einer kleinen Anrichte in einer Ecke.

“Kommt, ihr zwei.” Die Elfe setzte die beiden aufs Bett und nahm ihnen die Schuhe ab.

“Das wäre dann alles, Herr Wirt, ich danke Euch.”

Hagunbald nickte.

“Wenn es noch etwas geben sollte, so lasst es mich wissen.” Ein letztes Mal schaute er die beiden Mädchen an und warf ihnen ein betretenes Lächeln zu, ehe er die Tür hinter sich schloss.

Liana goss etwas Wasser in den Becher und reichte ihn den beiden. Henna nahm einige Schlucke, aber Rabanna schob den Becher zur Seite. “Will nicht!”

Es gab wenig, das sie noch tun konnte, dachte Liana. Es wäre das Beste, die beiden würden etwas schlafen.

Leise begann sie zu singen. Ein Lied der Elfen, das jedoch auch den Menschen bekannt war. Sie hatte es einst auch der jungen Madalea von Rabenstein vorgesungen, als diese noch ihr Mündel war, ehe sie nach Donnerbach ging, um dort an der Akademie zu lernen.

Es war ein Schlaflied, das von der guten Fee Solaline von den Mandelhöhen erzählte, die einst der Mondgöttin half, das gefrorene, zerborstene Seenkreuz mithilfe des Riesen Gurd wieder zusammenzusetzen. Wodurch Menschen und Elfen wieder Schlaf finden mochten, weil Madaya - Mada - wieder besänftigt war, weil sie sich erneut im See spiegeln konnte. Die Elfen erzählten die Sage freilich etwas anders als die Menschen, aber Liana sang die menschliche Variante auf Garethi, damit die Kinder sie verstehen konnten.

….

“Und so sprach Solaline

zum Riesen das Wort

nimm diese Stücke

und trage sie fort.

Setze zusammen

den uralten See

darum bittet dich heuer

Solaline, die Fee.”

….

Und während ihre hohe, klare, zarte Stimme das Zimmer erfüllte, führte sie ihre Hand über die Häupter der beiden und  webte einen Schlaf in ihre Worte, den sie über die Schwestern legte, auf dass diese vollends zur Ruhe kommen mochten.

Die beiden Vögelchen hatten heute schon bei Weitem genug Aufregung erlebt …

Mit einem zufriedenen Lächeln sah Liana, dass Henna und Rabanna tief und fest schliefen. Sie strich noch einmal sanft über ihre Wangen, deckte sie behutsam zu, und verließ dann den Raum.

Vielleicht war Gudekar gelungen, der Mutter zu helfen. Und schon bald würden die beiden Spatzen mit ihren Eltern wiedervereint sein.

Die Mädchen hatten einen langen, erholsamen Schlaf, der ihnen angenehme Träume bereitete.

~ * ~

“Weissenquell! Die gute Frau ist schwer verletzt!”, rief Alana dem Anconiter entgegen.

“Ja, das sehe ich selbst”, erwiderte der Anconiter. Es wäre hilfreich, wenn Ihr mir berichten würdet, wie genau Ihr sie gefunden habt, liebe Base.” Während er auf eine Antwort wartete, fing der Anconiter bereits an, die Frau zu untersuchen.  Zunächst spürte er nach ihrem Puls und überprüfte, ob sie noch atmete. Beides war schwach, aber vorhanden. Vorsichtig öffnete er ein Augenlid, um die Reaktion der Pupille auf das Licht zu prüfen. Gudekar schaute besorgt. Dann fühlte er die Schädelknochen ab, arbeitete sich zur Halswirbelsäule hinab. Er schüttelte besorgt den Kopf. Er öffnete das Kleid der Frau, um nach offenen Wunden oder Blutergüssen zu suchen, die auf innere Verletzungen deuten konnten, betrachtete den gebrochenen Arm. “Dieser macht mir am wenigsten Sorgen. Darum können wir uns später kümmern, aber ich fürchte, mit profanen Mitteln ist ihr nicht mehr zu helfen.” Der Anconiter legte eine seiner Hände auf den Schädel der Frau, die andere auf ihren Brustkorb und begann in einem melodischen Singsang die Worte “bha’sama sala bian da’o” zu sprechen. Bald darauf fing die Verletzung der Frau am Kopf an, sich zu schließen, neue Haut zog sich über die Wunde. Auch die Blutergüsse bildeten sich zurück. Der Atem der Frau wurde tiefer, ruhiger und regelmäßiger. Lediglich der gebrochene Arm hatte sich nicht verändert. Für einen Moment öffnete sie die Augen, die wieder klar wirkten, bevor sie in einen ruhigen Schlaf fiel.  “Jetzt können wir uns den Arm ansehen.”

“Macht das, Vetter.” Die Ritterin schien erleichtert und suchte nun nach einem Krug Wein.

Diesen bekam sie auch sogleich von der Magd Vea gebraucht. Beim Einschenken beugte sich Vea rein zufällig sehr dicht an Alana heran. “Vielen Dank für letzte Nacht!”, flüsterte sie in das Ohr der Ritterin.

Gudekar hingegen war so in seine Arbeit vertieft, dass er davon nichts mitbekam.

“Können wir gerne wiederholen”, flüsterte Alana Vea zu. Dann schaute sie sich nach den Zwillingen um.

“Sehr gerne, die Dame, ganz wie Ihr wünscht!” antwortete Vea in normaler Lautstärke, als hätte Alana eine normale Bestellung bei ihr aufgegeben, und verbeugte sich kurz.

Alana konnte derweil sehen, wie Liana die beiden Zwillinge an der Hand dem Wirt die Treppe nach oben folgte, wo die Gästezimmer lagen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Liana, nun alleine, die Treppe wieder hinunterkam. Die Ritterin genoss in der Zeit den Wein und beobachtete, wie sich das Gasthaus langsam mit Verwundeten füllte, während ihr Vetter ausgiebig damit beschäftigt war, die Verletzten zu sortieren und die ärgsten Blessuren zu versorgen.

***

(14:25)

Die Tür zum Gasthaus öffnete sich und die Ritterin Meta trat ein. Sie stützte einen jungen Dorfbewohner, der auf einem Bein humpelte. Gudekar blickte kurz zu seiner Geliebten und verdrehte genervt die Augen. Er sah gestresst aus.

“Nur der Fuß?” fragte er kurz angebunden. “Setz ihn da auf den Stuhl. Ich schaue gleich nach ihm.” Dann lächelte er kurz zu Meta, bevor er wieder ernst wurde. “Verdammt! Meine Tasche ist immer noch nicht da!”

“Ich hab’s ihm schon erklärt, er weiß, dass du grad keine Zeit hast. Bis später, ich schaue wieder raus.”

“Bis später! Danke, Schatz!” verabschiedete der Anconiter die Ritterin und wandte sich wieder der Verletzten zu.

~ *~

Als sie das mittlerweile recht volle Lazarett sah, kamen Meta Zweifel. Hoffentlich hatte Gudekar genug Energie, um wenigstens die schweren Fälle zu behandeln. Die Tasche konnte sie ihm holen, die war im Gutshaus. Plötzlich sog sie scharf die Luft ein. Mika! Doratrava hatte etwas von ihr erzählt. Sie war eine der wenigen, die sie nicht gleich wie eine durchtriebene, gottlose Hure behandelt hatten und Meta fand sie sympathisch. Sie sollte bei ihrem Bruder sein. Und vielleicht war ihre Verletzung doch schlimmer als gedacht. Außerdem musste sie jemanden finden, der mehr Ahnung von Heilkunde hatte, als sie. Später würde Gudekar ihr sicher etwas beibringen. Geschwind lief Meta zum Gutshaus und schalt sich noch. Natürlich hätte sie Gwenn auch geholfen.

~ * ~

Langsam füllte sich das Gasthaus mit leicht verletzten Dorfbewohnern. Peraine sei Dank waren jedoch bisher keine weiteren Schwerverletzten zu beklagen. Scheinbar hatte es sich schnell herumgesprochen, dass der Anconiter hier ein Lazarett aufgebaut hatte. Alana fragte sich bereits, ob all diese Verletzungen tatsächlich während des Sturms aufgetreten sind, oder ob die Lützeltaler nicht vielleicht die Gelegenheit beim Schopf ergriffen hatten, ältere Gebrechen von einem Heilmagier behandeln zu lassen.

Im Gutshaus II

Gehört die Suppe auf den Boden?

(14:20)

Als Merle vom Speisesaal zur Küche ging, konnte sie bereits das lauthalse Schimpfen der Magd Wiltrud hören. “Dieses nichtsnutzige Pack von Kindern! Der eine ist einfach weg, und die andere kann nicht aufpassen! Die gute Schüssel! Was wird nur Herr Kalman sagen, wenn er davon erfährt?”

Merle ging durch die halb geöffnete Tür und sah eine große Lache des Eintopfs auf dem Boden verteilt. Dazwischen lagen die Scherben einer bunt lasierten Tonschüssel. Wiltrud stand zeternd davor, den Rücken zur Tür, und hatte die geballten Fäuste drohend in ihre runden Hüften gestemmt, die Ellenbogen standen spitz zur Seite. Harka saß heulend auf dem Stuhl, auf dem vor einer guten Stunde – oder waren es schon zwei? – noch Merle ihrem Mann gegenüber gesessen hatte.

Merle trat vorsichtig, um die verschüttete Suppe nicht noch mehr zu verteilen, in die Küche hinein. "Wiltrud", sprach sie die Magd mit betont ruhiger, freundlicher Stimme an. "Es ist nicht so schlimm, wirklich nicht." Sanft legte sie der älteren Frau die Hand auf den Oberarm. "Der Herr Kalman weiß, dass in jeder Küche mal Dinge kaputt gehen. Und er hat jetzt ganz andere Sorgen, als sich über Suppenschüsseln aufzuregen." Sie ging zu Harka und legte ihr tröstend den Arm um die Schultern. "Gräm dich nicht, Harka. So was passiert jedem einmal! Wir müssen jetzt nur zusehen, wie wir alles wieder in Ordnung bringen, ja? Ist denn noch Suppe im Topf drin?"

“Aber es war die gute Schüssel, die Herr Kalman letztes Jahr der hohen Dame zum Tsatag geschenkt hatte, weil ihr die auf dem Markt in Albenhus so gut gefallen hatte”, echauffierte sich Wiltrud weiter. “Wieso hast du überhaupt diese genommen?”

Harka hob den Schürzensaum hoch und wischte sich das Gesicht trocken. “Ich dachte, zur Feier, wo doch so viele Gäste im Haus sind…” Die Tochter der Haushälterin schnäuzte sich die Nase. “Ja, Frau Merle, im Kessel ist noch Suppe.”

“Geh jetzt, Harka”, kommandierte Wiltrud ihre Tochter, “hol einen Eimer Wasser und alte Tücher und putz das auf! Aber hurtig!”

Merle versuchte, weiterhin Ruhe und Besonnenheit auszustrahlen. "Ja, Harka, hol doch schon mal den Eimer. Ich helf' dir gleich beim Aufwischen, dann haben wir die Küche im Nu wieder gerichtet."

“Sehr wohl, Frau Merle”, bestätigte Harka, schnäuzte sich noch einmal die Nase in ihre Schürze, stand auf und ging zur Hintertür der Küche hinaus.

Freundlich blickte Merle Wiltrud in die Augen. "Und würdest du derweil eine andere Schüssel nehmen, den Gästen von der Suppe bringen und schauen, ob sie sonst etwas benötigen?" Sie seufzte müde. "Ich weiß, Wiltrud, alle sind gerade sehr angespannt. Dennoch müssen wir einen kühlen Kopf bewahren und die Dinge am Laufen halten."

Wiltrud blickte ernst. “Frau Merle, ich weiß, Ihr habt ein mildes Herz, aber es ist nicht Eure Aufgabe, die Küche zu putzen. Das solltet Ihr nicht tun, schon gar nicht, wenn Gäste im Haus sind. Ihr seid eine Dame aus dem Hause der Herrschaften.” Die Köchin drehte sich langsam um, holte eine andere Schüssel und begann, diese mit Suppe zu füllen, während sie weitersprach. “Und Harka muss ihre Lektionen lernen. Sonst wird sie nie eine gute Magd. Sonst wird sie unzuverlässig wie ihr Bruder. Wo der sich nur wieder rumtreibt? Im Stall war er nicht. Und ein paar Pferde fehlen auch. Wie konnte er nur auf die Idee kommen, bei diesem Wetter die Pferde auszuführen?”  

Merle kniff die Augen zusammen. Wo konnte Marno denn nun schon wieder stecken? Sie atmete mehrmals tief ein und aus und versuchte sich zu fokussieren. "Wiltrud, es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um zu diskutieren oder Harka eine Lektion zu erteilen", erklärte sie in einem immer noch freundlichen, aber etwas bestimmteren Tonfall. "Wir haben gerade eine Menge um die Ohren. Also lass' uns hier klar Schiff machen, und zwar schnell." Die junge Frau schob ein bisschen das Kinn vor und blickte Wiltrud fest in die Augen. "Du bringst den Gästen jetzt die Suppe. Wir räumen hier geschwind auf. Und dann schau’n wir weiter, was als nächstes zu tun ist. Verstanden?" Sie begann damit, die Scherben der Suppenschale einzusammeln.

“Ganz, wie ihr wollt, hohe Dame! Dann bringe ich die Suppe zu den Herrschaften.” Wiltrud verließ die Küche mit der Schüssel in der Hand. Kurz darauf kam Harka mit einem Eimer zurück in die Küche.

"Na gut, Harka, machen wir mal Ordnung hier", seufzte Merle. "Mach' dir keine Sorgen wegen der Suppenschale. Im Ernstfall rede ich mit Kalman." Sie lächelte die junge Magd aufmunternd an, während sie die Tonscherben vom Küchenboden auflas.

“Danke Merle, das ist lieb, aber du musst mir nicht helfen. Nicht, dass du dein Kleid schmutzig machst. Du kannst auch einfach zu den Gästen zurückgehen."

Merle zuckte abtuend mit den Schultern. "Ist kein gutes Kleid. Und zu zweit sind wir schneller fertig." Sie schnappte sich einen Aufwischlappen und begann die Suppenlache von einem Ende her einzugrenzen, während sie Harka signalisierte, dasselbe von der anderen Seite zu tun. "Machen wir uns nichts vor", murmelte sie dabei mehr zu sich selbst und lächelte matt. "Ich bin genauso eine Magd wie du. Nur hab ich eine Zeitlang eine andere Rolle gespielt."

Harka wollte gerade etwas erwidern, als eine andere Dame die Küche betrat.

~ * ~

In ein Gespräch geplatzt

(14:25)

Auch Doratrava, die vom Regen tropfnass durch die Eingangstür in den Flur kam, konnte das Gekeife der älteren Hausmagd noch aus der linkerhand liegenden Küche hören. Die geschlossene Tür zum Speisesaal lag gegenüber auf der rechten Seite des Flures. Dazwischen führte eine breite Treppe in das obere Stockwerk.

Keifende Mägde waren nicht das, was Doratrava gerade suchte, also wandte sie sich der Tür zum Speisesaal zu, um diese zu öffnen und einen suchenden Blick hinein zu werfen. Soweit sie sich erinnerte, sollte Mika dort warten.

Doratrava sah Mika und Arda am großen Tisch sitzen. Arda war im Gespräch mit einer älteren, sehr extravagant wirkenden Dame, die Doratrava von einer früheren Begegnung her kannte. Es war Caltesa von Immergrün. Mika saß etwas entfernt – sie hatte scheinbar größtmöglichen Abstand von den beiden anderen Frauen gesucht – und lauschte wie gebannt. Sie hatte einen Fuß auf die Sitzfläche des Stuhls gestellt und hielt ihr Knie mit der linken Hand umklammert. Zwei ihrer Finger standen dabei ab.

Sofort betrat Doratrava den Raum und steuerte auf den Tisch zu. An Caltesa von Immergrün konnte sie sich von einem Zusammentreffen in Elenvina dunkel erinnern, sie war gelinde erstaunt, sie nun hier zu treffen, hatte sie ihr doch damals nicht den Eindruck großer Reiselust gemacht. Aber egal, jetzt ging es um Mika.

"Entschuldigt", sprach sie drauflos und wandte sich gleich Mika zu, “ich habe Gudekar gefunden, aber er muss drüben im Gasthaus eine schwerverletzte Frau versorgen, die wohl beim Sturm da draußen was abgekriegt hat. Er sagte, ich sollte dich hinüberschicken und seine Tasche mitbringen, wobei ihm das mit der Tasche wohl wichtiger schien als dass du sofort kommst. Ist eh die Frage, ob er sich gleich um dich kümmern kann.” Nun warf sie Arda einen sorgenvollen und Caltesa einen fragenden Blick zu.

Noch ehe Mika reagieren konnte, hatte sich die Kaldenberger Baroness aus ihrem Sessel erhoben. Ein rascher Schritt brachte sie zu dem anderen Stuhl, über deren Lehne ihr Mantel hing. Während sie hineinschlüpfte, sprach sie Mika an: “Worauf wartet Ihr?” Dabei benutzte sie bewusst die formale Anrede und begleitete diese Worte mit einer ungeduldigen, auffordernden Handbewegung, als ihr Arm aus dem Mantelärmel schlüpfte. Sie klang gereizt, diese erneute Verzögerung schien enorm an ihrer Geduld zu zehren. Mit einer flüssigen Bewegung legte sie sich auch den Gurt ihres Jagdrapiers über die Schulter. “Wollte nicht diese… Merle die Tasche holen? Wo ist sie?”

Mika lachte vergnügt auf, machte aber zunächst keine Anstalten, aufzustehen. “Hach, das sieht meinem Bruder ähnlich. Seine Tasche ist ihm also wichtiger als ich!” Mika schüttelte den Kopf. “Aber das ist ja nicht so schlimm.” Die Novizin hob die linke Hand und winkte damit. “Seht, Doratrava! Dank Tante Caltesa ist die Wunde schon verheilt.”

Doratrava riss die Augen auf. “Was? Wie hat sie denn das gemacht?”, entfuhr es ihr, völlig vergessend, dass die Bezeichnete daneben saß. “Dann muss Gudekar gar nichts mehr tun? Und Merle? Ist sie hier?”

“Meine Tante hat mir…”, Mika kamen Zweifel, ob Tanta Caltesa es begrüßen würde, wenn Mika das Geschehene rausplaudern würde. Wenn sie heute etwas gelernt hatte, dann war es, dass manche Leute Geheimnisse hatten, von denen sie nicht wollten, dass andere sie mit noch anderen teilten. Kompliziert, fand Mika. Aber verständlich. “Ach, ist doch egal. Wichtig ist doch nur, dass die Wunde geschlossen ist und die Schmerzen weg sind. Und jetzt würde ich doch gerne endlich etwas essen. Merle ist in der Küche, nach der Suppe schauen.”

Doratrava schaute Mika scharf an, um sich zu vergewissern, dass sie es ernst meinte, aber bevor sie etwas sagen konnte, kam ihr Arda zuvor und die Tür öffnete sich erneut, als Meta außer Atem den Saal betrat.

“DU kommst jetzt mit!” Auf Ardas Stirn hatte sich wieder jene steile Falte gebildet, als sie ohne Beachtung gängiger Etikette und vorheriger Absprachen ihren Zeigefinger gegen Mikas Brustbein drückte. “Gar nichts ist ‘verheilt’! Die Wunde ist zwar verschlossen, aber die Functio laesa ist noch nicht behoben, und dein Bruder wird sich das jetzt ansehen. Keine Widerrede!”

Caltesa hielt sich zurück, doch nahm die gebildeten Worte der Baroness Kaldenbereg wahr.

“Den Göttern sei Dank, da bist du ja, Mika, und Doratrava.” Meta ging zu Gudekars Schwester, gab aber Doratrava ein Zeichen, dass sie mit ihr reden wollte. Die andere, natürlich auch hübsche Frau, kannte Meta nur vom Sehen. “Mika, die Dame hat es schon  gesagt, komm mit mir mit zu Gudekar. Er wird sich um dich kümmern. Bitte.” Erst dann bemerkte sie, wie Mika mit der Hand wedelte. "Ah, du bist schon geheilt? Alles in Ordnung, Mika?”

“Oh”, bemerkte Mika überrascht. “Die Dame Croy, wenn ich mich richtig erinnere. Wir haben uns gestern Abend auf dem Fest kurz gesehen, richtig?” Mika ließ offen, ob sie sich wirklich kaum daran erinnerte, oder ob sie dies nur vorgab, um Metas Geheimnis zu schützen.

“Mika, die edle Dame hat Recht, sie soll dich zum Lazarett bringen.” Anscheinend kannte sich die Frau auch mit Wundheilung aus, da war sie im Lazarett Gold wert. Dann wandte sie sich an Doratrava. “Du bist die schnellste von uns, Doratrava. Gudekar braucht dringend seine Tasche. Kannst du sie bitte holen und ihm bringen?”

“Dazu müsste ich erst einmal wissen, wo sie ist”, erwiderte Doratrava. “Und wenn Arda mit Mika rüber ins Gasthaus geht, können sie sie doch gleich mitnehmen, für die paar Schritt spielt es doch kaum eine Rolle, wie schnell ich rennen kann.” Außerdem konnte sie dann nach Merle suchen. Ach ja, Merle… “Hat es nicht geheißen, Merle würde die Tasche holen? Weiß denn niemand, wo sie ist?”

Meta seufzte. “Die Tasche ist in seinem Zimmer. Du weißt wahrscheinlich nicht, wo das ist?” Bevor Doratrava antworten konnte, fragte sie in die Runde: “Weiß jemand, wo Merle ist? Ich muss zu ihr. Und selbst wenn ich die Tasche hole, brauche ich sie.”

Erneut ging die Tür zum Speisesaal auf. “Vorsicht, meine Damen! Heiß und fettig!” Wiltrud kam mit einer großen Schüssel dampfenden Eintopfs in den Saal und stellte ihn auf den Tisch. Dann zählte sie die Gäste durch. “Eins, zwei, drei, vier, fünf! Richtig?” Die Köchin ging zu dem Schrank an der Wand und holte fünf Schalen und Löffel hervor.

Mika schaute etwas verwirrt. “Merle wollte doch in die Küche gehen, nachsehen, wo Harka mit der Suppe bleibt. Wiltrud?” fragte Mika die feiste Köchin, die sie nun nicht erwartet hatte.

“Meine Tochter ist scheinbar nicht in der Lage, so eine einfache Aufgabe zu erliegen, wie den Gästen eine Schüssel Suppe zu servieren”, ärgerte sich die Haushälterin. “Und Merle hat wohl mal wieder vergessen, wo ihr Platz ist, und hat sich entschlossen, Harka beim Kücheputzen zu helfen.” Plötzlich wurde Wiltrud bewusst, dass sie in Gegenwart hoher Gäste ungebührlich über die Schwiegertochter ihres Herren schimpfte. “Ähm, ich meine, die hohe Dame von Weissenquell gibt meiner Tochter in der Küche noch einige Anweisungen.”

Mika musste über Wiltruds Ausrutscher ziemlich breit grinsen. “Naja, nun ist die Suppe ja endlich da. Ich dachte schon, ich kippe gleich vom Stuhl. Reich mir doch bitte eine Schüssel. Ist auch etwas Brot da?” Ardas Befehl war schon wieder wie vergessen.

Was musste diese Familie auch so stur sein. Mika war ja niedlich, renitent und unbedarft wie Gudekar. Die hübsche Frau neben ihr machte einen sehr vernünftigen Eindruck. „Mika. He, Mika! Suppe und Brot gibt’s später. Du folgst jetzt Hochgeboren... zu Gudekar. Und zwar jetzt gleich.“ Sie warf Arda einen hoffnungsvollen Blick zu. „Braucht Ihr dabei Hilfe? Von einem starken Burschen vielleicht?“

Die Kiefer der Baroness von Kaldenberg mahlten. Sie schien am Rande der Weißglut zu stehen. Sie nickte Meta knapp zu: “Frau von Croy? Doratrava? Packt das Mädchen und lasst es nicht mehr los, bis sie vor ihrem Bruder steht!” Ohne weitere Zeit oder Worte zu verlieren, verließ sie den Speisesaal eiligen Schrittes in die Richtung, aus der die Haushälterin erschienen war.

Im Speisesaal war die Stimme der Kaldenbergerin bald erneut zu vernehmen: “Gudekars Tasche. JETZT! Es eilt!”, gefolgt von einem lauten, dumpfen Geräusch.

Doratrava warf Mika einen bezeichnenden, wenn auch leicht ironischen Blick zu. “Du hast es gehört, betrachte dich als gepackt. Und wenn die Frau von Kaldenberg die Tasche hat und zu dieser Tür hinausgeht”, sie deutete auf die Eingangstür des Gutshauses, hinter der der Sturm heulte, “dann müssen wir dich wohl auch in echt packen, sonst fällt dir wieder was ein, warum du nicht zu Gudekar kannst oder musst oder sollst oder darfst.”

Meta packte Mika nicht mit an. Hochgeboren hin oder her, die wusste auch nicht, wo die Tasche war. „Ich brauche Merle dazu. Nur so kommen wir an die Tasche.“ Irgendwie nahm sie das Verhältnis zu den Frauen als recht gespannt auf. Hoffentlich würde Arda nicht alles durcheinander bringen, wenn sie mit einer Halle voller Patienten konfrontiert war und Gudekar das Sagen hatte. Andererseits war das deren Sache. Sie selbst wollte auch zu Merle.

Mika lachte kurz auf. “Ha! Solange ihr mich nicht fesselt und knebelt, kann ich ja wohl noch etwas Suppe essen, bis Arda Gudekars Tasche hat.” Die kleine, freche Göre nahm sich trotzig eine Schale und füllte sie mit einer Kelle Eintopf, den sie sogleich demonstrativ genüsslich zu löffeln begann.

Wiltrud schaute entsetzt. “Die hohen Damen wollen die junge Dame doch nicht etwa entführen?”

Meta war langsam am Verzweifeln. Sie wusste, was Mika für Gudekar bedeutete. Aber sie hatte keine Ahnung, was magisch geschehen war und Gebrabbel über Muster und Strukturen kannte sie. Die sollten sich nicht auflösen. Sie setzte sich auf die Kante neben Mika. Arda war sowieso weg und ihr ursprünglicher Auftrag schien sich zu erledigen. „Ähm Mika. Du kennst mich ja noch, wir haben Imelda als Freundin und leider viel zu wenig Zeit gehabt.“ Sie seufzte. „Es wissen inzwischen viele Bescheid. Gwenn hat uns hintergangen. Gudi und ich stehen so ziemlich einsam da. Er ist grad sehr beschäftigt, aber ich hab gesehen, wie entsetzt er war, als er das von dir hörte. Er braucht dich, ich brauche dich auch, bitte quäle ihn nicht weiter. Sei einfach da, er wird mal auf die Hand schauen, wenn das hier vorbei ist, werde ich wieder zur persona non grata und Gudi wird büßen müssen.“

Verwirrt schaute Doratrava zwischen Meta und Mika hin und her. Erst verstand sie kein Wort. Wer wusste über was Bescheid? Was hatte Gwenn damit zu tun? Was meinte Meta damit, dass diese sie hintergangen hatte? Und welche Rolle spielte Gudekar dabei? Dann fiel ihr wieder das Gespräch mit Nivard heute Morgen im Wald ein, wo dieser ihr eröffnet hatte, dass Merle um ihre Ehe mit Gudekar kämpfte. Und dann später war es Mika herausgerutscht, dass Gudekar in Meta verliebt war. Offenbar sprach sich das gerade herum und schien für einige Aufregung zu sorgen, zumindest hatte sie das Gefühl, dass es so war, wenn sie Meta zuhörte.

“Gwenn hat euch verraten? Vor allen?” Mika war entsetzt und ließ fast den Löffel fallen. “Das ist ja… eigenartig. Was ist mit unserem gemeinsamen Schwur?”

“Schwur? Keine Ahnung. Am ersten Abend tat sie noch richtig freundlich. Als wir den Rahjabund geschlossen hatten, muss es losgegangen sein. Sie hat Merle im Griff und sie dazu gebracht zu uns ins Heiligtum zu kommen, obwohl wir das ausdrücklich nicht wollten. Gudekar war sehr enttäuscht. Es wird nun immer schwerer, eine Lösung zu finden.” Meta hielt Mika die Hand hin. Sie spürte, dass zwei der Finger keinen Gegendruck erzeugten. “Komm. Wir gehen mit Doratrava zu ihm rüber. Er wird sich narrisch freuen, wenn er dich sieht.“

Um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht, erwiderte Doratrava: “Aber ohne die Tasche macht das doch wenig Sinn, wenn ich Gudekar richtig verstanden habe. Er braucht diese, um sich um die Verletzte zu kümmern, und erst danach wollte er sich Mika ansehen. Mika soll von mir aus noch zwei Löffel Suppe essen, bis Arda … Frau Ardare wiederkommt, dann gehen wir.”

Zu Wiltrud gewandt fügte die Gauklerin noch hinzu: “Keine Angst, wir entführen Mika lediglich ins Gasthaus zu ihrem Bruder, der soll sich mal ihre Hand ansehen.” Wenn das noch Sinn machte. Sie hatte auch schon davon gehört, dass man eine Wunde nur einmal magisch behandeln konnte. Aber Gudekar war der Experte, der musste wissen, ob man noch etwas tun konnte.

“Puh!” Wiltrud atmete erleichtert aus. “Dann habe ich die hohen Damen wohl falsch verstanden.” Sie schüttelte den Kopf und ging aus dem Saal, um Brot zu holen und zu schauen, ob Harka die Sauerei schon weggewischt hatte.

“Ich freue mich ja auch, Gudekar endlich wieder zu sehen. Aber wahrscheinlich hat er doch eh keine Angst Zeit für mich, wenn es im Dorf eine Verletzte gibt”, gab Mika zu bedenken. “Aber gut, gehen wir, wenn ich aufgegessen hab.” Und zu Meta ergänzte sie hinter vorgehaltener Hand: “Wenn ich jetzt nicht mit euch mitkomme, dann stecken die beiden mich noch wirklich in einen Sack und schleifen mich dahin.” Sie nahm noch ein paar Schluck Suppe und überlegte dann, mit einem Seitenhieb zu Doratrava: “Sagt mal, wenn mich Meta zu Gudekar eskortiert, meinetwegen mit der Schwertspitze im Rücken, dann braucht ihr beiden, Du und Arda, doch nicht mitkommen. Ihr könntet euch doch dann erstmal trocknen und aufwärmen?”

„Stimmt, Doratrava, da hast du recht. Sie werden wohl noch nach der Tasche suchen und gleich kommen.“ Sie ärgerte sich, dass sie mal wieder so schusselig gewesen war und aus Freude, Mika zu sehen, zu viel erzählt hatte. Dabei wussten die es sowieso schon. Sie atmete resigniert durch. „Mika, Gudekar wird sich einfach schon freuen, wenn du da bist“, flüsterte sie. “Uns ist es sehr ernst, aber die letzten Stunden waren psychisch nicht gerade schön. Ich freue mich, da ich dachte, du könntest mich mögen. Imelda ist noch da, aber sie hält an dem Traviabund fest, sie ist ja auch Geweihte.“ Sie lächelte. „Komm, iss was. Ich bekomme nichts runter.“ Lauter sprach sie zu Doratrava. „Ich werde nicht in das Lazarett gehen. Davor suche ich noch Vermisste und Verletzte.“

Doratrava hob eine Augenbraue, dann sprach sie zu Mika: “Da siehst du es, Meta hat nicht die Absicht, dich mit der Schwertspitze voran zu Gudekar zu treiben. Dann bleibt das doch an mir und A… Frau Ardare hängen.”

„Ja, auf diese Ardare werden wir wohl warten müssen, da sie sich jetzt persönlich um die Tasche kümmert.“ Sie schwiegen, dann sagte Meta: „Willst du noch etwas Suppe? Doratrava? Mika?“ Wie sinnvoll hätte sie die Zeit nutzen können und nach Opfern zu suchen. Es krampfte ihr hinter der Brust, wenn sie an Imelda und Meister Limrog dachte.

Unwillkürlich knurrte Doratrava der Magen bei dieser Frage, hatte sie doch heute Morgen noch vor Tagesanbruch ihr spärliches Frühstück zu sich genommen und seither nichts mehr, dafür war sie stundenlang bei Regen über Stock und Stein im Wald herumgestapft. “Nein, später”, meinte sie dennoch, denn Arda musste ja jeden Moment zurückkommen, und dann hätte sie die Suppe wahrscheinlich stehen lassen müssen. Vielleicht sollte sie nun einfach selbst nach Arda und der Tasche suchen, und vielleicht nach Merle, auch auf die Gefahr hin, dass Mika dann wieder verschwunden war, bis sie zurückkam.

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Hof und Merle trat ein.

Caltesa schien vergessen, doch war das der Baroness keineswegs unangenehm. Zuhören, zuschauen. Geschichten. Informationen. Das waren die phexgefälligen Geschäfte, die sie zu pflegen tat … und für den Greifenspiegel zu schreiben. Zufrieden lächelte sie vor sich hin.

~ * ~

Mal ordentlich auf den Tisch klopfen

(14:35)

Merle und Harka knieten auf dem Küchenboden, um die Suppenreste aufwischen, als Arda wutschnaubend und energisch die Küche betrat.

“Gudekars Tasche. JETZT! Es eilt!”, gefolgt von einem lauten, dumpfen Geräusch.

Arda hatte einen hölzernen Fleischklopfer, der auf einer Arbeitsplatte lag, ergriffen und damit energisch auf die Platte geschlagen, um die Dringlichkeit ihrer Aufforderung zu unterstreichen und jegliche Diskussion im Keim zu ersticken.

Merle schreckte sichtlich zusammen und sprang vom Boden auf, den tropfenden Wischlappen noch in der Hand. "Oh, was? Wohlgeborene Dame, bitte entschuldigt, dass es so lange gedauert hat! Hier gab es ein kleines Malheur..." Sie fasste sich, legte den Lappen ab und wischte sich verstohlen die Finger am Kleid ab. "Gudekars Tasche, ja! Wir haben eine Kammer im Gesindehaus", sie wies mit der Hand unbestimmt über den Hof, "...ich laufe da sofort rüber und hole sie! Bin gleich wieder da!"

Harka war mindestens ebenso erschrocken wie Merle. Schnell stand sie auf und deutete eine Verbeugung vor der Baroness an.

"Wo ist das Lazarett?", fuhr Arda die Magd an, als sei diese für ihren Zorn verantwortlich. "WO?!" Dabei schlängelte sie sich zügig durch die Küche, an der halbaufgewischten Pfütze vorbei, um Merle sogleich nachzufolgen. Offensichtlich hatte sie nicht vor, in der Küche auf Merles Rückkehr zu warten.

“Lazarett?” fragte die Magd. “Wir haben kein Lazarett in Lützeltal. Oder meint Ihr das Anconiten-Kloster? Das liegt vor den Toren von Albenhus.

Ein unartikulierter, heller Schrei, der Ardas puren Verdruss enthielt, hallte durch die Küche. Die Frusttoleranz der Baroness war erreicht und reichlich überschritten worden. Die Magd ignorierend und schimpfend wie ein Rohrspatz - zugegeben, wie ein Rohrspatz mit einem sehr, sehr schmutzigen Vokabular - folgte Arda Merle nach draußen.

“Schneller!” fuhr sie die vor ihr laufende Frau rüde an.

Harka schaute der eigenartigen hohen Dame verwundert nach.

~ * ~

Der verlassene Hof füllt sich

(14:35)

Trotz aller Unbillen kamen Tsalinde und Lys unbeschadet am Gutshof an, der ungewohnt verlassen wirkte, war doch sonst in den letzten Tagen dort stets ein reges Treiben. Weder die Edlenfamile hielt sich natürlich bei dem Wetter draußen auf, noch die Bediensteten kamen hier ihrem Tagwerk nach. Keine Wiltrud, die Wäsche wusch. Kein Marno, der den Stall ausmistete oder die Pferde auf die Wiese brachte. Kein Bernhelm, der geschäftig das tat, was er sonst so immer tat. Kein Friedhelm, der gemütlich eine Pfeife rauchte. Keine Ciala, die ein Buch las. Kein Kalman, der das Gespräch mit seinem Vater suchte oder Schwertübungen vollführte. Keine Madalin, die versuchte, einen Holzreifen über die Pflastersteine zu treiben.  

Aus dem Herrenhaus fiel Lichtschein auf den gepflasterten Hof. Tsalinde und Lys wollten gerade das Haus betreten, da öffnete sich die Eingangstür.

Draußen lief Merle Lys von Kargenstein in die Arme. “Hoppla, werte Dame.”

Tsalinde, die ihrem Gatten auf den Fersen folgte, fragte: “Merle, ist alles in Ordnung? Wir sind gekommen, um unsere Hilfe anzubieten.”

Als Ardas Schreien ertönte und sie ebenfalls in der Tür auftauchte, schaute Lys sie missbilligend an. “Was geht hier vor?”

Merle trat mit verlegenem Blick einen Schritt von Lys zurück. "Oh, Verzeihung!" Sie lächelte Lys und Tsalinde verlegen an, blickte dann aber mit besorgtem, leicht furchtsamen Blick zu der herannahenden Baroness. "Ich hole geschwind Gudekars Ausrüstungstasche", erklärte sie den beiden hastig, "...seine Schwester wurde bei der Jagd an der Hand verletzt." Die junge Frau setzte sich schnell wieder in Bewegung, um zum Gesindehaus zu rennen. "Bitte, Wohlgeboren, einen Moment Geduld!" rief sie Ardare über die Schulter zu. "Und Tsalinde, dich hatte ich gesucht... Bleib bitte einen Moment hier; ich muss ganz dringend mit dir reden!"

“Wo werden die Verletzten im Dorf untergebracht?” verlangte die aufgebrachte junge Frau von den beiden Neuankömmlingen zu wissen, da sie vermutete, dass sie von dort kamen.

Sie war eine aparte Erscheinung von mittelgroßer, schlanker Gestalt und in einen braunen wildledernen Kapuzenmantel, der bis zum halben Oberschenkel reichte, sowie eng anliegende Hosen gekleidet. Kleidung und Stiefel waren von vorzüglicher Machart. Über der Schulter ragte der Griffkorb einer Klingenwaffe hinaus. Das dunkelbraune Haar der jungen Frau war zu einer Flechtfrisur gebunden, aber nass, einzelne Strähnen hatten sich herausgelöst. Auch die Kleidung zeigte Spuren des Wetters. Ihr Gesicht war ebenmäßig, mit hoher Stirn und klaren, grauen Augen, die flink zwischen den beiden Neuankömmlingen auf dem Hof hin- und herblickten. Noch immer waren ihre Augenbrauen im Zorn zusammengeschoben.

“Die Zwölfe zum Gruße, werte Dame. Es mag ja sein, dass ihr es eilig habt, doch einen solchen Ton haben wir nicht verdient.” Schimpfte Lys und Tsalinde legte beschwichtigend eine Hand auf seine Schulter. “Ich bin sicher, die werte Dame hat einen guten Grund für ihr Verhalten.” Die beiden Neuankömmlinge trugen dreckige, nasse Beinkleider und Stiefel und dunkelgrüne, gewachste Umhänge mit Kapuzen. An Arda gewandt sagte Tsalinde: “Uns wurde mitgeteilt, dass Meister Gudekar im Gasthaus ein provisorisches Lazarett aufgebaut hat. Benötigt ihr Hilfe, um dorthin zu gelangen?”

“Nein.” gab die junge Frau abweisend zurück. Sie hatte die Arme verschränkt und wartete, mitten auf dem Gutshof. Eine ihrer Stiefelspitzen tippte unruhig auf dem Boden. Etwas weniger abweisend fügte sie hinzu: “Danke.”

Keine zehn Herzschläge waren vergangen, nachdem Merle ins Gesindehaus hineingelaufen war, als Arda begann, mit leicht gesenktem Kopf auf- und abzulaufen. Sie schien in Gedanken zu sein oder sich zu sortieren. Ihr Mund formte wie im Selbstgespräch tonlose Silben. Noch immer waren ihre Arme verschränkt.

Stirnrunzelnd beobachtet Lys ihr Verhalten und fragt: “Werte Dame, mein Name ist Lys von Kargenstein und dies ist meine Gattin Tsalinde von Kalterbaum. Wärt ihr so freundlich uns zu verraten, wer ihr seid und was geschehen ist? Wenn ich es richtig verstanden habe, gibt es eine Verletzte und da ihr nicht wisst, wo Meister Gudekar sich um die Verletzten kümmert, ist die Verletzte wohl auch noch nicht bei ihm. Kann ich euch dabei helfen, sie zu ihm zu bringen?”

Arda war aus ihren Gedanken aufgeschreckt. Wieder ging ihr unsteter Blick zwischen dem Ehepaar hin und her. “Was?” fragte sie gereizt.

Dann - erahnend, was sie gefragt wurde - fügte sie hinzu: “Ich habe keine Zeit, Euch alles zu erklären. Es ist ohnehin schon verzwickt genug!” Sie schnaubte: “Wo bleibt diese Frau mit der Tasche? Und wo bleibt dieses UN-BE-LEHR-BARE MÄDCHEN!?” Zum Schluss des letzten Satzes hatte sie ihre Stimme erhoben und die Worte in Richtung des Eingangs zum Gutshaus gerichtet.

“Statt einer Schimpftirade wäre ein Gruß und Euer Name zeitlich durchaus drin gewesen. Abgesehen davon, dass es nicht so eilig sein kann, wenn Ihr hier herum steht statt sich um die Verletzte vor Ort zu kümmern oder sie zu Meister Gudekar zu bringen. Wir sind durchaus im Stande, Euch die Tasche hinterher zu tragen, werte Dame.” Lys letzte Worte trieften vor Sarkasmus und Tsalinde konnte sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen.

Die junge Frau bedachte den Herrn von Kargenstein mit einem zornigen Blick: “Sucht Ihr Streit?”

Tsalinde ging dazwischen. Sie konnte Arda nicht einordnen, wusste aber sehr gut, wie empfindlich Lys reagierte, wenn jemand so unhöflich war. Diplomatisch sagte sie: “Nein, wir suchen keinen Streit. Wir wollten lediglich höflich sein und helfen, wenn das jedoch nicht euer Anliegen ist, so soll es uns recht sein.”

Lys grollte, sagte aber nichts weiter und Tsalinde hoffte, dass sein Brummen im Sturm überhört wurde.

Die Tür des Gesindehauses öffnete sich wieder; Merle kam heraus und rannte schnellen Schrittes mit gerafftem Rocksaum über den Hof zurück. In der Hand hielt sie die große, schwere Ledertasche, in der Gudekar seine Ausrüstung verwahrte. Schwer atmend erreichte sie wieder die drei Adligen. "Hier ist die Tasche, wohlgeborene Dame", sprach sie Arda mit gehetztem Blick an. "Ist Doratrava schon mit Gudekar zurückgekehrt?"

“Nein - OHNE!” Arda nahm, nein, riss ihr die Tasche geradezu aus dem Arm. “Dieses DUMME MÄDCHEN!!!” Erneut fing sie an zu schimpfen wie ein Rohrspatz, presste sie die Tasche mit beiden Armen fest gegen ihren Oberkörper und lief in Richtung des Dorfes los, ohne auf die anderen drei Personen im Hof zu achten.

Abgang Arda nach Das Lazarett im Gasthaus ist schon voll.

Entgeistert starrte Merle der cholerischen Baroness hinterher. "Ich sehe dann mal drinnen nach Mika und Doratrava", erklärte sie und schaute Lys und Tsalinde etwas ratlos an. "Möchtet ihr mit reinkommen?"

Sanft legte Tsalinde Merle eine Hand auf die Schulter. “Merle, du wolltest doch mit mir reden.”

Als Lys den Blick seiner Gattin auffing fügte er hinzu: “Ich gehe schon einmal vor und schaue ob ich mich drinnen nützlich machen kann.”

“Ja, es ist dringend”, sagte Merle mit ernster MIene, dann schaute sie zu Lys. “Wiltrud meinte eben, dass Marno, der Stallbursche, nicht da wäre. Und ein paar Pferde wären auch weg… Ich hoffe, ihm ist nichts passiert.”

“Wer organisiert die Suche?”, fragte Lys.

Sichtlich überfordert zuckte Merle mit den Achseln. "Noch niemand. Ich hab das gerade erst gehört. Vielleicht ist auch gar nichts und er hat irgendwo zu tun..." Ihr unsteter Blick verriet, dass sie versuchte, die vielen kreisenden Gedanken und Sorgen in ihrem Kopf zu ordnen. "Ich muss erstmal rein und Mika zu Gudekar schicken."

Lys und Tsalinde schauten sich kurz an, dann sagte Tsalinde: “Merle, du bist ja völlig durch den Wind. Lass uns zusammen reingehen und wenn du Mika über alles informiert hast suchen wir uns eine ruhige Ecke, atmen tief durch und reden über das, was dir auf dem Herzen liegt.”

Kurz hielt Lys die beiden Damen auf. “Bevor ihr geht, sagt mir doch, wer in einer solchen Situation die Hilfen bei euch organisiert. Gibt es jemanden, an den ich mich wenden kann? Vielleicht kann ich mich bei der Suche nach dem Stallburschen nützlich machen.”

"Danke. Vielen Dank." Merle schenkte Lys ein warmes, dankbares Lächeln. "Ähm,... vielleicht der Bernhelm Lützelfisch. Der ist die rechte Hand von Vater Friedewald." Sie nickte, wie um sich selbst zu bestätigen. "Und der ist ja bei der Jagd… also wirklich am besten der Bernhelm. Aber keine Ahnung, wo der steckt."

“Kein Problem, ich werde ihn schon finden", beteuerte Lys. Dann wandte er sich an seine Gattin. “Pass auf dich auf und sei vorsichtig!” Sanft küsste er sie, dann zog er sich erneut die Kapuze tief ins Gesicht und ging schnellen Schrittes Richtung Dorfplatz.

Tsalinde rief ihm hinterher: “Ich liebe dich!” Dann zog sie Merle sanft am Arm. “Komm, gehen wir hinein.”

Merle seufzte traurig in sich hinein, als sie beobachtete, wie liebevoll Lys und Tsalinde miteinander umgingen, dann straffte sie sich und bedeutete ihrer Freundin den Weg in den Speisesaal.

~ * ~

Der Hof leert sich, der Saal füllt sich

(14:40)

Nachdem Arda den Hof in Richtung Lazarett verlassen hatte, ging Merle mit Tsalinde zusammen zurück in den Speisesaal, um Mika endlich zu ihrem Bruder Gudekar zu schicken. Dort waren immer noch Tante Caltesa, Doratrava und Meta dabei, Mika zum Aufbruch zu überreden - mehr oder weniger.

Immer noch schnell atmend, tropfnass und mit geröteten Wangen platzte Merle in den Saal hinein und blickte sich schnell um. Erfreut registrierte sie, dass die Suppe inzwischen aufgetragen und Doratrava eingetroffen war, doch fiel ihr Blick gleich darauf auf Gudekars garstige Gespielin. Sie ignorierte Meta ganz bewusst und sprach Mika direkt an: “Die Baroness von Kaldenberg ist mit Gudekars Tasche ins Dorf losgerannt. Denke, du sollst dann nachkommen - und zwar dringend.” Sie verzog leicht das Gesicht. “Sie war ziemlich laut.”

Mika verdrehte die Augen und aß genüsslich weiter. “Ich komme nach, wenn ich aufgegessen habe.”

Doratravas Gesicht hellte sich auf, als sie Merle sah, auch wenn diese zerrupft und gestresst wirkte. Aber ihre Aussage ließ auch die Gauklerin schon wieder die Augen verdrehen. “Was? Wieso denn das? Ich dachte, sie holt uns hier ab?” Dann hätte sie ihr Mika auch in die Hand drücken und bei Merle bleiben können, diese Option hatte sie jetzt wohl nicht mehr, wenn sie sicher sein wollte, dass Mika im Gasthof ankam.

“Mist”, murmelte sie, allerdings nicht sonderlich leise, dann erhob sie sich. "Mika, kommst du? Ich bringe dich rüber, damit der Wind dich unterwegs nicht fortweht. - Merle, kommst du mit? Oder kann ich dich nachher wieder hier finden?” Sie schenkte Merle einen intensiven Blick, aus dem sie die Sehnsucht nicht ganz herauszuhalten vermochte. Dass ihre Augen derweil eine raubtierhaft gelbe Farbe angenommen hatten, war ihr nicht bewusst.

Merle wirkte von den Fragen etwas überfordert. Dennoch lächelte sie Doratrava dankbar an, um im nächsten Moment irritiert zu blinzeln, als sie die veränderten Augen der Gauklerin bemerkte. Aber vielleicht war das bei Elfen - und Halbelfen - auch normal so. "Äh, ich weiß nicht", begann sie zögerlich, "...wohin eigentlich? Warum ist Gudekar denn nicht hergekommen?"

Auch Doratrava schaute kurz irritiert, als Merle so seltsam blinzelte, aber konzentrierte sich gleich wieder. Dieses Chaos musste doch mal ein Ende haben! “Als ich Gudekar gerade gefunden hatte, wurde eine schwer verletzte Frau mit ihren Kindern zu ihm gebracht, da meinte er, sich zuerst um diese kümmern zu müssen”, antwortete die Gauklerin. “Er verlangte dringend nach seiner Tasche und sagte, ich könne Mika herschicken, er werde nach deren Hand sehen, wenn er zwischendurch Zeit habe. Daher sind wir jetzt hier.”

Doratrava, die nach dem stundenlangen Marsch in Regen und Sturm noch viel zerrupfter als Merle aussah, seufzte tief und machte einen Schritt auf diese zu, damit sie die Stimme senken konnte. “Mika nimmt das nicht ernst mit ihrer Hand”, raunte sie, “zumal diese Caltesa von Immergrün sie angeblich schon geheilt hat, aber Arda  - Frau Ardare - sagte mir, es sei ernst. Sie hat Mikas Hand untersucht und scheint sich sehr gut mit sowas auszukennen. Daher sollte Gudekar sich das wirklich dringend ansehen, sonst kann es sein, dass Mika vielleicht nicht mehr alle Finger bewegen können wird.” So nah bei Merle musste Doratrava sich fast schon körperlich anstrengen, diese nicht einfach zu umarmen, aber hier vor allen Leuten wollte sie das vor allem Merle nicht antun, das würde sie nur wieder in Verlegenheit bringen, wenn nicht Schlimmeres.

Mika war dankbar, dass die beiden Frauen sich so intensiv unterhielten und das Losgehen vergaßen. Dennoch war Mika unzufrieden und stand auf, um nervös auf und ab zu laufen.

Meta schob Mikas Teller auf den freien Tisch. Und versuchte, nichts zu verpassen, aber Mika im Auge zu behalten. Dass sie für alle nicht existent war, merkte sie schon.

"Solange die Dienerschaft bleibt”, sagte nun die ältere Dame, die die ganze Zeit das Schauspiel im Stillen betrachtet hatte. “Hoffe sehr, dass Merles Ehemann”, dabei schaute sie Meta belustigt an, ”dir helfen kann, Kindchen.” Ihr Blick endete bei Mika, die schnell in ihrer Bewegung innehielt. “Doch vergiss deine eigenen Worte nicht, die Herausforderung, die du annehmen würdest.” Nur kurz betrachtete sie die Gauklerin, an die sie sich durchaus erinnern konnte und die zu dem Dunstkreis Lares von Mersingens gehörte. Die Ritterin Meta gehörte wohl auch dazu. Ihr merkwürdiger Auftritt bei Hofe in Elenvina war interessant, doch das hier, auf dieser Hochzeit, sehr pikant. “Du solltest vielleicht mitgehen, Merle, auch wenn es mich traurig stimmt, hier allein gelassen zu werden.” Caltesa schaute sie auffordernd an.

Merle versuchte, das Gesagte schnell zu verarbeiten und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Mika sollte so schnell wie möglich zu Gudekar, es war schon viel zu viel Zeit verstrichen... Gleichzeitig musste sie dringend mit Tsalinde oder Doratrava oder am besten mit beiden über diesen entsetzlichen Brief reden - aber sie konnte sie jetzt nicht darauf ansprechen vor den anderen. Wenn sie nur wüsste, was sie jetzt machen sollte... "Gibt es noch mehr Verletzte?" fragte sie nach und schaute Doratrava unsicher an.

Meta wunderte sich, sie war doch zuletzt im Lazarett gewesen. Ihre Antwort würde niemand hören und langsam war sie von Mika abgelenkt, die sich plötzlich seltsam verhielt. Vielleicht hatte es was mit der Jagd oder der Verletzung zu tun.

Mika überlegte, was sie nun tun sollte. Immer mehr erwuchs in ihr der Wunsch, das Haus einfach schnell zu verlassen – allein. Sachte griff sie nach ihrem Mantel.

“Ich kläre beides”, sagte Meta und ignorierte, dass man sie nicht beachtet hatte. “Mika kann ich die paar Schritt alleine führen, das hab ich vorhin schon mit einem Verletzten gemacht. Und dann muss ich sowieso weiter nach Verletzten suchen… hm… die Tasche, die hat Hochgeboren mitgenommen.” Sie drehte sich zu Mika und bot ihr den Arm an. “Komm, lass uns zu Gudekar gehen. Oh, du hast deinen Mantel schon an. Ich verstehe eh nicht, warum du so viel Begleitung zu deinem Bruder brauchst. Aber ich wollte auch dorthin.“

“Danke, Meta, dass du mich auch selbst ansprichst. Sonst ist Tante Caltesa ja die einzige, die mit mir redet und nicht nur über mich.“ Ihr Blick wanderte zu Doratrava. “Komm, Meta, wir gehen, solange die anderen beiden noch mit sich beschäftigt sind. Ich schleiche mich raus, du kannst mir dann folgen”, flüsterte sie Meta zu.

“Ich weiß nur von der verletzten Frau”, antwortete Doratrava auf Merles Frage. Hin und hergerissen schaute sie von Merle zu Meta, und dann zu Mika.

Doratrava, die gedanklich scheinbar viel zu sehr auf Merle fokussiert war, stutzte, denn Mika war gar nicht mehr an ihrem Platz. Da polterte es von der Tür her und Mikas Stimme war zu hören. “Bei Firun! Bärenkacke!”. Mika hatte versucht, sich aus dem Raum zu schleichen, war aber mit ihrem Umhang an der Türklinke hängen geblieben und ins Stolpern gekommen.

Meta wollte Mika einen kleinen Vorsprung lassen und sich dann aufmachen, ihr still und heimlich zu folgen, als ihr Plan durch Mikas Ungeschicklichkeit zunichte gemacht wurde.

“Na warte, du Früchtchen”, zischte Doratrava und war wie der Blitz zur Tür hinaus, wo sie Mika am Kragen ihres Mantels packte. “Wo willst du jetzt schon wieder hin? Warum müssen wir dich zu deinem Glück zwingen?” Der Tonfall der Gauklerin war nun nicht mehr scherzhaft, so langsam ging das Gör ihr wirklich auf die Nerven, Waldfreundschaft hin oder her. Außerdem hätte sie sich lieber mit Merle irgendwohin zurückgezogen und Mika Meta überlassen, auch wenn diese Caltesa offenbar wollte, dass sie und Merle Mika begleiteten. Am Ende war das besser so. Wenn Mika nicht bald im Gasthaus ankam, würde sonst vermutlich auch noch ein Racheengel namens Ardare von Kaldenberg hinter ihr her sein.

Nun war auch Mika wütend geworden. Mit hochrotem Kopf schimpfte sie. “Sagt mal, wieso glaubt ihr alle, mir unbedingt sagen zu müssen, was ich wann zu tun habe? Warum seid ihr alle so sehr darauf erpicht, mich wie ein kleines Kind an der Hand zum Onkel Heiler zu begleiten? Ich kann das auch sehr gut allein.” Ihr war jetzt fast alles egal, sie wollte nur noch raus hier, am liebsten allein. “Da braucht ihr nicht auch noch alle da raus in das Unwetter. Es reicht doch, wenn ich noch einmal raus gehe. Willst du dir da draußen unbedingt die blaue Keuche holen, Doratrava? Ich bin das Wetter gewohnt. Ich habe die letzten vierzehn Monde oder so da draußen alleine mit seiner Gnaden verbracht. Da werde ich die paar Schritt bis zum Gasthaus ja wohl sehr gut auch alleine schaffen. Bleibt ihr doch bitte hier und .. du musst dich ausruhen, Doratrava. Ich will nicht, dass du vielleicht noch krank wirst. Und ihr, Merle, Meta, ihr solltet ganz dringend miteinander sprechen. Ich denke, ihr habt wirklich Wichtigeres zu klären, als eine dumme, freche Göre zu bewachen.” Tränen rannen der jungen Weissenquellerin über die Wangen.

Ausdruckslos starrte Merle ihrer junge Schwägerin an. Die Art, wie diese gesagt hatte, sie und Meta müssten miteinander sprechen... 'Mika wusste es auch!?' Der Gedanke fühlte sich wie ein Dolchstoß an und Merle merkte, dass etwas in ihrem Herzen zerbrach. Bei Gwenn hatte es sie überrascht, ja, aber nicht schockiert - und sie hatte es der gewieften Hofdame erstaunlich leicht verzeihen können - doch Mika... ihre süße, kleine Mika wusste von Gudekars Affäre mit Meta!? Sie musste es vor ihrem Noviziat erfahren haben, vielleicht um Lulus Geburt herum - und die ganze Zeit hatte sie Merle damals lieb angelächelt und kaltblütig angelogen, war sich offenbar zu schade gewesen, ihrer ach so geliebten Schwägerin und Freundin einen klitzekleinen Hinweis zu geben, dass sie gerade ihren Ehemann an eine andere Frau verlor! Vielleicht hätte sie damals noch etwas ändern können, hätte sich verändern können, um Gudekar wieder für sich zu gewinnen? Merle ballte die Hände, schluckte krampfhaft und schob die kreisenden Gedanken mühsam beiseite. Dafür war jetzt keine Zeit. Mika war verletzt, draußen tobte der Sturm. Sie sah dem weinenden Mädchen mitleidig in die Augen, doch hatte sich eine Spur Verletztheit und Enttäuschung in ihren Ausdruck gemischt.

Mika spürte Merles Blick auf sich ruhen und eine frostige Kälte umhüllte sie mit einem Mal, dass sie sich kurz schütteln musste. Sie schaute zu ihrer Schwägerin und verstand ihren Gesichtsausdruck. Schuldbewusst blickte sie zu Boden.

„Gudekar hat mich gebeten, dich zu holen, er sorgt sich. Du hast recht, ich sollte mit Merle reden, aber sieh selbst, mit soviel Publikum geht’s nicht.“ Meta stand noch bei der Tür . „Mika, du kannst die letzten Meter alleine gehen, gut. Da draußen sind noch Leute, die Hilfe brauchen. Ich muss sowieso raus.“

“Ja, Meta, schon gut. Es wäre vielleicht gut, wenn du mich begleitest. Uns allen tut es gut, wenn wir erst einmal zur Ruhe kommen. Für lange Reden ist jetzt nicht die richtige Zeit.” Mika wirkte mit der Situation überfordert.

Meta sah Merle an, ganz normal, ohne Hass oder Groll. „Merle, würdest du mit mir sprechen? Ich hatte gehofft, dich einmal alleine zu treffen. Nicht hier und jetzt. Da draußen sind noch Menschen. Wir werden schon einen Weg finden, wenn ein Wille da ist.“ Sie sah nochmal in die Runde und hoffte, dass Mika wenigstens zu Gudekar genug Vertrauen hatte.

Merle wandte sich Meta zu, immer noch tief getroffen von der Erkenntnis, auch von Mika verraten worden zu sein. Ausdruckslos, wie eine steinerne Statue, erwiderte sie Metas Blick und kniff leicht die Augen zusammen. "Klar, können wir", antwortete sie matt und tonlos, erkennbar ohne Hoffnung oder großes Interesse an ihrem Gegenüber. Letztendlich wollte diese Frau ihr den Mann wegnehmen - was gab es da zu besprechen? Und hatten sie sich nicht bereits zu einem Gespräch verabredet? Dennoch straffte sie sich und nickte ihrer Rivalin knapp zu. "Bring Mika bitte schnell zu Gudekar. Und ja, hilf' den Leuten da draußen. Wir können uns unterhalten, wenn der Sturm sich gelegt hat."

„Ach Merle, das wurde alles falsch verstanden. Ich wollte einfach mal normal mit dir reden. Nicht dauernd diese Streiterei. Es hat sich durch den Sturm so ergeben, dass ich Leute gesucht habe, die helfen können. Lass uns irgendwann zwanglos reden. Das reicht.“

Verwirrt blickte Merle der Ritterin in die Augen. Was meinte Meta? Wollte sie ihre Absolution? Wollte sie ihre Freundin sein? Wie sollte sie mit einer Frau 'zwanglos reden', die ihr den Ehemann stahl? Für einen Moment war sie versucht, etwas Bissiges zu entgegnen, doch war dies weder der richtige Ort noch Zeitpunkt dafür. "Ja, gut", murmelte sie nur leise, senkte den Blick und wandte sich ab.

Doratravas Ärger war so schnell verflogen, wie er gekommen war. Sie legte Mika beide Hände auf die Schultern und schaute sie direkt an, so dass diese spätestens jetzt die Gelbfärbung ihrer Augen bemerkte. “Wer sich verhält wie ein kleines Kind, wird behandelt wie ein kleines Kind.” Die Gauklerin sprach aber ganz ruhig und sachlich, nicht so wie eine Mutter oder von oben herab. “Dann sei jetzt kein kleines Kind mehr, sondern versprich mir, dich nicht nochmal ablenken zu lassen und schnurstracks zu Gudekar zu gehen. Dann glaube und vertraue ich dir und lasse dich allein gehen.”

Caltesa nickte Mika stolz zu. Das Mädchen sprach für sich. Wer hätte gedacht, dass diese Familie auch noch was Hoffnungsvolles zustande bringen konnte. Ihr Blick wanderte wieder zu Merle. Nun, Hoffnung sah sie auch dort und genau genommen war sie ja keine Weissenquellerin. Würde Boron ihr gnädig sein, so wie er es bei ihr und ihrem Gemahl gemacht hatte? Eine phexgefällige Frau konnte nur hoffen. Doch wie es schien, war jeder hier mit dem Sturm da draußen überfordert. Also schwieg sie weiter und wartete ab.

“Doratrava, ich verspreche es dir. Ich gehe zu Gudekar. Vielleicht kann ich ihm dort ein wenig zur Hand sein.” Mika merkte zu spät, wie sarkastisch das klingen musste. “Ich meine, vielleicht kann ich ihm irgendwie helfen, und sei es, mit den Menschen um Ifirns Gnade zu beten.” Mika legte ihre rechte Hand auf Doratravas Schulter. “Versprich du mir aber auch, dass du dich ein wenig ausruhst und etwas isst. Der Weg mit mir heute war anstrengend.” Dann wandte sich Mika an die Ritterin. “Meta, gut, wenn du da draußen helfen willst, ist das eine göttergefällige Tat. Dies solltest du tun. Es wird Ifirn erfreuen. Dann folge mir!”

„In Ordnung, Mika.“ Gudekars Schwester merkte, wie resigniert Meta war. „Du gehst zu Gudi, ich komme kurz mit rein und schau nach der Lage, dann suche ich draußen weiter.“

“Jaja, schon gut, ich ruhe mich aus”, gab Doratrava nach und verzichtete darauf zu erläutern, dass es das Leben als oft allein reisende Gauklerin mit sich brachte, dass man Tage am Stück bei Wind und Wetter zu Fuß unterwegs war. Und auch zu Pferd war es nicht unbedingt weniger anstrengend.

Für den Moment blieb die Gauklerin aber an Ort und Stelle, um zu sehen, was Merle machte und um sich zu vergewissern, dass Mika die richtige Richtung einschlug.

“Na, dann los, Meta!” Mika winkte der Ritterin, ihr zu folgen. “Lass uns nach Gudekar sehen, in welchem Schlamassel er vielleicht steckt.” Sie zwinkerte Meta kurz zu und ging dann raus.

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen, geschwind huschte sie in den Regen, der doch so viel wohliger war, als die Stimmung im warmen Haus.

(14:45)

Doratrava war versucht, Mika nach draußen zu folgen, um sie im Auge zu behalten, aber dann erinnerte sie sich ihrer eigenen Worte, dass sie der Kleinen vertrauen wollte, wenn sie versprach, endlich zu Gudekar zu gehen, und das hatte sie getan. Ein wenig zögerlich wandte sie sich nun Merle zu, die offenbar unschlüssig herumstand, traute sich aber noch nicht, sie anzusprechen, da immer noch so viele Leute zuhören konnten.

Tsalinde, die von dem Durcheinander schier überrumpelt war, stand still neben Merle und benahm sich so unauffällig, dass sie bisher niemand bemerkt hatte. Nun strich sie ihre Kapuze zurück und entblößte ihre leuchtend roten Haare, die entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit offen waren und ihr in sanften Wellen bis über die Schultern fielen. Sie lächelte Doratrava an und sagte: “Doratrava, schön euch wohlbehalten wieder zu sehen.”

Merle schaute zwischen Doratrava und Tsalinde hin und her. Sie versuchte ihren Freundinnen wortlos zu signalisieren, dass sie dringend mit ihnen sprechen wollte, sehr dringend... jedoch ohne Caltesa, der die junge Frau einen schnellen, nervösen Blick zuwarf. Nachdenklich biss sie sich auf die Unterlippe. War es sehr unhöflich, sich mit den beiden anderen Frauen zu entfernen und die Baroness allein hier im Speisezimmer zurückzulassen? Wenn ihr nur ein glaubwürdiger Vorwand einfallen würde…

Die Gauklerin nickte Tsalinde zu. “Danke, ebenso. Auch wenn die Jagd nicht ganz so verlaufen ist wie geplant, bin ich zumindest nicht in Gefahr geraten, von einem Keiler aufgespießt zu werden, und wir waren sogar wieder hier, bevor der Sturm richtig losging. Ich hoffe, der Rest der Jagdgesellschaft schafft das auch unbeschadet.”

Nach einer kurzen Pause, in der sie Merles fast schon verzweifelte Zeichen durchaus bemerkt hatte, und auch, dass diese (leider) nicht nur ihr allein galten, fuhr sie fort: “Ich würde jetzt gerne etwas essen, aber am liebsten nicht völlig durchnässt, was ich mangels Möglichkeit zum Umziehen und dank Aufpassertätigkeiten für Mika leider immer noch bin. Leider ist mein ganzes Zeug in dieser ‘Jagdhütte’, und hier habe ich nichts. Hat jemand von euch eine Idee?” Wie auch immer die Einfälle der beiden anderen dazu aussahen, sollte ihnen das die Möglichkeit verschaffen, sich zu entfernen.

“Wir sind auf einem Hof untergekommen, wo wir ein großes Zimmer für uns haben. Dort könnten wir uns umziehen und vor einem prasselnden Feuer aufwärmen. Ich bin sicher, in meiner Reisetruhe, bei den Sachen meiner Zofe oder von der Bäuerin werden wir für uns trockene Kleidung finden und wenn ich es richtig gesehen habe, hing in der Küche ein großer Topf mit Eintopf über dem Feuer.”

Doratrava warf Merle einen fragenden Blick zu. Sie könnte sich damit anfreunden, wenn ihr auch ein warmes Bad viel lieber gewesen wäre.

Merle lächelte Tsalinde herzlich an. Sie hatte vorschlagen wollen, wieder ins Gesindehaus zu gehen, um Doratrava etwas von ihren eigenen Sachen anzubieten. Aber da Tsalinde in ihrem gewachsten Umhang recht gut auf das Wetter eingestellt wirkte, hätte sie nicht erklären können, warum sie die Edle von Kalterbaum mitnehmen musste, um Doratrava trockene Kleidung zu verschaffen. "Das ist ein sehr freundliches Angebot, Euer Wohlgeboren!" stimmte sie zu. "Ich denke, es ist ohnehin besser, wenn Ihr in die Sicherheit Eures Quartiers zurückkehrt."

“Das hört sich doch gut an. Dann nichts wie los, bevor wieder etwas dazwischen kommt, oder?”, stimmte Doratrava nun auch mit Worten zu.

“Sehr gut.” Dann wandte Tsalinde sich an Caltesa. “Möchtet ihr uns begleiten? Meine Zofe hat sich mit einigen Kindern in die Stube der Bauersleute gesetzt und erzählt ihnen dort Geschichten. Sie würde sich sicher freuen, wenn ihr jemand zur Seite steht.”

Merle biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte gehofft, etwas Abstand zu der neugierigen alten Dame zu gewinnen. Und jetzt lud Tsalinde die Baroness blöderweise dazu... Sie lächelte Caltesa liebevoll an. "Oder soll Wiltrud Euch noch eine Erfrischung im Salon servieren, wohlgeborene Dame?"

Auch Doratrava konnte nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken und hoffte, dass die zwar alte, aber irgendwie undurchsichtige und ihrer Meinung nach ziemlich durchtriebene Dame das nicht bemerkte - oder, wenn doch, den Hinweis verstand.

“Habe ich das richtig verstanden? Ihr fragt, ob ich EURER Zofe zur Seite stehe, um dabei zu lauschen, wie sie Bauernkindern Geschichten erzählt? Sehe ich etwa aus wie eine selbstlose Großmutter?” Caltesa lächelte, doch schenkte sie Tsalinde einen ungläubigen Blick. “Baroness Caltesa von Immergrün, Botschafterin der Reichskanzlei. Edle Tsalinde von Kalterbaum, nehme ich an.” Mit dem rechten Zeigefinger rieb sie über einen ihrer Ringe. “Ihr seid doch sicher gut mit Kindern … Doratrava. Vielleicht solltet Ihr die Zofe unterstützen. Und die hohen Damen könnten sich erwärmen. Oder“, nun schaute sie zu Merle, ”sich hier im schönen Salon eine Erfrischung servieren lassen.”

“Bitte verzeiht, ich wollte euch nicht zu nahe treten, Euer Hochwohlgeboren”, verlegen senkte Tsalinde den Kopf.

Doratrava hatte keine Ahnung, was Caltesa von ihren bisherigen Gesprächen mitgehört und was aus ihren Gesichtern gelesen hatte, aber nun hängte sie offenbar die Baroness heraus, also ging sie zunächst nicht auf ihren ‘Vorschlag’ ein, sondern wartete, was die höhergestellten Damen darauf erwiderten.

Auch wenn sie innerlich seufzte, zwang sich Merle zu äußerlich entspannter, warmer Herzlichkeit. "Ach, das wäre ganz wundervoll, Euer Wohlgeboren! Dennoch denke ich, dass die wohlgeborene Dame von Kalterbaum bei diesem ungemütlichen Wetter die Annehmlichkeiten ihres eigenen Quartiers und die Zuwendung ihrer Zofe vermisst. Und da die Dinge gerade etwas drunter und drüber gehen", sie machte eine unbestimmte Handbewegung nach draußen, "...werde ich selbst dafür Sorge tragen, dass die Edle sicher in ihre Unterkunft zurückkommt. Ebenso wie natürlich die hochgeschätzte Künstlerin Doratrava", sie schenkte der Tänzerin ein strahlendes Lächeln mit einem winzigen Zwinkern, "...die auf gar keinen Fall erkranken darf, soll sie uns doch morgen beim Fest mit ihrer wundervollen Darbietung erfreuen! Daher, Euer Wohlgeboren", sie schaute Caltesa sehr reumütig an und senkte fast unterwürfig das Haupt, "muss ich Euch leider für einige Zeit der treusorgenden Obhut von Wiltrud und unserer restlichen Dienerschaft überlassen. Ich verspreche jedoch, mich, sobald es mir möglich ist, sogleich wieder um Euer Wohlergehen und Eure Bequemlichkeit zu sorgen."

Trug Merle nicht zu dick auf? Doratrava biss sich auf die Zunge, damit ihr kein verräterisches Geräusch entfuhr, und versuchte, einen neutral-freundlichen Gesichtsausdruck zu wahren. Ihre Ungeduld wuchs dessen ungeachtet, und sie spürte, dass sie drauf und dran war, Caltesa einfach ins Gesicht zu sagen, dass sie allein sein wollten. Aber noch beherrschte sie sich - noch …

“Soweit ich weiß, sind das die besten Räumlichkeiten hier im Lützeltal.” Caltesa schenkte Tsalinde einen entschuldigenden Blick. “Können wir nicht hier heiße Zuber vorbereiten? Ich bin mir sicher, wir hätten eine gute Zeit. Und falls sich unsere ´Künstlerin´ hier doch nicht mit Bauernkindern begnügen möchte, könnte sie ja für uns singen und tanzen. Hört sich das nicht gut an?” Vergnüglich schaute die geschminkte Alte in die Runde.

Angespannt blickte Merle zu der Baroness. Vermutlich merkte die Alte sehr wohl, dass sie dringend mit Tsalinde und Doratrava sprechen wollte und ließ sich deshalb absichtlich nicht abwimmeln. "Ähm, ja... ein Bad könnten wir schon vorbereiten…", entgegnete sie zögerlich. "Also, in der Waschküche, im Wirtschaftstrakt. Da gibt es einen Zuber... Aber ich weiß nicht, ob das das angemessene Umfeld wäre..." Hilfesuchend blickte sie zu Tsalinde.

“Das ist ein sehr lieb gemeintes Angebot, doch möchte ich zurück zu meinem kleinen Sohn. Er befindet sich in der Obhut meiner Zofe, doch war ich bisher nie lange von ihm getrennt. Ich möchte es mir erst bequem machen, wenn ich wieder bei ihm bin”, nutzte Tsalinde ihren Jungen als Ausrede.

Merle nickte eifrig. "Vielleicht hat der Kleine Angst bei dem Sturm. Wir sollten uns beeilen, bevor das Wetter draußen noch ungemütlicher wird." Ungeduldig strich sie ihr Kleid glatt und schaute Caltesa in die Augen. "Kann ich noch etwas für Euch tun, Wohlgeboren? Soll ich Wiltrud rufen?"

Um ihre vermeintliche Ungeduld zu unterstreichen, zog Tsalinde ihre Kapuze wieder auf und machte sich bereit, zurück in den Sturm zu gehen.

Wohlwollend nahm Doratrava zur Kenntnis, dass Tsalinde nun Anstalten machte, zu gehen. Doch Merles Frage gab Caltesa erneut Gelegenheit, sie gegebenenfalls aufzuhalten. Demonstrativ hakte sie sich nun bei Merle unter, egal, was Caltesa und andere Beobachter davon halten mochten. Damit wollte sie Merle den Rücken stärken, außerdem brauchte sie Merles Nähe als Anker, der ihr half, ihre Anspannung noch ein wenig länger zu kontrollieren, um nichts Unbedachtes zu sagen.

“Das ist verständlich, Wohlgeboren. Ich wünschte, ich hätte solche Gefühle für meinen Sohn gehabt. Leider hatte der zu viel von seinem Vater”, stöhnte die Adlige. “Nun Merle, ich erwarte dich später wieder. Bringt mir die Adlige wohlbehütet zu ihrem Kind, versprochen? Und bemühe dich nicht, ich komme zurecht.”

Erleichtert nickte Doratrava der alten Dame knapp zu, dann zog sie Merle hinter Tsalinde her zur Tür, bevor es sich irgendjemand anders überlegte.

Merle versuchte, noch im Gehen und mit Doratrava an ihrem Arm einen Knicks vor Caltesa anzudeuten, ließ sich dann aber widerstandslos hinausziehen.

~ * ~  

Im Dorf II

Das Lazarett im Gasthaus ist schon voll

(14:45)

Das Gasthaus hatte sich mit leicht verletzten Dorfbewohnern gefüllt. Peraine sei Dank waren jedoch bisher keine weiteren Schwerverletzten zu beklagen. Scheinbar hatte es sich schnell herumgesprochen, dass der Anconiter Gudekar hier ein Lazarett aufgebaut hatte. Alana fragte sich bereits, ob all diese Verletzungen tatsächlich während des Sturms aufgetreten sind, oder ob die Lützeltaler nicht vielleicht die Gelegenheit beim Schopf ergriffen hatten, ältere Gebrechen von einem Heilmagier behandeln zu lassen.

Dann öffnete sich die Tür und Ardare von Kaldenberg trat mit sehr energischen Schritten ein. Sie hielt Gudekars Heilertasche in der Hand.

Über die Schulter rief sie einer Person, die sich vor der Tür befinden musste, zu: “Hol auch MEINE Tasche! - Nein, morgen! So eine blöde Frage…” Kopfschüttelnd und leise vor sich her schimpfend trat die Baroness auf den Anconiter zu. Ihr Atem ging noch schnell von dem Spurt, den sie vom Gutshof zurückgelegt hatte. Die Tasche in ihren Armen drückte sie Gudekar in die Hände.

Begrüßungen und Erklärungen hielt Arda nicht für notwendig, schließlich war der Heilmagier wohl hoffentlich in der Lage, seine eigene Tasche zu erkennen, und für Floskeln war jetzt keine Zeit. Stattdessen ließ sie ihren Blick fachmännisch über den Raum schweifen. “Wo braucht Ihr mich?”, fragte sie den Magier, während sie bereits selbst die Verletzten sondierte.

Noch bevor Gudekar antworten konnte, erwähnte die Kaldenbergerin beiläufig: “Eure Schwester hat sich übrigens an der sinister den Flexor digitorum rupturiert. Meine Hoffnung ist, dass Eure Magie die Sehne adaptieren kann. Sie wird jeden Moment hier erscheinen.” Die Zeitangabe unterstrich sie mit einem resigniert-ironischen Gesichtsausdruck.

‘... und wenn sie nicht kommt, ist die rupturierte Sehne ihr geringstes Problem.’, fügte sie in Gedanken hinzu.

“Ja, das hat die Gauklerin bereits berichtet”, erklärte Gudekar, während er die Tasche abstellte und eine Bandage herausholte. Er war gerade dabei, den gebrochenen Arm der Eichholz-Mutter zu schienen. Da kam die Tasche genau zum richtigen Zeitpunkt. “Sie sollte doch hierher gebracht werden, Euer Wohlgeboren. Warum hat Mika Euch nicht gleich begleitet?”

“Weil sie sich einredet, dass die Verletzung nicht so schlimm sei. Oder wahlweise auch Firuns persönliche Prüfung für sie…” Ardas Augenrollen verriet, dass sie von keiner der Alternativen eine hohe Meinung hatte.

Währenddessen hatte die Baroness nach dem Arm der Patientin gegriffen und hielt diesen leicht unter Zug, damit Gudekar die Schienung durchführen konnte. Sie schien durchaus zu wissen, was sie tat.

“Ich konnte mir das Theater nicht mehr länger ansehen. Hätte ich noch weiter zugewartet - ich hätte Eurer Schwester etwas angetan”, gab Arda freimütig zu. “Es war ein elendiger Kraftakt, sie vom Jagdausflug bis hierher zu treiben.” Sie merkte, dass ihr Temperament wieder anfing hochzukochen, und schüttelte kurz den Kopf.

Gudekar lachte auf. „Ha! Ja, das sieht ihr ähnlich. Mika wusste schon immer, was sie wollte.“ Der Anconiter betrachtete den Arm der Frau, die noch immer nicht bei Bewusstsein war, aber ruhig zu schlafen schien. „Ihr macht das schon recht ordentlich, Euer Wohlgeboren! Das ist nicht der erste Armbruch, den Ihr behandelt. Was sollte ich Eurer Meinung nach als nächstes tun?“ wollte er die Baroness auf die Probe stellen.

Diese überlegte kurz, blickte unter die Wolldecke, mit der die Frau zugedeckt war, verschaffte sich einen Überblick. Dann antwortete sie: “Der Arm - das war eine Abwehrverletzung. Sie hat - was, ihren Kopf? Wahrscheinlich! - zu schützen versucht, wurde aber getroffen, doch das habt Ihr offensichtlich magisch geheilt. Daher auch - noch - die Bewusstlosigkeit. Ihr Körper zeigt Spuren mindestens einer Geburt - wo sind die Kinder?” Es war mehr die Feststellung eines zu klärenden Punktes als eine echte Frage an Gudekar.

„Sehr gut, Euer Wohlgeboren", musste Gudekar anerkennen. „Ihr scheint das Handwerk zu verstehen. Sie stand an der Schwelle des Todes und ich habe sie magisch stabilisiert. Allerdings nur das notwendigste, da man ja nie weiß, was in solch einer Lage noch erforderlich sein wird. Die Magie sollte man nur dann einsetzen, wenn es gar nicht anders geht. Lebenserhaltend. Ach, und um ihre Kinder kümmert sich die Baronin.“

Die Baroness fuhr fort: “Ansonsten sind wir hier fertig.” Noch beim Sprechen hatte sie sich im Raum umgesehen, ihr Blick war an einem großen, untersetzten Mann Ende 20 hängen geblieben, der in der Tracht eines Großbauern gekleidet war. Sein Gesicht war fahl, er schwitzte und stierte vor sich hin. Der Mann saß auf einem massiven Tisch, der gegen die Wand geschoben worden war, sein rechtes Bein war der Länge vor ihm ausgestreckt, der kräftige Rücken lehnte gegen die Wand.

Arda deutete auf ihn: “Er gefällt mir nicht. Er hat starke Schmerzen. So, wie er das Bein zu überstrecken versucht, würde ich eine herausgesprungene Kniescheibe vermuten.” Sie verzog das Gesicht: “Nicht so angenehm, sagte man mir.”

Noch bevor Gudekar sich in Bewegung setzen konnte, legte ihm die Baroness eine Hand auf den Arm. “Verausgabt Euch nicht! Eure Schwester benötigt Eure Hilfe - wenn es nicht zu spät ist. Was auch immer es ist, das sie zu wollen glaubt - paralysierte Finger an der linken Hand gehören sicher nicht dazu.”

„Nur das Notwendige!“ wiederholte Gudekar sein Credo, lächelte die Baroness aber freundlich an. „Ein Bauer mit einem lahmen Bein ist weitaus schlimmer dran als eine Edlentochter mit zwei steifen Fingern.“ Er machte eine Pause. Ohne von seiner Arbeit, die Verwundete richtig zu betten, aufzuschauen, sagte er unvermittelt: „Danke, dass Ihr Euch so um meine kleine Schwester sorgt! Ich schaue mir mal das Knie des Mannes an, könntet ihr derweil den Fuß jenes Mannes bandagieren?“ Er zeigte auf den jüngeren Mann, den Meta vor einer Weile hier abgeladen hatte, und der geduldig an einem Tisch wartete und derweil von den Wirtsleuten mit einer Schüssel Gulasch versorgt worden war.

Die Baroness verzog das Gesicht. “Wenn die Patella luxiert ist, wird sie das in Zukunft wohl wieder machen.” Sie begann sich allmählich zu fragen, warum genau sie sich so für dieses renitente Gör eingesetzt hatte. Warum war sie überhaupt so… angespannt? Kurz schloss sie die Augen und fühlte in sich hinein.

„Ich werde es mir ansehen, seid unbesorgt.“ Es war nicht offensichtlich, ob Gudekar die Worte zu Arda über Mikas Hand sprach, oder ob er die Kniescheibe des Bauern meinte, zu dem er inzwischen gegangen war. Gudekar fühlte das Knie ab und schaute sehr ernst.

THARGA? Jäh wurde ihr klar, dass sich etwas Schreckliches bei der Jagd ereignet haben musste. Ihre Hündin hatte versucht, es ihr über die Verbindung, die sie miteinander hatten, mitzuteilen. Und sie, Arda, hatte ihre Gefährtin zurückgelassen, um einer jungen Frau zu helfen, die blind vor Angst, jegliche Hilfestellung sabotiert hatte…

Die Tür zum Schankraum öffnete sich und eine sehnige Mittdreißigerin mit brünettem Haar und den geschmeidigen Bewegungen einer (guten) Berufskämpferin betrat den Raum. In ihren Händen trug sie eine lederne Tasche, die Gudekars nicht unähnlich, doch kleiner und hochwertiger verarbeitet war. Wortlos stellte die Frau jene Tasche an den Tisch mit dem jungen Mann, an welchen Arda inzwischen herangetreten war.

Noch immer benommen von der Erkenntnis, die sie gerade ereilt hatte, setzte sie sich neben den jungen Mann: “Was fehlt Euch? Was ist mit Eurem Fuß?” fragte sie, noch immer etwas fahrig.

„Wisst Ihr, ich bin durch das Dorf gelaufen, ich wollte nach Hause“, fing der junge Lützelfisch an zu erzählen. „Wegen des Regens bin an den Hauswänden langgelaufen. Da haben sich ein paar Schindeln gelöst und hätten mich beinahe erschlagen. Doch da hat sich diese junge, hübsche Ritterin auf mich geworfen und mich von der Stelle weggestoßen.“ Bei diesen Worten schaute Gudekar leicht verärgert zu dem Mann hinüber. „Als ich wieder aufstehen wollte, tat der Fuß weh.“

“Hmm…” erwiderte Arda desinteressiert. Sie deutete auf den Fuß: “Zeigt, wie Ihr den Fuß bewegen könnt.”

Auf die spärlichen Bewegungen Fußes hin, die mit allerlei Grimassen des Mannes begleitet wurden, wanderte ein Mundwinkel der Baroness nach oben. Sie holte zwei Leinenbinden und zwei spannlange Holzstäbe aus ihrer Tasche und begann, den Knöchel zu schienen. “Ihr müsst das so wickeln, wie ich das mache. Vier Wochen lang. Abends abwickeln, morgens wieder so binden, dass die Stäbe gut halten. Aber nicht zu fest! Wenn es ein klopfender Schmerz ist, abwickeln und Bein hochlegen. Keine schwere Arbeit! Verstanden?” Die Kaldenbergerin leierte die Belehrung an den Patienten mit verdrießlichem Ton herunter, ihre Hände jedoch wickelten die Binden geschickt ab, dass sie ein gleichmäßiges Muster bildeten.

“Nicht schwer arbeiten?” beschwerte sich Gorwin. “Ihr seid lustig. Vielleicht muss ja die hohe Dame nicht schwer arbeiten, aber erklärt das mal meinem Vater!“

Nachdem sie die beiden kleinen Mädchen gebettet hatte, betrat die Dame Morgenrot leise wieder den Hauptraum des Gasthauses. Ein kurzer Blick nur zeigte ihr, dass sowohl die Baroness als auch der Anconiter schwer zu tun hatten. Sie nickte Arda mit einem freundlichen Lächeln zu und schritt dann zu Gudekar. „Die beiden Mädchen schlafen nun. Wie geht es ihrer Mutter?"

Gudekar beachtete sie zunächst nicht. Zu sehr war er auf das Knie fokussiert. “Hm eine Luxation der Patella nach lateral. Das wird jetzt gleich ein wenig weh tun. Nein, vermutlich tut es kurz sehr weh, aber da müsst ihr durch!” Er streckte das Kniegelenk vorsichtig und übte einen lateralen Druck auf die Patella aus. Mit einem leisen “Plopp” sprang das Gelenk an seine vorbestimmte Stelle. Nun drehte sich Gudekar zu der Baronin. “Vielen Dank, Euer Wohlgeboren. Nun ja, die Frau wird es zumindest überleben. Alles weitere wird die Zeit zeigen. Ich muss gestehen, dass ich etwas zurückhaltend war, das Mandra fließen zu lassen. Ich weiß ja nicht, was uns noch so bevorsteht. Und die Kollegin”, Gudekar wies auf Arda, “scheint darauf zu bestehen, dass ich meiner Schwester zur Hand gehe.” Der Anconiter senkte seine Stimme. “Um diesen Mann mache ich mir auch Sorgen. Sein Knie ist zwar wieder eingerenkt, doch kann ihm das Malheur immer wieder passieren, der Knorpel, der die Kniescheibe an Position halten sollte, ist gerissen. Wie soll der Mann so seinem Tagwerk nachgehen? Wie soll er so auf eine Leiter steigen, um im Sommer Obst zu ernten? Sollte ich hier Magie wirken? Oder wird es noch wichtigere Fälle geben?”

Der Mann schaute den Anconiter mit großen, erschrockenen Augen an. “Bitte, Meister Gudekar, tut für mein Knie, was immer ihr könnt!”

Derweil wies Arda den jungen Mann zurecht: “Ich muss Eurem Vater garnichts erklären”, gab sie patzig zurück. “IHR seid es, der in zehn Jahren ein Krüppel ist, wenn Ihr Eurem Fuß nicht ausreichend schont. Dann könnt Ihr für Euren Vater Garn spinnen und Tuch weben und in der Dorfschenke am Stammtisch Maulaffen feil bieten, und sonst nichts!”

Ihr fiel auf, dass dieser Schankraum wohl die Dorfschenke war, doch dies tat ihrem Verdruss keinen Abbruch. Diese Uneinsichtigkeit in Gesundheitsfragen bei den jungen Leuten aus diesem Nest! Die Gedanken der Baroness wanderten zu Mika, und sie presste die Lippen aufeinander. Sie war immer noch nicht hier!

Vor Frust schnippte sie mit den Fingern den Filzhut vom Kopf des jungen Mannes mit dem verknickten Fuß. Sie garnierte das mit einem vernichtenden Blick, den sie ihrem Gegenüber zuwarf. Dann stand sie auf und sah sich nach der nächsten Person um, die heilkundliche Hilfe benötigte.

Gorwin dachte, dass die Ritterin, die ihn gerettet hatte, deutlich netter war, als diese eigenartige Heilerin. Vielleicht hättet doch warten sollen, bis Meister Gudekar Zeit hatte. Er traute sich jedoch nicht, seinen Unmut zu äußern.

Die anderen Patienten waren relativ glimpflich davon gekommen. Ein paar Prellungen, ein paar Schürfwunden. Ein gequetschter Finger war die schlimmste Verletzung.

Am meisten Sorgen bereitete Arda jedoch ein Mädchen, das am ganzen Gesicht und den Armen mit geröteten Stellen und eitrigen Pickeln übersät war. Sicherlich keine Folge des Sturms.

Gudekar bandagierte derweil das ausgerenkte Knie des Bauern, an den er sich noch dunkel von früheren Besuchen im Dorf erinnerte. „Das wird schon wieder! Ihr müsst nur vorsichtig sein. Ich erkläre Euch später, was Ihr damit machen dürft, und was nicht.“

Schweigend hatte Liana das ganze Spektakel verfolgt.

“Ich verstehe Eure Sorge”, sagte sie zu Gudekar. “Ihr werdet vorher wohl kaum wissen, was noch eintreten kann. Allerdings wundert es mich etwas, dass hier plötzlich überhaupt so viele Verletzte auftauchen - der Sturm kam ja nicht völlig unerwartet. Ich möchte lediglich sicher sein, dass die beiden jungen Mädchen ihre Mutter wiedersehen.”

Gudekars Aussage “sie wird es überleben - aber alles weitere wird die Zeit zeigen” klang für sie wenig beruhigend.

“Das Dorf ist wehleidig. Sie kommen mit den kleinsten Wehwehchen hierher”, beschwerte sich der Anconiter. “Und Ihr könnt mir nicht erzählen, dass diese Narbe bei der dort”, er wies auf eine dickliche Frau mittleren Alters, “von einem Schnitt ist, den sie sich heute zugezogen hat. Das ist doch schon fast verheilt. Und die Gansepusteln”, Gudekar zeigte auf das Kind, “hat ja auch wohl kaum der Wind hergeweht. Ich glaube, ich ruhe mich erst mal aus, bis jemand kommt, der wirklich Hilfe benötigt. Ihr habt die Kinder doch nicht in den Nebenraum gebracht? Wenn ich gebraucht werde, findet Ihr mich dort.” Der Heilmagier goss sich einen Becher verdünnten Wein ein und zog sich zurück. Er wollte gerade die Tür schließen, da drehte sich der Anconiter noch einmal um. “Hey, und du da, Mädchen! Wie heißt du?”

Das Mädchen wirkte erschrocken, als sie von Gudekar angesprochen wurde. Schüchtern antwortete sie: “Tsasal, Meister…”. Ihre Mutter beugte sich hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. “Meister Gutekah”, ergänzte das Mädchen dann.

“Komm mal her!” Gudekar winkte sie zu sich. “Ich schaue mir deine Pusteln mal an!” rief er dem kranken Kind zu. Etwas leise ergänzte er: “Nicht, dass die Kleine hier noch andere ansteckt…”

Die Mutter nahm das Kind an die Hand und führte es zu Gudekar in das Hinterzimmer.

Mit vor sich hin köchelnder Wut und innerer Unruhe blickte die Baroness von Kaldenberg zwischen der Eingangs- und der Hinterzimmertür hin und her. Wo blieb Mika, und wie lange würde wohl ihr Bruder brauchen?

Man musste nicht sonderlich empathisch sein, um zu bemerken, wie gereizt die Stimmung in diesem provisorischen Lazarett gerade war. Gudekar war offenbar sehr überarbeitet, und die junge Baroness hatte augenscheinlich nicht einmal Notiz von Liana genommen. Nun, sie wollte nicht im Wege stehen bei den Arbeiten der beiden Heiler. Noch ehe sie Gudekar hatte antworten können, war dieser bereits mit der von Pusteln übersäten und bedauernswerten Kleinen beschäftigt. Unweigerlich schritt Liana zu einem der Fenster, um zu schauen, wie es draußen bestellt war. Sie hatte längst die Konzentration aufgegeben, und nicht länger mehr waren die Winde ihr hold.

Auf dem Weg ins Lazarett

(14:45)

‘Endlich an der Luft’, dachte Mika und atmete erst einmal tief durch, als sie und Meta das Gutshaus verlassen hatten. Sie lehnte sich an die Hauswand und stützte die Hände auf die Oberschenkel. Nach dem Heiltrank ihrer Tante vergaß Mika schnell, dass zwei ihrer Finger noch immer unbeweglich waren, war die Wunde doch verheilt und die Schmerzen verschwunden.

Dann ließ sie ihrem Frust freien Lauf. “Aaaah, diese Frauen treiben mich in den Wahnsinn! Ich dachte, ich muss da drinnen noch ersticken. Den ganzen Tag schon wurde ich von denen überwacht. Als wüsste ich nicht, was ich tue.”

Auch Meta atmete tief durch, streckte sich und lachte. „Bei denen ist die Luft immer dick. Dein armer Bruder. Du bist wohl die Einzige, die in der Familie für ihn ist.“ Langsam wurde ihr kalt, denn trotz des Mantels war die Ritterin durchnässt. „Komm, ich muss mich bewegen. Dass die mich dermaßen verachten, dachte ich nicht. Es hätte alles viel schneller gehen können, ich wusste ja, was nötig war… Mist, jetzt hab ich Merle vergessen.“ Sie sah unschlüssig zu Mika, die auch frieren musste. „Ich wollte sie zu Gudis Hilfe mitnehmen. Aber jetzt geh ich erstmal nicht mehr zurück. Bei mir ist es ja klar, ich bin die Böse für alle. Aber warum behandeln sie dich so seltsam?“

“Ach, die wollen mir schon den ganzen Tag sagen, was ich wann zu tun habe. Diese Tänzerin und diese Baroness haben überhaupt nicht verstanden, worum es im Leben wirklich geht.” Mika meinte damit den Weg, dem sie zu Firun zu folgen hatte. “Aber ansonsten sind die ja ganz nett. Und Merle war ja eigentlich sehr lieb zu mir, sie hat versucht, ihren eigenen Schmerz vor mir zu verbergen, aber ich hatte von Anfang an gemerkt, dass sie etwas verschweigt. Bis du mir dann das mit Gwenn gesagt hast. Und dann ist mir auch noch rausgerutscht… Ach, Frettchenkacke! Bestimmt denkt sie jetzt auch ganz schlecht über mich. Die einzige, die mich zu verstehen scheint, ist Tante Caltesa, die alle immer als nervig empfinden. Ach, was soll’s. Dir wird kalt, und ich soll ja zu Gudekar. Komm, lass uns gehen!” Mika stieß sich von der Wand ab und schlug den Weg ins Dorf durch das Hoftor ein.

“Ja, hurtig.” Meta schüttelte den Kopf und strich sich die Haare nach hinten. Nass ringelten sie sich wieder widerspenstig. "Heute ist kein guter Tag…  aber es tut so gut, dich zu treffen. Du bist deinem Bruder sehr ähnlich. Du und Imelda, ihr seid die Einzigen, die es zumindest verstehen.” Imelda. Sie musste zu ihrer Freundin und wissen, dass es ihr gut ging. “Ich komme kurz mit rein und schau, ob er noch etwas braucht. Ich bin froh, wenn ihr zusammen seid, dann ist er nicht mehr so alleine.” Eigentlich freute Meta sich, ihre Lieben sicher zusammen zu haben. Wie eine Ente, die im Sturm nach ihren Küken sucht.

“Du glaubst, es macht Gudekar was aus, wenn er allein ist?” Mika lachte auf. “Wenn ich eines gelernt habe, dann das, dass es Situationen gibt, da ist es besser, ihn allein zu lassen. Zum Beispiel wenn er konzentriert arbeiten will. Aber das wirst du bestimmt auch noch lernen. Aber ihr wart ja noch nicht so lange am Stück beisammen, stimmt’s? Oder habt ihr euch im letzten Jahr öfter gesehen?” Mika schien es nicht besonders eilig zu haben, aus dem Sturm zu kommen. Sie schlenderte wie auf einer Promenade an einem lauen Sommerabend. Ihr Blick war dabei auf den Boden gerichtet, so dass sie nicht mitbekam, was zwei Schritt von ihr entfernt passierte oder wer vielleicht auf der anderen Seite des Weges entlang ging – hätte es noch andere Spaziergänger zu jener Zeit im Dorf gegeben.

Meta behielt die Umgebung im Auge, auch, wenn der Weg nicht weit war. Von Mika ging etwas aus, das wie ein warmer Mantel für die Ritterin war. Sie fühlte sich in ihrer Gesellschaft wohl. „He! Du bist schlau. Und ich bin wohl nach diesem Strudel an Gefühlen heute schon so weit, dass ich mir selbst etwas vormache.“ Unbewusst griff sie nach den zwei Ketten, dem Amethyst und dem Delfin. „Stimmt. Wir haben uns nicht oft gesehen und waren als Paar nie lange zusammen. Und ich freue mich darauf, ihn nach und nach zu erleben. Im Guten, wie im Schlechten, so wird es ihm bei mir auch gehen. Wir lassen uns Freiheit und Zeit, da sind wir uns ähnlich. Rahja hat uns zusammengeführt und hält uns. Es ist nicht nur berauschend, voller körperlicher Leidenschaft, die unsere Herzen brennen lässt. Da ist mehr. Eine Basis des Vertrauens, ehrliche Liebe und Sicherheit. Heute ist so viel passiert, dass ich Angst habe, ihn zu verlieren, Angst, dass er leidet. Du spürst es sicher, es ist wie ein unheiliger Schatten. Du bist seine Familie, auch die Kleine, aber die wird von Ciala bewacht. Und das… ähm, wie soll ich es sagen, die, die wir lieben, die uns Sicherheit, Freude und Zuflucht geben…" Meta stockte, sie wunderte sich, warum sie Mika so traute. Nach Gwenn. „Ja, eine Familie meine ich wohl, die hilft uns. Du gehörst zu ihm und ich auch. Ich täusche mich selbst, indem ich mir irgendwas einrede. Ich brauche das. Wir sollten jetzt zusammen sein. Ach, bei den Göttern, warum erzähle ich dir das alles?“ Sie lachte befreit. „Ich kann es niemandem sonst sagen. Bitte nimm es mir nicht übel, wenn ich grad so geredet habe. Gudekar hat Merle geliebt und er wird sie auf andere Art weiter lieben. Ich will verstehen, warum. Es wird nie mehr so sein wie früher. Wir werden eine gemeinsame Zukunft finden müssen, das ist mir klar. Ohne Merle geht es nicht und ich weiß nicht, wie es mit ihr gehen soll.“ Von sich selbst verwirrt, mit der Angst, sich wieder eine Feindin gemacht zu haben, schüttelte sie den Kopf. Meta fischte den kleinen Anhänger um ihren Hals hervor und zeigte ihn Mika. „Schau, das hat er mir geschenkt. Das bedeutet mir sehr viel.“ Unsicher, aber hoffnungsvoll blickte Meta Mika an.

Mika lächelte. „Das ist aber ein hübscher Delfin!“ Mika blieb stehen und griff Metas Hand. “Ich weiß ja nicht, was genau heute passiert ist. Und ich weiß nicht, ob ich es überhaupt genau wissen will.” Mika war verunsichert. Sie mochte Meta, ja, diese Ritterin – komisch, Gudekar hatte immer von seiner ‘kleinen Knappin’ geredet, sie gestern nun als Ritterin kennengelernt zu haben, war irgendwie überraschend – die ihrem Bruder den Kopf verdreht hatte. Aber Mika mochte auch Merle. Merle war gefühlt immer ein Teil der Familie, ein Teil von Gudekar, solange sich Mika erinnern konnte. Sie konnte sich Gudekar ohne Merle nicht vorstellen. Und als sie erfahren hatte, dass Gudekar sich in diese Meta – oder ‘Greta’, wie Imelda sie zuerst genannt hatte – verliebt hatte, realisierte Mika ganz lange nicht, dass dies dem Traviabund zwischen Gudekar und Merle zuwider lief. Oder sie wollte es nicht wahrhaben. So richtig bewusst ist ihr dies eigentlich erst eben, im Speisesaal geworden, als sie Merles Blick spürte. Das war ihr zu kompliziert. Liebesbeziehungen waren einfach stressig. Glück und Schmerz schienen dabei immer Hand in Hand zu gehen. Mit so etwas wollte sich die Novizin nicht belasten. Wie viel einfacher war das Leben doch im Dienste des weißen Jägers? Die Natur war klar, die Wegzeichen waren stets deutlich zu sehen, man musste nur die Augen für sie öffnen. Ja, der Herr war gnadenlos, aber folgte man seinen Geboten, so wurde man belohnt. Missachtete man sie, wurde frau bestraft. Mika dachte an ihre Hand. Wofür hatte Herr Firun sie gestraft? Welches Gebot hatte sie überschritten, dass der Meister der Disziplin sie derart maßregelte? Sie würde darüber meditieren müssen und dann Meister Firumar um Rat fragen. Doch jetzt hatte sie eine verlorene Seele vor sich, eine Seele, die nicht wusste, welcher Weg sie in eine glückliche Zukunft führen würde. Wäre es die Seele von irgendwem, Mika wüsste vermutlich, welchen Rat sie geben sollte, welche Fragen sie stellen musste, um die Seele auf den rechten Pfad zu führen. So wie sie es bei Doratrava und bei Arda letztlich erfolgreich geschafft hatte. Am Ende hatten sich beide geöffnet und es ging ihnen besser. Doch hier stand jene Frau vor ihr, an der das Herz ihres Bruders hing. Und sein Glück war das, was sie zu schützen hatte.  “Meta, Gudekar liebt dich. Wenn er nach all der langen Zeit noch zu dir hält und dich nicht für die Bequemlichkeit des Status Quo geopfert hat, sollte es dir bewusst sein, wie sehr er an dir hängt. Schon, dass er den Mut hatte, dich hierher mitzunehmen, zeugt davon, dass er eure Verbindung sehr ernst nimmt. Vertraue ihm. Er ist eine schwache Seele, das war er schon immer. Aber das, was er am meisten braucht, ist Vertrauen. Sonst zerbricht er. Bedingungsloses Vertrauen, das ist es, was er all die Jahre von Merle erfahren hat. Ich weiß, am Ende hat er dieses Vertrauen missbraucht, deinetwegen hat er es missachtet. Doch das ist der Grund, weshalb er nicht von Merle loslassen kann. Sie war eine der wenigen Personen, die ihm stets vertraut haben. Die ihn nicht enttäuscht haben. Wenn dieses Vertrauen nun gebrochen wurde, wird er noch mehr auf deines angewiesen sein. Es ist viel von dir, was ich verlange, denn er wird dein Vertrauen immer wieder auf die Probe stellen, unbewusst. Es ist seine Natur. Doch wenn du stets zu ihm hältst, an seiner Seite bleibst, ihn dabei jedoch nicht erdrückst, dann kannst du es schaffen, dass er dir das gibt, was du dir wünschst.” Mika schwirrte der Kopf. Sie wusste nicht, wie ihr diese vielen Worte in den Sinn gekommen waren. Sie war sich nicht sicher, ob sie selbst alles verstand, was sie gerade von sich gegeben hatte. Aber es fühlte sich gut an, dies gesagt zu haben. Sie machte eine Pause, während der sie tief Luft holte. “Meta, nun sage mir jedoch noch eines: Welches Tier auf dem Dererund ist mehr wert? Der Dachs oder der Hase?”

Als Mika fertig war, sah Meta sie verschmitzt an, sagte aber zunächst nichts. Der Kleinen war es so gegangen, wie ihr, sie hatte auch aus sich heraus gesprochen und wusste nicht, warum. “Ein Traummann, ich weiss”, zwinkerte sie ihr zu. “Ich bleibe optimistisch. Wenn wir das Unheil und die nächsten Tage geschafft haben, dann hält es. Die Sache mit Merle bereitet mir noch Sorgen. Vielleicht wird es nicht so schlimm, wie ich denke, aber sie wird dann auch Teil meines Lebens sein und jedes Mal so eine Stimmung wie eben…” Meta verdrehte die Augen. “Nicht nur ich will ihn, er mich auch. Andernfalls wäre ich schon nicht mehr hier. Er ist ein freier Mann, der selber entscheidet, was er will. Da muss ich jetzt nicht balzen, wie ein Auerhahn.” Wie ernst alles gemeint war oder nicht, das konnte Mika vielleicht erahnen oder nicht. Meta sah sie lieb und unschuldig an. “Ach ja, die Frage. Auf den ersten Blick ganz einfach, wenn man nur sich sieht. Aber meiner Meinung nach sind beide gleich viel Wert. Jedes lebt und hat dem ihm zugedachten Platz. Das ist mit und ohne uns so. Aber da kenne ich mich im Firunglauben nicht gut genug aus. Warum sollte ich zum Beispiel vor den Göttern, na ja, Travia lassen wir mal weg, weniger Wert sein, als jemand anderes. Jeder folgt seiner Natur. Aber klär mich gerne auf.”

“Genau, Meta!” Mika war begeistert, endlich einmal jemanden vor sich zu haben, die es verstand und strahlte Meta deshalb an. “Keiner von beiden ist mehr Wert als der andere. So ist es auch bei der Gans und der Stute. So ist es aber auch bei Rahja und Travia. Sie sind doch Schwestern. Sie sind doch gleich wichtig. Auch du solltest die eine nicht mehr oder weniger achten als die andere, dann werden sie auch dich nicht geringer schätzen. Beide sind Schwestern und müssen sich einigen. Doch streiten sie gerade um Gudekar. Welche sollte nun den Vorrang bekommen?”

Meta hatte Gefallen an dem Spiel gefunden. „Ich darf natürlich wieder nicht sofort von dem ausgehen, was ich will, da beide gleichberechtigt sind. Sie sollten teilen. Und da liegt das Problem. Bei Travia ist so etwas nicht mehr möglich. Du darfst mich nicht falsch verstehen, ich hätte, also wollte, schon einen Traviabund geschlossen. Aber lassen wir mich mal weg. Gudekar sollte sein Schicksal selbst bestimmen und versuchen, beiden Göttinnen gerecht zu werden. Auch die Harmonie, die Rahja liebt, ist durch so einen Zwist gestört … ich hab eine Lösung, aber sag du erst deine Meinung.“

Mika überlegte. “Ja, die eine Schwester hat etwas geschenkt bekommen, und will es nicht mehr hergeben. Die andere Schwester hätte das aber auch gerne”, führte sie ihr Gleichnis fort. “Es ist eine verzwickte Lage. Gibt es einen Weg, damit am Ende beide zufrieden sind? Oder werden am Ende beide verlieren?” Mika machte eine Pause und blickte Meta lange und eindringlich an. Plötzlich, und in einem abwimmelnden Tonfall ergänzte sie: “Ich weiß es nicht, und das ist der Grund, warum ich lieber bei Firun bleibe, als mich um solch Herzensdinge zu kümmern.” Mika drehte sich um und nahm den Weg Richtung Gasthaus wieder auf.

„Blöd nur, dass Firun ein Bruder der beiden ist. Als Geweihte kommt man da nicht raus. Da muss man für die brave Schwester Travia sein.“ Meta schüttelte den Kopf. So schaffte man es, Mika ins Lazarett zu treiben. „Auch, wenn dir die Argumente ausgehen, kannst du dich ja bemühen, wenigstens nicht gegen mich zu sein. Ich hab eine, nein zwei Lösungen für unser Problem. Aber das hat gerade keinen Vorrang. Und jetzt lauf nicht so schnell, du würdest sowieso nicht vor mir dort sein, komm.“ Meta beschleunigte in leichten Trab, als sie das Lazarett sah.

Doch Mika blieb noch einmal stehen. „Aber Meta, ich bin doch nicht gegen dich! Hast du mir denn gar nicht zugehört? Hase und Dachs! Du bist der Dachs, Merle ist der Hase. Beide gehören auf das Dererund, ihr beide gehört zu Gudekar. Travia UND Rahja sind Firuns Schwestern. Wie sollte ich einer der Schwestern den Vorzug geben, ohne gegen die andere zu sein? Kann man denn nicht treu zu seinem Heim und seiner Familie stehen und dennoch Rahjas Ruf folgen? Darf, wer den Traviabund geschlossen hat, nie mehr einen Fuß in Rahjas Tempel setzen? Wird eine Jüngerin Tsas niemals von Boron die Gnade der Ruhe erhalten? Darf ich als Tochter Firuns die heiligen Höhlen Ingerimms in Imeldas Heimat besichtigen? Das Pantheon umfasst 12 Gottheiten. Niemand, der an sie glaubt, muss sich auf sechs von ihnen beschränken. Oder denkst du das?“

Meta trabte noch ein paar Schritt weiter und blieb dann stehen. “Mika, wenn’s einfach wäre, dann könnte es jeder.” Sie drehte sich um und sah Mika wieder so unschuldig, aber mit Schalk in den Augen an. “Brauchen wir dafür nicht Geweihte, die uns den Willen der Götter erklären? Eigentlich wäre alles einfach, wenn die Gläubigen toleranter wären. Mein bester Freund ist Bannstrahler und trotzdem lasse ich mich eines Magiers wegen hier von allen verachten.” Sie lachte, der Regen fiel ihr wieder störend ins Gesicht und sie hob die Hände. “Es sind die Menschen und das, was sie daraus machen, was es immer absurder erscheinen lässt, dass die Zwölfe sich eins sind. ----- Du kannst beide Schwestern mögen. Leider sind die Menschen zu menschlich und auch, wenn Schwester Travia und Rahja sich einig sind und sich akzeptieren, schaffen die Menschen das nicht. Noch nicht. Manchmal dauert es etwas. Ähm…warum bin ich der Dachs? Jeder mag Kaninchen, kaum einer hat Dachse gern.”

„Wärst du lieber der Hase? Ich hatte Hase gesagt, nicht Kaninchen. Du kennst doch hoffentlich den Unterschied zwischen einem Karnickel und einem Rammler?“ gab Mika neunmalklug von sich.

„He, mein erster Schwertvater war ein Elf. Deshalb bin ich auch so spät dran, also erst so spät Ritterin geworden. Was glaubst, was der mich in die Wälder geschickt hat und mit mir über das Getier da geredet hat. Und er konnte toll zaubern. Aber er hat sich immer geziert.“

„Aber zurück zum Kern der Geschichte. Nur weil manche Menschen zu wissen glauben, wie die Götter denken, heißt das ja noch nicht, dass die Menschen richtig liegen. Das zu entscheiden obliegt uns, dem Klerus. Und selbst uns fällt das nicht immer leicht, sonst gäbe es doch nicht in fast allen Kirchen unterschiedliche Strömungen. Was die Nordmarken angeht, mag die Auslegung von Travias Geboten sehr streng sein. Das gilt ja genauso für Praios und den Gebrauch der Magie, auch etwas, was Gudekar sehr ärgert. Andere Länder haben da freiere Interpretationen der Göttlichen Ordnung. Wie wollen wir als Sterbliche uns anmaßen, den wahren Willen der Götter zu verstehen?“

„Habe ich das nicht vorhin ähnlich gesagt? Na egal. Lass mal die Götter weg, Novizin, du willst mir doch dauernd was direkt sagen.“

“Du willst, das ich dir die Dinge direkt sage? Du verstehst sonst nicht, was ich dir sagen will?” Mika schmunzelte Meta an. “Ich glaube schon, dass du mich verstehst. Ich denke, du bist schlauer, als du manchmal tust. Du bist doch die, die meine Worte von allen am besten versteht. Aber gut, nehmen wir an, du verstehst meine Worte nicht. So geht es meisten Menschen mit dem Willen der Götter. Ich maße mir auch nicht an, zu verstehen, was die Götter wollen. Also schön. Dann sage ich dir, was ich mir am aller aller meisten von Euch dreien wünschen würde. Dass ihr euch zusammensetzt und schaut, wie ihr alle ein wenig glücklich werden könnt. Dass du und Gudekar turteln könnt wie die Täubchen, Gudekar aber trotzdem für Merle und Lulu da sein kann, ihnen ein sicheres Zuhause geben kann. Dass das ganze ohne diese ständige Heimlichtuerei von ihm weiter geht. Die macht uns doch alle kaputt. Du meintest, Gwenn, diese blöde Schnepfe, hat euch verpetzt? Das war gemein von ihr, zumal sie es uns damals in den Albauen anders versprochen hat. Aber sei es drum. Gesagt ist gesagt. Jetzt hat der Fuchs seine Fährte gezeigt. Macht doch nun das Beste daraus.”

Meta hob die Augenbrauen. Bei Alegretta und deren Novizen hatte sie oft gefragt, wenn ihr bei Rahja etwas nicht klar gewesen war. „Geweihte sind doch Diener der Götter, die versuchen, das, was niemand versteht, so gut wie möglich an die Gläubigen zu bringen. Sie sollten die Götter besser verstehen, als wir, aber gut vermitteln können.“ Fast etwas abschätzig sah sie Mika an. War sie einfach nur ein sprunghaftes Mädchen, dem sie zuviel erzählt hatte, da sie die einzige war? Oder könnte echte Zuneigung entstehen? „Es ist oft besser, unterschätzt zu werden. Aber du hast mir nicht zugehört. Das mit Merle, das hatte ich auch schon gesagt. Es geht nicht ohne sie. Aber nach dem, was ich bisher erlebt habe, glaube ich nicht, dass sie zu dem Kompromiss bereit ist, den wir uns wünschen. Gudekar weiß Bescheid, wie weit ich schon gehen würde. Aber ich mache nicht alles.“ Wahrscheinlich verstand Mika sie jetzt sowieso nicht. Meta hätte besser über die Jagd mit ihr gesprochen. Wenn die Hand in Ordnung war, würde Mika weniger Sorgen haben.

“Ach Meta. Ich wollte doch die ganze Zeit nur sagen, du bist genauso wichtig, wie Merle. Du bist nicht weniger wert oder so. Natürlich sollst du dir nicht alles gefallen lassen. Weder von ihm noch von ihr. Kompromisse werdet ihr alle eingehen müssen, sonst werdet ihr nicht alle glücklich. Ich hoffe, ihr findet einen Kompromiss, unter dem keine von euch leiden wird. Und Gudekar auch nicht. Sonst werdet ihr ihn irgendwann beide verlieren. Dann werden wir alle ihn verlieren. Weißt, ich glaube, ich kenne Merle. Merle ist ein herzensguter Mensch. Ich weiß natürlich nicht, zu was sie bereit sein wird. Immerhin ist sie in den travianischen Lehren erzogen worden. Aber eines bin ich mir sicher: Sie wird bereit sein, sich euren Vorschlag anzuhören. Vielleicht nicht sofort. Ich könnte mir vorstellen, dass die plötzliche Erkenntnis, Gudekar fast verloren zu haben, ein großer Schock für sie war. Aber wenn sie erkennt, dass sie ihn auf Dauer nicht wird halten können, wenn er dich will, dann ist sie vielleicht zum Reden offen.” Mika drehte sich ein wenig von Meta ab, stützte die Hände in die Hüfte und hob den Kopf. Ihre Brust streckte sie stolz nach vorne. Die Novizin sog den Wind tief in ihre Lungen und ließ den Regen in ihr Gesicht prasseln. “Gudekar ist eigentlich ein ganz schöner Arsch. Was magst du eigentlich an ihm?” Mika drehte den Kopf zu Meta und musste herzhaft lachen.

Meta lachte mit ihr. Ihr Lachen war immer noch ansteckend. „Ja mei. Ich bin nicht wie die anderen Frauen. Er passt zu mir. Vielleicht bin ich auch arschig. Gefühllos und kalt. Du kennst mich ja kaum.“ Erst wollte sie es nicht sagen, dann sah sie keinen Grund, es sein zu lassen. „Mit Merle ist das nicht ganz so einfach. Die kann stur bleiben und immer damit drohen, Gudekar bei ihren Eltern zu melden. Das will ich nicht und er will das sicher auch nicht. Sie muss einfach nicht nachgeben, dann kann sie verlangen, was sie will, bis es mir zuviel wird und er bei ihr bleiben muss.—— Jetzt sollten wir aber rein. Wenigstens kurz will ich mich aufwärmen.“

“Nur eines noch”, Mika hielt Meta fest. “Ja, Merle kann damit drohen, ihn der Frevelei wegen anzuzeigen. Dann würde er gebannt. Oder er gibt ihr nach, lässt dich fallen, geht zu ihr zurück und ist unglücklich. Dann wird er sie bei erster Gelegenheit erneut verraten, vielleicht schlimmer als zuvor. In beiden Fällen hätte auch Merle alles verloren, was sie sich wünscht: ein trautes Heim, eine Familie für ihre Tochter. Das weiß auch Merle. Deshalb wird sie vielleicht damit drohen, doch ich glaube, sie wird für Kompromisse offen sein. Aber wer versteht schon, was wir Frauen wirklich wollen?” Noch einmal lachte Mika, um das Eis zwischen den beiden zu brechen. “Komm, wir gehen rein. Dann kannst du vielleicht was Warmes trinken, Frostbeule!”

„Hmm… hm… vielleicht sehen wir uns dann später nochmal.“ Etwas wortkarg, aber nicht unfreundlich folgte Meta der Novizin. In Gedanken hatte sie dieses leidige Thema wieder so gut es ging beiseite geschoben. Sie folgte Mika stumm und versuchte, sich an das zu erinnern, was Gudekar ihr vor ein paar Stunden über diese Gefahr eröffnet hatte. Das erste Mal seit langer Zeit hätte sie Linnart gerne bei sich. Er wüsste, was man tun musste.

Im Lazarett

(14:55)

Schließlich erreichten auch Meta und Mika das Gasthaus, das von Gudekar zu einem Lauarett umgebaut worden war. Das Ziel, das Mika schon vor Stunden ansteuern sollte, um ihre Hand von Gudekar behandeln zu lassen. Liana hatte dort die Kinder der Frau zu Bett gebracht, die von Alana gerettet worden war. Adare hingegen wartete ‚sehnsüchtig‘ auf Mikas Eintreffen, da sie sich so sehr um ihre Hand sorgte. Nur, um sich von den Gedanken an Mika abzulenken, versorgte sie einige Kranke und Verletzte.

Meta stieß die Tür auf und ließ Mika vor. Es war voll, warm und dampfig. Gerne wäre sie noch etwas geblieben, aber sie ahnte, was sie als nächstes tun musste. “Wart mal, Mika. Am besten lässt du die Baroness sein und gehst gleich zu Gudekar. Ich frag ihn, was er noch braucht und beichte das mit Merle. Siehst du ihn irgendwo?” Als sie ihren Blick über die versammelten Menschen wandern ließ, sah sie den jungen Mann, den sie heute schon getroffen hatte. Armer Kerl, aber sicher würde man ihn wegen des Fußes schon nicht gleich von seinem Leid erlösen müssen, wie ein Pferd mit gebrochenem Bein.

Gorwin Lützelfisch schaute zum Eingang, als sich die Tür öffnete, und lächelte nachdem hinter Mika auch Meta eintrat. Er wollte voller Begeisterung aufstehen, spürte aber sogleich einen Schmerz in seinem Knöchel und setzte sich sofort wieder hin.

Noch konnte Meta Gudekar nicht finden. Vielleicht war er auch gerade nicht da. Der Mann von vorhin, der mit den Forellen, der war ja wirklich grad da. „Na, wie schaut’s aus? Gerissen oder gebrochen?“ Den Gnadenschuss ließ sie lieber weg. Er war ein guter Kerl und es gab wenige, zu denen sie unter bestimmten Umständen wollte. Außerdem sah er so aus, als täten ihm nette Worte gut. „Habt ihr Gudekar irgendwo gesehen?“

“Meister Weissenquell hat sich hinten in das Nebenzimmer zurückgezogen.” Gorwin schaute die Ritterin abschätzend an und kratzte sich am Bart. “Ich weiß auch nicht genau, was mit meinem Fuß ist. Diese unfreundliche Heilerin”, er wies auf Arda, “dort, die hat mich verbunden und gesagt, ich solle den Fuß viel Wochen lang schonen. VIER WOCHEN! Wie soll ich da Vater helfen? Die Teiche müssen doch für den Winter fertig gemacht werden.”

“Oh, tut mir leid. Ich kenne mich da zu wenig aus.” Noch, dachte sie. Was Merle konnte, das würde sie von Gudekar auch lernen. ”Die andere Frau, die hat so klug geschwätzt, da dachte ich, die hätte auch Ahnung. Na, bis morgen wird schon nichts passieren. Ins Nebenzimmer?” Sie seufzte, wohl oder übel würde sie ihn stören. “Ich bin, wenn mir nichts passiert, morgen noch da. Bis dahin schaut das mit dem Fuß sicher besser aus. Aber die sind gerade im Stress und wollen niemanden übersehen, der nicht so viel Zeit hat.” Sie nickte ihm noch kurz zu, sah Mika in passendem Gespräch mit der Baroness und ging zum Nebenzimmer. Kurz klopfte sie und öffnete im selben Moment die Tür. “Gudekar, Mika ist da.”

Der Heiler drehte sich um und erkannte gleich seine Geliebte.“Oh, Meta! Bleib draußen, außer du willst die Gänsepocken bekommen. Oder hattest du die schon?“

„Ach so, ich dachte, du würdest dich ausruhen.“ Meta blieb im Türrahmen stehen, hängte sich rechts und links mit den Armen daran und streckte sich nach vorne. „Ich hab Mika gebracht, sie redet mit Arda. Merle wollte ich dir zur Unterstützung auch bringen, aber die Umstände waren nicht so gut. Beschissen, aber das sind sie ja fast alle hier zu mir. Wenn du willst, dann suche ich sie und bring sie her. Ansonsten schaue ich draußen weiter.“

“Danke, mein Schatz!” Gudekar lächelte sie an. “Ich glaube, ich brauche Merle nicht. Die meisten da draußen sind nicht so schlimm verletzt, Peraine sei Dank. Und es scheint langsam nachzulassen. Da sind schon eine Weile keine neuen Opfer gekommen. Ich hab es schlimmer befürchtet. Wenn die süße Kleine hier nicht wäre, hätte ich mich wirklich etwas ausgeruht. Pass auf dich auf!”

„Gut, dann treffen wir uns hier wieder. Ich will schauen, ob es noch etwas zu tun gibt. Ach… und ob es Imelda gut geht. Das war kein normaler Sturm. Da steckt was unheiliges drin.“ Gudekar runzelte die Stirn. Dieser Gedanke war ihm noch nicht gekommen. Ernst wandte sie sich zum Gehen. „Sag, diese Frau, Arda? Die hat schon Ahnung, oder? Ich habe vorhin einen Mann gebracht, kein akuter Notfall, aber sie wusste wohl nicht, ob der Fuß gebrochen ist, oder ob da was gerissen ist.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ihr werdet das schon machen. Ich hab mich an ihn erinnert, da er nett zu mir war, stell dir das vor!“ Sie lachte ungläubig. „So wenig mag man mich hier, dass ich mich freue, wenn ein Kerl aus dem Dorf sich an mich erinnert und mich nett findet. Na ja. Schau lieber selber nach Mika. Wir sehen uns dann noch. Du wirst mich schon finden.“ Immer noch nass lächelte sie lieb und huschte wieder aus dem Zimmer.

Gudekar blickte ihr noch etwas verwirrt hinterher. So war sie. Husch und weg! Das war ja so niedlich an ihr! Aber dieser Lützelfisch. Dessen Fuß sollte sich Gudekar wohl noch einmal genau ansehen. Nicht, dass der noch einen falschen Schritt machte!

Der Anconiter drehte sich wieder zu dem Mädchen. “Also, pass auf, Tsasal, mein Liebes. Denk immer dran: Nicht an den Pusteln kratzen, sonst bleiben vielleicht böse Narben und du siehst später aus wie eine böse Hexe. Das wollen wir doch nicht, oder?” Tsasal schaute den Magier erschrocken an, sagte aber nichts. Er wuschelte ihr über die Haare und lachte. “Aber keine Sorge, so schlimm wird es schon nicht.” Nun kramte der Heiler in seiner Tasche und fischte ein kleines Tiegelchen hervor, das er der Mutter des Mädchens gab. “Die Salbe drei mal am Tag auf die Pusteln tupfen. Das mindert den Juckreiz und verhindert feurige Stellen. Und sie sollte keine anderen Kinder sehen, bis die Pusteln weg sind. In einer Woche sollte der Spuk vorbei sein.”

“Habt Dank, Meister Gudekar!” Die Mutter machte einen Knicks. “Was verlangt ihr für Eure Dienste?”

“Schon gut. Ihr braucht mir nichts geben. Sorgt dafür, dass die Kleine genug zu essen bekommt. Viel Obst, Milch, Muggeleskäs, Honig. Wenn das Fieber steigt, viel verdünntes Bier. Gebt Euer Geld dafür aus. Und wenn ihr irgendwann etwas übrig habt, macht eine Spende für das Waisenhaus in Albenhus. Damit sei es abgegolten.”

“Habt nochmals vielen Dank, Meister Gudekar!” Die Mutter schüttelte Gudekars Hände voller Dankbarkeit. “Möge Travia stets ihre schützende Hand über Euch und Eure Familie halten!”

Gudekar lächelte sie freundlich an, dann ging er aus dem Raum, um Mika zu sehen.

***

Mika ging derweil auf Arda zu und stellte sich dicht neben sie. Dann raunte sie ihr ins Ohr: “Hallo Arda, ach hier bist du! Ich dachte, du warst so darauf bedacht, mich hierher zu geleiten?” Die Novizin trat einen Schritt zurück und sprach laut und deutlich weiter. “Euer Wohlgeboren, wisst Ihr zufällig wo mein werter Herr Bruder weilt? Ich habe hier eine schwerstverwundete Hand”, die sie theatralisch in die Höhe hielt, “und  brauche ganz, ganz dringend die Hilfe eines fähigen” – dieses Wort betonte sie besonders deutlich – “Heilmagiers.” Einen Schwächeanfall vortäuschend ließ sich die Lützeltalerin elegant auf einen Stuhl gleiten.  

Einen Moment wünschte sich Arda, ihre Lehrmeisterin hätte sie nicht so ausführlich an die magische Heilkunst herangeführt, sondern mehr in der Fluch- und Kampfmagie unterrichtet. Die grauen Augen füllten sich mit Tränen der Wut. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, die Fingerspitzen bohrten sich schmerzhaft in die Handflächen.

Sie ließ sich in einen Stuhl neben Mika niedersinken, beugte sich zu dieser hinüber flüsterte ihr mit bebender Stimme zu: “Ich habe versucht, Deinem Bruder beizustehen, um zu verhindern, dass er sich müde zaubert, bevor er Dich heilen kann.” Sie atmete einmal tief durch, versuchte ihre Tränen wegzublinzeln. “Weißt Du was? Ich habe mir eingebildet, ich müsste Dir helfen. Weil ich Dir es ersparen wollte, für Dein restliches Leben versehrt zu bleiben. Dass Du vielleicht Deinen Wunsch, Dienerin Firuns zu werden, aufgeben musst. Und wie dankst…” Sie unterbrach sich, wischte sich einmal über die Augen, und setzte neu an: “Hochmut kommt vor dem Fall! Mal sehen, ob Du noch so lustig bist, nachdem Dein Bruder sich Deine Hand angesehen hat.”

Nochmal atmete sie durch: “Es tut mir leid, dass ich Deine Hand nicht … selbst heilen konnte, noch bei der Jagd. Ich hab mein Möglichstes getan, das macht mich noch lange nicht unfähig!” Nun lief doch eine Träne über das gerötete Gesicht der Kaldenbergerin herab, und Mika konnte förmlich die Hitze fühlen, die Arda in ihrem aufgewühlten Zustand ausstrahlte. Trauer ersetzte Wut in der noch immer bebenden, leisen Stimme. “Ich habe jetzt verstanden, dass Du Dir nicht helfen lassen willst. Ich wünsche Dir, dass Du mit dieser Entscheidung leben kannst.”

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, drehte ihren Kopf von Mika weg und legte sich die Arme um den Leib, als sei ihr kalt.

Alana hatte versucht, sich nützlich zu machen, brachte manchen Leuten ein wenig Wasser oder legte einfache Verbände an. Nach einer Weile hatte sie sich an die Seite gesetzt und beobachtete. Es dauerte nicht lange, bis ihr die hübsche Baroness von Kaldenberg auffiel. Das letzte Mal saß sie zusammen mit ihr, bar jeglicher Kleidung in einem Zuber - bei der Einweihung des Rahjatempels im Eisenstein. Ihre Begegnung war kurz und damals von der Gauklerin Doratrava unterbrochen. ´Schade´, dachte sie bei sich.

Die Baronin von Rodaschquell, die abseits gestanden und gedankenverloren aus dem Fenster geblickt hatte, drehte sich langsam um angesichts der harschen Worte, die dort gewechselt wurden.

Mika wurde mit einem Mal ganz ernst. Sie schluckte und stand auf, kniete sich neben Arda und legte ihre Hände auf die Schultern der… Freundin. „Es tut mir leid! Ich wollte dich nicht verletzen. Ich hab doch nicht gesagt, dass du eine schlechte Heilerin bist. Du kannst doch nichts dafür, dass du nicht wie Gudekar Magie beherrschst. Dafür brauchst du dich nicht schämen! Es ist nur… die ganze Zeit wollten mir alle immer nur sagen, was ich zu tun habe. Was ich will hat nie jemanden interessiert. Diese Jagd war so wichtig für mich, und Firun hat mich sogleich auf die Probe gestellt und ich habe kläglich versagt. Was bin ich denn für ihn wert, wenn ich nicht einmal schaffe, auf die Laterne von seiner Gnaden zu achten, wenn ich vielleicht die anderen alle in Gefahr bringe durch ein einfaches Missgeschick. Was, wenn wegen meines Versagens jemand… sterben musste?“ Mika liefen nun auch die Tränen der Verzweiflung über das Gesicht. War ihr Lebenstraum nicht bereits durch ihr einfaches Scheitern in Gefahr? Unabhängig davon, was mit ihrer Hand geschah? Sie wischte sich mit einem Ärmel die Augen trocken. „Ich danke dir, dass du dich derart um mich gesorgt hast! Der Rest ist der Wille der Götter. Ich gehe jetzt und zeige Gudekar die Hand.“

Die Baroness legte ihre Hand auf Mikas Hand, die noch immer auf ihrer Schulter ruhte. Ihr wurde bewusst, dass es die verletzte Hand war. Mit erstickter Stimme flüsterte sie: “Es ist etwas schreckliches passiert. Auf der Jagd. Ich weiß es…” Auch ihr liefen die Tränen über das Gesicht.

Dieses junge, dumme Mädchen, das sich jetzt ihre Freundin nannte, würde vielleicht für immer eine verkrüppelte Hand zurückbehalten, weil sie, Arda, ihre arkanen Kräfte zurückgehalten hatte. Dieser Gedanke erdrückte sie fast vor lauter empfundener Schuld. Dazu kam diese ständige Panik im Hinterkopf, deren Urheberin ihre Gefährtin, Tharga, sein musste. Es war zuviel für das ohnehin angegriffene Nervenkostüm der Kaldenberger Baroness.

Mika wurde kreidebleich. Sie wusste zwar nicht, woher Arda dieses Wissen haben mochte, doch spürte die Novizin, dass dies mehr war als nur eine unbegründete Sorge. “Ist es… ist es, weil wir fort mussten?" Dann erschrak sie förmlich. “Oh Herr Firun! Vater! Es ist doch nicht Vater? Ihm ist doch nichts zugestoßen? Oder?” Mit den gesunden Fingern krampfte sie in die Schultern der Baroness.

***

„Frau… Ritterin!“ hörte Meta hinter sich die Stimme von Gorwin Lützelfisch rufen, als sie gerade zur Tür hinaus gehen wollte. „Ich habe gerade Eure Worte zu dem Magier gehört. Das klang so, als ob ihr denkt, mein Fuß sei nicht gut versorgt. Könntet ihr den Anconiter bitten, sich das noch einmal anzusehen? Ihr scheint ein gutes Verhältnis zu ihm zu haben.“

“Ich hab von Heilkunst ungefähr so viel Ahnung wie von Fischzucht. Es kam mir nur seltsam vor, dass man Euch nicht untersucht hat. Spätestens morgen werden die das schon nachholen.” Unschlüssig, was sie nun genau machen sollte, kaute Meta auf ihrer Unterlippe. “Die Heiler hier sind sehr gut, aber es ist eben grad recht voll. Er wird sich darum kümmern und ein erholter Heiler ist Euch doch auch lieber, als einer, der mit den Gedanken anderswo ist?” Sie lächelte und zuckte mit den Schultern. “Wahrscheinlich komme ich eh bald wieder.” Sie atmete nochmals tief durch und ging wieder auf den Hof.

Der Sturm hatte etwas von seiner Kraft verloren. Auch hatte Meta das Gefühl, der Regen hätte etwas nachgelassen. Dennoch war der Dorfplatz wie ausgestorben. Aus einigen Häusern flackerte das fahle Licht von Laternen oder Kaminfeuern durch die Fenster. Dies galt auch für die Schmiede, in der Metas Freundin Imelda untergekommen war.

Am anderen Ende des Dorfplatzes, dort wo es zum Gutshof ging, hörte die Ritterin Hufgetrappel und das Klappern von Wagenrädern auf den Pflastersteinen. Einige Wagen wurden in eine Scheune neben der Zehntscheuer geschoben. Dahinter war ein Tross aus Reitern, ein Ritter mit seinem Gefolge zusehen, die nun in Richtung des Edlenguts ritten. Es folgte ein zweiter, kleinerer Tross von Angroschim.  

Meta entschloss sich, nachzusehen, was dort los war.

***

Nun kam Gudekar auf die beiden jungen Frauen zu. “Was ist mit Vater, Mika? Euer Wohlgeboren, Ihr seht ja ganz blass aus? Ist Euch nicht wohl?”

“Kümmert Euch um die Hand Eurer Schwester. Bitte!” Arda war abrupt aufgestanden und blickte Gudekar aus geröteten, glasigen Augen an. “Ich gehe die Jagdgruppe suchen”, kündigte sie mit noch etwas belegter Stimme an.

Jäh fiel ihr ein, dass sie vor Mika nichts hätte sagen können, das sie eher davon abhalten würde, sich einer Untersuchung ihrer Hand durch ihren Bruder zu unterziehen. Streng blickte sie Schwester und Bruder an: “Es hat mich viel gekostet - ich weiß selbst noch nicht wie viel - um Euch hier zusammenzubringen. Ich rate Euch tunlichst, nicht meinen Zorn herauszufordern und jetzt irgendeinen Unsinn anzustellen. Rettet die Hand Eurer Schwester, Gudekar!”

Damit wandte sie sich ab und machte sich auf, den Raum zu verlassen. Als ihr Blick erneut über den Raum schweifte, sah sie eine junge Frau, die ihr bekannt vorkam. Sie konnte die vagen Erinnerungen nur beim besten Willen nicht zuordnen… Unwillig schüttelte sie den Kopf und konzentrierte sich auf ihre neue Aufgabe: Tharga zu finden.

Mika und Gudekar schauten beide der Baroness hinterher und zuckten zeitgleich die Achseln. Als ihnen das bewusst wurde, mussten sie unwillkürlich gemeinsam kurz auflachen. Doch schnell wurde Gudekar wieder ernst. „So, Schwesterherz, dann zeig mir mal deine Hand.“ Mika zeigte ihm schüchtern die linke Hand, die äußerlich dank Tante Caltesas Heitrank fast vollständig geheilt wirkte. Gudekar tastete diese ausgiebig ab und versuchte, die Finger zu bewegen. Schließlich kommentierte er: „Ei, Ei! Damit hättest du besser gleich zu mir kommen sollen!“

~ * ~

Der Hof füllt sich wieder

(15:00)

Die Zeltstadt auf der Streuobstwiese war zwischenzeitlich mehr oder minder erfolgreich abgebaut. Einige Bauern hatten dem fahrenden Volk, Händlern und Spielleuten, geholfen, ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. Allerdings gab es an einigen Zelten nicht unerhebliche Schäden. Viel schlimmer war jedoch, dass es auch einige Verletzte gab, Efferd sei Dank jedoch keine Schwerverletzten. Ein paar Schürfwunden, einige Prellungen, eine gebrochene Hand, ein gequetschter Fuß, … Die Opfer des Sturms wurden auf einem Ochsenkarren zum provisorischen Lazarett im Gasthaus gebracht,

Der Abbau der Zelte der hohen Gäste erfolgte mehr oder weniger problemlos. Das Gefolge des Ritters Rondrad von Storchenflug hatte zunächst die eigenen Zelte verladen und wollte danach der Angroscha Murla bei ihren Zelten helfen, da ihr Gemahl Borix noch immer auf der Jagd unterwegs war. Doch schließlich hatte ihr eigenes Gefolge doch noch selbst Hand angelegt.

Die Karren mit Zelten und Gerätschaft beider Gefolge wurde in die Scheunen in der Nähe der Zehntscheuer untergestellt und waren so gesichert. Doch wo sollten die hohen Gäste nun hin. Lukardis von Weissenquell, der Knappe des Ritters Rondrard, schlug vor, zunächst zum Gutshof seines Großvaters zu ziehen, um Unterschlupf vor dem Unwetter zu finden und dann zu entscheiden, wo die Nacht verbracht werden konnte.

Auf dem Weg dorthin ließ der Sturm, Efferd sei gepriesen, langsam nach.

So zog die kleine Gruppe mit ihren Pferden in den Gutshof ein. Von dem Hufgetrappel aufgeschreckt, kamen die Mägde Wiltrud und Harka aus der Küche des Gutshauses gelaufen.

“Herrje, die Herrschaften! Ihr seid ja vollkommen durchnässt!” Wiltrud war vollkommen außer sich. “Es ist doch hoffentlich niemandem etwas passiert?”

“Ach was. Das bisschen Wasser bringt einen nicht um”, winkte Rondrard ab. “Kann man hier noch irgendwo helfen?”

Wiltrud zuckte mit den Schultern. „Hier auf dem Hof ist nichts großartig passiert. Und im Dorfkern scheint das Schlimmste vorüber zu sein. Jedenfalls kamen der Hohe Herr und sein Schwertvater bereits aus dem Dorf zurück. Harka, würdest du bitte gehen und Herrn Kalman rufen?“

Das Wasser machte der alten Angroschna auch wenig, schließlich war sie jetzt ja nun gleich im Trockenen. Aber mit jedem Herzschlag wurde ihre Sorge um Borix, der bei dem Wetter im Wald unterwegs war, größer. So ging sie unruhig auf und ab und schaute immer wieder zum Hoftor.

Harka lief sogleich zurück in das Herrenhaus, um den Edlensohn Kalman von Weissenquell zu rufen, der sich mit seinem alten Schwertvater Jartgar von Immergrün in den Weinkeller des Edlen verzogen hatte. Die beiden Ritter beeilten sich, ebenfalls nach dem Rechten zu sehen.

“Rondrad, Lukardis, Murla! Habt ihr den Sturm gut überstanden? Kommt doch mit ins Haus euch aufwärmen.” Kalman begrüßte seine Gäste, insbesondere seinen Sohn Lukardis, mit einer Umarmung. Dann wandte er sich an die beiden Mägde. “Harka, brennt das Feuer im Saal noch ordentlich? Geh, leg noch etwas Holz nach! Es soll angenehm warm werden, damit sich die Herrschaften trocknen können. Und Wiltrud, gib deinem Jungen Bescheid, dass er sich um die Pferde kümmert. Sie dürfen sich auch nicht verkühlen!”

“Aber hoher Herr”, entschuldigte sich Wiltrud etwas peinlich berührt. “Marno ist seit Beginn des Sturms nicht mehr aufzufinden.”

“Hm, dann sag halt Bernhelm Bescheid!” hakte Kalman nach.

“Bernhelm habe ich auch nicht mehr gesehen.” Wiltrud schaute Kalman fragend an. „Sie haben scheinbar auch ein paar Pferde mitgenommen.“

Murla nickte nur abwesend. Natürlich, ihr ging es gut, sie konnte ja gleich ins Warme gehen.

Noch während Kalman mit den Mägden diskutierte, betrat auch die Jungritterin Meta Croy den Hof und schaute sich interessiert um.

Ah, da war ja der Hohe Herr, Ritter Jartgar. Nicht überrascht, eher in ihrem Urteil bestätigt, lächelte sie und sprach ihn und Gudekars Bruder an. “Die Götter zum Gruße, Hohe Herren. Wie ich sehe, habt Ihr hier alles im Griff. Herr Jartgar, habt Ihr denn noch Verletzte gefunden?” Das war ihr vom traurigen Stein nichts Neues, dass die älteren Herren gerne etwas soffen. Sie fühlte sich dennoch verpflichtet, etwas zu erzählen, außerdem war sie neugierig. “Es scheint nun soweit das ganze Dorf im Lazarett zu sein, das etwas zu beklagen hat. Hoher Herr Kalman, Mika habe ich zu Gudekar gebracht, sie hat eine Verletzung an der Hand. Ansonsten….gibt es noch etwas akut zu tun? Ich würde ansonsten, wenn ich von hier wäre, nach Vermissten fragen. Euch scheinen die Stallburschen mitsamt der Pferde entkommen zu sein. Soll ich helfen?” Die Kerle hatten wohl die Chance genutzt, dieser grässlichen Familie zu entkommen. Wenn die Tiere wertvoll waren, würde es sich lohnen. Doch sie mochte ihnen nicht zu früh Unrecht tun. Vielleicht lagen sie auch beide unter einem umgestürzten Baum begraben. Sie wartete, ob man sie hörte, strich so lange ihre Kapuze zurück und wrang ihr Haar aus.

“Ihr wollt doch nicht Schollenflucht und Pferdediebstahl unterstellen. Das sind äußerst schwerwiegende Anschuldigungen”, warf Rondrard ein. “Vielleicht ist den beiden etwas passiert, als sie die Pferde ihres Herrn retten wollten. Wir sollten erst einmal nachsehen, wo die beiden abgeblieben sind.”

„Ach, hab ich das derart genau?“ Skeptisch sah sie den Sprecher an. „Was fällt Euch ein, mir Derartiges zu unterstellen? Was und wer glaubt Ihr, ist in dem Sturm wohl noch abhanden gekommen? Erst die Pferde wohl, dann wurden die Burschen von Geäst erschlagen, wer weiß es? Als der Sturm anfing, bin ich Ritter Jartgar gefolgt und habe die Verletzten in Sicherheit gebracht, so auch Mika, die Schwester des Hohen Herrn. Sagt, wollt Ihr mir etwas vorwerfen?“ Innerlich stieg Zorn in Meta hoch. Egal, was oder wie man es tat, man konnte es noch so gut meinen, hier traf sie nur unfreundliche oder nervtötende Leute. Sie wollten nur das Schlechte an ihr hören, das, was sie gut gemacht hatte, das wurde stets überhört.

“Nun beruhigt euch alle erst einmal”, versuchte Kalman zu besänftigen. “Wir wissen ja überhaupt nicht, wo Bernhelm und Marno sind. Und fehlen denn wirklich Pferde?”

“Ja, Herr”, bestätigte Wiltrud, “fünf Gäule sind nicht mehr im Stall. Ich hoffe Marno und Bernhelm ist nichts zugestoßen!”

“Nun, ich würde nicht gleich mit dem Schlimmsten rechnen.” Kalman überlegte. “Aber, was könnte sie dazu getrieben haben, bei dem Wetter auszureiten? Und warum fünf Pferde?“

„Sicher habt ihr geprüft, ob die Tiere entkommen sind, oder ob die Boxen intakt ist und das Sattelzeug fehlt. Vielleicht drohte der Stall einzustürzen? Warum haben sie dann nicht alle genommen, aber fünf?“

„Was weiß denn ich?“ Wiltrud fuchtelte aufgeregt mit den Armen. „Als ich vorhin nach Marno gesucht habe, habe ich nur gesehen, dass fünf Pferde aus dem Stall fehlten. Und die Sättel dazu. Das hatte ich Frau Merle erzählt, und sie wollte sich darum kümmern. Ich musste doch den Gästen die Suppe auftischen. Und Eurer Schwester, Herr Kalman. Sie war doch so schwer verletzt!“

„Schon gut, Wiltrud!“ versuchte Kalman die Haushälterin zu beruhigen. Dann ging ihm ihr letzter Satz durch den Kopf! „Was? Wer ist verletzt? Gwenn? In Praios Namen!“

„Nein, Herr Kalman“, korrigierte Wiltrud, „Mika hat sich auf der Jagd die Hand verletzt.“

„Und das sagt man mir erst jetzt? Wo ist Mika jetzt?“ Kalman war außer sich.

Meta rollte mit den Augen. Gudekar schien  der einzige in der Familie zu sein, der sie wahrnahm. Aber nein, korrigierte sie sich. Im Stress war er auch etwas langsam. Trotzdem wollte sie erstmal bei dieser Gruppe hier bleiben.

Langsam wich Murlas Benommenheit ein wenig. Ihr Alter würde sich, wie in den vielen Schlachten, die er in seinem Leben bereits erlebt hatte, durchschlagen. Viel wichtiger war es jetzt, den Verletzten hier vor Ort zu helfen.

“Sagt, gibt es irgendwo noch Verbandsmaterial, ich kann unterstützen!” bot sie sich an.

“Im Gasthaus hat der gelehrte Herr Gudekar wohl ein Lazarett eingerichtet.” Wiltrud sprach sowohl zu Kalman als auch zu Murla und wies mit der Hand in Richtung Dorfplatz. “Da haben sie Mika hingeschickt. Und die gute Frau Merle hat die Tasche des Magiers ebenfalls dorthin bringen lassen. Da müsste dann auch jede Menge Verbandsmaterial sein.”

“Hat Mika denn jemand – wartet”, Kalman wandte sich nun an die Begleitschützerin seines Bruders, “hohe Dame Croy, sagtet Ihr nicht, Ihr hättet Mika dorthin gebracht? Das ist mir in der ganzen Aufregung ja ganz untergegangen. Wie geht es Mika? Hat Gudekar etwas für sie tun können?”

Meta sah den Edlen kühl und misstrauisch an. „Hoher Herr, ich habe Mika im Lazarett zu Gudekar gebracht und mich zuvor schon um Verletzte gekümmert. So weit mir bekannt ist, war ich wohl von allen anwesenden Personen als Letzte bei ihr. Es ist viel los, aber er weiß Bescheid.“ Deutlich zorniger fuhr sie die Haushälterin an. „Gute Frau, eure liebe Frau Merle ist in anderer Gesellschaft und hat die Tasche nicht ins Lazarett gebracht. Das war Baroness Arda.“

„Das habe ich ja gesagt“, erklärte Wiltrud. „Frau Merle hat die Tasche dorthin bringen lassen.“

„Schon gut Wiltrud.“ Kalman wandte sich Meta zu. „Hohe Dame Croy, dann bin ich Euch zunächst zu hohem Dank verpflichtet, dass Ihr Euch meiner Schwester angenommen und dafür gesorgt habt, dass Gudekar sie versorgt. Doch sprecht, könnt Ihr mir berichten, was Mika geschehen ist und wie es ihr geht?“

Während sich die Gigrim noch unterhielten, wurde Murla immer klarer und sie warf sich vor, dass sie in ihrer Angst um Borix, ihre Pflicht zu helfen völlig vergessen hatte. Sie wandte sich daher an die Umstehenden.

“Verzeiht mir, dass ich mich nicht weiter an eurer Unterhaltung beteilige, sondern meinen Versäumnissen nachkommen möchte und den Verletzten zu Hilfe kommen möchte - sofern meine Hilfe noch benötigt wird.”

Nach diesen Worte wandte sie sich ab und eilte so schnell es ihre Statur zuließ in Richtung des Gasthauses.

„Wie genau es geschehen ist, das weiß ich nicht. Sie hat sich bei der Jagd an der linken Handinnenfläche so verletzt, dass sie den kleinen Finger und die zwei daneben nicht mehr beugen kann. Man kann gut mit ihr reden und sie ist nun bei ihrem Bruder, dem ich Bescheid gegeben habe.“ Sie überlegte, um nichts Wichtiges zu vergessen. „Mika war in Begleitung der Baroness Arda und Doratrava. Merle kam dann wie Tsalinde auch dazu. Ich traf sie, als ich vom Lazarett zum Gutshaus geschickt wurde, um endlich die Tasche und Mika zu holen. Mit mir ist sie dann mitgegangen, ich glaube, Ihr braucht Euch nicht sorgen.“ Sie hob wieder die Augenbrauen und scharrte etwas mit dem Fuß im Schlamm. „Mit Verlaub, wir sollten uns um die fehlenden Knechte kümmern. Das mag dringlich sein. Entweder sind sie in Not oder es ist ihnen etwas zugestoßen. Soweit ich aus Eurer Reaktion deuten konnte, vertraut ihr beiden. Wie sollen wir vorgehen?“

“Noch einmal vielen Dank für Euer Bemühen um Mika. Dann hoffen wir, dass Gudekars Künste ausreichen, Mika zu helfen.” Kalman streckte Meta von Ritter zu Ritterin die Hand entgegen. “Bernhelm und Marno…”, überlegte er dann. “Ja, wo könnten die beiden bei diesem Wetter bloß hin sein? Rondrard, Ihr habt sie auch nicht gesehen? Oder haben sie auf der Wiese dem fahrenden Volk beim Abbau der Zelte geholfen? Das könnte ich mir vorstellen.”

"Nein, tut mir leid. Zwei Burschen mit fünf Pferden wären mir aufgefallen. Wer hat sie denn wann und wo zuletzt gesehen? Weiß jemand, wo sie hin wollten?"

Kalman, der selbst gerade erst erfahren hatte, dass die beiden Knechte fort waren, schaute Wiltrud an, die aber auch nur entschuldigend mit der Schulter zuckte. “Ich habe das auch erst gemerkt, als ich Marno gesucht habe.”

“Alles in Ordnung?”, fragte der Ritter Jartgar, der von der Latrine kam.

Meta nickte Jartgar zu. Sprach dann mehr oder weniger zu allen. „Sie sind mitten im Sturm weg. Zwei Knechte, fünf Pferde, die sicher nicht raus wollten. Es fehlen fünf Sättel? Dann werden noch drei weitere Personen dabei gewesen sein. Ist eines der Pferde ein besonderes? Euer persönliches gar, Hoher Herr?“ Diese Frage war an Kalman gerichtet. „Wer von euch die fehlenden Pferde und das fehlende Sattelzeug bemerkt hat, der möge vortreten und endlich Bericht erstatten, wie es sich gehört. Welche Pferde fehlen? Genauso viele Sättel? Waren es irgendwelche oder spezielle Tiere? Los? Muss man euch hier am… in diesem Ort denn alles aus der Nase ziehen? Wiltrud? Oder seid Ihr damit überfordert?“ Verema, Metas Junkerin, die mit ihr von Almada gekommen war, war Zuchtmeisterin im herzöglichen Gestüt in Elenvina. Meta selbst hatte sich lange ein eigenes Pferd gewünscht.

Wiltrud trat sehr verlegen vor. „Hohe Dame, verzeiht bitte meine Unachtsamkeit. Ich habe nicht so genau geschaut, welche Pferde fehlen. Ich hielt das zu jenem Moment für nicht so wichtig. Aber, ich meine, ich kenne mich mit den Pferden nicht so gut aus, darum hat sich ja immer Marno gekümmert, aber wenn ich es richtig gesehen habe, dann waren die Pferde von seiner Wohlgeboren und den hohen Herren und der hohen Dame noch da. Die anderen Pferde kenne ich nicht gut genug, außerdem musste ich ja gleich in die Küche zurück, Harka beim Aufwischen der verschütteten Suppe helfen und die Frau Merle hatte mich nur nach dem Jungen geschickt, den ich im Stall nicht angefunden hatte, weil…“

„Ist ja schon gut, Wiltrud“, unterbrach Kalman die Magd, bevor diese noch in Ohnmacht fallen konnte, weil sie zu hyperventilieren anfing. „Wir gehen einfach in den Stall und schauen nach. Hohe Dame Croy, würdet Ihr mich begleiten? Vielleicht entdeckt Euer wachsames Auge etwas, was mir entgeht.”

“Croy, sehr aufmerksam!” Jartgar schaute die junge Ritterin anerkennend an. “Wir sollten nicht zögern!”

Kalman führte die drei anderen in den Stall. Tatsächlich waren im Anbindestall die Standflächen von fünf der Pferde verlassen. Kalman schaute sich um. “Hm, Gwenns Elenviner fehlt, auch ihr Sattel. Und drei Warunker, aber nicht Vaters Wallach und auch nicht meine Stute.” Er zeigte auf zwei der Pferde, die unruhig im Stall angebunden waren, sich mit abflauendem Sturm aber langsam beruhigten. “Das letzte müsste wohl das Pferd der Plötzbognerin sein.”  

~ * ~

Im Lazarett II

(15:15)

Als Murloschtaxa groscha Mokloscha, die bis vor wenigen Jahren Hebamme in Albenhus war und sich auch sonst auf alle Arten der Heilkunst verstand, das provisorische Lazarett im Gasthaus betreten wollte, kam ihr an der Tür eine Frau mit ihrer Tochter entgegen. Das Mädchen hatte eindeutig die Gänsepusteln, doch weiße Salbeflecken deuteten darauf hin, dass sie bereits behandelt wurden.

Gudekar von Weissenquell schaute sich im Gastraum gerade die Hand seiner Schwester Mika an.

Liana Morgenrot stand am Fester und beobachtete abwechselnd das Wetter und das Treiben im Gastraum, während sich Alana von Altenberg um das Wohl der Leichtverletzten sorgte.

“Mika!” rief die Angroschna und ging zu der jungen Frau, die im letzten Sommer ein paar Monate auf der Bergwacht verbracht hatte und ihr dabei mit ihrer lebensfrohen und manchmal ungestümen Art ans Herz gewachsen war.

Als sie die beiden erreicht hatte, nickte sie dem Magier kurz zu. “Meister Gudekar, kann ich Euch zur Hand gehen?”

“Die Götter zum Gruße! Äh, Angrosch zum Gruße, Murla!” Mika freute sich, die mütterliche Angroschna zu sehen. Mit Freude erinnerte sie sich an ihren Aufenthalt in Ishna Mur zurück. Sie hatte sich dort sofort sehr wohl gefühlt und viele neue Erfahrungen sammeln können.

“Die Götter zum Gruße!” sagte auch Gudekar, als er kurz hoch blickte. Gudekar kannte Murla auch noch aus früheren Zeiten, und wusste, dass diese einst in Albenhus als Hebamme und Heilerin gewirkt hatte. Er wusste, dass sein Vater viel von der Angroschna hielt, und so hatte sie seinen Respekt. “Ich schaue mir gerade Mikas Hand an. Sie hat sich auf der Jagd verletzt und scheinbar die Sehnen zweier Finger verletzt. Das wäre nicht das Problem. Nur leider hat Tante Caltesa, also die Baroness von Immergrün, Mika einen Heiltrank verabreicht. Damit hat sich die Wunde gut geschlossen, es ist nicht einmal eine Narbe zu sehen. Nur scheinen die Sehnen nicht geheilt zu sein. Jedenfalls kann Mika die Finger noch immer nicht bewegen.” Gudekar schaute Murla an und schüttelte den Kopf. “Ich fürchte, da kann ich nun auch nichts mehr machen."

“Wenn sie gerissen sind, dann kann man sie nähen”, meinte Murla halblaut. “Wenn nicht, dann werden sie von alleine wieder - es kann nur ein wenig dauern.

Was ist Dei… Eure Diagnose?”

Gudekar schüttelte den Kopf. Er hatte noch nie davon gehört, dass es jemals gelungen wäre, durchtrennte Sehnen wieder zusammenzunähen wie bei einem Hosenbein. „Dazu müsste die Wunde zunächst offen sein und die Sehnen freiliegen. Und dass die Sehnen von alleine nachwachsen, habe ich noch nie gesehen. Da müsste man magisch nachhelfen, doch hätte dies gleich geschehen müssen. Nicht nachdem der Rest der Wunde bereits verheilt ist. Es tut mir leid, ich fürchte, die Beweglichkeit der Finger ist für immer vorbei.“

Mika tat die ganze Zeit, als würde sie von den Worten ihres Bruders nichts hören. Unruhig schaute sie im Schankraum hin und her, so als erwartete sie aus einer der Ecken einen Angriff oder suchte einen schnellen Fluchtweg.

Murla war sich zwar sicher, dass es funktionieren könnte, aber Gudekar war nun mal ein Magier und daher vielleicht in seiner Hilfe auf die Magie fixiert. Aber sie wollte ihn hier nicht bloßstellen und ihm widersprechen, daher nickte sie nur.

Der Heiler war in seiner Aufgabe und dem Gespräch mit seiner Patientin versunken. Er wusste, was er tat - und würde wissen, was zu tun ist.

Es war nicht Lianas Art, sich einzumischen oder aufzudrängen. Ein stilles Lächeln huschte über ihr Antlitz. Dann betrachtete sie wieder den verhangenen Himmel.

~ * ~

Wohlige Wärme auf Hof Wohlgedei

(15:00)

Triefend und tropfend erreichten die drei Damen das Bauernhaus. Efferd sei Dank, hatte der Sturm langsam nachgelassen. Traviana, die sie bereits von Weitem hatte kommen sehen, öffnete gerade in dem Augenblick die Tür, als Tsalinde nach der Klinke griff. “Euer Wohlgeboren, kommt herein.” Sie ließ die drei Gestalten ein und machte große Augen, als sie Merle erkannte. “Euer Wohlgeboren! Junge Dame, ist etwas geschehen? Sind auf dem Hof alle wohlauf? Benötigt ihr Hilfe?”

Sanft legte Tsalinde ihr die Hand auf den Arm. “Es ist alles in Ordnung. Wir sind auf der Suche nach einem ruhigen Ort, wo wir uns trocknen und aufwärmen können.”

Die Bäuerin lachte erleichtert auf und wies auf den Weg zur Kammer. “Isavena ist mit den Kindern in der Stube. Inzwischen sind es nicht nur euer Sohn und meine Kinder, sondern auch einige Kinder der Händler, die bei uns untergekommen sind. Ich habe ihnen in der Stube ein Lager bereitet und würde sie nur ungern stören.” Verlegen schaute sie zu Merle und sagte: “Ich habe keine Erfahrung damit, hohen Herrschaften aufzuwarten, bitte verzeiht mir.”

Doch Tsalinde winkte ab. “Das wird nicht nötig sein. Wir können uns gegenseitig helfen, wo eine helfende Hand gebraucht wird.”

“Dann bringe ich euch gleich ein paar trockene Handtücher. Das Feuer in der Kammer brennt bereits. Benötigt ihr sonst noch etwas?”

"Trockene Tücher sind wundervoll! Vielen Dank, Traviana." Merle lächelte die Bäuerin freundlich und, wie sie hoffte, beruhigend an. "Und vielleicht noch ein Heißgetränk? Wenn es nicht so große Umstände macht."

“Aber gar nicht, junge Dame. Ich bringe euch gleich etwas.” Schneller, als man es der rundlichen Frau zutrauen würde, verschwand diese in der Küche, wo man bereits wenige Augenblicke später das Klappern von Töpfen und Geschirr hören konnte.

Tsalinde lächelte, ging ihren Begleiterinnen voraus und öffnete schließlich eine schwere Holztür, hinter der sich ein schlichter, gut ausgestatteter Raum mit einem großen Bett verbarg. Ein helles, warmes Feuer prasselte bereits munter im Kamin und verbreitete eine wohlige Wärme. “Kommt rein.” Sie strich die Kapuze vom Kopf und nahm ihren Umhang ab, den sie direkt neben der Tür an einen Haken hängte. Dann ging sie zu einer großen Reisetruhe herüber und begann, darin herum zu stöbern. “Ich schaue mal, was ich euch an Kleidung anbieten kann.”

Wenig später förderte sie ein schlichtes, dunkelgrünes Kleid aus schlichtem Leinen zu Tage. Der Stoff war einfach, aber gut verarbeitet und sowohl die Ärmel, als auch Ausschnitt und Saum waren mit Motiven aus dem Wald bestickt. Man sah dem Kleid an, dass es schon älter war, doch alle Ausbesserungen waren mit größter Sorgfalt gemacht worden. Darauf legte sie ein schlichtes Unterkleid. “Merle, schau mal bitte, ob dir das Kleid passt, andernfalls könnte ich dir, fürchte ich, nur mein Kleid für die Hochzeit oder ein paar Hosen anbieten.”

Dann bückte sie sich noch einmal in die Truhe und reichte Doratrava eine braune, weiche Lederhose und eine dunkelgrüne Tunika. “Ist euch das recht?”

Auch Doratrava hatte, Tsalindes Beispiel folgend, ihren triefnassen Mantel an einen Haken gehängt, wenn er dort wohl auch nicht trocken werden würde. Aber sie war hier Gast und wollte jetzt nicht damit anfangen, ihre nassen Kleidungsstücke an Möbelstücke vor dem Feuer zu hängen.

“Mir ist alles recht, wenn es einigermaßen passt”, erwiderte Doratrava und nahm die Kleidungsstücke dankbar entgegen, dann setzte sie sich auf den Boden und begann, ihre Stiefel auszuziehen.

Merle legte ebenfalls den Mantel ab, blickte an sich herunter und schüttelte den Kopf. Der untere Teil ihres schlichten grauen Kleides war nass und schlammbespritzt, doch obenrum hatte ihr Mantel das meiste abgehalten. "Danke, Tsalinde, aber ich glaube, so durchnässt bin ich gar nicht. Bin ja eben nur einmal zum Gesindehaus rüber gerannt und dann hierher. Und wenn ich nachher zurück zum Gutshof muss, saue ich eh alles wieder ein. Wäre schade um dein hübsches Kleid." Sie schaute nervös zwischen beiden Frauen hin und her. "Ich muss euch was sagen. Etwas sehr schlimmes."

Überrascht und besorgt blickte Doratrava auf, nachdem sie gerade mal den ersten Stiefel vom Fuß hatte. Selbst ihre Füße waren nass, zwar waren die Stiefel dicht, aber das Wasser war ihre Hosenbeine heruntergelaufen und hatte somit irgendwann jeden Ort erreicht.

“Was Schlimmes? Was ist denn los?”, fragte sie dann angespannt.

Merle versuchte, ihre wild durcheinander rasenden Gedanken zu ordnen. Zögernd sah sie Tsalinde und Doratrava an und fühlte, dass sie ihnen absolut vertraute, obwohl sie beide erst gestern kennengelernt hatte. Innerlich gab sie sich einen Ruck. "Ich hab etwas ziemlich dummes getan, glaube ich", gab sie zerknirscht zu.

Hatte das etwas mit Gudekar und Meta zu tun? Nein, das war unwahrscheinlich. “Nun sag’ schon”, drängte sie Merle. “Was immer es ist, ich helfe dir, wenn ich kann!”

"Also... heute morgen... da hab ich erfahren, dass mein Mann mich... betrügt, mit dieser Meta. Schon seit zwei Götterläufen. Gwenn hat's mir gesagt." Die junge Frau versuchte Schmerz und Wut zur Seite zu schieben und winkte mit einer fahrigen, abwertenden Handbewegung ab. "Aber darum geht es nicht... nicht direkt..." Sie atmete tief durch. "Vorhin, da kam der Bernhelm zu mir und er hat erzählt, dass vor zwei Tagen ein Eilbote ankam mit einem Brief für Gudekar... aber er hat Gudekar nicht angetroffen, weil der nicht im Gutshof übernachtet hat, sondern bei... ihr", sie schluckte schmerzhaft und ballte leicht die Hände, "...da hab ich gesagt, er soll mir den Brief geben und ich gebe ihn dann Gudekar…” Merle hob sichtlich schuldbewusst den Blick. “Aber ich hab ihn selber aufgemacht."

Merles Verzweiflung schnürte Doratrava die Kehle zu. Sie stand auf, halbseitig barfuß, wie sie war, machte zwei Schritte auf Merle zu und schloss sie nach einem undefinierbaren Seitenblick zu Tsalinde in die Arme. Nach einem Moment, den sie selbst brauchte, um ihre Stimme wiederzufinden, streichelte sie Merle sanft über den Rücken und murmelte: “Ruhig, ganz ruhig. Was stand in dem Brief, das dich so aufbringt?”

Merle drückte die Tänzerin eng an sich; sie schloss die Augen und presste das Gesicht an deren Schulter. Ihre Hände verkrampften sich in der nassen Kleidung ihrer Freundin, als sie versuchte, für kurze Zeit in Doratravas Nähe und Duft Schutz vor der kalten, äußeren Welt zu suchen. Dann räusperte sie sich leise, löste sich vorsichtig von der anderen Frau und öffnete mit sichtlich zittrigen Fingern ihre kleine Ledertasche, um einen inzwischen etwas zerknickten Brief herauszuziehen. Wortlos reichte sie ihn Doratrava.

Nur widerwillig gab Doratrava ihre neue Freundin frei und nahm dann den Brief stirnrunzelnd entgegen. “Äh … soll ich vorlesen?”, meinte sie dann etwas unsicher mit einem Blick zu beiden Damen. Dann senkte sie ihre Stimme und setzte hinzu: “Oder lieber nicht?”, wobei sie mit dem Kinn Richtung Küche deutete.

“Macht euch darüber keine Gedanken, die Tür ist ziemlich dicht und ich glaube nicht, dass Traviana uns belauschen würde”, versicherte Tsalinde.

Merle zuckte sichtlich überfordert mit den Schultern. "Lest es vielleicht lieber selber", murmelte sie dann leise.

Doratrava entfaltete den Brief und las ihn leise für sich, was ein wenig dauerte, da sie im Lesen nicht sonderlich versiert war:

Werter Gudekar,

die Dinge überschlagen sich.

Traurige Kunde aus Hlutarswacht. Verzeiht, das ich nicht die Kraft habe die richtigen Worte zu finde und einen wohlformulierten Brief aufzusetzen.

In tiefer Trauer muss ich euch leider mitteilen, das die Vermählung zwischen Tabea und mir am Tag der Treue nicht stattfinden wird.

Die Umstände machen mir Angst ...

er ...

Ihr wisst wen ich meine, treibt noch immer sein Unwesen ...

und er hat zugeschlagen ... und hat getroffen ...

meine Zukünftige wurde sein Opfer. Mein Schwiegervater Gundeland hat Tabea gefunden ...

Sie lag tot am Fuß des Bergfried, außerhalb der Burg ...

... die Federn, man hat gebrochene Gänsefedern unter ihrem gebrochenen Körper gefunden ...

Und zwei Tage später noch eine Magd der Familie ... tot.

Steht zusammen und achtet auf euch.

Radulf von Grundelsee

Flusswacht, 11. Travia

Doratrava brauchte einen Moment, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Sie kannte Radulf von Grundlsee zwar, aber eher flüchtig, und hatte nichts von einer Verlobten gewusst. Aber die gebrochenen Gänsefedern führten sie auf die richtige Spur. Betroffen reichte sie den Brief weiter an Tsalinde, dann nahm sie Merle erneut wortlos in den Arm. Sie wusste zwar nichts über deren Verhältnis zu Radulf, aber der Inhalt des Briefes hatte sie ganz offensichtlich schwer mitgenommen, also versuchte sie zunächst einfach, Trost zu spenden.

Wieder ließ sich Merle mit einem leisen, unterdrückten Seufzen in Doratravas Arme fallen, beobachtete aber aufmerksam Tsalindes Reaktion auf den Brief.

Tsalindes Knie drohten nachzugeben. Schnell klappte sie den Deckel der Truhe zu und setzte sich darauf. Tränen schimmerten in ihren Augen. “Bei den Göttern, er kommt immer näher.” Sie war leichenblass geworden und begann zu zittern.

In dem Moment klopfte es an der Tür. “Euer Wohlgeboren, ich bringe die Tücher.”

Wenn eine der Damen hinschaut, wird sie sehen, wie Tsalinde in nur einem Augenblick von der niedergeschlagenen jungen Frau zur edlen, gefassten Dame wechselte. Sie stand auf, ging zur Tür und öffnete diese gerade so weit, dass sie die Tücher entgegennehmen konnte, Traviana aber keinen freien Blick auf Doratrava und Merle hatte. “Vielen Dank.”

Die Bäuerin stutzte darüber, dass sie nicht eingelassen wurde, reichte Tsalinde aber erst die Decken und dann einen kleinen Korb. “Wenn ihr darüber hinaus etwas benötigt, zögert bitte nicht, euch an mich zu wenden. Ihr findet mich in der Küche oder in der Stube bei den Kindern. Wenn ihr mögt könnt ihr mir auch eure nasse Kleidung geben, dann hänge ich sie für euch zum Trocknen auf.”

“Danke, das ist ein nettes Angebot, aber wir werden unsere Sachen hier trocknen. Tut mir bitte noch einen Gefallen und informiert Isavena, dass ich zurück bin, im Moment aber nicht gestört werden möchte.”

“Das werde ich, euer Wohlgeboren.”

Sorgfältig schloss Tsalinde die Tür, nachdem Traviana gegangen war und drehte sich zu ihren Gästen um.

Auch Merle hatte sich beim Hereintreten der Bäuerin bemüht, sich zusammenzureißen und die Fassung zurückzugewinnen. Sie rückte ein Stück von Doratrava ab, was diese fast schon widerwillig zuließ, ließ aber ihre Hand locker auf der Schulter der Tänzerin liegen, wie um sich selbst - oder vielleicht auch Doratrava - damit Halt zu geben. Doratrava fasste nach der Hand und verschränkte ihre Finger mit Merles.

Nach kurzem Zögern atmete Merle hörbar aus und flüsterte: "Ich hab Angst um Gwenn."

Erschöpft lehnte Tsalinde sich an die geschlossene Tür. Sie atmete tief durch und versuchte die Fassung zu wahren. “Lasst uns nichts überstürzen. Merle, mach es dir vor dem Feuer bequem und zieh zumindest deine Schuhe und deine Strümpfe aus, damit sie trocknen und du dich nicht erkältest.” Sie reichte ihr ein trockenes Handtuch von dem Stapel, den Traviana ihnen gebracht hatte, nahm eines der Felle vom Bett und legte es vor den Kamin. Den Korb mit den Leckereien stellte sie direkt daneben. Dann legte sie die anderen Tücher auf die Truhe in der Nähe von Doratrava, nahm den Mantel von Merle und hängte ihn über mehrere Haken, damit er besser trocknete. Ihr eigener Mantel war gewachst, sodass das meiste Wasser abperlen und zu Boden fallen würde. Der Rest konnte später trocknen. Dann setzte sie sich neben Doratrava und begann ebenfalls damit, ihre Stiefel aufzuschnüren.

Merle ließ sich folgsam vor dem Kamin nieder, wozu Doratrava sie notgedrungen loslassen musste, und zog ihre Schuhe aus, um diese vor dem Feuer zu trocknen. Es tat gut, sich auf einfache Handgriffe zu konzentrieren, auch wenn ihr der Brief und dessen Konsequenzen unablässig im Kopf herum gingen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, hob den Blick und schaute fragend zwischen Tsalinde und Doratrava hin und her. "Was machen wir jetzt?" Ihre leise Stimme hatte einen drängenden Unterton. "Müssen wir Gwenn… warnen? Dürfen wir?"

Doratrava widmete sich nun doch auch wieder ihrer nassen Kleidung und zog erst den zweiten Stiefel aus, dann, nach einem Rundblick zu den anderen beiden und einem Schulterzucken, begann sie, sich aus ihren nassen Sachen zu schälen, wobei sie vor allem Tsalinde den Rücken zuwandte.

“Was hat denn Gwenn mit … dem Inhalt des Briefes zu tun?”, fragte sie dabei mit erstaunlich sachlicher Stimme. Die Gauklerin hatte trotz ihrer jungen Jahre schon zu viel erlebt, um schnell in Panik zu verfallen, mal abgesehen davon, dass das selten half. “Ich meine … Radulf und auch du, Tsalinde, ihr hattet ja schon mit dem Pruch zu tun. Aber Gwenn? Weil sie Gudekars Schwester ist und daher ebenfalls Ziel eines Racheaktes werden könnte? - Und du, Merle? Was weißt du über den Pruch und seine Untaten?” Doratrava hielt auch wenig davon, um den heißen Brei herumzureden, daher nannte sie den Frevler auch beim Namen. Sie sprach allerdings recht leise, trotz Tsalindes Versicherung, die Türen seien dick.

Mittlerweile stand sie splitterfasernackt im Raum, aber immer noch abgewandt von den Damen, fast schien es, ihr weißer, sehr schlanker, aber durchtrainierter Körper würde im flackernden Feuerschein leuchten. Sie schnappte sich eines der Tücher und begann sich abzutrocknen.

Merle registrierte die Schönheit von Doratravas nacktem Körper durchaus und warf dieser gelegentlich flüchtige Blicke zu, auch wenn sie nicht in der Stimmung war, den Anblick wirklich zu genießen. Während sie ihre Beine in Richtung des Kamins ausstreckte, begann sie zaghaft, mit zittriger Stimme zu sprechen: “Ich weiß nicht viel. Gudekar hat es vermieden, genaues zu erzählen. Aber er hat uns alle immer wieder gewarnt, dass diejenigen, die versuchen, dem… äh… ihm…”, im Gegensatz zu Doratrava wollte ihr der Name nicht über die Lippen kommen, “...auf die Spur zu kommen, seine Rache fürchten müssen. Und dass besonders die Familien in Gefahr sind. Die Frau von Kranickau wurde ja speziell zu Gwenns Schutz abgestellt. Und ich denke, weil sie Gudekars Schwester ist… und die Braut… da wäre sie…”, wieder brach Merle sichtlich angsterfüllt ab und biss sich auf die Zunge, in dem tiefsitzenden Aberglauben, dass das Aussprechen des Unglücks dieses heraufbeschwören könnte. “Sollen wir Gudekar den Brief zeigen?” fragte sie nach einer kurzen Pause, immer noch Panik in den Augen.

Tsalinde, die Doratravas Nacktheit kaum zur Kenntnis nahm, hatte in der Zwischenzeit eine trockene Hose angezogen und sowohl ihre, als auch die Kleider der Gauklerin so gut es ging im Zimmer ausgebreitet. Nun setzte sie sich, mit zwei Decken bewaffnet, neben Merle und begann damit, den Korb auszupacken. Sie förderte einen Krug warmen Wein, einen Krug warmen Apfelsaft, Brot, Käse und ein paar Äpfel zu Tage und breitete sie vor sich aus. “Ehrlich gesagt bin ich unsicher, ob Gudekar der richtige Ansprechpartner ist. Zwar weiß er über den Pruch und seine frevlerischen Taten Bescheid, doch bin ich nicht sicher, ob er für die Sicherheit seiner Schwester sorgen kann. Merle, was spricht dagegen Friedewald ins Vertrauen zu ziehen? Meinetwegen auch Friedewald und Gudekar.” Entschlossen schaute sie von einer zur anderen. “Ich werde auch Lys ins Vertrauen ziehen. Immerhin könnten auch er und …”, sie schluckte, “... Siegmund in Gefahr sein.”

Nachdem Doratrava sich einigermaßen trocken gerubbelt hatte, auch die Haare, soweit es auf die Schnelle möglich war, begann sie, die von Tsalinde zur Verfügung gestellte Kleidung anzuziehen, die ihr doch ein wenig um den Körper schlotterte, aber sie war trocken und passte leidlich, mehr zählte gerade nicht. Dann setzte sie sich im Schneidersitz mit dem Rücken zum Feuer auf den Boden und genoss die Wärme.

“Also der Brief war ja für Gudekar, ich würde ihn jetzt nicht unterschlagen”, tat die Gauklerin nun ihre Meinung zur Sache kund. “Auch wenn ihn dann vielleicht ärgert, dass du den Brief aufgemacht hast, Merle. Aber das ist jetzt nicht zu ändern und meiner Ansicht nach auch nicht schlimm. Wenn alle Angehörigen in Gefahr sein sollten, dann wärst das auch du, und dann wäre es nur recht gewesen, wenn Gudekar dir das sagt. Insofern bist du ihm lediglich … zuvor gekommen.” Trotz des ernsten Themas lächelte Doratrava schief. “Wem ihr sonst noch Bescheid sagt, müsst ihr natürlich selbst entscheiden, aber ich denke, wir sollten jetzt auch keine Unruhe oder gar Panik verbreiten auf der Hochzeit. Denn das würde dem Pruch sicher gefallen - wenn er davon erführe, heißt das. Denn ich denke, selbt er kann seine Augen und Ohren nicht überall haben. Obwohl … hier ja schon einige der Leute versammelt sind, die gegen ihn ermitteln. Ich gehöre ja auch dazu.”

“Stimmt, wir sollten keine Panik verbreiten. Dennoch dürfen wir den Pruch nicht unterschätzen. Meint ihr, wir sollten die Herren zu uns bitten? Bei dem Durcheinander das im Augenblick herrscht, wäre das nicht so auffällig und wir könnten in Ruhe besprechen, welche Maßnahmen es zu ergreifen gilt. Mehr als Gudekar, Friedewald und Lys würde ich fürs Erste aber nur ungern ins Vertrauen ziehen. Ich möchte den Frevler nur ungern aufschrecken und damit riskieren, dass er zu drastischen Maßnahmen greift.” Sie reichte Merle und Donatrava je einen Becher und bot ihnen mit dem Heben der Krüge Wein und Saft an.

Merle ließ sich von dem Wein einschenken und knabberte an einem Stück Brot mit Käse; mehr, um sich abzulenken, als dass sie wirklich Appetit hatte. Eigentlich wollte sie nur das Gefühl von Übelkeit in ihrer Magengrube beruhigen. “Gudekar hat immer betont, wie geheim seine Mission ist und dass er niemandem was sagen darf. Vielleicht wollte er wirklich nicht, dass wir in Panik geraten? Aber…”, kurz zögerte sie und schluckte, “...so richtig vertraue ich ihm auch nicht mehr… Er… er hat vorhin so Sachen gesagt…”, sie zog nachdenklich die Brauen zusammen und schien zu versuchen, sich an den Wortlaut zu erinnern, “...er meinte, dass er mit Meta weggehen und mich verlassen müsste, um den Frevler von uns abzulenken, von Lulu und mir. Denn wenn er selber freveln und seine Familie zerstören würde, dann müsste der Feind das nicht mehr.” Sie atmete tief ein und aus und schaute die anderen beiden Frauen an, um die Reaktion in ihren Gesichtern zu lesen. Sie sah, dass Doratrava bei diesen Worten unwillig die Stirn runzelte. Dann zuckte sie mit den Schultern. “Wahrscheinlich ist das nur eine bequeme Ausflucht, die er mir und sich selbst einreden will. Aber ich weiß nicht… klingt es nicht auch… bedenklich in euren Ohren? Als würde er sich bewusst auf einen Pfad begeben, der ihn immer tiefer in die Dunkelheit führt?”

Tsalinde atmete tief ein und dann langsam und bedächtig aus. “Ich würde dir gerne widersprechen, kann es aber nicht guten Gewissens tun. Lys weiß auch nicht die ganze Wahrheit, aber anlügen tue ich ihn dennoch nicht und ob Gudekars Abwesenheit dafür sorgt, dass ihr sicherer seid, bezweifel ich doch sehr.” Sie starrte in die Flammen und traf dann eine Entscheidung. Sanft nahm sie Merles Hand in ihre und sagte: “Merle, Gudekar hat seinen vor Travia mit dir geschlossenen Bund nicht nur mit mir gebrochen. Wenn man es genau nimmt, ist er ein Frevler vor der Herrin Travia. Für ihn hoffe ich nur, dass er zumindest bei der anderen Frau im Sinne der Rahja gehandelt und ihr geopfert hat. Ehrlich, Merle, es tut mir leid, dass ich dir das noch einmal so deutlich sagen muss, aber ich möchte dich nicht anlügen. Gudekar liebt dich nicht und er wird dich nicht verlassen, weil er dich schützen möchte, sondern weil er eine andere Frau liebt.”

"Danke für deine Ehrlichkeit, Tsalinde." Merle seufzte müde, erwiderte sanft den Händedruck und blickte ihrer neuen Freundin mit einem traurigen Lächeln in die Augen. "Tatsächlich hat er heute mit Meta einen Rahjabund geschlossen... Und er behauptet, dass sie seine Zukunft wäre... Jedoch hat er mir auch gesagt, dass er mich noch liebt, wenn auch nicht so... leidenschaftlich wie sie. Aber als ich ihn geküsst habe, da hat er das erwidert, auch richtig leidenschaftlich… Und ich denke, wenn Meta aus dem Spiel wäre, wenn sie ihn einfach in Ruhe lassen und verschwinden würde, dann würde er auch wieder..." Sie brach ab und nahm einen Schluck von dem warmen Wein, um nicht erneut in Tränen auszubrechen. Ein bitteres Lachen entwich ihrer Kehle. “Ach, ich weiß selber, wie jämmerlich ich mich anhöre… Ich liebe ihn halt. Mehr, als ich sollte. Mehr, als gut für mich ist.” Merle warf Doratrava einen bedauernden, fast entschuldigenden Seitenblick zu. “Aber ich weiß nicht, ob ich ihm noch irgendwas glauben kann, was er sagt.”

“Ach Merle, ich wünschte, du könntest einen Schlussstrich unter deine Beziehung zu Gudekar ziehen. Vermutlich klinge ich wie ein altes Mütterchen, aber ich muss dir einfach sagen, dass dieser Mann dir nicht gut tut. Er macht dich nicht glücklich.”

"Es geht doch gar nicht darum, ob er mich glücklich macht", widersprach Merle mit einem Anflug von Zorn und Trotz in der Stimme. "Wir sind im Traviabund, der ist auf ewig. Da gibt es keinen Schlussstrich." Sie trank noch einen Schluck Wein und presste die Lippen aufeinander. "Ich sage auch gar nicht, dass er Meta oder sonstwen nicht lieben darf... damit könnte ich klarkommen. Aber wir haben uns gegenseitig einen Schwur geleistet - und daran kann keiner von uns etwas ändern. Er ist mein Mann, vor der Göttin. Und ich lasse mich nicht einfach von ihm verstoßen."

Nun war es an Doratrava, zu seufzen. Sie hatte von Tsalinde den Saft angenommen, da sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte und der Wein sie daher vermutlich umhauen würde. Bei Tsalindes Eröffnung bezüglich Gudekar hatten sich ihre Augen kurz geweitet, aber nur, weil sie so offen vor Merle darüber sprach, denn sie selbst hatte das ja schon von Mika erfahren. Der Magier war ja ein ganz schönes Früchtchen, wie ihr zum wiederholten Male durch den Kopf schoss.

Allerdings war sie selbst natürlich auch nicht wirklich die rechte Instanz, um Traviagefälligkeit zu bewerten. Nicht, weil sie ein lockeres Leben führte, sondern weil sie aufgrund ihrer Vorgeschichte die von Travia angeblich gesetzten Regeln und Grenzen nicht recht ernst nehmen konnte und wollte. Tatsächlich auch nicht, dass Merles Festhalten an ihrem Schwur … ihnen beiden im Wege stand. Was sie jetzt lieber nicht aussprach. Was aber auch verhinderte, dass sie jetzt überhaupt darauf einging, denn sie fürchtete, sich dann in ausweichenden Worten zu verheddern.

“Wie ich schon sagte, wem ihr Bescheid gebt, müsst ihr entscheiden. Ich habe ja das ‘Glück’, keine Angehörigen zu haben.” Ganz konnte sie an dieser Stelle doch nicht verhindern, dass sich eine gewisse Bitterkeit in ihren Tonfall einschlich und der Blick, den sie Merle zuwarf, mehr als nur beiläufig war. “Aber mal abgesehen davon: habt ihr überhaupt eine Idee, was wir machen sollen? Also, außer wachsam zu sein? Wenn der Pruch uns hier wirklich übel an den Kragen will, muss er ja nur wieder einen seiner Dämonen schicken …”

Merle blickte Doratrava nachdenklich an, schob dann aber alle Gedanken an ihre Ehe und Zukunft rigoros zur Seite. Die Vorstellung, ein leibhaftiger Dämon könne im Lützeltal angreifen, riss sie brutal in die Realität zurück. "Müssen wir Gwenn nicht warnen? Es ist ihre Hochzeit... Wenn ich mir vorstelle, dass sie dem Frevler zum Opfer fallen könnte, so wie diese armen Frauen in Hlutharswacht..." Sie brach ab und starrte verzweifelt ins Feuer.

Doratravas Herz verkrampfte sich, als sie Merle so verzweifelt sah. Aber es gab nichts Ehrliches, was sie in dieser Situation sagen könnte, um ihr diese Verzweiflung zu nehmen, sie konnte nur erneut ihren Trost anbieten, auch wenn sie spürte, dass Merle sich nicht traute, diesen über ein gewisses Maß hinaus zu akzeptieren.

Die Gauklerin seufzte erneut, stellte ihren Becher ab und wandte sich Merle zu, um dann deren Gesicht sanft in beide Hände zu nehmen. “Ich weiß es nicht”, sagte sie leise. “Wenn du sie warnst, verdirbst du ihr damit vielleicht ihren schönsten Tag. Wenn du sie nicht warnst und etwas passiert, wirst du dir ewig Vorwürfe machen, auch wenn es möglicherweise gar keinen Unterschied gemacht hätte.” Sie verstummte und sah tief in Merles verzweifelte Augen. Etwas in ihr drängte sie dazu, Merle jetzt einfach zu küssen, denn falls der Pruch wirklich vor den Toren stand, was für einen Sinn machte es dann, sich Zurückhaltung aufzuerlegen oder darüber zu sinnieren, was andere davon halten mochten? Aber sie hielt an sich, denn was immer auch geschah, Merle musste es auch wollen, aus sich selbst heraus.

Innig erwiderte Merle den Blick der Gauklerin und drückte für einen Moment ihre Wange gegen eine von Doratravas Handflächen. Tatsächlich wäre es nur zu einfach, sich in deren tröstende Arme fallen zu lassen, die freimütig angebotene Zuneigung anzunehmen und sich darin zu verlieren. Im Grunde ihres Herzens hatte Merle, dessen war sie sich selbst bewusst, weder übermäßige Scheu vor Tsalindes Blicken noch ein schlechtes Gewissen - nach allem, was Gudekar zwei Götterläufe lang getrieben hatte, fühlte sie sich durchaus im Recht, zu tun, was sie wollte - dennoch schreckte sie vor diesen Überlegungen zurück, machte sich mit sanftem Druck von der Tänzerin los und rückte ein Stückchen von ihr ab. Solange alles in der Schwebe war, sie nicht wusste, wie es mit Gudekar und ihrem Traviabund weiterging, solange durfte sie Doratrava nicht benutzen, um sich besser zu fühlen, durfte ihr keine falschen Hoffnungen machen, die sie am Ende wieder zerstören musste. "Wenn Gwenn die ganze Zeit Angst hat, kann sie ihr Fest wirklich nicht genießen", griff sie Doratravas letzten Gedanken auf und räusperte sich leicht, weil ihre Stimme so belegt klang. "Lasst uns mit Vater Friedewald reden und vielleicht die Frau von Kranickau dazuholen, die ohnehin für Gwenns Schutz zuständig ist. Und Gudekar..." Merle zuckte mit den Schultern und sah Tsalinde hilfesuchend an. "Seine Loyalität liegt scheinbar nicht bei seiner Familie im Moment, aber ich weiß nicht, ob mein Misstrauen berechtigt ist. Letztendlich war der Brief ja für ihn. Entscheide du, Tsalinde."

Nachdem Merle sich ihr wieder entzogen hatte, griff Doratrava erneut nach ihrem Becher. Sie trank einen Schluck, aber eigentlich hatte sie eher Hunger als Durst. Doch wenn sie sich an dem Becher festhielt, konnte sie den Wunsch, Merle wieder in die Arme zu schließen, besser kontrollieren. Wer genau hinsah, konnte erkennen, dass die Hände der Gauklerin tatsächlich recht verkrampft aussahen, als versuche sie, den Becher zu zerquetschen. Sie brauchte gerade, entgegen des äußeren Anscheins, den sie sich gab, alle Kraft, um sich zu beherrschen. Das frühe Aufstehen, die eher unerquicklich verlaufene Jagd, das Wetter, der Brief, Merles unerreichbare Nähe, all das zusammen forderte langsam seinen Tribut, bis zu dem Punkt, dass sie sich nicht traute, nach einem Apfel zu greifen, weil sie nicht sicher war, welchen Weg ihre Hand nehmen würde.

Ein wenig kam es ihr seltsam vor, die Entscheidung, welche ja hauptsächlich Familienmitglieder der Weissenquells betraf, einer Auswärtigen wie Tsalinde zu überlassen, aber wenn Merle das so wollte … sie schwieg, sie hatte schon gesagt, was es aus ihrer Sicht zu sagen gab.

Tsalinde war von den Worten Merles geschockt. Bisher hatte Merle in ihren Augen nicht den Eindruck gemacht, dass sie ihr einen Vorwurf aus ihrem Verhältnis zu Isavena machte. Hatte sie sich geirrt? Wieso traute sie ihr dennoch zu, eine Entscheidung von solcher Tragweite zu fällen?

Der Blick ihrer Begleiterinnen ruhte auf ihr und schien nur darauf zu warten, dass sie eine Entscheidung traf.

“Dann würde ich Friedewald und Lys ins Vertrauen ziehen, wenn Doratrava einverstanden ist. Ob wir noch mehr informieren, können wir dann mit beiden besprechen. Soll ich Traviana bitten, dass sie einen der Jungen geschickt um die Herren zu suchen und zu uns einzuladen?”

Doratrava zuckte lediglich die Schultern, sie hatte ja bereits den beiden überlassen, wen sie einweihen wollten. Wenn die beiden Genannten von ihnen als vertrauenswürdig angesehen wurden, dann würde sie nichts dagegen sagen, sie kannte beide ja nicht. Ihr kam nun zwar der Gedanke, was denn mit Rhodan sei, immerhin war es ja auch seine Hochzeit und immerhin war dieser auch so etwas Ähnliches wie ein Angehöriger von Ermittlern, da Lares von Mersingen sein Dienstherr war, aber das konnte ja auch später noch besprochen werden, wie schon von Tsalinde angedeutet, sie wollte die Sache jetzt nicht unnötig verkomplizieren.

Merle nickte Tsalinde zu. "Von Seiten der Familie Weissenquell sollte Vater Friedewald dabei sein und sagen, wie's mit dem Fest weitergeht. Aber ihr beide wisst als Mitglieder des Ermittlerkreises viel mehr über die bisherigen Erkenntnisse und Geschehnisse als ich. Was alles passiert ist und wie man sich gegen diesen... Pruch vielleicht schützen kann. Ob man sich schützen kann." Sie zuckte unschlüssig mit den Achseln. "Vielleicht wär’s ja gut, wenn alle aus eurer Ermittlergruppe zusammenarbeiten? Wenn ihr zwei also meint, dass auch Eoban, Nivard, der Herr Lares, der Herr Corwyn... und Gudekar informiert werden müssen, dann tun wir das."

“Nein. Je mehr wir jetzt ins Vertrauen ziehen, desto höher ist das Risiko einer Panik. Die Anderen zu informieren möchte ich nicht generell ablehnen, doch sehe ich im Augenblick nicht, was diese bewirken könnten. Sie kennen die Menschen hier nicht gut genug, um zu bemerken, wenn sich ein Paktierer von Lolgramoth hier herumtreibt. Ich fürchte, das würde nur zu einer Panikreaktion führen. Allein die Panik, die Lares von Mersingen in seiner Art verbreiten könnte. Dann können wir die Hochzeit auch gleich absagen.” Sie dachte kurz nach und fügte hinzu: “Vielleicht kennt Friedewald den Geweihten der Travia näher, der die Hochzeit durchführen wird und vielleicht hat dieser noch Möglichkeiten, an die wir nicht einmal denken.”

“Ich denke auch nicht, dass die anderen Ermittler jetzt viel helfen können, ohne konkreten Anhaltspunkt”, warf Doratrava ein. “Keine Ahnung, ob Gudekar da magisch was machen könnte, also einen Schutzzauber oder so, aber er ist doch Heilmagier, das ist bestimmt nicht sein Spezialgebiet. Und ob ein Geweihter der Travia etwas zum Schutz tun könnte, habe ich auch keine Ahnung, vermute aber mal, eher nicht.”

“Okay, dann sind wir uns also einig, erst einmal Friedewald und Lys zu informieren? Soll ich einen der Burschen nach ihnen schicken?”

“Von mir aus”, erwiderte Doratrava mit einem fragenden Blick zu Merle.

"Die Trauung werden Mutter Liudbirg und Vater Reginbald leiten, das Tempelpaar aus Albenhus", erklärte Merle und lächelte liebevoll. "Die kenn' ich auch ein wenig... sie sind meine lieben Zieheltern. Aber leider treffen die beiden erst morgen früh hier ein. Ansonsten sind noch ein paar andere Geweihte im Ort… doch halten wir den Kreis wirklich erst mal klein." Sie straffte sich und nickte Tsalinde zu. "Ja, gut, dann lassen wir Vater Friedewald und Lys holen."

“Entschuldige Merle, jetzt fällt mir auch wieder ein, dass du das bereits erzählt hattest. Ich kenne die beiden auch und wenn sie morgen hier eintreffen, können wir immer noch überlegen, ob wir sie informieren oder nicht. Jetzt erst einmal die beiden Herren.” Entschlossen stand Tsalinde auf, um jemanden nach den beiden Männern zu schicken, als sich die Türe öffnete und Lys den Raum betrat. Sofort lief sie auf ihn zu und fiel ihm in die Arme. “Lys, ich bin so froh, dass du wohlbehalten bist."

(ca. 15:15-15:20)

Lächelnd schloss er sie in die Arme und nickte den beiden Damen vor dem Feuer zu. “Die zwölf Götter zum Gruße, euer Wohlgeboren, werte Dame, schön euch zu sehen.” Dann schob er Tsalinde sanft von sich weg. “Meine Liebe, was ist los, du bist ja ganz außer dir.”

“Lys, ich muss dir etwas sagen, aber noch nicht jetzt. Kannst du mir und uns einen Gefallen tun und Friedewald von Weissenquell zu uns bitten? Wir müssen dringend mit euch reden.”

Merle blickte zu Lys und neigte grüßend den Kopf. “Friedewald ist aber auch auf der Jagd, fällt mir ein”, gab sie zu bedenken. “Vielleicht sind sie schon beim Forsthaus?” Sie schaute zu Doratrava. “Wie war denn die Lage, als ihr mit Mika los seid?”

“Die Jagd war in vollem Gange”, gab Doratrava zurück. “Wir hatten eigentlich Glück, dass wir da so einfach weggekommen sind, ohne dass uns ein Wildschwein umrennt. Allerdings meine ich mich zu erinnern, dass ja eigentlich nur ein paar wenige Tiere erlegt werden sollten, daher kann ich mir nicht vorstellen, dass die Jäger da noch stundenlang beschäftigt waren oder sind. Eher habe ich Sorge, dass ihnen bei dem Wetter ein Baum auf den Kopf fällt - wie möglicherweise jedem, der jetzt in den Wald geht. Auch wenn der Sturm nachgelassen hat, kann er ja Bäume so beschädigt haben, dass auch weniger Wind reicht, um Äste abzureißen.”

Entgeistert schaute Tsalinde die beiden an. “Und jetzt?”

Lys bot an: “Ich werde nachsehen, ob seine Wohlgeboren wohlbehalten von der Jagd zurück ist. Sollte dem so sein, werde ich ihm ausrichten, dass ihr ihn zu sprechen wünscht. Wen kann ich euch alternativ schicken? Sein Sohn Gudekar ist im Lazarett sicher nicht entbehrlich.”

Merle zuckte mit den Achseln. "Vielleicht Kalman. Er greift Vater eh bei der Verwaltung des Gutes unter die Arme und hat einen Großteil der Feier organisiert."

“Nein, ich glaube nicht, dass ein Verwalter die Entscheidungen treffen kann und sollte, die es zu treffen gilt. Es geht um Entscheidungen welche die Familie betreffen, da würde ich schon eher den Bräutigam mit ins Boot nehmen. Oder was meint ihr?”

"Kalman ist Friedewalds ältester Sohn und Erbe. Er hat hier deutlich mehr zu sagen als Gudekar", wandte Merle ein. "Rhodan vertraue ich auch. Aber da wäre wieder zu erwarten, dass er sofort den Herrn Lares einschaltet.”

“Oh nein, auf keinen Fall möchte ich den Herrn von Mersingen bei diesem Stand unseres Wissens informieren. Verzeiht bitte Merle, ich wusste nicht, dass Kalman Gudekars Bruder ist. In dem Fall wäre er, wenn du ihn für vertrauenswürdig erachtest, meine erste Wahl nach Friedewald.”

"Kein Problem", winkte Merle ab. "Ist eine große Familie."

“Dann machen wir es doch so”, stimmte Doratrava zu, der die ganze Diskutiererei langsam auf die Nerven ging. Sie war sowieso kein geduldiger Mensch, und lange ruhig herumzusitzen, lag ihr auch nicht.

Immerhin hatte die Ablenkung durch das Gespräch und das Eintreffen von Lys dafür gesorgt, dass sie ein wenig ihres inneren Gleichgewichts wiedergefunden hatte, so dass sie nun doch den Becher wegstellte und nach einem Apfel griff. Sie biss aber eher mechanisch hinein, ohne im Moment wirklich etwas zu schmecken, ungeachtet ihres knurrenden Magens.

Merle spielte nachdenklich mit ihrem Zopf. "Um ehrlich zu sein, halte ich Kalman für deutlich vertrauenswürdiger als meinen Mann... Zumindest in dieser Sache." Entschlossen nickte sie Lys zu. "Gut, bleiben wir dabei. Wenn Friedewald noch nicht zurück am Jagdschloss ist, dann Kalman. Und der ist vermutlich im Gutshaus, denke ich."

“Sehr gut, meine Damen, dann werde ich in ihrem Auftrag einen der beiden Herren hierher bitten und sie machen es sich hier inzwischen eine schöne Zeit.” Er küsste Tsalinde kurz, aber zärtlich, nickte Merle und Doratrava zu und verschwand wieder durch die Tür.

Auch Merle nahm sich einen Apfel, an dem sie lustlos herumkaute. Als Lys draußen war, schaute sie mit besorgtem Blick zwischen ihren beiden neuen Freundinnen hin und her. "Wie sieht  dieser Frevler denn eigentlich aus? Hat eine von euch ihn schon mal leibhaftig gesehen?"

“Nein, das nicht, aber ich habe ein Bild von ihm.” Tsalinde ging zu dem Tisch am Fenster rüber und holte ihre Zeichentasche. Damit setzte sie sich wieder ans Feuer und begann damit, die Rolle, in der sie ihre Zeichnungen aufbewahrte, zu öffnen. “Leider habe ich die anderen Bilder unseres Abenteuers Zuhause gelassen, doch das Bild vom Pruch habe ich immer dabei.” Sie holte die Zeichnung hervor und reichte diese Merle.

"Du kannst gut zeichnen, Tsalinde", murmelte Merle lobend und betrachtete andächtig das Bild. Sie versuchte, sich die Gesichtszüge genau einzuprägen, um den Mann, sollte er wirklich in Lützeltal auftauchen, wiederzuerkennen. "Eigentlich sieht er irgendwie fast... normal aus."

Auch Doratrava hatte von dem Mann immer nur gehört und bisher nichts als eine grobe Beschreibung, daher beugte sie sich ebenfalls interessiert über das Bild.

“Das ist das Gruseligste daran. Wenn man ihn sieht, denkt man nicht, welch große Gefahr von ihm ausgeht. Noch schlimmer ist, dass er durch seinen Pakt auch in der Lage zu sein scheint, seine Gestalt zu ändern und leider auch noch einiges mehr.”

"Seine Gestalt ändern..." wiederholte Merle mit sichtlichem Schrecken in den Augen. "Aber dann könnte es jeder sein..."

“Ja und nein. Er müsste denjenigen schon gut genug kennen, um ihn spielen zu können. Ganz so einfach ist es nicht, aber theoretisch könnte er einer der Händler sein, oder ein anderer Besucher, den niemand anderes persönlich genug kennt.”

“Ich … habe auch gehört, dass er ein fast schon unheimliches Geschick darin haben soll, Frauen … für sich einzunehmen”, steuerte Doratrava zögernd bei. “Wie auch immer er das macht.” Selbst hoffte sie, immun dagegen zu sein. Zwar war es nicht so, dass sie ausschließlich dem weiblichen Geschlecht zugeneigt war, aber doch überwiegend.

Ratlos legte Merle den Kopf auf ihre Unterarme. "Wenn er so gewieft und gefährlich ist und bisher nicht gestellt werden konnte... dann haben wir doch überhaupt keine Chance! Wie können wir verhindern, dass er herkommt und Leute umbringt, wie ihm gerade beliebt?" Wieder schnürte sich ihr die Kehle zu, als sie an die armen ermordeten Frauen in Hlutharswacht dachte. "Hat er irgendwelche Schwachstellen, an denen man ihn treffen könnte?"

“Keine, die ich kenne”, musste Doratrava zugeben. “Ich bin ja mit der ganzen Sache eigentlich nur am Rande betraut, es ging für mich nie darum, den Frevler direkt zu jagen. Und da ich nur eine einfache Gauklerin bin, hat es auch nie jemand für nötig befunden, mich in alle Hintergründe einzuweihen. Nicht mal meine direkten Gefährten haben mir alles erzählt, so kommt es mir zumindest vor. Gudekar war da noch einer der Gesprächigsten, wie ich zugebe.”

“Ich hatte bisher auch, den Göttern sei Dank, keinen direkten Kontakt mit ihm. Es gibt eine andere Gruppe, die wesentlich besser für diese Jagd gerüstet ist und aus Kämpfern besteht. Gudekar und ich sind in einer Gruppe, die auf der Suche nach dem Fragmenten eines Artefaktes ist, von denen wir eines bei dem Bäcker Pruch vermuten.”

Merle nickte mit düsterem Blick. "Ich wusste gar nicht, dass es mehrere Gruppen gibt... Gudekar hatte immer nur von 'seiner Mission' gesprochen." Sie seufzte traurig. "Im Grunde können wir also nicht viel mehr machen als abzuwarten, ob dieser Frevler hier zuschlägt. Und wen es als erstes trifft. Wie Schlachtvieh."

Doratrava legte den angebissenen Apfel zur Seite und nahm nun Merle doch wieder bei den Händen. "Ach Merle", seufzte sie, "wenn alle so denken, dann hat er schon gewonnen, ohne einen Finger zu rühren. Ja, wir können nichts Konkretes tun, um uns und die Leute hier zu schützen. Ja, wir können nur reagieren und das Beste hoffen, sollte er tatsächlich zuschlagen. Aber etwas können wir doch tun: nicht der Verzweiflung anheimfallen, den Einflüsterungen, die uns sagen wollen, dass alles keinen Sinn hat, dass er uns jederzeit überall erwischen kann. Wir können unseren Glauben bewahren und ihm unsere Lebensfreude und unseren Zusammenhalt entgegenstellen, unseren festen Willen, uns nicht einschüchtern und unterkriegen zu lassen, unsere Entschlossenheit, ihm zu widerstehen und ihn zu jagen und zur Strecke zu bringen. Jeder von uns hat Freunde, viele eine Familie, auf die sie sich verlassen können, bei denen sie Zuflucht finden. Er hat nichts, auf ihn warten nur die Niederhöllen!" Doratravas Augen strahlten mittlerweile wieder in einem eher unauffälligen Blau, wie die Oberfläche eines Sees an einem diesigen Tag, aber der Blick, den sie Merle zum wiederholten Mal schenkte, hatte nichts von seiner einladenden Intensität verloren.

Tsalinde nickte zustimmend, sagte aber nichts.

“Ach Liebes… Natürlich hast du recht…”, seufzte Merle traurig und streichelte mit den Daumen zart über Doratravas Handrücken. Nachdem sie ein paar Momente in die geheimnisvollen Augen der Tänzerin geblickt und den Sog gefühlt hatte, sich hoffnungslos darin zu verlieren, wandte sie ihr Gesicht schnell ab, um wieder in das Feuer zu starren. "Ja, wir müssen auf die guten Götter vertrauen, uns gegenseitig beistehen und Kraft geben. Wir dürfen unseren Glauben und unseren Mut, die Hoffnung und die Liebe im Herzen nicht verlieren”, leierte sie herunter, was sie seit frühester Jugend im Tempel gelernt und woran sie immer festgehalten hatte. “Doch…", Merle presste fest die Lippen zusammen; ihr Gesicht verhärtete sich voller Beklemmung und Bitterkeit, “...dieser Radulf von Grundelsee war vor ein paar Tagen sicher auch voll Hoffnung und Göttervertrauen. Die Familie hat ein wunderschönes Traviafest geplant, das Festmahl vorbereitet, alles mit Blumen geschmückt. Und seine Tabea, die hat ihr Hochzeitskleid anprobiert, ihrem großen Tag entgegengefiebert, einem glücklichen neuen Leben zu zweit… genauso wie Gwenn jetzt.” Ihre Stimme brach und sie schluckte schwer. “Also, warum soll es uns besser ergehen? Warum sollen die Götter ausgerechnet uns schützen, uns schützen können, wenn andere solches Leid erfahren?”

Tsalinde ging zu den beiden rüber und kniete sich neben sie.

"Niemand sagt, dass die Götter uns besser beschützen werden." Und niemand sagte, dass die Götter sich überhaupt für ein paar einzelne Menschen und deren unwichtige Belange interessierten, aber das sprach Doratrava lieber nicht aus. "Aber der Pruch kann nicht überall sein. Daher können wir zumindest hoffen, verschont zu werden, und wenn nicht, hoffen, das Schlimmste verhindern zu können. Solange wir Hoffnung haben, können wir leben. Nicht unbeschwert, aber doch mit einem Lachen auf den Lippen, das uns und anderen Freude bereitet. Wenn wir uns aber der Hoffnungslosigkeit hingeben, dann hat das Leben keinen Sinn mehr. Und wie gesagt, dann hat er gewonnen, ohne eine Hand an uns zu legen. Daher weigere ich mich, die Hoffnung aufzugeben, die Freude, mein Lachen, die ... Liebe." Wieder sah die Gauklerin Merle mit ihren unergründlichen Augen an. "Daher sollst du dich auch weigern. Der Kampf gegen ihn findet nicht nur mit der Waffe in der Hand statt, sondern er beginnt hier, in deinem Kopf." Nun beugte sich Doratrava vor, sie konnte einfach nicht anders, und gab Merle einen zarten Kuss auf die Stirn.

Tsalinde wunderte sich kurz über diesen Ausdruck der Zärtlichkeit, sagte aber nichts dazu. “Doratrava hat recht. Wir dürfen Hoffnung und Zuversicht nicht verlieren, andernfalls haben die Frevler und Paktierer dieser Welt bereits gewonnen.”

Als Doratrava sie auf die Stirn küsste, schloss Merle kurz die Augen. Doratrava war so lieb, wie ein kleiner Lichtstrahl in völliger Finsternis… Und dennoch konnten weder die Nähe und Wärme der schönen Tänzerin noch Tsalindes Worte die kalte, dunkle Beklemmung vertreiben, die sich in Merles Innerem festgesetzt hatte. Wie sollte sie Zuversicht und Lebensfreude bewahren, wenn ihr Leben in kürzester Zeit zu Scherben zersprungen war? Ihr Ehemann, ihre große Liebe, ihr Halt und Fels in der Brandung, hatte sie betrogen und belogen, bis ins Innerste verletzt - erbarmungslos und mutwillig, im vollen Bewusstsein, was er ihr antat. Ihr Gudekar, dem sie stets bedingungslos und blind vertraut hatte, hatte ihre Liebe und Treue achtlos in den Dreck geworfen. Und Gwenn und Mika, die für sie wie Schwestern waren, hatten die ganze Zeit dabei zugesehen, wie Gudekar sie zum Narren hielt. Wie sollte sie jemals wieder irgendeinem Menschen vertrauen? Jetzt schien es, als würde nicht nur ihre Ehe zerbrechen, sondern das gesamte vertraute Leben im Lützeltal von Finsternis bedroht sein, als wäre die selbstverständlich geglaubte Sicherheit des Familienkreises nur eine Haarbreit davon entfernt, der brutalen Vernichtung durch einen übermächtigen, grausamen Feind zum Opfer zu fallen. Was lohnte es noch, sich zu wehren, zu kämpfen, jemals wieder aufzustehen? ‘Lulu’, dachte sie, riss sich bewusst zusammen und nickte Tsalinde und Doratrava bestätigend zu. “Ja, ich weiß, dass wir weitermachen müssen. Ein Schritt nach dem anderen.” Die blasse junge Frau räusperte sich und lächelte schwach. “Ich bin sehr dankbar, dass ihr da seid.”

Doratrava kniff die Augen zusammen bei dieser eher müden Antwort, die sich in ihren Ohren nicht so anhörte, als könne Merle nachvollziehen, was sie hatte sagen wollen. Bevor sie aber etwas erwidern konnte, kam Tsalinde ihr zuvor.

“Merle, versuch bitte, auch die schönen Dinge zu sehen. Du hast ein wundervolles, kleines Mädchen und du bist sehr stark und eine offene, liebevolle Frau. Versuch es, statt mit Trübsal, mal mit Wut. Sei wütend auf die, die dich belogen und betrogen haben, die die deine Lieben und dich bedrohen.”

Doratrava rümpfte zweifelnd die Nase. Wut war besser als Verzweiflung, aber ohne ein Ziel, eines, das man greifen und schütteln und schlagen konnte, war es doch nur eine Verschiebung von einem schlechten Gefühl zum anderen. Aber sie hielt ausnahmsweise den Mund und wartete, wie Merle auf diesen Vorschlag reagierte. Dass Tsalinde Gudekar gemeint haben könnte, kam ihr im ersten Moment nicht in den Sinn.

Mit mattem Blick schaute Merle zu Tsalinde und forschte in ihrem Herzen, was sie eigentlich fühlte. Irgendwie war es gleichzeitig tote Leere und ein wildes Chaos widerstreitender Impulse. Ja, da war auch Wut. Ja, sie wollte Gudekar büßen lassen, wollte, dass er dasselbe Leid empfand, das er ihr angetan hatte. Er und seine kaltherzige, grobschlächtige Ritterin. Wenn sie es schaffte, das ach so rührige Glück dieser beiden zu zerstören, sie zu Fall zu bringen und zugrunde zu richten - wäre es das nicht wert, dafür selbst in den Abgrund zu gehen? Merle ballte leicht die Fäuste und runzelte die Stirn. Sie fürchtete sich vor solch bösen Gedanken, schämte sich dafür, auch wenn diese immer wieder in ihrem Kopf auftauchten. Und wie einfach wäre es, Doratrava in irgendein leeres Zimmer zu zerren, ihr die Kleider vom Leib zu reißen und in Lust und Zärtlichkeit zu vergehen… Doch wenn sie ihre Freundin benutzte, um für eine Weile die Realität und vor allem sich selbst zu vergessen, dann lief sie Gefahr, Doratrava zu verletzen und ihre Zuneigung selbstsüchtig zu missbrauchen. Nein, darauf konnte sie sich jetzt nicht einlassen… Denn gleichzeitig spürte sie den unwiderstehlichen Drang, loszurennen in den Sturm, Gudekar zu suchen und sich weinend vor ihm in den Staub zu werfen, ihn verzweifelt anzuflehen, sie zurückzunehmen, sie wieder zu lieben. Würde sie nicht alles für ihn tun, ihm alles verzeihen, für ihn sterben, wenn nötig? Was hatte sie getan, dass er sich von ihr abwandte? Merle presste die Lippen zusammen, um nicht wieder in Tränen auszubrechen. “Es ist alles etwas viel heute. Wie ein Alptraum, der nicht enden will”, murmelte sie abwehrend, hob aber tapfer den Blick. “Verzeiht mir, wenn ich geknickt und trübsinnig wirke. Ich weiß selbst nicht richtig, was mit mir los ist. Aber ich werde durchhalten, das verspreche ich euch.”

“Aber du sollst nicht nur durchhalten, du sollst glücklich sein!”, brach es da plötzlich impulsiv aus Doratrava heraus. “Ich will, dass du glücklich bist! Dein … Schmerz bricht mir das Herz!” Fast schon erschrocken hielt die Gauklerin inne und schielte zu Tsalinde, aber letztendlich war ihr egal, was diese darüber dachte. Sie hatte kurzzeitig die Beherrschung verloren und das Feld ihren Gefühlen überlassen, aber da war nichts Schlechtes dabei, nichts, wofür sie sich schämen musste. Dennoch schaute sie nun eher schüchtern zu Merle zurück, die sich heute schon mehrfach von ihr zurückgezogen hatte - vielleicht zu ihrem Besten, denn Doratrava hatte keine Ahnung, wohin es führen würde, wenn sie beide sich aufeinander einließen. Einen Traviabund konnte sie der doch so traviafürchtigen jungen Frau sicher nicht bieten, wie eine kleine ironische Stimme in ihrem Kopf flüsterte. Unwillkürlich nahm ihr Gesicht eine schwach blassrosa Färbung an, mehr war bei ihrer weißen Haut nicht möglich, aber das drückte bei ihr schon einen hohen Grad an Verlegenheit aus.

Tsalinde lächelte über den Ausbruch der Gauklerin. Das erinnerte sie an Isavena und ihre ersten, vorsichtigen Versuche, sich einander anzunähern.

“Merle, was wir dir zu sagen versuchen, ist, dass du ruhig zeigen darfst, was du denkst und vor allem, was du fühlst. Es ist in Ordnung, wenn du wütend bist oder traurig oder was auch immer. Deine Tochter ist gut versorgt und dein Mann ist, bitte entschuldige, wenn ich das so direkt sage, ein fremdgehender Kontrollfreak. Du hast jedes Recht den Rest deines Lebens glücklich zu sein und auch einmal an dich zu denken. Liebe bedeutet nicht nur, dass jemand da ist, der sich um dich kümmert. Das bedeutet auch, dass jemand an dich denkt, wenn er nicht da ist und dass er…”, sie blickte zu Doratrava, “... oder sie an dich denkt und dich vermisst, wenn ihr nicht zusammen seid.”

Merle hörte aufmerksam zu, starrte aber weiter ausdruckslos ins Leere. Hatte Gudekar sie tatsächlich nicht vermisst, während er fort war? Nicht ein bisschen? Wie bitterlich hatte sie geweint, als er zu der Hochzeit nach Herzogenfurt aufgebrochen war... Da hatte er ihr versprochen, bald zurückzukehren, hatte ihr mehr als einmal versichert, wie sehr sie ihm fehlen würde. Und sie hatte gedacht, mit Lulu unter dem Herzen, dass ihr gemeinsames Glück nach seiner Rückkehr perfekt sein würde. Stattdessen war dieser Abschied wohl der Anfang vom Ende gewesen… und sie verstand noch immer nicht, wie es dazu hatte kommen können. Letztendlich war es wohl die kalte, unbarmherzige Wahrheit, dass es seine willentliche Entscheidung war. Er hatte sie vergessen wollen. Er wollte sie loswerden. Niedergeschlagen schlang Merle die Arme um ihre Knie und legte den Kopf darauf. "Ihr seid so lieb zu mir, ihr beide", wisperte sie leise und voller Wärme. "Dass ihr bei mir seid, macht es erträglich. Aber ihr könnt mich nicht glücklich machen... nicht heute." Sie schenkte Doratrava ein zärtliches, trauriges Lächeln, in dem so etwas wie eine Bitte um Verzeihung lag... und um Geduld. "Wenn ich jetzt zu viele Gefühle zulasse, dann dreh’ ich durch und mache irgendwas ganz Dummes. Oder ich fang’ wieder an zu heulen und kann nicht mehr damit aufhören.” Sie schüttelte den Kopf, straffte sich ein bisschen und schob ihren Zopf auf den Rücken. “Ich muss das alles tief drinnen einschließen. Und nur dran denken, was als nächstes zu tun ist. Dann übersteh’ ich vielleicht den Tag.”

Hin und her gerissen und fast schon ein wenig hilflos schaute Doratrava nun von Merle zu Tsalinde. Wenn das so weiterging, fing sie selbst noch an zu heulen. Sie hatte Merle schon viel zu weit in ihr Herz gelassen, so dass deren Not und Verzweiflung auch an ihr fraß. Sicher nicht so sehr, wie an Merle selbst, aber dennoch ...

"Wenn du heulen willst, dann komm her", sagte sie schließlich, leise und zart und samtweich, und streckte eine Hand nach Merle aus. "Heulen ist besser, als alles in sich hineinzufressen, und ob ich heute nochmal nass werde, ist auch egal." Ein kleines, schiefes Lächeln zeigte sich auf den Lippen der Gauklerin. "Wenn du möchtest, halte ich dich auch ganz, ganz fest, damit du nichts Dummes tun kannst. Zumindest nichts Dümmeres, als in meinen Armen zu liegen."

"Hmm... wo eine Dummheit anfängt oder endet, liegt wohl im Auge des Betrachters", entgegnete Merle in bemüht leichtherzigem Tonfall und rang sich ein zaghaftes Grinsen ab. Sie wollte die düstere Stimmung etwas aufhellen und hatte das Bedürfnis, den beiden Frauen zu signalisieren, dass sie anders sein konnte; lustig und fröhlich, nicht das jämmerliche Häufchen Elend, das sie gerade abgab. Dennoch ignorierte sie Doratravas ausgestreckte Hand, griff stattdessen leicht verlegen nach ihrem Weinbecher und nahm daraus einen schnellen Schluck. “Lys und Friedewald sind bestimmt gleich da. Es wird schwer genug, Vater zu erklären, warum ich Gudekars Brief geöffnet habe. Ohne ihm zu sagen, was gerade zwischen uns los ist.”

Zögernd nur nahm Doratrava ihre Hand zurück, und sie musste schlucken, weil nun die Enttäuschung in ihrer Kehle brannte - Enttäuschung über die erneute Zurückweisung, aber auch darüber, dass sie nun nichts gegen Merles Trübsal tun konnte - zumindest nicht durch körperliche Nähe. "Weiß Friedewald denn nicht, was zwischen dir und Gudekar los ist?", fragte sie nach kurzer Pause, eher um sich abzulenken. Nachdem es doch sonst schon die ganze Familie weiß, dachte sie bei sich. Sie bemühte sich, dass ihre Stimme nicht brüchig klang, das fiel ihr gerade aber durchaus schwer.

Wieder warf Merle der Tänzerin einen vieldeutigen, unterschwellig bedauernden Blick zu. Nein, sie durfte jetzt nicht schwach sein, musste sich im Griff haben und konzentrieren, versuchte sie sich selbst zu beschwören. "Gwenn hat mich gebeten, es Vater und Kalman nicht zu sagen, jedenfalls nicht vor der Hochzeit. Beide sind sehr traviafromm", erklärte sie mit sachlicher, kühler Stimme. "Wenn sie von Gudekars wiederholter Untreue erfahren, werden sie ihn vermutlich als Frevler aus der Familie verstoßen. Ich hab es noch nicht über mich bringen können, so weit zu gehen."

Sie könnte nun anfangen, Merles Verhältnis zu Gudekar zu erörtern, dachte Doratrava bei sich, während sie zu deren Worten lediglich stumm nickte, aber das wäre doch nur eine weitere Ablenkung. Es würde Merle schmerzen, und sie damit auch, und bringen würde es rein gar nichts. Ob nun Gudekar verstoßen würde oder nicht, interessierte sie nicht wirklich, wobei es allerdings schwierig werden würde, mit einem verurteilten Traviafrevler zusammen den Pruch zu jagen. Aber das waren Probleme für einen anderen Tag. Da sie ihre Hände nicht mit Merle beschäftigen konnte, nahm sie ihren angebissenen Apfel wieder auf und begann, diesen sehr systematisch und methodisch zu essen, bis nur noch der Stiel übrig war. Wenn die restliche Weissenquell-Familie wirklich so streng traviafromm war, war es vielleicht besser, wenn deren Mitglieder Merle nicht in ihren Armen vorfanden, sobald sie hier auftauchten.

"Kalman wollte Gudekar eigentlich schon für die Sache mit Tsalinde verstoßen", sprach Merle weiter und warf der Edlen ein knappes, entschuldigendes Lächeln zu, um Tsalinde zu zeigen, dass dies kein Problem mehr darstellte. "Aber da hab ich gesagt, dass alles gut ist. Und Gudekar hat zugestimmt, bei Mutter Liudbirg und Vater Reginbald um Vergebung zu bitten. Hätte ich gewusst, dass er zur selben Zeit..." Wieder verhärteten sich ihre Gesichtszüge und sie bemühte sich, ruhig zu atmen. "Wenn ich mit Gudekar zu irgendeiner Art von Einigung kommen will, dann dürfen Kalman und Vater Friedewald auf gar keinen Fall davon erfahren. Dann müssen Gudekar und seine dumme kleine Ritterin in Zukunft zumindest diskret sein", voller Widerwillen zog sie die Stirn kraus, "...aber ich glaube, selbst das kriegen die nicht hin. Keine Ahnung, woher die Baroness von Immergrün jetzt schon wieder Bescheid weiß!" Frustriert leerte Merle ihren Weinbecher in einem Zug. "Am liebsten würde ich allen einfach sagen, was er getan hat. Soll er doch entehrt sein, soll ich halt entehrt sein! Wen interessiert’s."

Doratrava seufzte erneut. Auch wenn sie es nicht wollte, sprach nun Merle selbst lang und breit über Gudekar, da konnte sie ihren vorlauten Mund dann doch nicht halten. "Meinst du wirklich, das mit Gudekar und Meta bleibt über den heutigen Tag hinaus vor deinem Schwager und deinem Schwiegervater verborgen? Irgendwie scheint doch schon fast jeder und jede Bescheid zu wissen, und zumindest Mika hat ein ziemlich loses Mundwerk, auch wenn ich sie irgendwie mag. - Und jetzt sag' mal, tut mir leid, dass ich so direkt frage, aber es beschäftigt dich ja offensichtlich sehr: warum willst du eine 'Einigung' mit Gudekar erzwingen? Wie soll die aussehen? Und was ist die dann wert? Ich könnte jemandem, der mich so verraten hat, nie mehr ohne Groll entgegentreten, glaube ich, da wäre es mir lieber, der- oder diejenige wäre weit, weit weg und würde nie mehr wiederkommen."

Dazu nickte Tsalinde entschlossen.

Die Gauklerin verstummte kurz, aber dann musste sie noch etwas hinzufügen: "Und der Traviabund ... du bist nicht schuld an Gudekars Bruch desselben, meiner bescheidenen Meinung nach müsste jeder Traviageweihte, der bei Verstand ist, dich aus diesem Bund auf dein Bitten hin entlassen. - Leider kenne ich keine Traviageweihten, die bei Verstand sind", setzte sie dann aber mit nicht zu überhörender Bitterkeit hinzu, völlig vergessend, dass auch Merle bei zweien aufgewachsen war und zu diesen ihren Worten nach ein gutes Verhältnis hatte. Sie hatte sich in Rage geredet, obwohl sie das gar nicht vorgehabt hatte, und die Emotionen wallten in ihr auf, so dass ihre Augen feucht wurden.

"Niemand kann aus einem Traviabund 'entlassen' werden! Ich bin nun einmal auf ewig an Gudekar gebunden!” Energisch schüttelte Merle den Kopf und funkelte die Gauklerin erregt an. Wusste Doratrava wirklich so wenig über den Traviaglauben? Da sah sie, dass ihre Freundin feuchte Augen hatte, atmete tief durch und legte Doratrava beruhigend die Hand auf den Oberarm. Wahrscheinlich wusste sie es als Halbelfe wirklich nicht so genau. “Einzig und allein das Hohe Paar in Rommilys könnte einen Bund auflösen. Wenn zum Beispiel einer ein unverbesserlicher Frevler oder Paktierer ist”, erklärte sie in ruhigerem Ton. “Dann wäre Gudekar von der Kirche gebannt und im Adel geächtet, zumindest in den Nordmarken. Er hätte alles verloren. Seine Ehre, seinen Namen, seine Familie. Dann hätte ich sein Leben zerstört.” Ihre Stimme wurde sehr leise und fast tonlos. “Und Lulu hätte ich den Vater weggenommen.” Merle griff nach dem Weinkrug, um sich nachzuschenken, zog aber die Hand wieder zurück. Nein, sie musste bei klarem Verstand bleiben.

Tsalinde, die das gesehen hatte, nahm wortlos den Krug mit dem warmen Apfelsaft und goss Merle davon ein.

“Wenn Kalman die Wahrheit erfährt, wird er die Kirche informieren. Das ist der rechtschaffene Weg. Aber dann wird Gudekar zum Ausgestoßenen, unumkehrbar. Wenn ich ihm dagegen Freiheiten gewähre - unter der Voraussetzung, diese auch zu erhalten”, sie lächelte Doratrava flüchtig an, “können wir vielleicht einen Weg finden, unsere Ehe so weiterzuführen, dass wir eine Familie bleiben…” Sie brach ab, senkte den Blick und seufzte resigniert. “Nein, du hast ja Recht. Es ist illusorisch, das weiß ich selber. Es gibt keinen Weg.”

Oh, sie wusste viel über den Traviaglauben, mehr vielleicht sogar als Merle, zumindest mehr, als Merle vermutete. Tausend Worte bildeten sich in Doratravas Kopf, und alle wollten sie zugleich hinaus, und das ging nicht, daher brachte sie kein einziges davon über die Lippen. Vielleicht war es auch besser so, denn viele dieser Worte konnten ihr als Frevel ausgelegt werden, und sie waren nicht allein im Raum. Sie kannte Tsalinde nicht gut genug, um sie vollends einschätzen zu können, daher sollte sie mit manchen ihrer Ansichten lieber vorsichtig sein. Zum Beispiel mit der, dass die meisten Regeln, die die Menschen den Göttern zuschrieben, in Wirklichkeit von Menschen gemacht worden waren, und vermutlich oft aus Machtgier.

"Was ist das für ein Vater, der gar nicht bei seinem Kind ist?", krächzte Doratrava schließlich leise, während eine einzelne Träne ihre Wange hinunterlief. "Gudekar will doch sowieso mit Meta fort, er wird sein Kind lange Zeit überhaupt nicht sehen. Und wenn - falls! - er wiederkommt, wird Lulu ihn nicht mehr erkennen." Der ersten Träne folgte eine zweite, all das erinnerte sie an ihr eigenes Schicksal. War ihre eigene, leibliche Mutter überfordert gewesen, weil ihr Vater abgehauen war? Oder war sie deshalb so wütend gewesen, dass sie sein Kind nicht hatte haben wollen? Oder, oder, oder ... sie konnte nicht weitersprechen und ließ den Kopf hängen, so dass ihre noch immer nassen Haare nach vorne fielen und ihr Gesicht halb verdeckten. Merle ging es doch sowieso schon schlecht, vielleicht noch schlechter, weil sie das mit Gudekar gesagt hatte, sie wollte sie jetzt nicht auch noch mit ihren eigenen Dämonen belasten.

Merle zog es vor Rührung das Herz zusammen, als sie spürte, wie nahe ihre Probleme Doratrava offenbar gingen. Und sie war selbst überrascht, welche tiefe Zuneigung sie nach so kurzer Zeit schon für ihre Freundin empfand. Sie schluckte, um nicht wieder weinen zu müssen, bestärkte sich aber selbst innerlich darin, vorsichtig zu bleiben. Doratrava war ihr zu wertvoll, um schnellen, oberflächlichen Trost und Ablenkung zu suchen - und das war es realistischerweise, was sie jetzt, in ihrem derzeitigen Gefühlschaos, bei der Tänzerin suchen würde. So blieb Merle in ihrer Sitzhaltung distanziert, auch wenn sie nach kurzem Zögern die Hand ausstreckte, um Doratrava liebevoll eine Haarsträhne nach hinten zu streichen. “Das ist es ja, was ich verhindern will. Dass er fortgeht”, antwortete sie mit kühler und überraschend fester Stimme. “Ich werde von ihm verlangen, dass er sich um seine Tochter kümmert und regelmäßig Zeit mit ihr verbringt. Lulu soll nicht darunter leiden, dass er mich nicht mehr will.”

Das erinnerte Tsalinde an ihre Mutter, die einen Frevel gegen die Göttin Tsa dem Bruch ihres Traviabundes vorzog. Wusste Merle denn nicht, was sie damit den Kindern antat?

Als Merle Doratravas Haare berührte, sah diese wieder auf. Unendliche Traurigkeit lag in ihrem verschleierten Blick, und die Tänzerin musste ein paarmal blinzeln, um wieder klar zu sehen. Würde es Lulu überhaupt guttun, einen Vater zu sehen, der sich nur widerwillig, gezwungenermaßen, mit ihr beschäftigte, sollte Merle Gudekar irgendwie dazu bringen? Sie hatte keine Ahnung, sie konnte Kinder zum Lachen bringen, aber wie man sie aufzog, wie es am besten für sie war, davon wusste sie nichts. Und würde der Kampf um Gudekar Merle nicht einfach zerreiben? So mitgenommen, wie sie jetzt schon war, sah das nicht nach einem Kampf aus, den sie gewinnen konnte, egal, ob Gudekar nun hier blieb oder nicht. Merle war zu lieb und zu mitfühlend für diese Welt, eine zarte Blume, deren Schönheit ihre Umgebung anstrahlte, aber Doratrava fürchtete, dass sie genauso zerbrechlich wie so eine Blume sein könnte. Die Auseinandersetzung mit Gudekar war wie der Sturm da draußen, er zerrte an ihr, schüttelte sie, drohte sie auszureißen, und wenn das geschah, was würde dann von ihr bleiben?

All diese unausgesprochenen Gedanken lagen in Doratravas Blick, als sie Merle musterte, aber schließlich fragte sie doch, immer noch mit brüchiger Stimme: "Gudekar ist es wohl sehr ernst mit Meta, wenn er dafür das Mal des Frevlers riskiert. Ich weiß genug von heiligen Eiden, das mich vermuten lässt, er könnte dieses schon auf sich geladen haben. Wahrscheinlich kommt das auf die Formulierung des Eides an, den ihr geschworen habt. Was lässt dich glauben, du könntest ihn jetzt noch zurückhalten? Und wenn er dann nur wegen Lulu regelmäßig zu dir kommt, dann aber wieder zurück zu Meta geht, wie wirst du dich dann jedesmal fühlen? Wird es dir nicht jedes Mal aufs Neue das Herz zerreißen? Mir würde es das. Mir tut es das jetzt schon, wenn ich nur daran denke und mir deinen Schmerz vorstelle!" Obwohl Doratrava es nicht wollte, folgte den ersten Tränen eine weitere. Sie wusste selbst nicht, was in sie gefahren war, warum sie so sehr mit Merle litt, aber sie hatte noch nie jemanden getroffen, der so vorbehaltlos ... lieb war, ihr wollte kein anderes, besseres Wort einfallen. Wie konnte Gudekar nur so jemanden aufgeben? Meta war das genaue Gegenteil von Merle. Die Kämpferin war nicht böse oder hinterhältig, soweit sie sie kannte, aber ungehobelt, ungeschliffen, roh, manchmal grob, unbedacht, vorlaut. Was ihre rahjanischen Qualitäten anging, hatte Doratrava allerdings keine Ahnung, aber mit irgendetwas musste sie Gudekar ja beeindruckt haben. Auch Gudekar kannte sie nicht wirklich gut, aber der Magier war ein sehr analytischer Geist, vielleicht waren Merles Qualitäten daher nicht geeignet, diesen seinen Geist zu berühren. In dieser Hinsicht traute sie Meta allerdings auch nicht viel zu.

“Er wird schon irgendwann erkennen, wo sein Zuhause ist.” Stur, fast schon trotzig presste Merle die Lippen zusammen. Ihr war selbst bewusst, dass Tsalinde und Doratrava nicht verstanden, warum sie so an Gudekar hing. “Früher war er wirklich… anders”, murmelte sie mehr zu sich selbst. “Liebevoll und zärtlich, lustig und auf seine Weise… charmant.” Sie seufzte leise und lächelte melancholisch. “Wir haben viel zusammen gelacht. Uns blind verstanden. Gut zusammengearbeitet. Und ich war mir jederzeit sicher, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Genauso wie ich bereit bin, immer für ihn da zu sein. Das hab ich ihm unter den Augen der Gütigen Mutter geschworen.” Sie reckte das Kinn nach vorne, innerlich entschlossen, an dem heiligen Eid festzuhalten. “Das einzige, was wir vermisst hatten, war ein Kind. Und, Ironie des Schicksals, in dem Moment, wo ich nach all’ den Jahren von Tsa gesegnet bin - da rennt er plötzlich weg, verstößt mich und seine Tochter - und gibt alles auf, was wir hatten? Alles, was wir hätten haben können? Ich weiß nicht… irgendwie kann und will ich das einfach nicht verstehen.” Schmerzerfüllt verzog sie das Gesicht, kämpfte aber weiter tapfer gegen die Tränen an. “Nein, ich versteh’ es nicht! Wir waren glücklich zusammen! Wir…” Sie runzelte die Stirn, zog scharf die Luft ein und hob sichtlich alarmiert den Blick. “Meint ihr… wäre es möglich… dass vielleicht doch die… Rastlose ihre Finger nach ihm ausgestreckt hat?”

Doratrava zog die Brauen zusammen und versuchte, ihren, oder Merles, oder ihrer beider Schmerz zu ignorieren, um klar denken zu können. "Hm ... ausschließen kann man das wahrscheinlich nicht", murmelte sie dann, immer noch etwas krächzig. "Aber wenn es nicht um sein Privatleben geht, verhält er sich eigentlich ganz normal, soweit ich das beurteilen kann, und er kann auch noch Tempel betreten. Kein Geweihter, mit dem wir es zu tun hatten, hatte Vorbehalte gegen Gudekar, außer, wenn er sich Anweisungen widersetzt hat, was auch schon vorgekommen ist." Sie zuckte unschlüssig die Schultern. "Ich weiß es einfach nicht. - Hat er sich denn plötzlich verändert? Weißt du, wie das mit ihm und Meta ... also ... zustandegekommen ist?" Sie warf Tsalinde einen Seitenblick zu. Und wie war das mit ihr und Gudekar gewesen? Aber Tsalinde kannte sie kaum, sie traute sich nicht, danach zu fragen.

Merle blickte nachdenklich ins Feuer und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. "Es war schon… plötzlich", überlegte sie. "Für mich zumindest. Bis er zu dieser Hochzeit in Schweinsfold ist, war er immer ein fürsorglicher, aufmerksamer, unheimlich liebevoller Ehemann." Ein verträumtes, zärtliches Lächeln huschte bei der Erinnerung an die alten, glücklichen Zeiten über ihre Gesichtszüge. "Aber dann… bei der Hochzeit… ähm, vielleicht sollte ich dir das erklären, Doratrava. Also, er hatte mir dieses Amulett vom Muschelfürsten geschenkt. Er besaß auch eins. Darüber konnten wir die Gefühle des anderen empfangen. Damit er immer bei mir ist, hat er gesagt. Jedenfalls hab ich über die Kette mitbekommen, was mit Tsalinde… passiert ist.” Sie machte eine schnelle, abwinkende Handbewegung in Richtung der Edlen. “Keine Sorge, Tsalinde! Es ist wirklich in Ordnung! Ich hatte eine Weile daran zu knabbern, aber es war ja unter dem Einfluss eines Zaubers, ein Ausrutscher. Deshalb grolle ich weder dir noch Gudekar.”

Doratravas Augen weiteten sich. Ein Zauber … wie damals bei ihr und … schnell schob sie diese unerquicklichen Gedanken und die damit verbundenen widerstreitenden Gefühle beiseite und hörte weiterhin zu.

“Am nächsten Morgen hab ich von ihm auch ganz starke Schuldgefühle und Reue empfangen, den ganzen Tag über. Aber…”, ihre Miene verdüsterte sich , “...am Abend war da plötzlich wieder so was wie Schwärmerei und… Verlangen. Da muss er wohl auf Meta getroffen sein. Und dann hat es schlagartig aufgehört, weil er das Amulett abgelegt hat." Sie zuckte mit den Schultern, während sie abwesend in ihrem langen Zopf herumzwirbelte. “Jedenfalls war er nicht mehr derselbe nach seiner Rückkehr. Er hat mich kaum noch angerührt, aber auch sonst… Insgesamt wirkte er kälter und härter, oft ungeduldig und gereizt... und ja, rastlos. Irgendwie getrieben.” Mit besorgtem, fragenden Blick schaute sie in die Gesichter ihrer Freundinnen. “Was meint ihr? Wie klingt das für euch?”

“Ein Amulett vom Muschelfürsten?”, entfuhr es Doratrava überrascht. “Ist das so etwas wie diese Perle, mit der man zum Muschelfürsten in sein Reich reisen kann?” Sie blickte zu Tsalinde. Bei ihrer Suche nach der dritten Tafel, welche man zur Wiederherstellung des Herzens der Nordmarken braucht, war die Edle mit einer solchen Perle zum Muschelfürsten gereist, um ihn darum zu bitten, den Ort, wo wir diese dritte Tafel gefunden hatten, zu beschützen. Allerdings hatte sie die Perle damit verbraucht. “Oder ist das Amulett etwas anderes, und warum hatte Gudekar zwei davon?”, fragte sie nun beide Frauen. Irgendwie wurmte es sie immer noch,  dass man sie zwar zu den Ermittlern bezüglich dieser Steintafeln gerufen hatte, aber ohne es für nötig zu halten, sie in alle Hintergründe einzuweihen.

“Es war wohl ein Geschenk”, erzählte Merle. “Der Muschelfürst hat jeden seiner Gäste gefragt, was er oder sie sich am meisten wünscht. Und Gudekar hat geantwortet, dass er gerne zu Hause bei mir wäre. Da hat er die zwei Amulette bekommen, damit wir immer vereint sind, wenn er auf Reisen ist.” Sie lächelte versonnen. “Ich hab mich so darüber gefreut, als er mir die Kette überreicht hat! Das war nur einen Mond oder so vor dieser Hochzeit. Deshalb verstehe ich das alles nicht… Wie kann er gerade noch so liebevoll sein und kurz darauf will er mich loswerden? Eben klagt er vor dem Muschelfürsten, wie sehr er sich nach mir sehnt und danach stößt er mich achtlos in den Dreck!?"

“Hm, ja, das ist schon ein bisschen komisch. Oder ein bisschen mehr. Vielleicht sollten wir … solltest du Meta mal danach fragen, wie sie das gemacht hat, ihn so komplett herumzudrehen? Aber ich fürchte, da würdest du nur eine patzige Antwort kriegen. Und ich vermutlich auch. Meta ist sowieso seltsam. Den einen Tag ist sie ganz freundlich zu mir, und am nächsten schaut sie mich an, als wolle sie mich umbringen, ohne dass es einen für mich ersichtlichen Grund dafür gibt. - Und ich gehe mal davon aus, Gudekar hat es auch nicht für nötig befunden, seinen Sinneswandel zu erklären?”

“Ich hab heute erst erfahren, was da läuft”, entgegnete Merle matt. “Deshalb bin ich so durch den Wind… Und Gudekar hat mir widersprüchliche Sachen erzählt. Einerseits, dass Meta seine große Liebe wäre und die Liebholde sie zusammengeführt hätte. Aber er hat mir gegenüber auch in den Raum geworfen, dass seiner Meinung nach der Pruch und Lolgramoth das bewirkt hätten. Also, wie er ihr so plötzlich und kopflos verfallen ist und sein Herz sich nur noch nach ihr verzehrt.” Sie atmete schwer aus; ihre Stimme wurde sehr leise und dunkel. “Und dann… dann versichert er mir wieder, dass er immer noch Liebe für mich empfindet, ich auf ewig ein Teil seiner Seele wäre…” Verunsichert hielt sie inne, mit ihrem Haar zu spielen und blickte fragend auf. “Kann es sein, dass es ein versteckter Hilferuf ist… und er versucht, mich zu bitten… ihn zu retten?”

Stimmt, jetzt sprachen sie schon so lange über Gudekar und Meta, dass es Doratrava ganz seltsam vorkam, dass Merle von deren Verhältnis erst heute erfahren hatte. Aber etwas anderes fiel ihr ein. “Hat Meta vorhin nicht etwas von einem Rahjabund gesagt? Und dieser eine Bursche, als ich vorhin nach Gudekar gesucht habe, der sagte was davon, dass er mit jemandem im Rahjaschrein war. Wenn da was mit Gudekar nicht stimmt, wenn er unter erzdämonischem Einfluss stünde, müssten das die Rahjageweihten nicht bemerkt haben? Oder zumindest herausfinden können? Und dann vielleicht auch, ob Gudekar dagegen ankämpft? Hast du schon mit den Rahjageweihten gesprochen, Merle? Vermutlich nicht, wann denn auch …” Doratrava verstummte sinnierend. Sie dachte an Rahjan Bader. Wenn dieser hier wäre, der könnte garantiert herausfinden, wenn etwas mit Gudekar nicht stimmte. Und er könnte Merle beruhigen und ihre Not lindern. Und vielleicht auch sie und Merle … aber das war alles nur unnützes Wunschdenken, Rahjan war nicht hier. Aber wenn sie auch die anwesenden Rahjadiener nicht so gut kannte wie Rahjan und letzterer als Hochgeweihter vielleicht mehr Möglichkeiten hatte, traute sie ihnen dennoch zu, Gudekar auf dämonischen EInfluss hin überprüfen zu können, wenn sie es nicht sozusagen automatisch beim Besiegeln des Rahjabundes mit Meta getan hatten.

"Um ehrlich zu sein, bin ich da vorhin reingeplatzt, als sie den Rahjabund geschlossen haben." Merles abwinkende Handbewegung machte deutlich, dass sie auf die näheren Umstände nicht genauer eingehen mochte. "Die Zeremonie hat Gudekars Vetter Rahjel geleitet. Keine Ahnung, ob er dabei Gudekar Seele… geprüft hat. Jedenfalls ist es nur ein improvisierter Schrein im Brauhaus, kein Tempel auf geweihtem Boden. Dennoch", sie seufzte und schloss kurz die Augen, "glaube ich eigentlich nicht, dass er einen richtigen… Dämonenpakt eingegangen ist. Ich will das nicht glauben. Vorstellen kann ich mir aber schon, dass irgendein dunkler, verderblicher Einfluss ihn in Metas Arme trieb." Sie verdrehte sarkastisch die Augen. "Einen besonders herzlichen Eindruck macht Meta jedenfalls nicht. Auf mich wirkt sie ganz schön besitzergreifend und fordernd, als hätte sie Gudekar ordentlich unter der Fuchtel." Merle lachte hart und bitter. "Aber vielleicht gefällt ihm das ja. Vielleicht war ich immer viel zu lieb zu ihm."

"Und genau so mag ich dich", stieß Doratrava daraufhin aus und fasste Merle wieder bei den Händen. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, was Merle gefühlt haben musste, als sie die beiden womöglich rahjagefällig vereint vorgefunden hatte. "Egal, was Gudekar will, du sollst dich nicht verbiegen, um ihm zu gefallen, denn ich hätte Angst, dass du dann zerbrichst. Das soll nicht sein, dafür bist du zu wertvoll."

Merle schüttelte mehr zu sich selbst den Kopf. War es 'verbiegen', auf den anderen zu achten? Hatte sie sich zu sehr von den Aufgaben des Alltags einnehmen lassen und war zu wenig für ihren Mann da gewesen? "Wenn ich gewusst hätte, dass Gudekar unglücklich ist mit unserer Ehe… wenn er was gesagt hätte", murmelte Merle. "Wir hätten darüber reden können, überlegen, was wir ändern… vielleicht woanders hingehen, irgendwo zusammen einen Neuanfang wagen… Und ich hätte versucht, mehr auf ihn und seine Wünsche und Bedürfnisse zu achten! Es tut mir so leid, dass ich offenbar blind dafür war, wie schlecht es ihm in Wirklichkeit ging. Das wollte ich nicht. Ich wollte immer, dass er glücklich ist in unserem Bund. Hätte er doch nur was gesagt!" Mit leerem Blick starrte sie in die Ferne.

Doratrava beugte sich vor und küsste Merle erneut auf die Stirn, ihre weichen Lippen verweilten dort länger, als es für einen einfachen Kuss notwendig gewesen wäre.

Bei Doratravas sanftem Kuss auf ihre Stirn schloss Merle die Augen. Sie fühlte ein warmes Kribbeln, das ihren Körper bis zu den Fingerspitzen durchströmte und für einen kurzen Moment den stechenden Schmerz in ihrem Herzen betäubte, ähnlich wie der warme Wein es getan hatte. Dankbar drückte sie Doratravas Hände, und versucht in dem Gefühl von Nähe und Zärtlichkeit eine Oase der Ruhe in ihrer ganzen Verwirrung und Panik zu finden. Sie seufzte leise und schmerzvoll.

"Und was Gudekars Seelenzustand angeht: Ich kenne Rahjel ein wenig, wenn du ihn nicht selbst fragen möchtest, kann ich es für dich tun. Allerdings halte ich es trotz der Plötzlichkeit von Gudekars ... Hörigkeit?" - Doratrava dachte an Merles Aussage, wie besitzergreifend und bestimmend Meta ihr vorgekommen war - "nicht für sehr wahrscheinlich, dass er unter einem Dämonenbann steht, auch wenn das für dich vielleicht die einfachste Lösung wäre." Die Gauklerin sah Merle gleichzeitig traurig und mitfühlend, aber auch mit einem Hauch von unterschwelligem Entsetzen an. Die Vorstellung, Merles Seelenheil und inneren Frieden nur erhalten oder wiederherstellen zu können, wenn sich herausstellte, dass Gudekar unter dem Einfluss eines Erzdämonen stand und nicht aus mehr oder weniger freiem Willen die Liebe zu ihr weggeworfen hatte, verknotete ihr die Gedärme.

Nein, eigentlich glaube sie ebenfalls nicht an einen Dämonenbann, auch wenn sie sich das Verhalten ihres Mannes einfach nicht erklären könnte. Selbst wenn es alles aus Liebe zu Meta tat - woher kam die Kälte und Hartherzigkeit ihr gegenüber? "Ich habe zugestimmt, heute Abend noch mal mit ihm zu reden", berichtete sie gedankenverloren. "Bis dahin sag' ich Kalman und Vater Friedewald nichts. Ich gebe Gudekar diese letzte Chance, zu beweisen, dass ihm noch etwas an unserer Ehe liegt. Aber ich hab keine große Hoffnung. Er hat darauf bestanden, dass Meta dabei ist. Und ich habe nicht den Eindruck, dass man mit ihr vernünftig reden kann. Wie auch immer… wenn es so ist, dass er kein Interesse an unserem Traviabund und seiner Familie hat, dann spreche ich morgen mit meinen Eltern und bitte sie, die notwendigen Schritte für einen Kirchenbann einzuleiten." Schmerzerfüllt verzog sie das Gesicht und dann brach, auch angesichts von Doratravas Tränen, doch wieder ein Schluchzer aus ihr heraus. Zitternd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. "Dann liegt unsere Ehe wieder in Travias Hand. Es wird eine Erleichterung für mich sein."

Tsalinde liefen Tränen über die Wangen. Sie drehte sich zum Feuer, damit die beiden Frauen nicht sahen, dass sie weinte. Verzweifelt räusperte sie sich, damit ihre Stimme sie nicht verriet. “Könnte Gudekar, wenn er unter dem Einfluß Lolgramoths stände, überhaupt mit einem von uns reden, ohne sich zu streiten? Gestern Abend hat er mit mir gesprochen und wir konnten so etwas wie einen Waffenstillstand schließen. Stünde er unter dem Einfluss des Erzdämonen, wäre ihm das wohl kaum möglich. Einzig, wenn er einen Pakt mit dem Dämon eingegangen ist und wenn dem so ist, Merle, dann ist er verloren. Dann kannst du ihn nur fallen lassen. Alles andere würde dich und deine Kinder mit in den Abgrund ziehen.” Die junge Frau straffte ihre Schultern und drehte sich mit verheulten, aber vor Wut funkelnden Augen zu den beiden anderen um. “Wer mit einem Dämon paktiert, denkt nur an sich. Glaubt es mir.”

Überrascht sah Doratrava Tsalinde an. Offenbar ging auch ihr dieses Thema sehr nahe, aber das war vermutlich kein Wunder, wenn sie sich Gudekar unter magischem Einfluss hingegeben hatte. Nur zu gern hätte sie gewusst, wie das passiert war, aber sie fühlte sich Tsalinde nicht nahe genug, als dass sie sich getraut hätte, direkt danach zu fragen.

Ebenso überraschte es Doratrava, dass Tsalinde von Merles Kindern in der Mehrzahl sprach. Und obwohl sie Merle noch keine zwei volle Tage kannte, fühlte sie sich dieser schon so sehr verbunden, dass sie deutlich weniger Scheu hatte, intime Themen anzusprechen. "Kinder?", entfuhr es ihr daher verblüfft. "Ich dachte, es gäbe nur Lulu?"

Das brachte Tsalinde aus dem Konzept. Verwundert schaute sie Doratrava an. “Habe ich Kinder gesagt? Verzeiht bitte, ich habe mich überwältigen lassen. Es geht hier nur um Lulu.”

Doratrava blinzelte verwirrt und runzelte kurz die Stirn, wobei sie Tsalinde einen schiefen Blick zuwarf. “Ach so, ja”, erwiderte sie dann ein wenig holprig, bevor sie auf den Rest von Tsalindes Aussage einging. “Ich habe keine Ahnung, was jemand, der unter dem Einfluss Lolgramoths steht, kann oder nicht kann. Immerhin scheint der Pruch ja noch in der Lage zu sein, Schergen  anzuheuern, die seine Drecksarbeit erledigen”, führte die Gauklerin mit einem gewissen Sarkasmus aus. “Also kann er nicht gleich mit jedem in Streit geraten. Aber ja, wenn Gudekar wirklich einen richtigen Pakt eingegangen wäre, dann wäre es vermutlich zu spät für ihn, gerettet zu werden. Dennoch glaube ich nicht daran, dazu kommt er mir trotz allem zu … normal vor.” Sie blickte entschuldigend von Tsalinde zu Merle, welche sie immer noch bei den Händen hielt. “NIcht, dass es das für euch besser macht.”

“Ich bin mir sehr sicher, dass Pruch nicht nur unter dem Einfluss steht. Er hat einen Pakt geschlossen und das gibt ihm Macht, die er vorher nicht besessen hat. Glaubt mir, das, was er getan hat, hat nicht nur damit zu tun, dass der Erzdämon Unfrieden und Streitigkeiten sät. Der Pruch hat unaussprechliche Dinge getan, damit möchte ich euch nicht belasten. Davon ist Gudekar, so hoffe ich, weit entfernt.” Sie rückte näher an die beiden heran und fing Merles Blick ein. Sie sah ihr tief in die Augen und sagte: “Bitte, glaub mir, Lulu wird es merken, dass zwischen euch etwas nicht in Ordnung ist. Ich habe es gemerkt. Ich habe mir die Schuld gegeben, habe immer versucht, eine gute, brave Tochter zu sein. Meine Mutter baute immer weiter ab. Es tat ihr so unendlich weh, wie Vater sie behandelt hat und ich wollte ihr helfen, wollte vermitteln, doch ich konnte es nicht.” Sie schluchzte. “Als ich zur Schule nach Elenvina ging, verlor meine Mutter ihren letzten Halt und sündigte gegen die Lebensspenderin. Sie nahm sich das Leben. Ich habe mir so schreckliche Vorwürfe gemacht. Dachte, ich hätte bei ihr sein müssen, zu ihr stehen müssen. Doch ich war ein Kind. Merle, ich war noch ein Kind und habe eine Last getragen, die ich nicht ertragen konnte.” Mit diesen Worten verlor Tsalinde endgültig die Fassung und weinte bitterlich.

Doratrava war mit Tsalinde einer Meinung, dass der Pruch ein Paktierer war, im Gegensatz zu Gudekar, dessen "Spiel", wenn man es so nennen mochte, allerdings im Dunstkreis eben jenes Paktierers womöglich noch schlimm ausgehen konnte, da es dem Pruch einen willkommenen Angriffspunkt bot, sollte er davon erfahren. Wenn er es nicht schon längst wusste. Doch bevor sie etwas dazu sagen konnte, brach plötzlich diese Eröffnung aus Tsalinde heraus, und sie musste schlucken. Sie verstand aus den wenigen, verzweifelt vorgetragenen Sätzen nicht genau, was mit Tsalindes Eltern gewesen war, außer dass sich ihre Mutter das Leben genommen und vorher Tsalindes Vater sie offenbar schlecht behandelt hatte, was das aber mit dämonischen Umtrieben zu tun hatte, konnte sie sich nicht zusammenreimen. Aber die Not in Tsalindes Stimme und ihr Schluchzen gingen ihr nahe, wie vorher auch Merles Not und Verzweiflung, war sie doch selbst ebenso emotional und hatte nahe am Wasser gebaut. Schüchtern löste sie eine Hand von Merle und streckte sie Tsalinde zögernd entgegen, traute sich aber nicht, die Edle von sich aus zu berühren.

Dankbar nahm Tsalinde die dargebotene Hand an und lächelte Doratrava krampfhaft zu. “Bitte verzeiht mir meinen Ausbruch. Das alles bringt Erinnerungen hoch, von denen ich dachte, sie bewältigt zu haben.” Sie schniefte. “Wenn wir die Männer gleich nicht erschrecken wollen, sollten wir uns frisch machen.” Damit deutete sie auf einen Krug mit Wasser und einer Waschschüssel, die in einer Ecke des Zimmers standen.

Merle legte sanft die Hand auf Tsalindes Schulter. "Es tut mir sehr leid, dass du das durchmachen musstest, Tsalinde", flüsterte sie liebevoll. "Ich werde alles dafür tun, dass Lulu nicht unter diesem ganzen Mist leidet." Sie nickte bestätigend zu sich selbst. Ja, der Impuls war auch da… aufgeben, die Augen schließen, einfach nicht mehr weitermachen… Sie könnte sich in die Fluten des Lützelbachs fallen lassen und einfach davontreiben, mit wehendem Haar, zwischen Algenschlieren und Teichrosen… Aber da war Lulu. Und sie würde ihrer wundervollen, süßen Tochter nicht antun, was Tsalinde offenbar erlitten hatte. "Es war nicht deine Schuld. Ich hoffe, dass du das inzwischen weißt und glauben kannst!"

Doratrava streichelte einmal mit dem Daumen kurz beruhigend über Tsalindes Handrücken, dann nickte sie, ließ beide los und stand auf, um dem Vorschlag der Edlen Folge zu leisten. Sie hatte auch keine Lust, den Neuankömmlingen erklären zu müssen, wieso sie alle heulten. Doch kaum hatte sie die Waschschüssel mit Wasser gefüllt, ertönte von draußen das Jagdhorn, und obwohl sie sich nicht sonderlich gut mit Hornsignalen auskannte, konnte sie doch heraushören, dass etwas passiert sein musste. Alarmiert schaute sie Tsalinde und Merle an.

Für einen Moment blickte Merle die anderen beiden hoffnungsvoll an, dann machte sich Verwirrung auf ihrer Miene breit. "Die Jagd? Sind sie zurück?" murmelte sie mit einem sehr unguten Gefühl.

~ * ~

Wer hat denn den Baum hier abgelegt?

(15:30)

Lys von Kargenstein war sofort aufgebrochen, den Edlen von Lützeltal zu suchen. Er sattelte schnell seinen Trallopper und ritt in schnellem, aber nicht unvorsichtigen Tempo in Richtung Jagdhütte auf der östlichen Seite der Lützelbachs. Dort wurde die Jagdgesellschaft zuerst erwartet.

Auf halbem Weg zwischen der kleinen Brücke und der Jagdhütte scheute das Pferd plötzlich und Lys brachte es gerade noch zum stehen, denn hinter einer Wegbiegung, kurz nachdem der Wald begonnen hatte, lag ein großer Baum quer über dem Weg und blockierte das weiterreiten.

Lys ritt den Stamm entlang zu den Wurzeln des Baumes und suchte nach einem Weg ihn zu umreiten..

… was sich als unmögliches Unterfangen erwies, denn es muss ein sehr alter, großer Baum gewesen sein, und die Baumkrone und der Wurzelballen waren irgendwo im dichten Unterholz des Waldes zu liegen gekommen. So lag der dicke Stamm, nein es sah aus, als schwebte er, fast in Hüfthöhe wie eine Schranke über dem Weg. Ein Mann konnte leicht unten hindurch oder mit Anstrengungen oben hinüber klettern, einem Pferd blieb dies verwehrt. Hier wären eine Axt oder eine Säge und viel Anstrengung notwendig, um den Pfad wieder gangbar zu machen.

Kurzerhand entschied Lys sein Glück im Gutshof bei Kalman von Weissenquell zu versuchen. Er wendete sein Pferd und ritt zurück ins Dorf.

Lys spornte sein Pferd an, er wusste, dass es eilig war. Er hatte schon zu viel Zeit verloren. Hoffentlich traf er wenigstens auf dem Gut einen der Weissenquells an, Friedewald oder Kalman. Wenigstens einen der beiden. Als Lys dem Tor des Gutshauses näher kam, sah er schon von weitem eine Ansammlung von Leuten im Hof. Die Gruppe wirkte recht aufgeregt.