LH3-Für Firun

3. Akt: Für Firun – Die Jagd

(13. Travia 1045 BF, morgens)

Prolog

"... Und erbitten das Jagdrecht auf das Tier." nachdenklich legte die gräflich albenhuser Vögtin das Schreiben auf den Tisch und blickte etwas ratlos zum Kanzleidiener auf, der ihr das Schreiben vorgelegt hatte. "Und ihr seit euch sicher dass wir dafür keine feste Vorgabe haben?"

"Frau Vögtin, Wohlgeboren, es ist kein Hirsch oder Rehbock. Hierfür regeln die Bücher genaueres. Der Schilderung nach handelt es sich um ein Reh. Das Jagdrecht regelt hier barönliche Zuständigkeit. Es gab hierzu ein Edikt aus dem Jahr..."

"Schon gut," mit einer Handbewegung stoppte Witta von Dürenwald der Redefluss des Kanzlisten, "den Inhalt habe ich wohl aufgenommen. Es geht nicht um den Genus. Habt ihr euch bereits dem weiß angenommen? Sollte es sich als Falb herausstellen, würde dies eine Abweichung ergeben?"

Relativ verstört blickte der Kanzleidiener auf das Schreiben, auf den die Vögtin mit raschen Strichen während ihrer Worte mehrere Tiere skizziert hatte. Ein Rehbock, zwei Rehe und ein Kitz standen nun am unteren Rande des Lützentaler Schreibens zwischen mehreren Bäumen. Neben dem Kitz und dem schattierten Reh hatte Witta Baron vermerkt, am Rehbock stand Wir und dem unschattierten Reh hatte sie mehrere Fragezeichen zugefügt. Wie diese Frau, ohne sich wirklich auf Stift und Papier zu konzentrieren, neben einer Konversation derart feine Bilder in kürzester Zeit zustande bringen konnte, verwirrte den Mann immer wieder. "Falb? Von falben Tieren gibt es keine Berichte."

Kurz war Witta versucht den Mann darauf hinzuweisen, dass Falb die normale Farbe eines Rehes sei, aber verwarf es sofort wieder. "Es gibt diese alte Legende, dass man weiße Rehe nicht schießen darf", sagte sie stattdessen. "Tut ein Jäger es trotzdem, stirbt jemand aus seiner engsten Familie." Inzwischen zierte den Platz direkt um das unschattierten Reh auf dem Schreiben ein Bogen, kleine Pfeile und mehrere Boronsräder. "Wir werden hierzu keine Freigabe erteilen." Während der Stift Praios- und Firunsymbole über die Zeichnung setzte gab die gräfliche Vögtin dem Kanzlisten Anweisung. "Setzt eine Antwort auf gen Lützelthal. Der üblichen Dankesanrede der Eingabe wegen folgend mögen wir nicht erdenken des Tieres Zuständigkeit bei uns zu sehen. Der firungegebenen Gestaltung des Tieres folgend und ob des Genusses raten wir das Anliegen der Kirche an."

(Albenhus im EFFerd 1045 BF)

Die Jagd

Teilnehmer:

  1. Seine Gnaden Firumar von Albenholz, Firungeweihter
    • Rall, Firumars Tiergefährte
  2. Mika von Weissenquell, Firunnovizin
  3. Leodegar Häsler, Jagdmeister der Weissenquells
    • 3 Albenhuser Wolfsjäger Kuro(m), Rika(w), Aife(w)
  4. Wulfhelm Häsler, sein Sohn
  5. Friedewald von Weissenquell
  6. Yendan Zerf
    • mit Spürhund Celio
  7. Borix Sohn des Barax
  8. Darian von Sturmfels, Ritter zu Rodaschquell
  9. Lares von Mersingen, Junker zu Rosenhain
  10. Nivard von Tannenfels, Jagdkönig von Nilsitz, Krieger
  11. Ardare von Kaldenberg
    • mit Wehrheimer Bluthündin Tharga
  12. Doratrava

Zusammenkunft der Jäger am Morgen (13. Travia 1045 BF)

Die Dunkelheit hatte sich noch nicht aus dem Lützeltal verzogen, als sich die kleine Gruppe tapferer Jäger an der kleinen Jagdhütte am Rande des Haderholzes traf. Das Praiosmal war noch nicht aufgegangen, doch das Morgengrauen lieferte die ersten Lichtstrahlen. Oder, besser gesagt, würde sie liefern, wenn der Himmel nicht von dichten Wolken verdunkelt worden wäre. Die ganze Nacht über hatte es bereits geregnet, und es sah nicht so aus, als würde sich dies in den nächsten Stunden ändern. Im Gegenteil, aus dem anfänglichen Nieselregen hatte sich inzwischen ein hartnäckiger Herbstregen entwickelt. Der Boden rund um das ‘Jagdschloss’ war bereits aufgeweicht.

Einige Feuerschalen erhellten die kleine Lichtung vor der Jagdhütte und boten den Tapferen eine letzte Gelegenheit, sich die Finger und Arme zu wärmen. Praitrud und Luzia Häsler hatten heißen Kräutertee für die Jagdgesellschaft aufgebrüht und einen warmen Gemüseeintopf mit Stücken einer Wildschweinsalami zubereitet. Ihre Männer, der Jagdmeister Leodegar Häsler und dessen Sohn Wulfhelm sprachen just mit dem Firungeweihten Firumar von Albenholz, dessen Novizin Mika von Weissenquell und deren Vater Friedewald von Weissenquell, als sich die Jagdgesellschaft zusammenfand.

An Leodegars Hand endeten die drei Leinen, die um die Hälse von drei mittelgroßen, braunen Schnauzern lagen, zwei Hündinnen und ein Rüde von gleichem kompaktem Wuchs und ähnlicher Fellzeichnung - die Jagdhunde des Edlen. Und Leodegar war ihr Hundeführer, in der Waidsprache auch Rüdemann genannt. Neben ihnen saß Rall, der vierbeinige Gefährte des Geweihten, ein stolzes Tier mit fleischigem Muskeltonus, kräftigem breitem Kiefergebiss, weißgrauem kurzem Fell, vernarbten Ohren und Stummelschwanz, dem man ansah, dass er schon oft in Firuns todbringendes Antlitz geschaut hatte. Allen vieren färbte der Matsch bereits Bauch und Schenkel.

Auch Wulfhelm, Mika und der Geweihte sahen aus, als seien sie direkt aus einem Schlammloch gekrochen. Die schweren gewachsten Lodenumhänge perlten stellenweise gar nicht mehr ab, so nass schienen sie schon zu sein. Doch was die adligen Teilnehmer dieser Jagd nicht wussten, war, dass alle drei bereits seit den frühen Stunden dabei gewesen waren, die Rotte Wildschweine, auf die heute gegangen wurde, ausfindig zu machen. Sie hatten es selbstverständlich gefunden - und fürs erste in Ruhe gelassen. Es würde Aufgabe der Gruppe Jäger sein, die Tiere sanft, aber bestimmt während einer ‚Kleinen Hatz‘ in Richtung des gewünschten Abfangorts zu treiben, um dort eine genaue Anzahl an Tiere zu erlegen.

Als alle, die mit auf die Jagd wollten, sich versammelt hatten, trat der Geweihte vor und begrüßte das Jagdvolk. Seine Stimme hatte durchaus etwas, das Zuhörern in die Knochen fuhr und sein Blick glitt direkt in die Seelen derer, die er ansah. Firumar von Albenholz, der Geweihte des Weißen, dessen Name in dieser Region der Nordmarken nur huldvoll genannt wurde, war groß gewachsen und von ehrfurchtgebietender Gestalt. Sein weißes Haar und Bart glänzten feucht vom Regen, das grau-weiße Wolfsfell, mit dem er sich die Schultern bedeckte, tropfte. Er besaß zwar Ähnlichkeit mit anderen Mitgliedern des Hauses Albenholz, doch fehlte ihm das Hübsche, welches sonst alle besaßen. Firumar musste auch nicht hübsch sein - Schönheit war schließlich kein Charakterzug des Grimmigen - und offenbar wollte er es auch nicht sein. Er brauchte es auch nicht sein. Sein Wesen vermochte andere aus anderen Gründen in den Bann zu ziehen.

„Wer bereits einmal auf der Jagd war, den Trieb gespürt hat, das Rauschen des Blutes in den Ohren hatte, den Übergang von Leben zu Tod verursacht hat, wer jenen bittersüßen Geschmack der Überlegenheit kostete, für den hoffe ich, dass es keine Lust ist, die ihn treibt das Wild zu erlegen, sondern dass er Trauer empfinden mag für das genommene Leben und Dankbarkeit zeigt für das, was ihm geschenkt. Respekt ist das, was uns von allen anderen Dingen gegenwärtig sein muss. Respekt vor der Natur, dem Leben und dem, was sie uns schenkt. Wer nur nimmt, ohne Not zu haben, und glaubt, das Recht des Stärkeren auf seiner Seite, der frevelt an Firun, denn er wildert in seinem Revier. Drum erinnere dich stets jener Weisheit: Jage, um zu jagen; doch töte, um zu leben.“

Friedewald nickte, denn nun war sein Stichwort gekommen. „Nichts anderes als dies haben wir heute vor, liebe Freunde,“ begann der Edle von Lützeltal. „Wir werden heute Jagd auf eine Rotte Wildsauen machen. Denn die Rotte ist zu stark geworden für unser Miteinander. Meine Bauern riefen mich um Hilfe, da die Tiere mehrfach die Rübenfelder verwüstet haben. Auch in die Gärten kamen sie schon. Sie sind fressstark und hinterlassen ein Schlachtfeld. Daher werden wir ihre Zahl heute vermindern. Mit unserer Anzahl an Jägern wird uns dies hoffentlich gut gelingen. Wir werden einige ältere Tiere aus dem Leben nehmen, damit jüngere ihren Platz im Wald finden können. Dazu führen wir die Rotte an einen Ort, an dem wir sie gut bejagen können.“ Der ältere Ritter wartete, ob der Geweihte etwas dazu sagen wollte. Er wollte nicht, nickte nur.

„Seine Gnaden, meine Tochter und meine Jagdhelfer haben eine Strecke im Wald markiert, über die wir die Rotte führen werden. Unser aller Aufgabe wird sein, die Tiere gemächlich zu treiben, damit keines in Panik verfällt und ausbricht, und dann am Zielort einige Tiere aus der Gruppe zu nehmen.“ Es schien, als vermied der Edle es, im Beisein des Geweihten von erlegen oder töten zu sprechen.

„Es wird eine herausfordernde Jagd werden, nicht nur, da der Himmel so aussieht, als höre er fürs Erste nicht mit dem Regnen auf,“ brummte der Edle, „Aber herausfordernd auch deswegen, da einige sehr erfahrene Sauen zu der Rotte gehören. Sie können ihre Gruppe beim Anflug von Gefahrenwitterung in Dickichte führen, in welchen wir nicht mehr an sie heran kommen werden. Um sie dort heraus zu holen haben wir die Hunde dabei - und ich sehe erfreut, dass mein Rüdemann gar auf Unterstützung zurückgreifen kann. Zwecks Einsatzmöglichkeiten eurer vierbeinigen Gefährten sprecht mit Leodegar.“ verwies Friedewald die Herrinnen und Herren der anderen Hunde.

„Gibt es bislang Fragen?“ Friedewald von Weissenquell sah in die Runde.

Bei den Worten des Firungeweihten hatte Darian sein Haupt gesenkt. Aus der Art Jagd, bei der eine Rotte parfümierter Adliger mit Dutzenden von Hunden einen Hirsch “jagte” oder dergleichen hatte er nichts im Sinn. Und dieser Geweihte hier erinnerte ihn stark an Jagdmeister Keldor daheim in Rodaschquell. Genauso ernst, vielleicht auch humorlos, aber ein großartiger Waidmann. Keldor hatte Darian so einiges beibringen können, und der Ritter war mittlerweile recht passabel im Umgang mit dem Bogen - wenngleich auch weit entfernt von der Meisterschaft eines Keldor oder gar der Schützen auf den großen Turnieren, deren Geschick im Umgang mit der Sehne Darian durchaus bewunderte.

Ein leicht missbilligender Blick fiel auf Friedewalds Armbrust.

“Weiß man in etwa, wie groß die Rotte ist?”, fragte er in die Runde.

Friedewald schaute sich fragend zu Leodegar um.

Dieser verstand die Aufforderung zu Antworten und trat einen Schritt hervor. “Nun”, sprach er mit sonorer Stimme, “zuletzt haben wir 5 ausgewachsene Bachen gezählt. Mit ihren Frischlingen zählte ich bei der letzten Sichtung nahezu 30 Tiere. Es waren nämlich auch noch einige Überläufer aus der letzten Saison in der Rotte, darunter drei junge Keiler. Wenn wir zwei der alten Bachen und zwei der Jungkeiler sowie einige der jüngeren Tiere erlegen könnten, wäre den Bauern und dem Wald sehr geholfen. Allerdings sollte die Leitbache geschont werden.”

„Da sie es ist, die der Rotte Stabilität gibt,“ führte der Geweihte die Erklärung fort. „Es gibt nichts Schlimmeres, als führungslose, wilde Schwarzkittel.“

Borix war auf Grund des Dauerregens in wasserabweisendes, grünes Loden gekleidet und hatte auch seine Armbrust noch in einem Futteral, um sie nicht den Unbillen des Wetters auszusetzen. Statt des üblichen Kettenhemdes hatte er unter dem Lodenmantel nur ein Lederwams angelegt. Neben seiner doppelt gespannten Gandrasch-Armbrust hatte er nur noch einen Drachenzahn am Gürtel stecken.

Er hatte sich zu der Jagd gemeldet, weil er aus seiner Erfahrung wusste, wie sehr die Schwarzkittel einem das Leben schwer machen konnten. Er kannte sich und seine Armbrust und daher war er sich sicher, dass er mit einem guten Schuss eine der Bachen erlegen konnte.

Die Viecher aufspüren und in Schußweite bringen, überließ er den Kurzlebigen.

Der Mersinger versuchte, derweil Überblick über die Lage zu behalten. Er hatte sich entschlossen, die Jagd zu begleiten, um im Falle des Falles vor Ort sein und schlagkräftige Unterstützung zu bieten. Für den Fall, dass der Bäckerpruch vorbeikommt. Sonst war er kein sonderlicher Freund des Jagens - und auch nicht wirklich talentiert, forderte die Waid doch Heimlichkeit und Verschlagenheit, beides Eigenschaften, die der praiosgläubige Junker zutiefst verabscheute. „Uns wird die Jagd wahrscheinlich in unübersichtliches Terrain führen“, mutmaßte er laut. „Euer Gnaden, seid Ihr gewappnet und vorbereitet, falls der Feind der Zwölfe diese Lage für sich auszunutzen gedenkt?“ Dank Ardares Fürsprache war Lares einigermaßen ruhig, doch erklärte sich für die Umstehenden nicht, warum der junge Mann aus dem Nichts so eine Frage stellte.

“Ach, werter Herr von Mersingen. Da würde ich mir keine Sorgen machen. Vor über einem Götterlauf hat unser Sohn schon mit seinen paranoiden Befürchtungen in Aufruhr versetzt. Wir haben uns dann fast in Schulden gestürzt, um den Schutz des Tales zu erhöhen und haben alles abgesucht. Wir haben bald jeden Einwohner des Dorfes überprüft und überwacht. Doch entgegen Gudekars Beteuerungen hat sich dieser Paktierer hier nicht blicken lassen, hat keinerlei Unwesen getrieben. Lützeltal ist vermutlich viel zu klein, zu unbedeutend, als dass dieser Mann Interesse an uns hätte. Ich mache mir keine Sorgen." Friedewald war sichtlich davon überzeugt, dass dieses Gerede über den Pruch nichts weiter als übertriebenes Gewäsch seines Sohnes war. Dennoch blickte er nach Bestätigung heischend zu Firumar.

Lares zog die Augenbrauen zusammen. Mit so einer nahezu unbedarften Antwort hatte er nicht gerechnet. Der alte Mann war doch nicht naiv?! Er würde seine folgenden Worte vorsichtig wählen müssen, um das Verhältnis zu dem Edlen nicht zu gefährden und zugleich den Ernst der Lage klarzulegen. „Euer Sohn hat fürwahr nicht übertrieben, Euer Wohlgeboren. Vielleicht mag der Erzfrevler Eure Lande in ruhigen Zeiten übersehen. Doch jetzt, wo die Vermählung Eurer Tochter stattfindet, wo viele verdiente Recken der Nordmarken zusammengekommen sind und ein Hochfest der Herrin Travia gefeiert wird - da mag sich der Blick dieses Zwölfmalverfluchten auch auf Lützeltal richten. Vorsicht ist besser als Nachsicht; besonders in diesen düsteren Zeiten“, raunte der kleine Mann zum Abschluss.

Nivard nickte beipflichtend. Hier war er ganz bei Lares. Er empfand die Haltung des Edlen als durch und durch leichtsinnig - aber der hatte ja auch nicht gesehen, was sie gesehen hatten. Und vermutlich ahnte er auch nicht, dass der zersetzende Einfluss Travias Widersachers schon längst in seinem Dorf angekommen war, in seiner Familie.

Etwas leiser antwortete Friedewald in Lares‘ Richtung: „Ich baue darauf, dass Ihr Euch irrt. Doch wenn nicht, weiß ich dank Eurer Wacht das Tal gut beschützt.“

Firumar hatte sich die Bedenken und die Entkräftungen angehört und nun, da sowohl Bedenken als auch Entkräftungen zu Ende gesprochen waren, neigten sich die Inhalte einer Beurteilung von ihm als Geweihten der Zwölfe zu. So hob er an zu sprechen. „Es ist sicherlich gut und richtig, der Tatsache ins Auge zu blicken, dass der, vor dem gewarnt wird, die größten Dienste für seinen dunklen Herrn dieser Tage tun würde. Doch gebe ich zu bedenken, dass dem Widersacher der Eidherrin nicht daran gelegen ist, eine dem Weißen gefällige Jagd zu stören. Sollte sich der Frevler jedoch in dunklem Werke zeigen, werden wir keine Gnade kennen. Über dies dürften wir uns alle einig sein.“ Der Geweihte fasste mit grimmigem Blick den Ritter von Mersingen und den Edlen von Lützeltal ein, aber auch alle anderen.

„Bei allen Zwölfen, so sei es. Noch einmal kommt mir der Bastard nicht davon“, schwor Lares ein weiteres Mal. Doch mit jeder Wiederholung wurde diese Phrase - diese Selbstvergewisserung? - schaler. War er überhaupt dazu in der Lage, dieses Monstrum zu besiegen? Würde es genügen, die Macht des Strahlenden nur im Herzen zu tragen und nicht auch auf einer geweihten Klinge? War dieses Unwesen schon so tief in die Kreise der Verdammnis vorgestoßen, dass er einem Dämon aus der siebten Sphäre näher stand als einem lebenden Menschen?

"So sei es!" bekräftigte Nivard Lares' Worte. So sehr er beipflichten musste, dass eine firungefällige Jagd gewiss nicht das Hauptziel der Handlungen des Feindes war, so sehr gemahnten ihn die Erfahrungen der Hochzeit seines Freundes Elvan mit der Baronin von Schweinsfold, aber auch alle anderen bisherigen Begegnungen daran, dass man mit Pruch immer rechnen musste. Was wussten sie über dessen gegenwärtige Pläne? Konnten sie wirklich sicher sein, dass es in ihrem Kreise nicht ein lohnenswertes Ziel oder Opfer gab, das in der Wildnis, fernab des Schutzes, den Gemeinschaft spendete, leichter zu erreichen war? Und wie konnte eine Hochzeit unbeschwert stattfinden, wenn auf der Jagd zuvor etwas Schreckliches geschehen war? Nein, er würde nicht so töricht sein, nicht mit dem Feind zu rechnen. Auch wenn eine Wildschweinrotte die weit wahrscheinlichere Begegnung war.

“Gut, dann sind wir uns Eurer Wachsamkeit gewiss und werden bereit sein, sollte dieser Störer des Friedens auftauchen, ihn gemeinsam zu schlagen. Bis dahin mache ich mir jedoch mehr Sorgen um die Wildschweinrotte”, bekräftigte Friedewald, als hätte er Nivards Gedanken gelesen.

Nachdem Nivard sie nach viel zu kurzem Schlaf so rüde geweckt hatte, stand Doratrava nun hier, in diesem Sauwetter (wie passend für eine Wildschweinjagd, dachte sie bei sich), und lauschte dem Geweihten und dem Schwadronieren über den Bäckerpruch. Obwohl es kalt war und unablässig regnete, war sie noch nicht richtig wach, so rauschten die Worte mehr an ihr vorbei, als dass sie deren Bedeutung wirklich in sich aufnahm, und so blieb sie auch stumm und stellte keine Fragen. Immerhin drang zu ihr durch, dass hier nicht zum Spaß gejagt wurde, sondern weil die Wildschweine die Lebensgrundlage einiger Bauern bedrohten, was sie in gewisser Weise erleichterte, war sie doch eigentlich nur wegen einer Neckerei mit Nivard hier. Aber wenn sie helfen konnte, hatte es das Schicksal vielleicht gerade so gefügt.

Da sie oft und lange unterwegs war, auch allein, war es kein Problem für sie, sich für die Witterung ordentlich zu kleiden: feste, hohe Lederstiefel, eine gewachste Lederhose, ein dickes Wollhemd, darüber ein breiter Ledergürtel, fast schon eine Corsage, und zu allem ein langer, dunkelbrauner Lodenmantel mit Kapuze, welche ihre weiße Mähne bändigte, die sie zusätzlich mit einem Band zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Gleichzeitig verbarg sie damit auch ihre nun frei liegenden Ohren, deren Spitzen man sonst deutlich hätte sehen können. Da nur Gesicht und Hände frei lagen, konnte man auch nur dort sehen, wie weiß ihre Haut war. Da es hier nicht zu einem Spaziergang ging, hatte sie sich voll bewaffnet, aber solange ihr Mantel geschlossen war, konnte man die Lang- und Wurfdolche, die ihren Gürtel zierten, nicht sehen.

Der weißblonde Hüne mit den dunkelbraunen Augen stand am Rande und prüfte seine Ausrüstung. Es schien, als ob er sich nicht beteiligen wollte, doch in Wahrheit hörte er genau zu. Er mochte nicht wissen, wer der Pruch war oder warum man fürchtete, dass die Hochzeit in Gefahr sei, doch jede Information, die er erhalten konnte, könnte später von Bedeutung sein.

Friedewalds Ifirn-Andacht

„Bevor ich noch einmal das Wort an Seine Gnaden abgebe, der uns einstimmen wird auf diese heutige Jagd, lasst mich einige eigene Worte an Ifirn, die Tochter des Grimmigen richten, mit der ich mich persönlich sehr verbunden fühle.“ Dann nahm er seine Jagdwaffe und senkte seinen Blick auf diese nieder. “Ich rufe nun an dich, Ifirn, die Gnädige. Weise Jägerin, die du dich erbarmst der Not der Leidenden. Führe uns Messer, Pfeil und Speer, auf dass ein Leben erhält ein anderes und dass unser Tun Ruhe bringt in Zeiten der Unruhe.“

Bei der Anrufung Ifirns nahm Darian seinen Bogen von der Schulter, bohrte ein Ende leicht in den Boden und hielt das andere mit beiden Händen fest, so dass es aussah, als stütze er sich auf die Waffe.

Der Angroscho hatte ebenfalls sein Haupt gesenkt, sein Gebet ging aber an den Weltenschöpfer, den er um eine erfolgreiche Jagd bat.

Obschon Lares ein götterfürchtiger Mensch war und keinen der Zwölfe (Tsa manchmal ausgenommen) geringachtete, galt seine Aufmerksamkeit der Umgebung. Mitten in diesem strömenden Regen wären sie ein perfektes Ziel für den Erzketzer. Nur mit Mühe konnte er sich auf die nahezu zärtlichen Worte des Schwiegervaters seines Kontormeisters in spe konzentrieren.

Nivard sah Lares an, dass es nicht das Gebet an Ifirn war, das in erster Linie dessen Aufmerksamkeit band. Er konnte es diesem gut nachempfinden. Andererseits - wohin führte es, wenn sie sich vor lauter Vorsicht nicht mehr wagten, ihre Herzen im Gebet den Göttern zu öffnen? Würden Sie Pruch und seinem niederhöllischen Herrn damit nicht einen weiteren, mühelosen Sieg schenken. Der junge Krieger riss sich von den Betrachtungen des ungleichen Kampfgefährten los, schulterte wie Darian zuvor seinen Bogen ab und bot ihn, auf beide vor sich gestreckte Unterarme gelegt, der milden Mutter zum Segen dar.

Doratrava war immer noch wie benebelt, zu dieser morgendlichen Stunde war einfach nichts mit ihr anzufangen, normalerweise. Wenn sie schon wach sein musste, dann doch viel lieber mit Merle in einem warmen Bett … aber dann schüttelte Doratrava unwillig den Kopf, um diese zwar sehr verlockenden, aber ungebetenen und wohl kaum wieder in eine Realität umsetzbaren Gedanken zu vertreiben. Immerhin war das hier eine Andacht, und auch, wenn sie solchen Ritualen nicht so viel abgewinnen konnte wie insbesondere die Geweihten, waren diese doch den Menschen wichtig, und auch sie respektierte sie zumindest.

Kurz entschlossen schlug die Gauklerin ihre Kapuze zurück und bot ihren Kopf dem prasselnden, kalten Regen dar, damit dieser den Nebel um ihre Gedanken endlich vertreiben möge.

Yendan stellte die Saufeder vor sich hin, mit der Spitze gen Alveran und begab sich auf ein Knie, um mit gesenktem Kopf dem Gebet zu folgen und sein eigenes Stummes hinzuzufügen. Celio saß brav neben ihm.

Firumars Firun-Andacht

Nach diesen ersten Eindrücken stimmte der Firungeweihte mit lauter Stimme an:

„Bei der Jagd führt jeder vorausgegangene Schritt zum nächsten und dieser wiederum zum übernächsten, und so weiter und so fort. Jede getroffene Entscheidung kann Erfolg oder Misserfolg nach sich ziehen. Natürlich, das Ende dieser Jagd ist dann gekommen, wenn die Beute erlegt ist und der Jäger siegreich war. Manches Mal ist er das nicht. Ist dann die Jagd verloren? Gewiss nicht. Denn Jagen ist, sich der Beute ebenbürtig zu machen. Jagd ist ein Kräftemessen auf Augenhöhe.“

Düster und eindringlich war der Blick, mit dem er dabei in die Welt blickte. Als schaue er damit direkt in die Seelen derer, die vor ihm standen.

Und gerade Doratrava mochte eine persönliche Ansprache aus den folgenden Worten des Geweihten vernehmen, als habe er ihr unfassbares Glück, lebend aus dem Kampf mit einem Riesenschröter gekommen zu sein, erkannt allein durch den Blick in ihre violetten Augen.

„Das ‚Glück‘ eines Jägers kann also auch nur darin liegen, dass man flink genug war, den Klauen, Mäulern, Schwänzen, Schnäbeln auszuweichen.” Tatsächlich verharrte sein Blick auf der verschnürten müden Halbelfe einen Herzschlag länger, bevor er auch die anderen streifte. “Oder dass die Schramme, die das Geäst des Hirschen auf den Leib des Jägers malte, nur so tief war, dass Blut herausquoll, doch kein Gedärm. Oder darin, dass ein Bär sich besänftigen lässt, wenn er den Jäger, der ihn stellte, ohnmächtig zu Boden schlug. Oder darin, dass der sterbende Keiler mit seinem Leib die klaffende Beinwunde verschließt, welche sein Hauer zuvor aufgerissen hat. Manchmal gewinnt der Tod das Leben des Jägers. Auch das ist Firuns Lehre. Das Opfer des Weißen erscheint uns oft grausam, doch ist es das wirklich? Ist das Leben grausam? Oder ist es unsere Ansicht? Ein jeder Jägersmann, eine jede Jägersfrau, welche sich den Geboten des Grimmigen firungefällig stellen möchte, weiß um das empfindsame Band, welches Jäger und Beute verbindet, so dass ein jeder Jäger und Beute zugleich ist, und ein jedes der beiden Leben gleichsam todgeweiht. Hier braucht es mehr als Demut, um diese Regel anzuerkennen.“

Als der Geweihte die Jagdverletzungen thematisierte, bei denen der Jagende wohl nur mit viel Glück lebend davon gekommen war, drang etwas Eisiges aus seiner Stimme unter die Mäntel und Kapuzen, als spräche der gealterte Geweihte hier vielfach von wahren Erlebnissen.

Doch damit ließ er es gut sein und gab stattdessen seiner Novizin, die den Henkel eines Eimers in der Hand hielt, ein Zeichen. Diese trat an den Geweihten heran und er tunkte erst seine Finger in den Eimer, bevor er sie über seine Stirn zog und den braunen matschigen Striemen dort wie folgt erklärte:

„Während meine Novizin durch eure Reihen geht und euch Walderde bringt, gehet in euch und fragt euch, ob ihr diese Demut besitzt. Ob ihr die Lehre Firuns leben und ertragen könnt. Gehet in euch und fragt euch, ob ihr fähig seid, respekt- und huldvoll der schwierigsten aller Prüfungen des Lebens entgegen zu treten. Und lasst es mich so sagen: es ist weder eine Schande, noch müsst ihr euch unehrenhaft fühlen, wenn ihr in euch kein klares Ja, sondern ein Nein findet. Ein ‘Vielleicht’ oder ‘Möglicherweise’ zählt ebenfalls als Nein. Doch selbst dann könnt ihr für diese Jagdgemeinschaft wertvoll sein, denn Firun respektiert die richtige Selbsteinschätzung, nicht jedoch den Fehlentscheid am eigenen Sein!“

Erneut fasste der an Jahren und Erlebnissen reiche Geweihte die Mitglieder der Jagdgesellschaft - oder vielmehr diejenigen, die dies sein wollten - mit strengem Auge ein. Nicht wenige bekamen den Eindruck, als wisse der Firundiener ganz genau, wer die Stärksten und wer die Schwächsten dieser Gruppe waren.

Alsdann kam Mika auf jeden der Jäger mit dem Eimer nasse Erde zu, den sie jedem Einzelnen bot, damit er/sie sich ebenfalls damit einen erdig-braunen Streifen auf die Stirn zeichnen konnte, als Zeichen für ein ‚Ja‘ zu Firuns Geboten.

***

Die Baroness von Kaldenberg hatte keinesfalls vor, ihr Antlitz mit einem erdigen Streifen zu verunstalten. Sie machte sich nicht viel aus den Zwölfgöttern. Natürlich anerkannte sie deren Macht - sie war zynisch, nicht dumm - doch glaubte sie, dass ihr Desinteresse an den Zwölfen auf Gegenseitigkeit beruhte.

Dennoch wollte Ardare keine Szene machen, also nahm sie mit Daumen und Zeigefinger etwas nasse Erde aus den Händen der Novizin. Sie senkte den Kopf und täuschte eine kurze, stille Andacht vor, bei der sie die erdfeuchten Finger kurz zu den Lippen führte, ohne diese zu berühren. Dann zerrieb sie die Erde zwischen den Fingern, um sich den Rest verstohlen an dem halblangen Kapuzenmantel abzuwischen.

Die Finger hinterließen kaum sichtbare Flecken, denn der Mantel war, wie auch die enganliegenden Hosenbeine, die zwischen Mantelsaum und Stiefel zu sehen waren, in gedeckten Erdtönen gehalten. Über ihrer linken Schulter ragte der Griff eines Jagdrapiers hervor, von funktionaler Schlichtheit und erlesener, fremdartiger Kunstfertigkeit zugleich.

Auch die Frisur der Baroness war gleichzeitig praktisch und apart: mehrere Zöpfe hielten das Haar von Stirn, Schläfen und Nacken fern und vereinigten sich am Hinterkopf zu einem schlichten, geflochtenen Dutt.

Ihr gesamtes Auftreten mit der edlen Schlichtheit der hochwertigen, körperbetonenden Kleidung in Brauntönen und der markanten Haartracht verlieh Arda ein wenig das Aussehen einer Waldelfenprinzessin aus Fabeln.

Mika blickte sie streng an. In ihrem Blick lag die Ermahnung, die Macht der Götter mehr zu achten und insbesondere dem Herrn Firun mehr Ehrerbietung zu zollen, wollte sie den heutigen Tag unversehrt überstehen. Ardare verstand Mikas Botschaft, ohne dass diese ein Wort darüber verlieren musste.

Gleichwohl machte der begegnende Blick der Baroness keinen Hehl daraus, dass die Botschaft der Novizin soeben gegen die überaus harte Schädelwand eines Sturkopfs geprallt war.  

Neben ihr stand Tharga, die große, schwarzbraun gescheckte Bluthündin, nicht weniger elegant als ihre Herrin, mit zugleich kräftigen und schlanken Linien. Ihre leichte Grundnervosität wurde verstärkt durch die Präsenz der anderen Hunde, zu welchen Tharga missmutig herüberschaute.

Mika legte der Hündin sacht die Hand auf die Stirn, was sich diese zu Ardares Verwunderung widerstandslos gefallen ließ. Tharga blickte zu Mika und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Mika vermittelte Tharga das Gefühl, dass die anderen Hunde heute Teil ihres Rudels sein würde, ohne ein Wort zu sagen.

Arda schloss die Augen und versuchte die Eindrücke zu verarbeiten, die sich von der Hündin zu ihr übertrugen. Das Gefühl des Rudels, der… Zugehörigkeit, vorbehaltloser Akzeptanz. Sie schluckte, widerwillig von einer Welle der Melancholie erfasst.

***

Als Mika vor dem Angroscho stand, lächelte er ihr freundlich entgegen und griff dann zu der Erde und versuchte auf seiner regennassen Stirn einen Strich zu ziehen, aber der braune Erdstrich rann ihm relativ schnell  über die Stirn hinab.

Mika strahlte den Freund ihres Vaters freundlich an. „Es freut mich, euch wiederzusehen, Meister Borix! Es ist mir eine Ehre, dass Ihr uns nun in meiner Heimat besuchen gekommen seid.“

“Die Freude ist ganz auf meiner Seite”, erwiderte der Angroscho freundlich lächelnd und blickte zu der jungen Frau hoch. “Ich sehe, dass sich Euer Wunsch dem Gott der Jagd zu dienen erfüllt hat.”

Die Novizin strahlte glücklich, sagte aber kein Wort dazu.

***

Darian ließ sich Zeit. Betrachtete die Erde. Ein Zeichen der Demut. Besaß er Demut? Nicht in dem Maße, wie es wohl angeraten wäre, dachte er mit einem Anflug von Bitterkeit.

Wie so viele aufstrebende Ritter wusste er um seine Ausbildung, um seinen stolzen Namen. Er liebte es, einer Herrin mit seinem Schwertarm zu dienen. Eine Dame, die weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt war. Liebte es, auf den Turnieren sein Können zu zeigen und den Ruhm so wie auch das Interesse der Hofdamen zu genießen. All das war umgeben von einem Hauch des Hochmuts. Er senkte betreten sein Haupt.

Aber wenn er den Geweihten richtig verstanden hatte, ging es hier um etwas anderes. Die Demut vor dem Herrn Firun und seinen Geboten der Jagd.

Und Darian wusste, dass er die Jagd, wie viele Adlige sie pflegten, insgeheim schon immer verabscheut hatte. Jagdmeister Keldor hatte ihn einiges gelehrt. Wie man Feuer entfachen kann und im Wald eine Bleibe findet. Ansätze des Spurenlesens, den Lauf der Wolken und was sie über das Wetter verraten. Die Tiere des Waldes.

Er richtete sich wieder auf. Und nahm beherzt etwas von der Erde, um sie sich auf die Stirn zu schmieren.

Mika blickte den Ritter an und in ihrem Blick lag eine Warnung. Ohne ein einziges Wort zu sagen vermittelte sie die Ermahnung, achtsam zu sein und die Gefahren, die die Natur offenbarten, nicht zu leicht zu nehmen und sich firungefällig zu verhalten.

***

Lares von Mersingen tauchte seine Schwurfinger tief in die braune Muttererde. Der Grimm des Weißen würde der Waidschaft nicht nur bei der Jagd helfen - sondern womöglich ihren niederhöllischen Jäger fernhalten. Er selbst würde sich aus dem Jagdgeschehen so gut wie möglich heraushalten - um den anderen nicht die Jagd zu verleiden. Auch das war eine Lehre des Herrn Firun: Jedermann sollte seine eigenen Grenzen kennen und diese nur dann ausreizen, wenn es eine Chance des Erfolges gab. Der Grimmige schätzte den Todesmut, aber nicht den blinden Übermut. Der Matsch hinterließ einen dichten Streifen mitten auf seiner Stirn. Ein Seitenblick auf Ardare überraschte den jungen Ritter nicht: Als ob die schöne Frau ihr Gesicht mit Dreck verschandeln würde. Hoffentlich kannte sie ihre Grenzen.

Mika lächelte den Ritter freundlich an. Es war ein beruhigendes Lächeln, das zwar kalt wirkte, aber dennoch eine Geborgenheit versprach. Sie signalisierte Verständnis, ohne ein Wort zu sagen.

'Fast wie bei den Tuluukai...' dachte Nivard sich. Doch trugen diese sich die irdenen Farben nicht nur aus Demut alleine auf, um die Geister des Waldes gnädig zu stimmen, sondern auch, um deren Kräfte auf sich herabzurufen. Als der Eimer schließlich bei ihm angelangte, zögerte er daher keinen Moment, und malte nicht nur einen Streifen auf die Stirn, sondern, wie er es bei den Goblins gesehen hatte, einen längs über den Nasenrücken, zwei Punkte unter die Augen, und je einen Bogen außen über die Ohrmuschel. Als Jäger galt es, eins mit den Wäldern zu werden, sich mit Geist, Seele und allen Sinnen auf diese einzulassen und deren Gesetze zu akzeptieren, das wusste er nur zu gut. Er war bereit dazu.

Mika war sehr verwundert über das Gebaren des Kriegers, doch sie sagte nichts dazu.

***

Warum nur hatte Doratrava den Eindruck gehabt, die Ansprache des Firungeweihten hätte hauptsächlich ihr gegolten? Irgendwie fühlte sie sich zurückversetzt in ihre frühe Kindheit, als ihr Ziehvater ihr des öfteren Standpauken gehalten hatte, wenn sie in seinen Augen mal wieder Travias Gebote verletzt hatte. Was der Regen noch nicht ganz geschafft hatte, hatte damit zumindest der Geweihte erreicht: in ihr erwachten Trotz und Entschlossenheit und vertrieben den Nebel der Müdigkeit, der noch um ihren Verstand lag. Der Geweihte kannte sie nicht, hatte keine Ahnung, was sie schon erlebt, wem sie sich schon gestellt hatte, urteilte offenbar nur nach dem äußeren Schein! Doratrava zweifelte nicht an der Macht der Götter, aber durchaus an der ihrer derischen Vertreter, es sei denn, sie bewiesen sich in ihren Augen. Sie presste die Lippen zusammen und starrte den Geweihten grimmig an, stand ihm dabei wenig nach. Gut, sie mochte sich irren, und das hier war vielleicht auch eine Prüfung, ob durch den Geweihten oder Firun selbst, es würde sich zeigen. Aber sie ließ sich keinesfalls einschüchtern, und was ihre Selbsteinschätzung betraf, da war sie durchaus der Meinung, korrekt zu liegen.

Als Mika mit dem Eimer kam, tauchte sie ihre Hand hinein und zog mit den Fingern vier senkrechte Streifen über ihr Gesicht, als Zeichen ihrer grimmigen Entschlossenheit, auf dieser Jagd nicht das schwächste Glied zu sein.

Mika blickte Doratrava wortlos an. In ihrem Blick lag ein Hauch von Aufmunterung und Warnung zugleich. Ohne dass diese ein Wort sagte, erkannt Doratatrava Mikas Botschaft: „Sei wachsam, gib gut auf dich acht! Es wäre schade, solch ein anmutiges Geschöpf zu verlieren.“

Kurz sah Doratrava die junge Frau prüfend an, aber dann nickte sie wortlos.

***

Der Zerf schlug die Kapuze zurück, dankte und stach sich mit der Speerspitze in den Zeigefinger der linken Hand. Dann tauchte er die Finger der rechten Hand in die dargereichte Erde, nahm davon, presste mit Daumen und Mittelfinger sieben Tropfen Blut in diese und vermengte beides miteinander. Dazu sagte er mit rauer Stimme: “Blut wurde gegeben.” Dann malte er sich den Streifen auf die Stirn und nickte der Novizin zu.

Mika schaute dem Mann mit großen, halb erschrockenen, halb bewundernden Augen zu. Es war leicht zu erahnen, dass sich in ihrem Kopf mehrere Fragen manifestierten. Doch auch zu dieser Ausübung des Rituals sagte sie nichts.

***

Firumar sah nach der Zeremonie streng über die Wartenden, deren braune Striche aus Erde sich mit dem Regen mischten.

“Die Gebote des Herr von Eis und Jagd sind streng und erlauben weder ein Aufweichen noch Interpretation. Euer Ja soll gelten von diesem Moment bis zum Ende der Jagd! Der Grimmige wird prüfen, wie ehrlich ihr es meintet.”

Letzte Unklarheiten

Bevor es los ging hatte der Wildhüter des Edlen, Leodegar, noch etwas auf dem Herzen: „Wer von den hier Anwesenden hatte denn bislang noch KEINEN Kontakt mit Wildschweinen? Das sollten wir noch in Erfahrung bringen. Denn Selbstüberschätzung ist ein Todesurteil im Kampf mit der Natur.“

Der neben ihm stehende Geweihten nickte zustimmend.

„Drum hebt bitte derjenige die Hand, der bisher noch nie auf Saujagd war.“

„Zum Wohle aller: haltet es bitte wie der Herre Praios mit der Wahrheit.“ bat auch Friedewald.

Ohne zu Zögern hob Doratrava die Hand. Bei der Jagd in Nilsitz war es zwar auch gegen Wildschweine gegangen, aber sie selbst war keinem begegnet, also konnte man das nicht zählen. Und ein Riesenschröter war ganz offensichtlich kein Wildschwein.

Borix nickte Doratrava zu. Sie waren ja gemeinsam gegen den Schröter vorgegangen. Als es aber auf den alten Keiler ging, war sie bereits verletzt zurück ins Lager.

Die Baroness von Kaldenberg blieb ungerührt stehen, als ginge die Abfrage der Vorerfahrung sie nichts an. Auch wenn die Saujagd gewiss nicht ihr täglich Brot war, hatte sie doch genug Zeit mit ihrem Bruder auf dem Jagdsitz ihrer Familie verbracht, um sich als erfahren zu betrachten. Weniger versiert war sie jedoch in größeren Jagden, ihr Bruder pflegte stets mit kleinsten Jagdgruppen auf die Schwarzkittelhatz zu gehen.

Doch selbst ohne jene Erfahrung hätte nichts in der Welt die Kaldenbergerin dazu bewegen können, jetzt die Hand zu heben.

Auch Lares hatte bereits Jagd auf Wildsauen gemacht - was noch lange nicht hieß, dass er deswegen etwas davon verstand.

Der Waidmann wartete ab, denn ein jeder sollte die Möglichkeit besitzen, sich zu äußern.

Als etwas Zeit vergangen war, setzte er zu weiteren Worten an. „Zur Verdeutlichung, was ich meine: Bolzen oder Pfeile,“ - Leodegar Häßler sah auf diejenigen mit einer Schusswaffe - „erlegen ein Reh, einen Fuchs, oder einen Hirsch, doch machen sie ausgewachsene Schwarzkittel erfahrungsgemäß eher wütend. Die dichten Borsten hinderten schon manchen Pfeil. Klingen hingegen fahren tief ins Fleisch.“ Er fasste nun seinen Spieß, auf den er sich stützte, mit beiden Händen. „Saufedern vermeiden hingegen das Unausweichliche.“ Der Waidmann hielt die Stangenwaffe mit der Klinge, an welcher eine gebogene Parierstange befestigt war, nach unten gen Boden, als wehre er imaginäres Wild ab. „Denn an ihr kann sich das Tier nicht zum Jäger bewegen, da die Querstange es aufhält. Geht man mit ‚nackten‘ Speeren auf Schwarzkittel, so besteht die Gefahr, dass sich eine Sau daran hoch arbeitet, mit den spitzen Zähne einem die Schenkel aufreißt und Lebenssaft die Erde schneller tränkt, als diese ihn aufnehmen kann. Warum ich dies sage?“ fragte Leodegar in die Runde, antwortet jedoch gleich selbst: „Man verblutet recht leicht im Wald. Dies sollte jeder, der sich einer Rotte nähert, wissen.“ Er unterließ es, zu sagen: ‚jeder, der mit Armbrust und Bogen schießt‘,

„Eines noch,“ setzte der Geweihte hinzu. „Es ist nicht der Wille Firuns, das Wild mehr als nötig leiden zu lassen. So wie wir uns einen schnellen sauberen Tod wünschen, tun es die Tiere des Waldes auch. Auch dies bedenkt, bei der Wahl eurer Jagdwaffe. So ihr denn eure Wahl getroffen habt, gehen wir los.“

Leodegar und Friedewald nickten gleichzeitig. „Wir haben noch Jagdspieße. Wer einen mitnehmen möchte, kann sich dort gerne bedienen,“ erklärte der Edle von Lützeltal und zeigte mit ausgestreckter Hand an die Jagdhütte, wo einige Saufedern gegen die Wand gelehnt standen.

Dankbar für das Angebot griff Nivard beherzt zu - natürlich jagte man die Schwarzkittel am besten mit einer Saufeder, und hätte er gewusst, dass es auf eine Saujagd geht, hätte er vielleicht sogar eine mitgebracht, obwohl diese sonst natürlich nicht zu seinem Reisegepäck zählte. Er war zugegebenermaßen kein Meister in Stangenwaffen wie dieser, aber er wusste, sich damit eine Wildsau vom Leibe zu halten, auch wenn er der im Gestech lieber mit dem Schwert den Rest gab.

Auf diese Aufforderung hin setzte sich Arda in Bewegung. Sie sah die dargebotenen Jagdspieße durch und entschied sich schließlich für eine vergleichsweise kurze, leichte Waffe, nachdem sie diese prüfend in ihren Händen gewogen hatte.

Zu Beginn fast ein Jagdbann

Der Geweihte kam nun auf Doratrava zu. “Du bist nicht gänzlich Fey, richtig?” sprach er die weißhäutige Frau mit kalter Stimme an. “Daher wird dir Selbstüberschätzung ein Begriff sein. Und du wirst verstehen, warum ich möchte, dass du mir etwas über dich erzählst. Wie gut kennst du dich im Wald aus? Mit dem Töten von Tieren? Welchem Handwerk gehst du nach, warum möchtest du Teil dieser heiligen Jagdgefährtenschaft sein und welche Waffen gedenkt deine Hand gegen die Schwarzkittel zu führen?" Überraschenderweise wollte der Geweihte nicht wissen, wer sie war, oder ihren Namen. Dies interessierte ihn nicht, denn vor Firun zählten Taten.

"Nein, bin ich nicht", bestätigte Doratrava und schaute dem Geweihten mit gerunzelter Stirn ins Gesicht. "Ihr braucht übrigens nicht so unfreundlich zu sein, ich bin es auch nicht, wenn man mir keinen Grund gibt.“

Nun furchte sich auch die Stirn des Firuni. „Heiterkeit ist keine Tugend meines Herrn. Verwechsle Abgeklärtheit nicht mit Unfreundlichkeit, Tochter der Fey! Respektlosigkeit ist jedoch eine Sünde von Jugend und schlechten Umgangsformen, ganz gleich welcher Herkunft wir sind.“ entgegnete der Geweihte mit kühlem Tadel. „Sei versichert, ich würde nicht das Gespräch suchen, wenn nicht Wichtiges mich führte.“ erklärte er noch und musterte die Elfenfrau kritisch.

Doratrava lag schon wieder eine schnippische Antwort auf der Zunge, aber sie schluckte diese hinunter, bevor sie ihren Mund verlassen konnte. Stattdessen presste sie nur kurz die Lippen aufeinander, doch dann fuhr sie fort. „Was Eure Fragen angeht: ich bin viel unterwegs, oft auch allein, und finde mich in der Wildnis zurecht. Ich töte Tiere, wenn ich muss, überlasse das aber für gewöhnlich anderen, beziehungsweise sorge dafür, dass ich eben nicht muss. Ansonsten bin ich Tänzerin, Akrobatin, Gauklerin, Messerwerferin und manchmal Retterin in der Not. Dass diese Jagd heilig ist, hat mir bisher niemand gesagt, vielleicht, weil niemand davon ausgegangen ist, dass ich daran teilnehmen würde.“

„Eine jede Jagd ist dem Grimmigen heilig. Er ist der Herr der Jagd! - Doch scheren sich die allermeisten nur darum, wenn wir Diener des Grimmigen teilhaben.“ erklärte der Geweihte, während aus seiner Brust ein tiefes Grollen drang, das auch ein Seufzen hätte sein können. „Warum bist du hier?“ fragte er väterlich streng und sah die Elfenfrau durchdringend an. Doratrava konnte sich sicher sein, dass er Lügen sofort entlarven würde.

„Ehrlicherweise bin ich eigentlich auch nur hier, weil ich sozusagen eine Art Wette verloren habe. Ich habe den Herrn Nivard ... nun ja, herausgefordert, könnte man vielleicht sagen, indem ich ihm sagte, wenn er mich heute Morgen wach kriegen würde, dann nähme ich an der Jagd teil. Nun, was soll ich sagen, er hat die Herausforderung angenommen und bestanden." Wenn auch mit unfairer Hilfe, schoss es Doratrava durch den Kopf, als sie an Merle dachte, aber das behielt sie jetzt für sich.

Nach einer kurzen Pause sah sie dem Geweihten fest in die Augen. "Aber ich verspreche Euch, die Gesetze Firuns zu respektieren und die Jagd nicht als Spiel zu betrachten und auf die leichte Schulter zu nehmen", erklärte sie mit fester Stimme. "Es freut mich zu hören, dass wir mit dieser Jagd den Bauern helfen können und es nicht nur um ein herrschaftliches Vergnügen geht. Ansonsten weiß ich, was ich kann und was ich nicht kann, aber vermutlich kann ich mehr, als man mir ansieht. Doch bin ich weder lebensmüde, noch möchte ich meine Jagdgefährten durch eigene Unachtsamkeit in Gefahr bringen. Außerdem habe ich schon einmal an einer Jagd teilgenommen, mit dem Herrn Nivard und einigen anderen zusammen, und das durchaus erfolgreich, denn wir haben einen Riesenschröter erlegt. Dafür hat mir der Herr Nivard beigebracht, wie ich mit einem Jagdspieß umgehe, wenn auch nur grundlegend, gut bin ich damit nicht. Dafür kann ich sehr gut mit dem Langdolch oder auch zweien umgehen, und im Dolchwurf macht mir niemand so schnell etwas vor. Auch wenn mir klar ist, dass das keine richtigen Jagdwaffen sind." Nach dieser langen Rede verstummte Doratrava schließlich und sah Firumar abwartend, aber nicht eingeschüchtert oder gar ängstlich an.

Der hob den Finger und deutete Warten an. “Wartet.“ Dann wandte er den Kopf und rief: „Derjenige der Nivard geheißen, soll zu mir kommen!“ brummte der Geweihte. „Und der Herr Lützeltals ebenso.“

"Ihr habt nach mir gerufen, Euer Gnaden!" Nivard kam raumgreifenden Schrittes sofort zum Geweihten gelaufen. Er kannte Firumar praktisch nicht - dem ersten Eindruck nach gehörte er aber eher zu den ernsteren und härteren Vertretern seiner ohnehin schon nicht für übersprudelnde Heiterkeit und Weichherzigkeit bekannten Kirche - mancher hätte ihn gar als bärbeißig beschrieben - aber gerade wirkte er selbst in diesem Rahmen 'schlecht gelaunt'. Was hatte Doratrava nur angestellt? Er warf der Gauklerin einen besorgten Blick zu.

Gleichzeitig stieß auch Friedewald zu der kleinen Gruppe, die sich jetzt bildete. „Was ist los? Kann ich helfen?“

„Möglicherweise,“ antwortete der Geweihte auf die Frage des Edlen, Firumar wandte sich dann jedoch ab und dem Tannenfelser zu. Er fasste Nivard mit einem kalten väterlichem Blick voll Strenge ein, sein Tonfall aber war gemäßigt, wenn auch seine Augen deutlich machten, dass ihn etwas verstimmt hatte: „Ist es richtig, dass ihr die Tochter der Fey zu einem… Spiel…provoziert habt? Eben erzählte sie mir, sie hätte verloren und sei nur deswegen hier. Ja, oder nein?“

Doratrava öffnete schon empört den Mund, da der Geweihte versuchte, ihr das Wort in selbigem herumzudrehen, aber da ereiferte sich bereits Nivard und sie schwieg.

“Ich? Sie zu einem Spiel provoziert? Nein, da muss ein Missverständnis vorliegen! Die Dame Doratrava hat sich gestern Abend erboten, auf der Jagd behilflich zu sein, und ich habe dieses Angebot gerne angenommen, hat sie sich doch bereits auf einer gemeinsamen Jagd als Gefährtin und echte Hilfe bewährt!” versuchte Nivard jegliches schiefe Bild gerade zu rücken.

„Ihre Worte waren ‚eine Art Wette‘ - das klingt in meinen Ohren, als würde es euch beiden an Ernsthaftigkeit mangeln.“

Erneut öffnete Doratrava den Mund, aber erneut war Nivard schneller.

Nivard runzelte kurz die Stirn, dann verstand er. “Ich glaube jetzt zu wissen, auf was Ihr ansprecht. Aber es ist ganz anders, als es schnell gesagt vielleicht klang: Die Dame Doratrava tut sich schwer damit, morgens aus eigener Kraft aus den Federn zu kommen, daher forderte sie mich heraus, sie rechtzeitig zu wecken, was mir mit weiterer Hilfe und einiger Mühe auch gelang, wie Ihr mit eigenen Augen sehen könnt. Ihr Handeln zeigt aber doch nur, dass sie - da sie in dieser Angelegenheit nicht auf ihre eigene Kraft vertraut hat - ihre Grenzen kennt und sich geeigneter Hilfe versichert, um ein Ziel, das sie verfolgt, auch sicher zu erreichen. Mangelnden Ernst vermag ich nicht darin zu erkennen. Und was mich anbelangt, habe ich die mir auferlegte Aufgabe sehr ernst genommen.” Wieder deutete er mit dem Kopf in Richtung Doratravas, deren Anwesenheit auch Zeuge seiner ernsten Bemühungen um die Jagd… und ja, auch um das Seelenheil Merles war.

“Euer Gnaden”, machte sich Doratrava nun auch endlich bemerkbar, “ich gebe zu, ursprünglich nicht vorgehabt zu haben, an der Jagd teilzunehmen. Als aber die Sprache darauf kam, als ich mich mit Herrn Nivard unterhalten habe, und ich jene Herausforderung an ihn aussprach, so mag das ein Spiel gewesen sein, doch war ich mir der Konsequenzen durchaus bewusst: sollte Herr Nivard das ‘Spiel’ gewinnen, so würde ich ohne Wenn und Aber und mit aller Ernsthaftigkeit meinen Teil erfüllen und an der Jagd teilnehmen. Und das ist, wie ich Euch vorher bereits versicherte, kein Spiel mehr. Vielleicht … vielleicht war es die Hand des Herrn Phex oder der Frau Tsa, welche der Meinung war, diese Jagd könnte noch ein anderes Element vertragen. Aber vielleicht auch nur ich selbst.”

Tsa und Phex... anderes Element auf der Jagd? Was gab sie da im Angesicht des grimmen Geweihten von sich? Nivard hätte Doratrava am liebsten den Mund zugehalten, wie sie dabei war, sie beide um Kopf und Kragen zu reden.

„Genug!“ sprach der Firungeweihte mit deutlich mehr Kraft in der Stimme und unterbrach den Redeschwall, welcher ihm erst aus dem Mund des jungen Kriegers, dann aus der Mund der Tochter der Fey entgegenschwappte. „Genug eurer Worte. Ihr beiden braucht es nicht beschönigen. Von einem Spiel war die Rede und ein Spiel ist es, was dem Herrn Phex gefällt. Doch die Jagd IST KEIN SPIEL. Und dass ihr beiden die Teilnahme an dieser heiligen Queste vor dem Eisigen an Bedingungen knüpft, die einem munteren Handel gleichen oder einem Kinderspiel, widerstrebt mir! Das sind Dinge, die nichts damit zu tun haben, dass wir hier stehen mit einer Aufgabe vor Augen, die uns alles abverlangen wird. Die Gebote des Grimmigen weisen keinen Weg in die Heiterkeit einer Wette. Denn das Leben ist kein Spiel. Und der Tod ebensowenig. Die Jagd ist ein Weg zwischen Leben und Tod, vergesst dies nicht. Die vielen Worte, die ihr gebraucht habt, zeigen nur, dass ihr womöglich den Unterschied nicht ausreichend kennt. Und ebenso wenig den Unterschied zwischen Spiel und Ernst. - Alsdann wascht euch die Erde aus dem Gesicht! Jetzt sofort!“

Doratravas Gesicht versteinerte zusehends bei der Ansprache des Geweihten, der doch ebensoviele Worte brauchte. Er wollte sie ganz offensichtlich nicht dabei haben und pickte sich aus ihren Aussagen nur heraus, was ihm gefiel, um seinen Standpunkt zu untermauern, dabei hatte sie nur ehrlich sein wollen. Dass sie mehrfach darauf hingewiesen hatte, die Jagd an sich nicht als Spiel zu betrachten, ignorierte er völlig. Sie spürte, wie Zorn in ihr aufstieg, wusste aber auch, dass ihr ein Wutausbruch hier nicht helfen würde, also ließ sie erst einmal Nivard reden und versuchte sich zu beherrschen. Hoffentlich kostete die Verbohrtheit des Geweihten Nivard nun nicht auch die Teilnahme an der Jagd.

“Bei allem Respekt, Euer Gnaden!” hob Nivard nun aufgebracht die Stimme. “ICH komme aus den Wäldern Nordgratenfels’ und bin nicht nur mit der Jagd, sondern auch dem steten Ringen weniger Menschen mit den Mächten der unberührten, wilden und manchmal übermächtigen Natur, nach den Gesetzen des Herrn Firun, mehr als vertraut. ICH weiß, welche Aufgabe uns erwartet, und bin bereit, mich dieser mit aller Ernsthaftigkeit und aller Demut zu stellen, eingedenk, dass auch der Tod hier draußen auf uns warten kann! Und die Dame Doratrava ist dies tief in ihrem Inneren ebenfalls! Denn sie weiß um die Gefahren, hat sie doch bei einer gemeinsamen Jagd selbst dem Tod ins Auge geblickt!”

“Wenn das so ist, wäre es an euch gewesen, auf den Ernst der Sache zu verweisen, statt euch auf Kindereien einzulassen!” wies ihn der Geweihte zurecht. “Wischt euch das Gesicht, sagte ich.”

Friedewald hob die Hand, noch während Nivard von Tannenfels, der Freund seines Sohnes Gudekar, sprach. Der Edle räusperte sich nun eindrücklich, redewillig. „Nun ich denke,“ setzte er sein Vorhaben sogleich in die Tat um, „dass dem Ganzen ein Missverständnis zugrunde liegt.“ Friedewald wollte seine Gäste nicht vergraulen, noch vergrault sehen, daher wandte er sich an den Geweihten. „Aber euer Gnaden, ein Jagdbann? Ist das wirklich nötig? Wir brauchen tatkräftige Gefährten für unsere Queste. Und sie sind Gäste meines Hauses.“

„Es ist kein Bann. Nur eine Warnung.“ erklärte der Geweihte. „Ich erkenne die Motivation beider, zu helfen,  an. Daher entscheide ich, dass sie an der Jagd teilnehmen dürfen. Doch ohne das Zeichen des Grimmigen. Der Herr Firun lehrt: jeder von uns ist nur etwas wert, wenn er sich selbst überwindet. Beide werden dies tun, indem sie ihre Wut und ihren Zorn hinabschlucken,“ an dieser Stelle fassten Firumars eisige Augen Doratrava ein, als spüre er ihr Ärgernis ganz genau. „…und sich fügen. Herr Nivard, da ihr der Tochter der Fey heute schon einmal dabei geholfen habt, sich in ihrem eigenen Leben zurechtzufinden, obwohl dies nicht zu euren Aufgaben gehört, bekommt Ihr nun diese von mir. Ihr werdet während der heiligen Jagd auf die Tochter der Fey achten. Ihr Fehl soll euer Fehl sein. Und du, Tochter der Fey, du wirst das dir geschenkte Leben in ernster Achtung betrachten und daran arbeiten, dich selbst zu überwinden. In Demut zu dienen wird deine Aufgabe sein, aber die Jagd wirst du den anderen überlassen, deine Messer nur zur Selbstverteidigung nutzen, zu mehr nicht. Das ist der Wille des Eisigen.“

Nachdem der Diener des Grimmigen dies gesprochen hatte, wartete er einen Augenblick. „Zweifelt ihn nicht an.“ fügte er dann noch dazu.

Mit aller Gewalt hielt Doratrava ihr Miene ausdruckslos, konnte aber nicht verhindern, dass sie die Lippen zusammenpresste, bis sie nur noch ein blutleerer Strich waren. Allein der Respekt vor ihrem Gastgeber und die Befürchtung, Nivard noch weiter in die Scheiße zu reiten, hielten sie davon ab, dem Geweihten ihre Meinung zu sagen. Für was hielt der sich? Wie so viele Geweihte verkaufte er selbstherrlich seine eigenen Ansichten als Willen seines Gottes, damit ihm nur ja niemand widersprach. Sie respektierte Firun, ja, aber nicht seinen Vertreter hier. Sie würde selbst nach Zeichen des Gottes Ausschau halten und sich danach richten. Auch wenn sie zumindest nach außen hin tun musste, was der Geweihte wollte, damit die anderen keinen Ärger bekamen.

Doratrava zwang sich, das Regenwasser mit den Händen aufzufangen und begann, sich die Erde aus dem Gesicht zu waschen, aber der brennende Blick ihrer violetten Augen lag die ganze Zeit auf dem Gesicht des Geweihten, und sie sprach kein Wort mehr zu ihm. Worte waren ihm doch ein Gräuel, zumindest, wenn er sich nicht selbst sprach.

“Ich werde diese Aufgabe annehmen und erfüllen!” gelobte Nivard mit ernster Stimme. Seine Hand legte er dabei - nicht nur symbolisch gemeint - auf Doratravas Schultern, spürbar Nachdruck ausübend, wobei er ganz deutlich ihre Anspannung spürte. Er hoffte, dass sie - impulsiv wie er sie kannte - nicht gleich etwas tat oder sagte, was sie beide bereuen würden. Wahrscheinlich war dies jetzt bereits der Augenblick, an dem er am besten auf sie aufpassen musste. Draußen hätte er es ohnehin getan.

Mit zusammengekniffenen Augen sah er sich um und entdeckte in wenigen Schritt einen Felsbrocken, auf dessen Oberfläche sich in einer kleinen, moosigen Mulde etwas Wasser sammelte. Er schöpfte dieses und wusch sich damit das über und über bemalte Gesicht. Wenn sie als Zeichen der Demut die Zeichen ihrer Demut aus dem Antlitz tilgen sollten, dann sollte es eben so sein.

Mika, die etwas abseits hinter Firumar stand, hatte die ganze Zeit ernst und besorgt zugehört und die Szene beobachtet. Einerseits achtete sie die Worte ihres Lehrers und wusste, dass er weise sprach. Andererseits dauerte es sie, dass Doratrava und nun auch Nivard derart abgewiesen wurden. Als sich abzeichnete, dass Firumar entgegen seiner Überzeugung Milde walten lassen würde, lächelte sie Doratrava aufmunternd und beruhigend zu. Später würde sie ihren Meister über seine Entscheidung befragen müssen.

Doratrava nahm Mikas Blick nur am Rande wahr, war aber nicht in der Stimmung, die Geste zu erwidern, da sie immer noch mit ihrer Selbstbeherrschung kämpfen musste.

Friedewald lächelte zufrieden, hatten seine Worte doch dazu geführt, den Geweihten zu besänftigen. Wenn alle Gäste, die sich der Jagd verschrieben fühlten, an dieser Queste teilnehmen würden und man sich als eine Gemeinschaft fühlte, was sollte dann noch geschehen? Und schließlich konnte jede helfende Hand es doch nur einfacher machen, die Rotte in Schach zu halten. Es wäre sicher nicht traviagefällig, wenn einzelne Gäste der Feier in dieser Situation abgewiesen würden, zumindest solang sie die Jagd nicht offensichtlich vereitelten. Und das sah Friedewald in dieser Situation nicht. “Fantastisch! Wenn ihr wollt könnt Ihr Euch meiner Jagdgruppe anschließen.”

“Ich muss dorthin gehen, wohin Nivard geht”, quetschte Doratrava mühsam heraus.

“Dann wird es uns beiden eine Ehre sein, mit Euch gemeinsam diese Jagd zu bestreiten!” nahm Nivard, durchaus gewahr, dass Friedewald sich für sie eingesetzt hatte, die Einladung für sie beide an. Außerdem war es eine gute Gelegenheit, Gudekars Vater näher kennenzulernen. Im Kampf und auf der Jagd offenbarten sich die Menschen, wie sie wirklich waren.

“Ich habe gehört, dass Gudekar Euch vertraut. Dann werde auch ich Euch heute vertrauen”, erklärte Friedewald großmütig.

“Ich werde alles tun, Euer Vertrauen nicht zu enttäuschen!”

Doratrava knirschte mit den Zähnen. Sie sehnte sich danach, ihrem Zorn wenigstens mit Worten freien Lauf zu lassen, aber das würde sie nur Nivard gegenüber tun und nicht, wenn es andere Zuhörer gab, also konnte sie nur weiter still vor sich hin kochen.

Der Jagdsegen

Nachdem der Geweihte mit zwei der Jagdteilnehmern und dem Gastgeber ein längeres Gespräch geführt hatte, welches für Außenstehende nach Streit ausgesehen hatte, war die kleine Diskussionsgruppen nun zu einem Ende gelangt, woraufhin sich der Geweihte abwandte. Einen kurzen Moment ließ Firumar die laufenden Gespräche noch zu, dann erhob er seine Stimme, und diesmal galt es für alle Anwesenden.

„JÄGERSVOLK! KNIET NIEDER! Für ein Gebet an den Grimmigen, auf dass er unsere Waffen segnet, die wir darbringen wollen.“

Er gab den Gläubigen dieser Jagd Zeit, um auf beiden Knien in den Morast zu sinken und entweder ihre gewählte Waffe zum regenschweren Himmel zu erheben oder sie vor sich abzulegen.

„Oh Firun.

Weißer Jäger.

Meister über Schnee und Eis.

Herr der Heiligen Jagd.

Segne unsere Waffen,

damit wir uns Deinen Herausforderungen stellen

und unsere Grenzen finden können.

Dein kühler Sinn,

Dein scharfer Blick,

Dein Jagdgeschick

weise uns den Weg.

Wir wollen allen Kreaturen der Schöpfung

Gerechtigkeit und Achtung gewähren,

und ebenso Deinen von uns verwundeten Kindern des Waldes

durch unsere Klingen und Pfeile

einen schnellen Tod in deinem Namen.

Deine Gebote

wollen wir allezeit auf dieser Deiner heiligen Jagd ehren

und strafen sollst du uns bitter,

wenn wir sie missachten,

ganz gleich von welchem Geblüt wir sind.“

Und wieder, wenn er von Firun sprach, ging eine grimmige Kälte von dem Mann in dem Wolfspelzmantel aus, die allen in die Knochen schlich, als der Geweihte die Hand segnend über Pfeile, Bögen und Spieße erhob.

Friedewald hatte sich als erster der Jagdgesellschaft hingekniet und hielt seine Waffe inbrünstig gen Himmel. Während Firumars Segensgebet hatte er den Kopf demütig zu Boden gesenkt. Als der Geweihte geendet hatte, ergänzte der Edle kaum hörbar: “Herr Firun, hab Dank, dass du diese tapferen Recken hier hast zusammenkommen lassen, um meine Bauern von der Plage zu befreien. Mutter Travia, halte deine schützenden Hände über all unsere Gäste, die bereit sind, ihr Leben für unser Volk zu riskieren, auf dass wir ihnen auch weiterhin unsere Gastfreundschaft zuteilwerden lassen können.”

Sowohl Saufeder als auch Bogen waren die Waffen, die Darian mit sich führte. Die zu gebrauchen er verstand. Und so, wie er eine Jagd sah, so, wie Meister Keldor es ihm beigebracht hatte, sollte er die Wahl der Waffe von der Situation abhängig machen. Den Bogen, wenn es galt, sich anzupirschen. Die Feder, wenn es galt, sich einer wütenden Bache oder einem Eber entgegenzustellen. Von daher legte er Bogen, Köcher und Saufeder gleichermaßen zu Boden und gedachte der Worte des Geweihten.

Lares zwang sich, dem Gebet des Geweihten zu folgen. Er war doch sonst nicht so abgelenkt! Ein Gebet der Zwölfgötter, das musste man ehren. Er musste es ehren. Doch schweiften seine Gedanken immer wieder ab zu den Gefahren, die ein nicht erkundeter Pfad durch den Wald mit sich bringen konnten. In den düstersten Farben malte er sich aus, was passieren würde, wenn der Erzfeind über sie hereinbrach. Sie würden auf der Schlachtbank geopfert werden. Seine Gedanken waren voll Grimm, als der Geweihte schloss. Dieses Gefühl erschreckte den Mersinger im tiefsten Inneren.

Da Doratrava ihre Waffen nicht zur Jagd benutzen durfte, gab es auch nichts abzulegen. Aber auch keinen Grund, sich in den Schlamm zu knien. Sie war schließlich kein “Jägersvolk”. Also stand sie mit vor der Brust verschränkten Armen und versteinertem Gesicht am Rand der Gruppe und schaute zu. Der Segen eines Geweihten, den sie nicht respektierte, war ihr nichts wert. Die ganze Sache hatte nur ein Gutes: sie war nun richtig wach.

Nivard schüttelte innerlich den Kopf über Doratravas unversöhnliche Geste. So sehr er sie einerseits verstehen konnte, so machte sie sich damit andererseits mit der Halsstarrigkeit Firumars gemein. Er konnte nur hoffen, dass der Geweihte und sie sich heute nicht mehr allzu nahe kamen.

All das hinderte ihn aber nicht daran, selbst in Demut niederzuknien. Die Saufeder vor sich abgelegt reckte auch er seinen Bogen in die Höhe und bat den göttlichen Jäger um dessen Segen.

Arda kauerte sich neben ihre Hündin. Der eine Arm lag auf dem Rücken der Hündin, die Hand kraulte den Hinterkopf des Tieres. Mit der Rechten hielt sie sich an dem Jagdspieß fest, den sie mit nach oben gerichteter Spitze in den Morast gedrückt hatte.

Sie wirkte keineswegs inbrünstig, sondern nutzte die Zeit, um die anderen Jagdteilnehmer zu mustern. Jene Doratrava, die nicht niederkniete - ihr war sie bereits mehrfach begegnet, auch wenn die Begegnungen nie herzlich genug gewesen waren, um die Anwesenheit der Gauklerin bei dieser Feier zur Kenntnis zu nehmen.

Da sich (fast) alle auf ihre Knie hinab gelassen hatten, beugte auch Borix seine Knie. Sorgsam darauf bedacht, dass die Armbrust nicht in den Dreck tauchte. Dann senkte er den Kopf und wartete auf das Ende der Andacht.

Yendan kniete nun gänzlich im Schlamm und bewegte stumm die Lippen mit dem Gebet des Geweihten.

Dann wandte Seine Gnaden Firunmar sich ab und befahl seinen Hund mit einem unsichtbaren Zeichen an seine Seite, um dem fleischigen Rüden den Kopf zu tätscheln, dann neigte er sich seiner Novizin zu. „Mika, du denkst an die Laterne.“ Er hatte der jungen Maid die Aufgabe auferlegt, über das Licht einer Laterne zu wachen, mit der man einerseits die Rotte treiben, aber auch nach dem Erlegen den Ort, an dem das Wild ausgenommen wurde, ausleuchten konnte. Etwas Licht war an diesem grauen, von Regen geprägten Morgen, doch sehr hilfreich und das Feuer der Lampe im Inneren zu beschützen, daher eine wichtige Aufgabe.

“Ja, Herr!”, war Mikas knappe Antwort. Sie wirkte noch immer hochkonzentriert, wie bereits während der gesamten Zeremonie. Sie gab sich jede Mühe, die Ihr übertragenen Aufgaben zu Firumars vollster Zufriedenheit zu erfüllen, und gleichzeitig jedes seiner Worte, jede seiner Gesten, in sich aufzunehmen. Er war ihr Lehrmeister und sie wollte eine gute Schülerin sein. Eines Tages wollte auch sie solche Andachten halten, um Jagden zu segnen. Und sie wollte es richtig machen. Sie ging zu einem Tisch unter dem Vordach der Jagdhütte und nahm die bereits entzündete Laterne auf. Dabei musste sie an ihre Freundin Imelda denken, die Ingrageweihte, die ebenfalls immer mit einer Laterne mit einem heiligen Licht unterwegs war. Was würde Imelda jetzt wohl sagen, wenn sie Mika so sehen könnte?

~ * ~

Im Wald

Wenig später machte sich die Jagdgesellschaft auf in das „Haderholz“ genannte Waldstück. Zuerst folgte man dem Weg, der, wenn man ihn weitergehen würde, in das kleine Dörfchen Hart führte. Dann schlug die Gruppe um den Firungeweihten, den Edlen und die Hochzeitsgäste eine südliche Richtung ein, um auf der Gemarkung Lützeltal zu bleiben. Wie Leodegar erklärte, begann nördlich das Lehen Hart, und im Westen schloss sich der Gräfliche Wald um die alte Ruine Haderbruch an. Noch immer regnete es. Das Blätterdach milderte zwar die Fluten aus den Wolken etwas, doch stellenweise war der Waldboden trotzdem schon so aufgeweicht, dass die Stiefel einsanken.

~ * ~

Unterwegs: Gespräch zwischen Nivard und Doratrava

Als die Jagdgesellschaft aufgebrochen war und sich ein wenig auseinandergezogen hatte, fasste Doratrava Nivard am Arm und bremste ihn, damit sie ein wenig Abstand zu den anderen gewannen. Sie musste jetzt mit jemandem, nein, mit ihm reden, sonst platzte sie.

"Nivard", begann sie leise, "es tut mir leid, wenn ich dir Ärger mache. War wohl eine blöde Idee mit der Jagd, auch wenn alles stimmt, was ich zu dem Geweihten gesagt habe."

"Hmm... Finde ich nicht." erwiderte Nivard zunächst nur, als ob er die Kritik Firumars, zuviel zu reden, beherzigen wollte. Nach einigen Schritten wurde seine Antwort aber doch wortreicher. "Also ich finde nicht, dass Deine Teilnahme hier dran falsch ist. Oder dass Du die falsche Einstellung zu alldem hast. Firuns Reich und das dort herrschende Gesetz mögen ernst und hart sein. Aber auch der Krieg ist ernst und hart... eigentlich ist das ganze Leben ernst und hart, wenigstens bei uns im Norden. Wie soll irgendwer alles ernste und harte ertragen können, ohne Sang und Tanz, ohne Freude und Spiel. Wer lächelnd und mit einem Scherz auf den Lippen in den Wald geht, missachtet damit noch lange nicht den göttlichen Jäger und dessen Gesetz. Und wenn wir wetten, ob ich Dich heute morgen wach bekomme, heißt das nicht, dass wir die Wildschweine nicht ernst nehmen oder alles nur für ein Spiel halten." Der Krieger sah Doratrava an. "Du brauchst Dich also nicht entschuldigen. Wer weiß, welche Laus seiner Gnaden über die Leber gelaufen ist. Vielleicht war er auch einfach zu lange nicht mehr unter Menschen, was weiß ich..."

“Das meine ich doch”, erwiderte Doratrava mit zusammengepressten Lippen, “und das sagte ich ihm ja auch: nur weil wir aus dem Wecken ein Spiel gemacht haben, heißt das nicht, dass die Jagd für uns ein Spiel ist. Aber er hat nur ‘Spiel’ gehört und dann alles so verdreht, dass er mich - und dich! - damit runtermachen kann. Weil er offenbar auf den ersten Blick beschlossen hat, mich nicht zu mögen. Ist mir egal, ob ihm heute eine Laus über die Leber gelaufen ist, er ist nichts als ein alter, verbohrter A…” Doratrava klappte den Mund zu, bevor sie es aussprechen konnte. Sie hätte zwar keine Scheu gehabt, das zu tun, aber sie wollte Nivards Gefühle nicht noch mehr auf die Probe stellen.

Die Gauklerin atmete tief ein, dann setzte sie aber nochmal an: “Was hat er denn jetzt damit erreicht? Ich darf nicht wirklich helfen, du musst die ganze Zeit auf mich aufpassen, und der Ärger frisst nun an uns beiden, so dass die halbe Aufmerksamkeit für die wichtige Aufgabe, nämlich die Jagd an sich, um den Bauern zu helfen, gebunden ist und wir wegen einer daraus erwachsenden Unachtsamkeit womöglich erst recht in Gefahr kommen! Ich hätte gute Lust gehabt, dem Kerl meine Meinung zu sagen und danach einfach einen Waldspaziergang zu machen. Wenn dieser mich dann zufällig in eure Nähe geführt hätte, was hätte er dann machen sollen? Aber ich wollte nicht, dass das dann alles auf dich zurückfällt. Wobei du bei dem I… Geweihten sowieso auch schon unten durch bist.” Doratrava merkte, wie sie immer wütender wurde, je mehr sie darüber sprach, daher zwang sie sich erstmal zum Schweigen. Vielleicht wollte Nivard ja auch noch was sagen.

“Ja, wahrscheinlich hält er von mir auch nichts mehr - warum sonst sollte ich mir auch die Erde aus dem Gesicht waschen?” bestätigte Nivard zunächst Doratravas Sorge. “Aber nimm es nicht zu schwer - das ist nicht Deine Schuld. Und weißt Du was? Wir zeigen ihm heute, dass wir beide mehr von Firun verstehen und in uns tragen, als er glaubt. Ich habe gelernt, dass Firun dafür steht, mit Widrigkeiten und Härten fertig zu werden, sich nicht unterkriegen zu lassen… sich immer wieder auch selbst zu überwinden! Wenn er glaubt, die Wahrheit über Firuns Gesetze und wer des grimmen Gottes würdig ist, gepachtet zu haben, wenn er uns, weil wir in seinen Augen unwürdig sind, am liebsten gebannt hätte, dann beweisen wir ihm einfach, dass er sich geirrt hat. Dass Du - selbst wenn er Dir verbietet, selbst jagen zu dürfen - dennoch eine Hilfe bist, die mindestens einen Jäger aufwiegt. Und ich werde ihm zeigen, dass man nicht bereits mit angewachsenem steinernen Gesicht ankommen  und durchs Leben gehen muss, um ein guter Jäger zu sein. Bist Du dabei?” Nivard war deutlich anzusehen und anzuhören, wie sehr ihn das Verhalten des Geweihten anspornte, jenen eines Besseren zu belehren.

“Natürlich bin ich dabei”, knirschte Doratrava, nur unwesentlich besänftigt, “sonst wäre ich ja gleich gegangen. Allerdings wollte ich dem”, sie musste tief einatmen, um nicht erneut einen abfälligen Begriff in den Mund zu nehmen, “... Geweihten den Triumph nicht gönnen. Du musst nur aufpassen, dass ich am Ende nicht mit bloßen Händen auf ein Wildschwein losgehe, da ich ja meine Waffen nicht benutzen darf.” Als sie diesen wütenden Scherz aussprach, kam ihr aber ein Gedanke. “Allerdings … er sagte, zur Selbstverteidigung darf ich meine Waffen benutzen. Dann muss ich da nur dafür sorgen, dass ein Schwarzkittel mich angreift, irgendwie …” Sie verzog grimmig das Gesicht. Die kleine Stimme ihres Verstandes, welche sie mal wieder in die letzte Ecke ihres Kopfes gedrängt hatte, flüsterte allerdings irgendwas von ‘blöde Idee’ …

"Na ich hoffe doch und bitte darum, dass es nicht soweit kommt, dass Du eine Wildsau im Nahkampf erledigen musst. Aber falls doch, ist der Schubkeiler hoffentlich noch präsent..."

Mit einem leichten Hüsteln trat Borix an die beiden her.

“Frau Doratrava, Meister Nirvard”, sprach er sie an. “Erlaubt ihr, dass ich mich eurer Gruppe anschließe? Schließlich haben wir ja bereits auf Nilsitz ein gutes Gespann abgegeben.”

Als plötzlich jemand hinter ihnen auftauchte, fuhr Doratrava erst ärgerlich herum, schließlich hatte sie ja allein mit Nivard sprechen wollen, aber als sie dann sah, wer es war, schluckte sie die geharnischte Bemerkung, welche ihr auf der Zunge lag, herunter und seufzte stattdessen tief. "Ach, Ihr seid es. Na, wenn Ihr Euch uns in Ungnade Gefallenen anschließen wollt, habe zumindest ich nichts dagegen.”

“Und ich erst recht nicht - wir drei hier vereint - wenn das kein gutes Zeichen ist, dann weiß ich auch nicht!” freute Nivard sich, mit Borix einen weiteren vertrauten Jagdgefährten bei ihnen zu wissen. Nicht nur gegen den Riesenschröter hatten sie sich damals gemeinsam bewiesen, nein, auch in der Saujagd waren sie sehr erfolgreich gewesen. Und nach allem, was er über die Angroschim gelernt hatte, ahnte er auch, dass sich Borix wahrscheinlich von allen anderen Teilnehmern am wenigsten aus ihrem Beinahe-Bann durch den Firun-Geweihten machen würde. Er hätte sich nur etwas länger Zeit lassen können, zu ihnen zu stoßen, denn auch Nivard lag Doratrava gegenüber noch etwas auf dem Herzen, das er gerne unter vier Augen angesprochen hätte. Aber der Tag war ja noch jung …

Borix freute sich sichtlich, der Bart zog sich im Gesicht leicht nach oben und seine Augen blitzten. “Dann werde ich mich und meine Diorita auf die Jagd vorbereiten. Wir sehen uns später.”

Borix ließ die beiden wieder alleine stehen und suchte sich ein ruhiges und trockenes  Plätzchen etwas entfernt und begann seine Armbrust aus dem Futteral zu nehmen und die Spannung der Sehne zu prüfen und anzupassen.

Doratrava sah dem Zwerg kopfschüttelnd nach. Auf ihre Bemerkung war er gar nicht eingegangen, aber gut, umso besser, wenn es ihn nicht störte. Dann wandte sie sich wieder Nivard zu. “Schubkeiler?”, knüpfte sie nun, da sie wieder allein waren, an das Gespräch an. “Den habe ich doch nicht mit den Händen bekämpft?”

"Das lässt Du auch bitte... nein, das lässt Du gefälligst sein! Mit bloßen Händen raufend oder selbst mit dem Dolch gegen ein Wildschwein würde ich nämlich keinen Heller auf Dich setzen. Nein, wenn es brenzlig wird, oder hart auf hart kommt, bist Du ja eh in meiner Nähe und ich werfe Dir rasch die Saufeder zu. Das werde ich in so einer Situation ja dürfen. Und dann machst Du es fast so, wie mit dem Schubkeiler. Nur lässt Du die Saufeder anders als den Speer nicht los, sondern behältst sie in Händen, selbst wenn sie vorne in der Sau steckt! So kannst Du sie auf Distanz halten. Den Rest besorgen wir. Also kein falscher Heldenmut, in Ordnung?" Nivard sah Doratrava ernst an. “Dieses Mal möchte ich mit Dir gemeinsam von der Jagd zurückkehren!”

Doratrava sah Nivard mit undefinierbarem Blick an. “Hm … aha. Und wenn du mir die Saufeder zuwirfst, dann hast du sie ja nicht mehr?” Sie verstummte kurz, aber entschied sich dann, keine Haarspaltereien zu betreiben. Schließlich wollte sie Nivard ja wirklich keinen Ärger bereiten, nur, um dem Geweihten eins auszuwischen. “Ja, schon gut, ich mache keine Dummheiten. Ich hatte eh nicht vor, wirklich mit bloßen Händen auf ein Wildschwein loszugehen, und mit Dolchen nur, wenn ich sie werfen kann. Aber ich werde ganz brav sein, tun, was der Geweihte will und kein Schwein provozieren, nur, dass es mich angreift. Versprochen.” Ihr Ärger war nicht verflogen, aber sie meinte es ehrlich, wenn sie auch nicht mit Sicherheit ausschließen konnte, dass am Ende doch ihr Temperament mit ihr durchging. Sie würde es darauf ankommen lassen.

"Sehr gut! Wart ab, am Ende wird es trotz des Verdrusses vorhin ein schöner Tag", atmete Nivard kurz durch und wollte sich schon daran machen, den Schritt anzuziehen, um zu ihrer Gruppe aufzuschließen. Sofort aber bremste der junge Krieger wieder ab. Er wollte noch etwas anderes ausräumen. "Apropos Dummheiten", fing er, eingeleitet von einem Räuspern an, um erst einmal eher weiterzudrucksen als zielstrebig anzusprechen, was ihn noch bewegte: "Ich weiß ja, eigentlich geht mich das nichts an, aber das heute Nacht, mit Merle Dreifelder und Dir,... also… weißt Du eigentlich, was Du da tust? In welcher Lage Merle bereits steckt?"

Erst wusste Doratrava nicht, wie sie auf die Frage reagieren sollte, hatte sie doch bei den ersten Worten angenommen, Nivard ginge es nur um … möglicherweise nicht ganz so traviagefällige Schlüsse, welche man aus ihrem Verhalten hätte ziehen können, und sie wusste ja schon, dass er da ein wenig … empfindlich war. Aber nun … “Äh, was?”, entfuhr es ihr überrascht? “Was meinst du damit, in welcher Lage sie steckt?” Sie blickte Nivard aus großen, noch immer violett leuchtenden Augen an. “Ist sie in Schwierigkeiten?”

“Könnte man so sagen”, antwortete Nivard zunächst recht einsilbig. Er überlegte, wieviel er Doratrava offenbaren durfte, ohne das Vertrauen Gudekars und Merles zu hintergehen. Beruhigend für sein Gewissen war allenfalls, dass er ja nur mit den besten Absichten und auf beider Wohl zielend handelte… Ferner würde er nur durchblicken lassen, was er von Merle vernommen hatte, der er erstens kein explizites Schweigeversprechen gegeben hatte, und die er ja außerdem erst vorhin in ohnehin sehr intimer Nähe zu Doratrava erwischt hatte. “Merle kämpft gerade um ihre Ehe mit Gudekar - hast Du etwa gar nichts davon mitbekommen? Was sie jedenfalls braucht ist jeden Rückhalt und viel, viel innere Kraft für diesen Kampf, den sie mit Travias Hilfe hoffentlich für sich, nein für sie beide entscheiden kann. Ich denke nicht,” Nivards Stimme war erneut anzuhören, wie unangenehm ihm die nächsten Worte waren, “dass… dass gemeinsame Liebesnächte mit Dir oder wem auch immer, der nicht Gudekar von Weissenquell heißt, ihrer Sache zuträglich sind.”

Nivards Worte lösten ... chaotische, sich widersprechende Gefühle in Doratrava aus. Sie brauchte einen Moment, um eine Antwort zu formulieren, aber man sah ihr die ehrliche Bestürzung an, schließlich wollte sie nicht, dass es ihrer neuen Freundin schlecht ging. "Das ... das wusste ich nicht", erklärte sie schließlich. "Davon hat sie kein Wort gesagt. Also ja, ich wusste natürlich, dass sie Gudekars Frau ist, aber ... ja, wir sind uns trotzdem näher gekommen. Ich gebe zu, nichts gegen eine Liebesnacht mit ihr gehabt zu haben, aber das hat sie nicht zugelassen. Sie hat sehr deutlich gemacht, dass sie am Traviaschwur mit Gudekar festhält. Allerdings ohne zu erwähnen, dass es von seiner Seite vielleicht anders aussieht." Was wiederum in Doratravas Bauch zu seltsamem Flattern führte. Das behielt sie aber lieber für sich, denn dem traviafrommen Nivard würde das nicht gefallen. Zumal sie sich in keinster Weise für ihre hoffnungsvollen Gedanken schämte. Im gleichen Zuge bedauerte sie allerdings auch Merle, deren Zerrissenheit sie auch mit ihrer eigenen, nicht sehr ausgeprägten Erfahrung nachfühlen zu können glaubte. Aber sie wusste auf jeden Fall sehr gut, wie es sich anfühlte, mehr oder weniger hart die Bindung zu geliebten Menschen zu verlieren, und das war keine schöne Erfahrung. "Woher ... woher weißt du denn, dass Gudekar ... nicht so wie Merle fühlt?", brach es aus Doratrava in einer Mischung aus Neugier und ehrlicher Anteilnahme heraus.

"Ich habe Augen im Kopf...", gut, das war jetzt eher eine Halbwahrheit im Hinblick auf die Genese seiner Erkenntnisse, "und mit beiden gesprochen", blieb Nivard vage, was seine Quellen anging. "Viel mehr kann... darf ich Dir nicht sagen. Auf jeden Fall ist es so, dass es zwischen den beiden nicht nur ernsthaft kriselt, sondern dass genau diese Tage hier wahrscheinlich darüber entscheiden, wie... und ob... es mit beiden weitergeht, verstehst Du?... Ich glaube, Merle liebt Gudekar noch immer, und Gudekar..." Nivard stockte und grübelte kurz, ehe er nachfragte: "Wie gut kennst Du eigentlich Gudekar?"

“Ja, Merle liebt Gudekar auf jeden Fall, sonst … das hat sie mir schon deutlich gemacht, gestern.” Tatsächlich hatte gestern Abend Doratrava zu viel mit ihren eigenen Gefühlen kämpfen müssen, um Merles Nöte zu erkennen. Jetzt, wo sie genauer darüber nachdachte, war es schon so, dass Merle zwar an ihrer Treue zu Gudekar festgehalten hatte, aber irgendwie auf eine verzweifelte Art und Weise, die sie selbst nicht hatte erkennen können. Schuldbewusstsein wallte in Doratrava auf, darüber, dass sie nur an sich selbst gedacht hatte. Dabei wollte sie Merle doch wirklich eine Freundin sein. Sie beschloss, sich bei ihr zu entschuldigen, sobald sie sie wieder sah.

“Gudekar …”, setzte Doratrava dann fort, “also ich war schon mal mit ihm zusammen unterwegs in Sachen Herz der Nordmarken, aber als Mensch kenne ich ihn nicht wirklich.”

Dann machte die Gauklerin erneut eine Pause, in der sie Nivard nachdenklich ansah. “Wieso meinst du, dass sich das zwischen Merle und Gudekar ausgerechnet hier und jetzt entscheidet?”, fragte sie dann und blickte dem Krieger in die Augen.

Nivard wich ihrem Blick aus. "Sagen wir so... ich habe mit beiden gesprochen..." Sein schlechtes Gewissen ließ sein Herz pochen. "Mehr darf ich nicht sagen. Travias Gebote verpflichten nicht nur zur ehelichen Treue, sondern ebenso dazu, auch andere Versprechen zu halten", bat er Doratrava um Verständnis. "Aber ich weiß, dass besonders Merle, auf so viel sie auch bereits gefasst ist, diese Tage Schlimmes erleiden wird. Und Gudekar in sein Unglück rennt. Wenn nicht schnell noch etwas passiert."

Mit zusammengezogenen Brauen lauschte Doratrava Nivards Vortrag. “Versprechen, so”, sprach sie schließlich. “Du darfst nichts sagen, obwohl du weißt, dass sowohl Merle als auch Gudekar ein Unglück droht. Na prima.” Die Gauklerin machte nochmal eine Pause, während der sie hauptsächlich um Merle Angst bekam, obwohl sie sie erst seit einem Tag kannte. Gudekar kannte sie schon viel länger, er war immerhin ein guter Gefährte, aber persönlich empfand sie für ihn nichts. Ihr war schon klar, dass mal wieder ihre Gefühle mit ihr durchgingen, aber ihr war ebenso klar, dass sie dagegen nichts machen konnte.

“Nun gut, ich will nicht weiter in dich dringen, damit du keine Versprechen brechen musst”, erklärte sie schließlich sichtlich unzufrieden. “Hoffen wir, dass es nicht so schlimm wird, wie du befürchtest.” Und hoffen wir, dass die Sorge um Merle mich jetzt nicht noch mehr von der Jagd ablenkt, setzte sie in Gedanken hinzu.

"Mmh." In Nivards wortkarge Antwort war ein 'Ja, hoffen wir das' genauso hineininterpretierbar wie ein 'Doch, wird es.' Wenigstens, wenn niemand etwas unternahm.

Er grübelte immer noch, warum Gudekar nur trotz einer so wundervollen Gemahlin und einem zuckersüßen Kind untreu wurde und Travias Gebote derart mit Füßen trat. Ja, der Anconiter schob es auf Rahjas Einfluss, aber es konnte ebenso gut Lolgramoth selbst sein, der hier wirkte. Oder wenigstens den Freund schwach genug machte, Rahjas Verlockungen nicht mehr in geordnete Bahnen lenken zu können.

Wenn Travia nicht mehr zu dessen Herz durchzudringen vermochte, musste eben Rahja selbst Gudekar wieder auf den rechten Pfad bringen. Insofern konnte er nur hoffen, dass Merle seinen Rat aufgriff und zu Rajalind oder Rahjel ging, um dort Hilfe zu bekommen. Falls das aber auch nicht fruchtete... Nivard kam eine verrückte Idee.

"Doratrava." fing Nivard nach einigem Grübeln an. "Niemand weiß sich so gut wie Du dergestalt in Szene zu setzen, dass alle Zuschauer von Dir verzaubert sind. Könntest Du Merle nicht helfen, sich… wie soll ich es beschreiben… sich Gudekar so zu präsentieren, dass er sie mit ganz frischen Augen sieht? Und sich fragt, wie er jemals eine..." ohje, er war dabei sich zu verplappern... "ich meine, dass er so hingerissen von ihr ist, dass er gar nicht anders kann, als ihr wieder näher kommen zu wollen?"

Doratrava hätte sich fast einen Ast ins Auge gebohrt, so überrascht war sie von Nivards Ansinnen. Gerade noch konnte sie den Kopf wegziehen, bevor ein Unglück passierte, dann brauchte sie einen Moment, um sich zu fangen. Dann schüttelte sie bedauernd den Kopf. “Nivard, wie soll das funktionieren? So geschmeichelt ich von diesem Kompliment bin, so ist es doch meine Kunst, welche meine Zuschauer in ihren Bann schlägt. Hoffe ich zumindest.” Sie deutete ein kleines Lächeln an, wurde aber gleich wieder ernst. “Ich kann Merle natürlich ein wenig beraten, wie sie sich bewegen und kleiden muss, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber erst nach der Jagd, und dann kann ich ihr auch kaum eines meiner Kleider ausleihen, die würden ihr nicht passen. Und woher sollen wir auf die Schnelle etwas passendes und dazu noch rahjagefälliges für sie finden? Denn schnell muss es ja wohl gehen … wie viel Zeit haben wir? Nur noch heute? Oder wenigstens bis morgen?”

Doratrava machte eine nachdenkliche Pause, dann seufzte sie tief. “Ich verstehe sowieso nicht, wie Gudekar jemanden wie Merle sitzen lassen kann. Merle sieht unglaublich gut aus und ist auch noch schrecklich lieb, sogar ich habe nur einen Tag gebraucht, um mich in sie zu verlieben!” Die Gauklerin hielt inne und sah Nivard verlegen und entschuldigend an, während ein leiser Rosaton, den man in diesem Licht kaum sehen durfte, ihre Wangen überzog. “Ups. Ist mir so rausgerutscht. Stimmt … stimmt aber trotzdem. Aber genau darum werde ich versuchen, ihr zu helfen, wenn ich auch keine Ahnung habe, wie ich deinen Plan in die Tat umsetzen soll. Wir müssen erstmal diese Jagd zu Ende bringen, dann sehen wir weiter.” Und wie war das nun mit Sorgen um Merle, welche sie noch mehr von der Jagd ablenkten?

Nivard wusste erst einmal gar nicht, was er sagen sollte. Hatte er sich verhört? Warum musste immer alles noch komplizierter werden, als es ohnehin schon war? Sein Kiefer klappte lautlos auf und zu. Und gleich liefen sie auch noch auf ihre Jagdgruppe auf…

"Natürlich. Und darauf konzentrieren wir uns jetzt erst einmal." stimmte Nivard Doratrava mechanisch, wie in Trance zu. "Danach nehmen wir uns Merles und Gudekars an. Ich bin so dankbar, dass Du dabei bist!" Was redete er hier, fragte er sich, wie ein Beobachter seiner selbst, aus weiter Ferne. "Den heutigen Tag und die Nacht haben wir noch auf jeden Fall, vor der Hochzeit wird gewiss nichts passieren. Spätestens dann könnte es aber brenzlig werden."

Ohne sein Zutun, so kam es ihm vor, deutete sein Arm nach vorne und aus seinem Munde kamen hohle Worte: "Jetzt wird es aber erstmal nur für die Wildschweine brenzlig!"

Doratrava nickte, wunderte sich aber, dass Nivard nicht auf ihr Geständnis eingegangen war. Doch für den Moment konnten sie nichts tun, außer dafür zu sorgen, dass sie den Anschluss an die Gruppe nicht verloren. Die Gauklerin beschleunigte ihren Schritt.

***

Einteilung der Jagdgruppen

An einer Esche, die mit einem Band aus naturfarbenem Stoff markiert war, ließ der Firungeweihte anhalten und nickte dem älteren Häßler zu.

Jagdmeister Leodegar erklärte das weitere Vorgehen: „Wir nähern uns dem Schlafplatz der Rotte. Er liegt in einem Haselnussdickicht. Ab hier werden wir uns aufteilen und sie einkesseln, um ihnen so erst noch etwas entgegen zu pirschen, dann, auf mein Zeichen werden wir sie in Richtung einer Senke treiben, in der wir sie festhalten und dann die besagten Tiere herausnehmen“, fing er an, mit nüchterner Stimme die Taktik der Jagd zu erläutern. „Dazu bilden wir drei Gruppen. Seine Gnaden wird vorausgehen und die Rotte umrundet haben, wenn wir auf sie treffen. Seine Wohlgeboren,“ er deutete auf seinen Lehnsherrn Friedewald, „wird jene Gruppe anführen, die unseren Markierungen zur Rechten folgt. Mein Sohn Wulfhelm wird den anderen Flügel führen, welcher den Markierungen zur Linken folgt. Ich selbst gehe mit den Hunden im Rücken von uns allen. Ich würde vorschlagen, dass jeweils einer der anderen Hunde sich einem der Flügel anschließt, sofern ihr versichern könnt, dass eure Tiere nicht vom Jagdtrieb übermannt werden und nach vorn stürzen. Das sollte nicht passieren, solange wir die Rotte nicht in der Senke wissen. Besteht Gefahr, dass dies geschieht, so kommt lieber mit mir und dem Rudel mit. Das Rudel wird die Hitzköpfe schon im Zaum halten. An alle eine Bitte: Bleibt, so weit es geht, auf dem Pfad, den wir markiert haben. Dann sollten unsere Pläne aufgehen.“ Er deutete auf die sandfarbenen Stofffetzen.

“Wir werden uns erst noch eine kleine Weile leise anpirschen - dann, ab einem bestimmten Punkt, werde ich anfangen, sanfte Geräusche zu machen. Tut erst dann dasselbe! Nicht vorher. Am besten mit Altholz gegen Büsche und Stämme klopfen, aber keinesfalls schreien. Wir wollen die Rotte ja weder in Panik versetzen, noch frühzeitig über unser Kommen informieren. Wir wollen sie sanft aufwecken und in eine bestimmte Richtung vertreiben. Haben wir die Rotte dann in der Senke, schießen zuerst die Schützen auf das Kommando ‚Sau vor!‘ Nicht früher! Alsdann gehen die Spießer ran. Die Spießer gehen auf bereits angeschossene Tiere. Das ideale Ziel wäre: jede Gruppe geht auf eine der älteren Sauen und auf zwei der halbwüchsigen Tiere. Wie schon erwähnt, die Rottenführerin wird nicht angegangen! Der Regen ist in unserem Fall heute günstig für die Jagd, da kein Wind geht und die Rotte uns nicht vorzeitig wittern wird. Seid aber trotzdem leise, bis ich beginne, zu lärmen.“ Der Jagdmeister Lützeltals sah in die Runde, ob jeder ihn verstanden hatte. „Ach, ich vergaß zu erklären, an was wir die Leitbache ausmachen: sie hat einen Schlitz im Ohr, der von einer früheren Bejagung stammt. Ein sehr schlaues Tier. Man erkennt sie leicht.“

„Leodegar, hab dank für die Ausführung - Gut, teilen wir uns also auf,“ schloss Friedewald euphorisch und wandte sich an seine Tochter: „Wo gehst du mit?“

„Mit euch, Herr Vater“, antwortete Mika und klopfte auf die Laterne. „Ich leuchte.“

„Sehr gut, sehr gut,“ murmelte Friedewald und lächelte zufrieden, dass seine Jüngste sich so wortlos den Anweisungen ihres ‚Herrn‘, des Geweihten, beugte. Demut war eine sehr gute Tugend für junge Leute. Man konnte nicht früh genug damit anfangen, sie zu verinnerlichen.

Auf rutschigem Grund unterwegs

So ging es denn in drei Gruppen los. Zuerst noch leise. Denn, wie vom Jagdmeister angewiesen, wollte man sich erst noch eine kleine Weile anschleichen.

Lares machte sich hier allerdings nicht die größte Mühe - schließlich verachtete er die Heimlichkeit als Unart.

Die Hunde des Jagdmeisters kannten das Gelände, sie bewegten sich sehr elegant über den Grund. Andere hatten da mehr Probleme, denn der Waldboden war durch den Regen aufgeweicht und das Gemisch aus Totholz und Altlaub sehr rutschig.

Die Bäume des Haderholz hatten ihre Blätter bereits geschmissen, immerhin war ja bereits Travia, und es gab nirgends ein trockenes Plätzchen, denn der Regen fiel ungebremst zur Erde. Das abgestoßene braune Laub bedeckte wie ein hinterlistiger Teppich Wurzeln und Äste und man wusste einfach nicht, worauf man seine Schritte setzte. Wer eine Saufeder in der Hand hielt, besaß eine gute Stütze, um über den feuchten Grund zu laufen, war allerdings auch nicht gänzlich vor dem Ausrutschen und möglicherweise Hinfallen gefeit.

Noch hatte der Jagdmeister nicht begonnen, Geräusche zu verursachen, also war man noch nicht nah genug am Lagerplatz der Rotte dran. Doch wer wusste schon, ob sich nicht anderswo Ohren aufstellten, denn…

Gruppe 2

…lautes Bersten von Holz hallte durch den Wald, gefolgt von einem Aufschrei, der gleichermaßen von Schmerz wie von Frustration kündete. Wulfhelm nahm sich einen Moment, um nach seinem Sturz Bestand zu nehmen: Er war ausgerutscht und gefallen, während er sich nach ‘seiner’ Gruppe umgesehen hatte, woraufhin er eine Senke hinabgestürzt war. Nach zwei oder mehr Überschlägen hatte er deren Grund erreicht, wo er mit einem Stück Totholz kollidiert war, bevor er in der knöcheltiefen Lache aus Regen und Schlamm liegen blieb. Er war so konzentriert darauf gewesen alles richtig zu machen, die edle Dame und den Herrn Ritter zu der Jagd zu führen. Bei sich hatte er bereits gedacht, es nicht schlecht getroffen zu haben: die Dame von Kaldenberg, obwohl sie eher auf was sein Vater eine ‘gesellschaftliche Jagd’ nannte, heimisch schien, schlug sich gut und auch der Herr von Sturmfels schien neben rondrianischen auch waidmännische Fähigkeiten gelernt zu haben. Nun lag er im Schlamm und obwohl der Sturz und der Ast, den er getroffen hatte, ihn schmerzten, wurde ihm langsam klar, dass es ihn viel schlimmer hätte treffen können.

Er hob den Kopf, sah sich um und entdeckte seine Saufeder nur wenige Schritte entfernt liegen. Leise stöhnend richtete er sich auf. Nun kniend, griff er nach dem Futteral, in welchem er seine Armbrust trug. Er brauchte ihn nicht einmal zu öffnen, um zu sehen, dass er mit dem Sturz die Wurfarme seiner Waffe verbogen hatte. Soviel dazu. “Scheiße!”, murmelte er leise und gönnte sich einen Moment der Besinnung, während er sich die schlammtriefende Kapuze vom Kopf strich und das Gesicht in den Regen wandte.

Die Lektionen Jagdmeister Keldors waren nicht fruchtlos an Darian vorbeigegangen. Je länger er sich im Wald aufhielt, desto mehr erinnerte er sich ihrer. Nicht zu eilig, Herr Ritter, hatte der schweigsame Waidmann ihn immer gemahnt. Mehr und mehr fand der Sturmfelser Gefallen an dem Kitzel, den eine solche Jagd zweifelsohne für all jene mit sich brachte, die sie im Sinne des Herrn Firun angingen.

Da hörte er den Schrei Wulfhelms.

Dies war eine Jagd. Jeder gab sein Bestes, und ein jeder Wald konnte tückisch sein, auch wenn man ihn noch so gut kennen mochte.

Der Stumfelser eilte so schnell es ging - und ohne dabei Unvorsicht walten zu lassen - zum Sohn des hiesigen Jagdmeisters und hielt ihm mit einem einzigen Nicken die ausgestreckte Hand hin, ohne ein Wort zu sagen.

Nach einem kurzen Moment des Zögerns ergriff Wulfhelm die angebotene Hand und zog sich aus dem knöcheltiefen Schlamm. Für einen Augenblick lag ihm eine Entschuldigung auf den Lippen, aber er fand keine Worte die er angemessen fand, also nickte er bloß ernst zum Dank, bevor er sich wandte seinen Spieß aufzuheben.

Die Baroness hingegen blickte nur kurz und ungerührt auf den Sohn des Jagdmeisters. Rasch war ihre Aufmerksamkeit wieder bei der Jagd, den Geräuschen, die sie umgaben. (Und ihre Hündin hatte ohnehin kaum Notiz vom Sturz des Menschen genommen.)

Kurze Zeit später hörten sie den lauten Schmerzensschrei einer jungen Frau aus der Richtung, in der Gruppe eins unterwegs war. Dem ersten Schrei folgte bald ein zweiter, etwas leiseres Schrei mit der selben Stimme.

Wulfhelm merkte auf und erstarrte für einen Moment während er angestrengt lauschte. Als aber kein Hornsignal folgte, entspannte er sich wieder ein wenig. Milde Tochter, halte Fürbitte für uns bei deinem grimmen Vater, für uns, die wir in Demut und Bescheidenheit, mit lauterer Absicht, durch diese Wälder streifen! Während er sein stummes Stoßgebet an Ifirn sandte, sah er sich um und vergewisserte sich der Unversehrtheit der ihm Anvertrauten.

“Habt Ihr das gehört? Drüben gibt es Probleme! Wir sollten hinüber und sehen, ob wir helfen können.”

Der Ritter war drauf und dran, gleich hinzulaufen und warf nur einen kurzen Blick auf Wulfhelm und Arda, um sich zu vergewissern, dass sie ihm folgen.

Wulfhelm schüttelte den Kopf und hob Einhalt gebietend die Hand. “Vergebung, aber ich rate euch davon nachdrücklich ab, Hoher Herr!”, sprach er leise und etwas heiser, dann räusperte er sich.

Er ließ die Finger seiner Hand bis auf den Zeigefinger sinken. “Hört ihr das? Kein Hornsignal. Es gibt ein Signal, welches sie geben würden wenn unsere Hilfe von Nöten wäre. Ich nehme an, es war bloß eine Begegnung mit den Unwägnissen des regenfeuchten Waldes, nicht unähnlich meiner.” Er senkte den Blick und lächelte bitter. “Ich schlage vor, wir verweilen ein paar Augenblicke, so lassen wir sie nicht zurück.”

Arda stimmte zu. “Wir bleiben, wo wir sind. In der Schlacht würdet Ihr auch nicht Eure Position verlassen - nicht wahr, Herr Ritter?”, ergänzte sie in belehrendem Ton. Dann richtete sie ihre Sinne wieder in Richtung des Waldes.

Hatte er Wulfhelms Ausführungen noch folgen können, so verärgerten Darian der Ton und die schnippische, ja, verletzende Bemerkung Ardares. Er warf ihr einen für seine Verhältnisse ungewohnt hochmütigen Blick zu und straffte seine Statur.

“Unterlasst es, mir Befehle zu erteilen! Ich eile zu Hilfe, wenn Hilfe vonnöten ist. Herr Wulfhelm hier, der erfahrener ist in der Jägerei, hat mich überzeugt, dass es in diesem Fall besser ist, zu bleiben. Ihr dagegen, dass Ihr von wahrer Ritterschaft offenbar nur wenig versteht.”

Verärgert blickte er kurz in Richtung Wulfhelms und nickte diesem kurz zu.

Wulfhelm begegnete dem Blick des Herrn von Sturmfels, kurz ehe er ihn dem Boden zuwandte. Er lehnte den Jagdspieß gegen einen nahen Baum, während er den Sitz und den Inhalt seiner Taschen und Beutel prüfte und unterließ es aufzusehen: Er würde sich hüten, zwischen die beiden Adligen zu geraten.  

Die Hündin der Baroness wandte den Blick und ließ ein leises Knurren aus ihrer Kehle dringen, auch die Lefzen hoben sich. Es war dem Tier offensichtlich nicht entgangen, dass seine Herrin scharf angesprochen worden war.

Diese gab sich deutlich gelassener: “Kühlt Euer Mütchen an… Euresgleichen!”, beschied sie ihm, wobei sie verächtlich abwinkte. “Ihr seid es, der nichts versteht. Als Teil einer Jagdgesellschaft habt Ihr Euch einer Ordnung unterstellt, gleich einer Schlachtaufstellung. Wenn Ihr kopflos davonstürzt, weil Ihr selbigen nicht zu benutzen versteht, bringt Ihr die anderen Jäger ebenso in Gefahr, als würdet Ihr Euren Posten in der Schlachtreihe verlassen.” Es war nicht zu übersehen, dass die Kaldenbergerin mit sich und ihrer Zurechtweisung des Ritters höchst zufrieden war.

"Offenkundig versteht Ihr nicht nur von der Ritterschaft wenig, es fehlt Euch bedauerlicherweise auch an Etikette, wie sie einer Baroness gut zu Gesicht stünde. Zumal Ihr übersehen habt, dass ich noch immer hier stehe, weil ich dem Jagdmeister eine Frage gestellt habe, anstatt ‚kopflos davonzurennen‘, wie Ihr es formuliert habt.” Darian grinste verächtlich.

“Aber ich werde meine Zeit nicht mehr länger mit diesem Geplapper vergeuden und Eure Unverschämtheiten schlichtweg ignorieren. Es wäre nur gut, wenn Euer Hund … keine Dummheiten macht und Ihr ihn besser unter Kontrolle habt als Eure Zunge.” Er sagte dies mit ungewohnter Schärfe und hielt seine Saufeder sicherheitshalber parat. Denn wer wusste schon, was der Dame als nächstes einfallen würde?

Er warf Wulfhelm einen kurzen Seitenblick zu. “Vielleicht sollten wir weitergehen.”

Die Verärgerung in der Stimme des Sturmfelsers war unüberhörbar.

Die Baroness lachte - scheinbar amüsiert - auf, doch die Fröhlichkeit erreichte ihre Augen nicht. “Ihr müsst keine Angst vor meiner Hündin haben - SIE wird keine Dummheiten machen, denn SIE versteht etwas von der Jagd.”

In ihrem Kopf bat eine kleine - ganz kleine - Stimme Ardare darum, die Angelegenheit endlich auf sich beruhen zu lassen. Doch die junge Adelige wollte nicht hören, sie war nun in Fahrt geraten. Voll von bösem Spott wandte sie sich an Wulfhelm: “So, neuer Herr Jagdmeister! Wenn Ihr damit fertig seid, den Boden zu untersuchen und Eure Armbrust zu eichen, sollten wir tatsächlich weitergehen, wie unser Fürstreiter der höfischen Etikette hier angemerkt hat. Meine Glückwünsche übrigens. Euer Vater wird sehr stolz auf Euch sein, wenn er von den Umständen Eurer Beförderung erfährt.”

Dem Ritter von Sturmfels wandte sie den Rücken zu, doch vergessen hatte sie ihn keinesfalls. Die Baroness fasste die Entscheidung, ihn für seine frechen Worte büßen zu lassen. Bestenfalls noch auf dieser Jagd.

Wulfhelm griff nach seinem Spieß, sein Gesicht angespannt, der Mund ein Strich. Er vermied es Blickkontakt mit der Baroness oder dem Ritter von Sturmfels aufzunehmen und wies mit einer einfachen Geste in die Richtung, die sie nehmen würden. “Es wird nicht mehr weit sein - Vielleicht sollten wir zunächst nur das nötigste sprechen.” Obwohl er sich Mühe gab souverän und sachlich zu klingen, gelang es dem jungen Jagdgesellen nicht, die Anspannung aus seiner Stimme zu verbannen.

Der Sturmfelser biss sich nicht einmal mehr auf die Zähne. Die vorlauten Worte der Baroness sprachen nach seiner Sicht für sich, und er gedachte, Wort zu halten und die Unverschämtheiten nicht mit weiterer Aufmerksamkeit zu belohnen. Vermutlich hatte sie noch nie eine Schlacht erlebt, sonst wären ihre Worte wohl bedachter gewesen, ging es dem Sturmfelser durch den Kopf.

Möge Firun geben, dass ich die bald los bin … dachte er innerlich. Vielleicht würde sie ja in irgendeinem Busch hängen bleiben und dann mit den Eichhörnchen und Spottdrosseln um die Wette zetern bis zu ihrer “Rettung”.

Innerlich schalt er sich selbst, dass er sich überhaupt auf dieses Intermezzo eingelassen hatte. Das hier war eine Jagd, und kein von Klatsch und Tratsch durchzogener Ballsaal, der eher das Parkett der jungen Dame war, wie er vermutete.

“Wohlan”, sagte er schlicht an Wulfhelm gewandt, um den Burschen nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen. Es war genug Geschirr zertreten worden.

Wulfhelm setzte sich vorsichtig in Bewegung und erst nach ein paar vorsichtigen Schritten, als er sicher sein konnte, dass sein Sturz ihm keine Prellung oder Zerrung eingebracht hatte, begann er die Jagdgruppen durch den Wald zu führen. Die Kapuze ließ er abgesetzt, obwohl der Regen rasch sein Haar durchnässte und ihn die Tropfen die sein Gesicht herab liefen irritierten, störte so der gewachste Wollstoff nicht den Blick auf die Ränder seines Gesichtsfeldes und erlaubten ihm so nicht nur nach vorne zu spähen, sondern auch die ihm anvertrauten Jäger edlen Blutes im Blick zu behalten.

Nach einigen Minuten schweigsamen Marsches erreichten sie eine winzige Lichtung. Wulfhelm marschierte voran, den Kopf nach links und rechts windend, in dem Versuch eine Besonderheit zu erkennen welche ihm ihre Position im Wald verraten hätte, während er im Kopf die Strecke die sie bereits zurückgelegt hatten überschlug.

Derart abgelenkt, bemerkte er die Schlammkuhle erst, als er mit einem schmatzenden Geräusch mit dem rechten Stiefel in ihr versank. Das Stolpern welches darauf folgte, konnte er mit einer schnellen Bewegung seines Jagdspieß abfangen, den Fluch der ihm auf den Lippen lag, herunterschlucken.

Mit einer langsamen Bewegung zog er seinen Stiefel aus dem Matsch und drehte sich zu seinen Gefährten, unnötigerweise mit der Hand auf die Gefahrenstelle weisend, in die er soeben gestolpert war.

Die Baroness von Kaldenberg ignorierte die Geste. Im Gegensatz zum Sohn des Jagdmeisters hatte sie sich nicht entscheiden können, ob sie die Kapuze gänzlich abstreifen sollte. Immer wieder zog sie sich den Stoff über den Kopf, wenn ihr ein dicker Regentropfen in den Nacken fiel, um die Kapuze dann wieder abzustreifen, wenn sie störte. Ihr Haar war deswegen bereits durchnässt, doch die junge Adelige hatte sich bisher keineswegs beklagt und bewegte sich auch leichtfüßig und behände durch den Wald.

Am Rande der Lichtung schloss Ardare zu ihrer Hündin auf, die dort verharrte, und kauerte zu dem Tier nieder. “Na, Süße, hast Du schon eine Fährte in der Nase?”, flüsterte sie in das aufgestellte Hundeohr zu ihrer Seite.

Darian fand sich recht gut in dem Wald zurecht. Zwar rauchte und brodelte es noch ein Weilchen in dem Herrn von Sturmfels. Doch schnell hatte er sich immerhin soweit gefangen, dass sein Ärger ihn nicht straucheln ließ wie - abermals - den unglückseligen Anführer dieser Truppe. Da der junge Mann dazu schwieg, gedachte auch Darian nicht, es zu kommentieren. Diesmal reichte er ihm allerdings auch nicht die Hand. Wulfhelm schien gut allein klarzukommen. Und zu groß schien die Gefahr, ihn vielleicht in Verlegenheit zu bringen.

Tharga vernahm lärmende Geräusche aus dem Wald. Und etwas nach den guten Hundeohren konnten nun auch die beiden Männer und die Baroness von Kaldenberg hören, dass in der Ferne Rabatz gemacht wurde. Tiefe Männerstimmen riefen „Jooooh joh!“ und Hunde kläfften immer wieder. Dazu das Knacken, Splittern, Poltern von Holz, das auf Holz geschlagen wurde. Für Wulfhelm das untrügliche Zeichen, dass es nun auch an ihnen war, mit dem Lärmen zu beginnen.

Die Hündin spannte sich an, erstarrte wie zur Statue, während die Baroness auffordernd zu Wulfhelm aufblickte.

Dieser entspannte sich merklich als er den Lärm vernahm: Zumindest das Gebot der Heimlichkeit war nun gefallen, ein Ding weniger, das seine Aufmerksamkeit forderte. Mit einem beherzten Tritt brach er von einem Totholz einen etwas weniger  als armlangen Ast ab und schlug zweimal mit diesem gegen den Stamm. “Hooooooooo - oooh!”, stimmte er mit tiefer Stimme in das Rufen ein. Mit einer auffordernden Handbewegung hieß er Baroness und Ritter weiter zu gehen, ehe er sich selbst wieder mit stetigem Schritt aufmachte, immer wieder innehaltend um zu lärmen.

Was hatte doch gleich der Jagdmeister gesagt? Man solle es nicht übertreiben. Also überließ der Rodaschqueller das Lärmen Wulfhelm, anstatt ebenfalls damit anzufangen, und ging vorsichtig und leicht geduckt nach vorn, wobei er jedoch seine Umgebung stets sehr aufmerksam im Blick behielt. Er packte die Saufeder etwas fester und hielt sie leicht vor sich, darauf gefasst, dass jederzeit ein Keiler oder eine Bache plötzlich losstürmen mochten.

Arda verharrte kauernd neben ihrer Hündin und ließ die beiden Männern aus ihrer Gruppe an sich vorbeiziehen. Als diese drei, vier Schritt vor ihr waren, erhob sie sich ebenfalls und folgte ihnen nach. Ihre Hand streifte leicht die borkige Rinde eines Baumes, den sie passierte, sie spürte die raue Textur, erschauerte ob der sinnlichen Intensität dieser Berührung. Die Augen kurz schließend, richtete sie ein stummes Gebet an ihre Göttin, die sie auf dieser Jagd führen sollte.

Irgendwo vor ihnen in der Ferne hörte erst die Hündin der Baroness, und dann auch die Männer es alsbald rascheln, grunzen und das Knacken von Holz. Keiner konnte genau sagen, wie groß der Abstand zwischen ihnen und der Rotte war, denn der Regen verfälschte jede Schätzung. Aber alles, was sie wahrnahmen, war, dass sich dort eine große Gruppe Tiere durch den Wald bewegte. Eine sehr große Gruppe. Irgendwo voraus. Die Familie hatte sich auf den Weg gemacht. Hoffentlich auf den von ihnen erwarteten und nicht auf einen ganz eigenen. Gerade Wulfhelm war sich sehr wohl bewusst darüber, dass es katastrophal werden würde, würde die Rotte auf nur eine ihrer Jagdgruppen treffen. Wie er es verinnerlicht hatte, beschleunigte er seine Schritte. Das Schleichen hatte nun endgültig ein Ende.

Mit einer kurzen Geste gab Wulfhelm seinen Mitjagenden zu verstehen, sich nun etwas schneller zu bewegen. Er selbst setzte sich an die Spitze, weiterhin regelmäßig laut gebend, nun aber ohne dafür inne zu halten. Er schien seine Mitte gefunden zu haben, bewegte sich nun aufmerksam und sicher durch den regnerischen Wald, sein Geist klar und seine Konzentration auf die Erfordernisse der Jagd gerichtet.

Arda balancierte auf einem umgefallenen Baumstamm über einen Graben, als laufe sie über die Jast-Gorsam-Brücke und nicht auf regennasser, rutschiger Rinde. Ihr Blick schweifte auf die Bäume und das Unterholz vor ihr, doch sie konnte sich nicht auf eine genaue Richtung festlegen, aus der sie den Lärm vermutete.

Tharga hatte einige Augenblicke vor ihrer Herrin über den Graben gesetzt und lauschte angespannt und mit erhobenen Ohren in den Wald hinein.

Als der junge Jagdgeselle sich umsah, um den Verbleib der anderen zu prüfen, fiel ihm etwas ein.

“Hoher Herr!”, rief er den Herren von Sturmfels an. “Ihr seid der einzige mit einer Fernwaffe in unserer Gruppe, ich werde die meine nach dem Sturz wohl richten müssen, ehe ich sie wieder nutzen kann. Wenn das Signal kommt, verwendet euren Bogen so lange ihr Ziele für eure Pfeile findet und überlässt die Sauen auf Spießdistanz uns!”

Der Ritter hatte offenbar keinerlei Schwierigkeiten, sich in dem Matsch auf den Beinen zu halten. Mit einer Geschwindigkeit und vor allem auch Gewandheit, die man angesichts seiner rondrianischen Statur vielleicht kaum vermutet haben mochte, huschte er eilig nach vorn. Mal schwang er sich über einen Ast, mal sprang über eine knorrige Wurzel, wobei er stets breitbeinig und sicher auf seinen Füßen zu stehen kam.

Zuerst wollte er fast widersprechen, als Wulfhelm ihm zurief, den Bogen zu verwenden. Es entsprach nicht dem Naturell des impulsiven Ritters, hinten zu stehen und mit dem Bogen zu schießen, während andere voran stürmten. Auf dem Pferd wäre das vielleicht etwas anderes gewesen. Aber so fragte er sich einen Moment, ob es klug sei, dass der noch recht junge Jäger und die verwöhnte, keifende Baroness die Front bildeten, während er selbst aus einer besseren und sichereren Position den Bogen gebrauchte. Einen Augenblick nur sah er Wulfhelm mit einem Blick an, als wolle er sagen: "Bist du sicher?”

Doch er sprach den Gedanken nicht aus.

Was hatte der Priester des Herrn Firun gesagt? Demut vor dem Herrn der Jagd! Zwar war es nicht reine Eitelkeit, die Darian zögern ließ, sondern die vermeintliche Gewissheit, dass er, als kampferprobter Ritter, vermutlich am ehesten an der Front zu stehen habe.

Doch es war in diesem Fall nicht an ihm, das zu entscheiden. Der Priester hatte Wulfhelm damit betraut, solche Entscheidungen zu treffen.

Er nahm seinen Bogen von der Schulter, zog den ersten Pfeil aus dem Köcher, und nickte Wulfhelm grimmig und entschlossen zu.

Wulfhelms Blick wanderte zur Baroness von Kaldenberg: “Hohe-chgeboren!”, sprach er sie an, sich im letzten Moment korrigierend. “Wir sollten uns nicht weit von einander entfernen. Der Boden ist rutschig und das letzte, was einer von uns will, ist zu stürzen und sich mit einer zornigen Bache im Schlamm balgen!”, er strich eine regennasse Strähne zurück, lächelte vorsichtig.

Die Baroness nickte knapp, löste mit der rechten Hand eine Schlaufe an ihrem Waffengurt und griff dann - ebenfalls mit der Rechten - in den Korb des Jagdrapiers, das sie nahezu lautlos zog. Die Klingenwaffe legte sie dann so auf den Holm des Stoßspeers, dass sie beide Waffen gleichzeitig greifen konnte und die Klingen von Rapier und Speer nahezu auf gleicher Höhe angriffslustig nach vorne lugten.

Mit Seitenblick auf den Sturmfelser positionierte sie sich so, dass Wulfhelm zwischen ihr und dem Ritter stand. Das hätte ihr noch gefehlt, dass dieser so von sich eingenommene Tugendbold sie mit Pfeilen spickte!  

Der Rodaschqueller bemerkte es kaum und ließ sich nichts weiter anmerken. Was die verzogene Jungadlige trieb, war nur insofern von Belang für ihn, als dass er nicht darauf vertrauen wollte, dass sie das Jagdhandwerk tatsächlich beherrschte. Was bedeutete, dass sie eine Gefahr darstellen konnte, wenn sich diese Annahme bewahrheiten sollte. Er konzentrierte sich auf das, was es nun zu tun galt. Jeden Moment mochte eine der Sauen aus dem Dickicht stürmen. Da! War das Grunzen und Quieken nicht wenige Schritt entfernt? Er blickte in die Richtung, aus der er es vernommen hatte, drehte sich zur Seite, streckte kurz seinen Arm aus und rief “dort!”, um kurz darauf den Bogen zu spannen.

Ein Pfeil bloß in die Seite konnte eine wütende Bache oder einen rasenden Keiler kaum aufhalten. Das hatte ihm Jagdmeister Keldor einst als Warnung mitgegeben. Er musste sich konzentrieren und gut zielen …

Das Blut rauschte in Wulfhelms Ohren und seine Venen wurden zu Eis. Mit beiden Händen packte er seinen Jagdspieß und starrte angestrengt in die bezeichnete Richtung. “Gebt laut!”, forderte er seine Gefährten auf und es gelang ihm nicht ganz die aufkommende Panik, die er verspürte, aus seiner Stimme zu verbannen. “Sie dürfen jetzt noch nicht durch unsere Linie brechen!” Dann befolgte er seinen eigenen Rat und brüllte ein lautes “Haaa-ooh!” in den Wald.

Die Wehrheimer Hündin kauerte sich in Deckung nieder, um eine der heranstürmenden Sauen abzupassen. Als verstünde sie, dass sie den Menschen nicht im Weg herumstehen dürfe, hielt sie sich dabei etwas abseits der anderen. Nach wie vor war Tharga bis in die Haarspitzen angespannt.

Ihre Herrin schien das ganze etwas lockerer zu sehen. Arda hielt den Spieß weiter in beiden Händen und sich selbst in geduckter, fast kniender Position. Sie wusste, dass sie mit ihrem vergleichsweise geringen Gewicht eine heranstürmende Sau nicht würde halten können. Nur durch einen tieferen Schwerpunkt würde sie diesen Nachteil beheben können. Ihre rechte Hand, die zusätzlich das Jagdrapier hielt, war vorne positioniert. Das hintere Ende des Spießes war in den Waldboden gerammt, wobei Ardas linker Fuß den Spieß vom Abrutschen hindern sollte. Mit amüsiert gespitztem Mund stimmte die Baroness in das Rufen ein - “Haaa-oooh!” - doch ihre Augen leuchteten und straften die zur Schau gestellte ironische Distanz Lügen.

Da plötzlich sprang tatsächlich Schalenwild durch das Gebüsch, aber es waren keine übellaunigen Schwarzkittel, sondern drei ‘Trughirsche’: ein Rehbock mit zwei ihm folgenden Ricken. Ganz offenbar waren die Tiere aufgeschreckt, daran bestand kein Zweifel. Ob sie aber nun von der übellaunigen Gruppe Schwarzkittel oder den lãrmenden Jägern aus dem Schlummer gerissen worden waren, ließ sich leider nicht sagen. Der Ausdruck von Angst und das entsetzte Blöken des Männchens, als es auf die Gruppe Zweibeiner traf, ließ jedoch die Vermutung zu, dass die drei auf ihrer Flucht nicht mit den Menschen gerechnet hatten. Eine der Ricken rutschte aus und fiel quiekend hin.

Wulfhelm entspannte sich und richtete sich aus seiner leicht geduckten Haltung auf, als  er der Tiere ansichtig wurde. Der durchbrechenden Rotte hier und jetzt zu begegnen, hätte hässlich werden können. Mit einer wedelnden Bewegung bedeutete er dem jungen Rotwild zu verschwinden, schließlich waren nicht sie es, die heute bejagt wurden. Seine Anspannung entlud sich in einem kurzen Lachen, bevor er sich nach seinen Gefährten umsah.

Darian senkte seinen Bogen, blieb aber wachsam. Es war vielleicht nicht unbedingt damit zu rechnen, dass nun die zuvor vermutete Rotte von Schwarzkitteln dem Hirsch und den beiden Ricken folgte, aber man wusste ja nie. Er war kein Jäger, sondern Krieger. Aber in beiden Fällen war Wachsamkeit stets eine gute Begleiterin.

“Nicht ganz, was wir erwartet haben”, sagte er mit einem Nicken und lächelte.

Die Baroness atmete aus und ließ ihre Schultern einige Male kreisen, ohne den Griff des Jagdspießes zu lösen. Auf ihrem Gesicht war kurz Enttäuschung zu lesen, dann richtete sie den Blick wieder konzentriert in den Wald. Das Rotwild oder ihre Jagdbegleiter schien sie zu ignorieren.

Die Hündin hingegen wirkte aufs Äußerste angespannt, ihr Blick zunächst auf das gestürzte Ricken fixiert und die Augen weit aufgerissen. Sie schien auf einen Befehl zu warten, der nie kam, und schließlich drehte sie ihren Kopf in Richtung Arda, wurde aber ebenfalls ignoriert. Also verharrte die Wehrheimerin weiter.

Nach einem kurzen Augenblick der Besinnung, den der junge Jagdgeselle nutzte, um sich eine triefende Strähne Haar aus dem Gesicht zu streifen, forderte Wulfhelm die Jäger mit einer knappen Geste zum Aufbruch auf. “Wir sollten nicht unnötig verweilen - Es ist nicht mehr weit.”

Schnell streifte Darian seinen Bogen wieder über die Schulter, packte die Saufeder, und sprang mit einem Satz von der kleinen Anhöhe, auf der er stand, hinunter. “Dann los.”

“Nach Ihnen, Herr Jagdmei–gehilfe.” gab die Baroness spöttisch zurück, den Versprecher Wulfhelms von zuvor imitierend. “Ich hoffe, Ihr denkt nicht, Ihr musstet meinetwegen warten.” Sie löste das hintere Ende ihres Jagdspießes aus dem Waldboden und trat mit der Hacke nicht ungeschickt ein wenig festgesetzte Erde vom Holm. den Jagdspieß nahm sie in die Rechte, das Jagdrapier behielt sie jedoch ebenfalls in der Hand.

Tharga sah argwöhnisch dem Rotwild nach, welches hinter ihnen durch den Wald brach.

Da vernahm ihr scharfes Gehör aus der Richtung schräg rechts von ihrer Position das aggressive Bellen einen anderen Hundes. Das Gebell war von der bedrohlichen Art und sie verstand sofort, um was es ging: ihr Artgenosse rief so laut, um eine drohende Gefahr abzuwenden. ‚Komm nicht näher, wenn ihr keinen Ärger wollt‘ hieß es.

Darian blickte Wulfhelm an und rollte mit den Augen, wobei er ein leichtes Stöhnen ausstieß. Sie gab einfach keine Ruhe! Und nun giftete sie gegen den Anführer dieser kleinen, ungleichen Jagdgruppe. Was in aller Welt hatte diese unsägliche Frau dazu getrieben, sich ihren feinen Zwirn hier im Wald schmutzig zu machen und dabei allen auf die Nerven zu gehen?

Der junge Mann indes schien mit der Sache überfordert - was ja auch kein Wunder war. Wie hätte er auch damit rechnen können? Sein Revier war der Wald, und nicht das Parkett der höfischen Gesellschaft. Er benötigte hier etwas Unterstützung - ohne, dass dabei noch mehr Pfeile in den Köcher gesteckt und neues Gift verschossen wurde.

“Dann lasst Euch nicht aufhalten”, sagte er knapp an Wulfhelm gerichtet und mit einem kurzen Seitenblick zur Baroness.

“Offenbar haben die Hunde einer anderen Gruppe wieder etwas gewittert.”


Thargas Ohren zuckten, drehten sich in die Richtung des Gebells. Das fliehende Rotwild war vergessen. Die Hündin blickte zu ihrer Herrin, gab ein kurzes, nervöses Japsen von sich und wandte sich dann wieder dem Lärm zu. Es war ihr geradezu anzusehen, dass es sie viel Kraft kostete, nicht sofort in Richtung ihres Artgenossen loszulaufen.

Die Baroness hob die linke Hand warnend und verharrte für einige Herzschläge, als würde sie konzentriert lauschen. “Nein, nichts gewittert”, antwortete sie Darian mit tonloser Stimme, ohne diesen anzusehen. Einen weiteren Moment später ergänzte sie mit unbeirrbarer Bestimmtheit: “Nur ein Hund. SEHR nervös. Er verbellt eine Gefahr.” Es gab nur eine Erklärung dafür. Der Hund war bestimmt nicht alleine im Wald spazieren, und dort, von wo das Gebell herkam, sollte eigentlich keine Gruppe sein… schon gar keine Gruppe mit nur einem Hund…

Arda wandte sich mit ihrer Schlussfolgerung an Wulfhelm: “Eine verirrte Gruppe von Jägern muss auf die Rotte gestoßen sein!” Mit ihrer linken Hand deutete sie nun in die Richtung. Ihre Augenbrauen hoben sich auffordernd, um dem Jagdgehilfen eine Antwort abzuringen. Es schien, als ob sie sich seiner Entscheidung unterzuordnen beabsichtigte, aber es war ebenso ersichtlich, welche Entscheidung sie von ihm erwartete.

Wulfhelm schien zu denselben Schlüssen wie die Baroness gekommen zu sein, zumindest nickte er während ihrer Ausführungen mehrfach, während er sich mit angespanntem Gesichtsausdruck auf die Unterlippe biss. “Das ist keiner von unseren…”, bemerkte er halblaut. Kurz blickte er zu seinen Gefährten, ehe er eine Entscheidung traf. “Auf! Das kann kein gutes Zeichen sein!”

Die Baroness ließ sich das nicht zweimal sagen, und ihre Hündin noch weniger. Letztere sprang los und war mit wenigen Sätzen im Dickicht verschwunden. Arda konnte die Geschwindigkeit des Vierbeiners natürlich nicht halten, doch auch sie legte ein beachtliches Tempo vor, als sie sich einen Weg durch den Wald bahnte, auf das Gebell des Hundes zu.

Der Rodaschqueller war kein Paraderitter, wie sie mittlerweile oft zu finden waren in den sicheren Kernprovinzen des Reiches. Nein, er war kein Ritter, der in silberner Rüstung glänzte, während sich unter dem Kürass gut versteckt bereits die Pölsterchen breit machten.

Kraftvoll und gewandt zugleich eilte er durchs Dickicht, der Hündin und ihrer Herrin dicht auf hinterher - und dann an der Baroness vorbei. Der Rausch der Jagd, er hatte ihn befallen: jenes Gemisch aus Kitzel und Furcht, das Ansporn und Verlangen gleichermaßen war. Er war auf der Jagd!

Wer ihn so sah, wie er schnell und scheinbar mühelos durch das Unterholz huschte, bemerkte unweigerlich, dass der Ritter der Elfenbaronin außerordentlich gut in Form war.

Wulfhelm ließ die beiden Adligen vorauseilen und folgte in kurzem Abstand. Mit langen Schritten eilte er durch den Wald, dem Hundegebell entgegen.


***

Gruppe 1

Borix stapfte unbekümmert hinter seinen Gefährten durch den Wald. Es war praktisch, dass sie ihm alle Äste aus dem Weg räumten, so dass er ohne weitere Hindernisse voran kam. Das Marschieren durch den Regen und den matschigen Boden machte ihm nicht aus, es erinnerte ihn an seine Zeit als Soldat.

Obwohl sie es nicht wollte, kreisten Doratravas Gedanken während des Marsches durch den Wald fast unablässig um den selbstgerechten Geweihten, der sie ohne für sie ersichtlichen Grund so abgekanzelt hatte. So stolperte sie des öfteren auf dem vom Regen durchweichten Grund, weil sie sich nicht richtig auf den Weg konzentrierte, bis es kam, wie es kommen musste: auf einem leicht abschüssigen Stück rutschte ihr linker Fuß weg und verfing sich noch dazu in einer Wurzel. Die bisherigen leichten Ausrutscher hatte sie mit ihrer nicht ganz schlechten Körperbeherrschung mehr oder weniger ohne darüber nachzudenken auspendeln können, aber das war zu viel. Mit einem erschreckten Quietschen ging sie zu Boden, und als sich auch noch ein Ast in ihren Bauch bohrte, entfuhr ihr ein unterdrücktes "Scheiße!" Zum Glück konnte der Ast wenigstens nicht den breiten Ledergürtel durchdringen, das gab höchstens einen kleinen blauen Fleck. Hoffte sie.

"Alles in Ordnung?" raunte Nivard ihr mit kaum vernehmbarer Stimme zu. Trittsicher schloss er zu Doratrava auf und streckte ihr, auf der Saufeder abgestützt, hilfbereit seine freie Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen. "Hast Du Dir wehgetan?"

Doratrava musste sich beherrschen, um die Lautstärke ihrer Stimme niedrig zu halten. “Nicht der Rede wert”, zischte sie zurück, wütend über sich selbst, aber auch über die Umstände, die sie so aus dem Tritt gebracht hatten und die einen Namen hatten: Firumar. Sie nahm Nivards Hand, auch wenn das nicht nötig gewesen wäre, und ließ sich hochziehen. Sie zuckte zusammen, als plötzlich weitere laute Geräusche und ein zwar weit entfernter, aber dennoch deutlich zu hörender Aufschrei an ihre Ohren dran. “Na, scheint auch bei den anderen nicht so gut zu laufen”, flüsterte sie daraufhin. Sie war nicht schadenfroh, aber dennoch irgendwie beruhigt, dass sie nicht als Einzige Lärm machte.

Durch Doratravas Ausrutscher und das anschließende Geflüster zwischen ihr und Nivard sowie dem plötzlichen Aufschrei von Wulfhelm war auch Mika einen Moment abgelenkt. ‘Hätten wir mal auf Firumar gehört und die Tänzerin zurückgelassen’, dachte sie verärgert, als auch sie auf einem feuchten Blatt ausrutschte. Mika wollte sich instinktiv mit der rechten Hand an einem Ast festhalten, der halb über den Pfad wuchs, doch erwischte sie etwas Totholz, das unter dem Schwung, den sie hatte, abbrach. Noch immer den toten Ast haltend drehte sich Mika bei dem Sturz so, dass sie auf ihre linken Seite fiel. Ihre Hüfte drückte dabei auf die Laterne, die die Novizin noch immer krampfhaft in ihrer linken Hand hielt. Das Glas der Lampe zerbrach dabei in einige größere Scherben, das Licht erlosch. Plötzlich durchfuhr ein brennender Schmerz Mikas linke Hand und sie spürte, wie warmes Blut über ihre Finger lief. Vor Schmerz und Schreck schrie Mika laut auf.

Friedewald eilte sofort zu seiner Tochter und kniete sich neben sie. “Liebes, ist alles in Ordnung?” Er drehte sie um, so dass ihre Hand frei lag. Sofort erkannte er die schwere Verletzung von Mikas Hand. Eine Scherbe hatte sich tief in die Handfläche geschnitten und das Blut floss aus der Wunde. Er bekam einen Schreck, konnte sich jedoch beherrschen, sich nichts anmerken zu lassen. Friedewald zog vorsichtig die Scherbe aus der Wunde und nahm ein Tuch aus seiner Jackentasche, das er fest um die Wunde band. “Mika, kannst du deine Finger bewegen?” fragte er in sanftem Ton.

Die Firunnovizin versuchte trotz der Schmerzen, die Finger zu einer Faust zu ballen, doch gelang es ihr nicht, die Finger zu krümmen. Derweil färbte sich der Verband blutrot. Erneut schrie sie vor Schmerzen auf. “Nein, Vater, es geht nicht!” weinte sie.

“Verdammt!” Friedewald schaute hilfesuchend zu Borix und Nivard. “Wisst Ihr, ob jemand Heilkundiges mit auf der Jagd ist?” Dann ergänzte er in leisem Ton: “Und wo ist der Junge, wenn man ihn einmal wirklich braucht?”

"Na, das kann ja heiter werden..." murmelte Nivard mehr zu sich, als er auch noch Mika straucheln und stürzen hörte, nur Doratrava, die fast wieder aufrecht stand, konnte es mit Mühe verstehen. Ebenso leise fügte er an diese gerichtet hinzu. "Mir scheint, seine Gnaden sollte ein stärkeres Auge auch auf seine eigene Novizin haben."

Erst nach Friedewalds Fluchen und einem Blick auf Mika wurde ihm gewahr, dass hier mehr im Argen lag als nur eine verdreckte und durchnässte junge Frau und zu früh vorgewarnte Wildschweine.

"Ich hab Verbandsmaterial und etwas Schnaps zum Reinigen und Schmerzstillen dabei." raunte er hilfsbereit zurück. Notdürftig verbinden könnte er die Wunde sicherlich. Um alles andere würde sich aber besser ein richtiger Heiler kümmern.

Bei Nivards Worten wallte zunächst ein wenig Schadenfreude in ihr auf, aber diese verebbte gleich wieder, denn das war ungerecht. Was konnte Mika dafür, dass Firumar so ein Arsch war. Sie folgte Nivard zu der gestürzten Novizin, hielt sich aber schweigend im Hintergrund. Die Verletzung sah übel aus, soweit sie das im Dämmerlicht erkennen konnte, und da ihre eigenen Heilfähigkeiten gerade mal genügten, einen Verband an einer glatten Stelle anzulegen, konnte sie sowieso nichts tun.

Borix kam als letzter zu der Gruppe. “Wenn es schlimm ist, dann könnte ich Mika zu Murla bringen”, bot er sich an. “Die bekommt das bestimmt wieder hin.”

“Vater, bitte nicht! Dann kann ich nicht weiter an der Jagd teilnehmen”, weinte Mika verzweifelt.

“Danke, Borix, das rechne ich dir hoch an.” Friedewald legte seine Hand auf Borix’ Schulter. “Aber dann ist die Jagd wohl auch für dich vorbei. Bis ihr im Dorf wäret und du wieder zurück, würdest du uns nicht wiederfinden. Das ist wohl eher meine Aufgabe, meine Tochter zurück zu begleiten. Aber wir müssen Firumar Bescheid geben.”

“Papperlapapp, mein Freund!” wand der Angroscho ein. “Du musst hier Deiner Gastgeberpflichten nachkommen. Ich geleite Mika gerne zurück. Alleine sollte sie jedenfalls nicht gehen.”

“Vater, ich will die Jagd nicht abbrechen”, protestierte Mika.

“Nein, Schatz, mit der Wunde kannst du nicht weiter gehen. Du könntest uns eh nicht helfen und wärst eher eine”, Friedewald machte eine Pause, da es ihm leid tat, Mika das direkt zu sagen, “eine Behinderung und Gefahr für alle anderen.” Der Edle blickte zu Nivard. “Herr von Tannenfels, würdet Ihr bitte ihre Wunde mit Eurem Schnaps provisorisch reinigen, wenn es Euch nichts ausmacht?”

"Sofort." Nivard ging mit der geöffneten Schnapsflasche in der Hand vor Mika in die Hocke. "Vorsicht, jetzt bitte kurz die Zähne zusammenbeißen! Wird gleich etwas brennen! Oder wollt Ihr vorher erst noch einen kleinen Schluck gegen den Schmerz?"

“Nein”, lehnte Mika ab. “Das halte ich aus, ich muss einen klaren Kopf behalten. Aber gebt mir einen Lederriemen zwischen die Zähne, damit ich nicht nochmals aufschreie. Falls ich nicht eh schon alle Säue verscheucht habe.”

In Doratrava arbeitete es, aber sie musste jetzt erst einmal Nivards Behandlung abwarten. Sie wusste nicht, ob Mika schon mal auf diese Weise behandelt worden war, aber so schlimm und tief, wie die Wunde aussah, würde der Alkohol ihr vermutlich gefühlt die Seele aus dem Leib brennen.

Borix stand neben Mika und wartete erst einmal das Ergebnis der Wundversorgung ab, er wäre bereit, sein Angebot wahr zu machen und Mika zurück ins Dorf zu bringen.

Nivard sah Mika zweifelnd an, dann nickte er. "Wie Ihr wollt. Hier, nehmt diesen da." Er hielt ihr den eigens dafür vorgesehenen kleinen Riemen, der gerade noch das Verbandszeug zusammengehalten hatte, quer vor den Mund. "Bereit?" Er wartete, bis die Novizin die Zähne kräftig darumgebissen und genickt hatte. "Dann bringen wir es hinter uns… Wenn Ihr sie festhalten würdet?” bat er Friedhelm und Borix.

Der Angroscho nickte und stützte die junge Frau mit kräftigen Händen.

Wie er es in Elenvina gelernt und wenige Male auch schon nutzbringend anwenden musste, entfernte er sodann mit beherzten Griffen zunächst den groben Dreck, eher er die Wunde mit Schnaps gründlich ausspülte und sich schließlich daran machte, diese straff und sorgfältig zu verbinden. “Wenn Ihr doch noch etwas trinken wollt: es ist noch Schnaps über.”

Nein, Mika wollte definitiv nichts trinken. Doch sie biss fest auf den Riemen. Als Nivard mit der Behandlung anfing, fing sie an, schnelle kurze Atemzüge durch die Nase zu ziehen, sodass Nivard Sorge bekam, sie würde gleich zusammen brechen. Aber sie schrie nicht auf, noch nicht einmal ein Jammern kam aus ihrer Kehle. Selbst als Nivard den Alkohol über die Wunde goss, ertrug sie den brennenden Schmerz, ohne einen Laut von sich zu geben. Bald schon beruhigte sich auch ihr Atem, und als der Krieger anfing den Verband anzulegen, spieh sie den Riemen aus und fragte: “Und, Herr von Tannenfels, sieht es arg schlimm aus?”

“Für diese Jagd? Ich fürchte schon …” Nivard sah Mika mit einem bedauernden und sehr ernsten Gesichtsausdruck an. “Ich bin zwar Krieger und kein Medicus … aber so viel erkenne ich selbst mit meinem Anatomiewissen: Mit der Hand werdet Ihr heute … und auch danach so schnell nichts mehr anfangen können. Da ist mehr kaputt als nur eine Fleischwunde. Ihr müsst so schnell wie irgend möglich zu einem Medicus, zu einem guten! Einem, der nicht nur verbinden oder eine Schnittwunde nähen kann, sondern auch tiefere Wunden flicken kann. Noch besser zu einem Heilmagus!” Er wendete seinen Blick zu Friedewald, darauf hoffend, dass dieser im Zweifel mit seiner Autorität das junge Mädchen davon abhielt, vollkommen unnötig die Heldin mimen zu wollen. Denn genau das befürchtete er, nach ihrer allerersten Reaktion gerade.

“Verdammt!” entfuhr es Friedewald. “Wir brauchen hier eigentlich jeden Mann und jede Frau. Und wir müssen Firumar Bescheid geben, er muss wissen, dass unsere Gruppe dezimiert wird und insbesondere seine Novizin uns nicht weiter zur Hand gehen kann.” Er biss sich auf die Zunge, da es ihm enorm schmerzte, seiner Tochter diese Enttäuschung antun zu müssen. “Mika, hast du ein Jagdhorn, um Firumar zu rufen?”

“Nein, Vater, nicht das Jagdhorn! Ich werde bleiben! Wenn wir jetzt den Plan ändern, dann ist vielleicht die gesamte Jagd in Gefahr, und wir müssen die Rotte verkleinern. Wenn wir jetzt das Horn blasen, verscheuchen wir die Säue endgültig. Und die Bauern werden weiter unter den Schweinen leiden.” Mika blickte ihren Vater flehend an. Als er jedoch hart blieb, ergänzte sie: “Meine Wunde ist doch so weit versorgt. Habt Dank dafür, Herr Tannenfels! Und ich sollte doch eh nur dabei sein und die Laterne halten. Gut, das kann ich nun nicht mehr, da die Laterne entzwei und das Licht erloschen ist. Aber ich kann euch doch dennoch begleiten und mich im Hintergrund halten.” Sie zuckte mit den Schultern, als wäre dies das Normalste auf dem Dererund.  

“Wir sollte dich mit deiner Hand zu Gudekar bringen. Sofort!” warf Friedewald ein.

Mika protestierte. “Aber wieso? Die Wunde ist doch gut versorgt, und alles andere kann Gudekar doch später noch mit seinem Handauflegen richten, da kommt es doch auf ein paar Stunden nicht an.”

“Doch, kommt es!” mischte sich Nivard von der Seite ein. “Ich habe die Wunde nur soweit versorgt, dass Ihr, mit Peraines Segen, keinen Wundbrand bekommt. Und soweit ich gelernt habe, müssen gerissene Sehnen schnell genäht oder wieder zusammengezaubert werden, weil sie sonst immer weiter auseinander gehen, je länger Ihr wartet. Wahrscheinlich wird seine Gnaden mich schimpfen, könnte er mich hören, aber diese Jagd ist es nicht wert, dass Ihr dafür Euer weiteres Leben mit verkrüppelter Hand fristet. In Firuns Reich werdet Ihr sie noch brauchen. Geht zu Eurem Bruder, schnell!”

Mika zog die Lippen zu einem Schmollen zusammen und versuchte die Arme zu verschränken, merkte aber schnell, dass dies mit der verbundenen Hand nicht so einfach war. Sie protestierte stattdessen weiter. “Wenn Herr Firun entschieden hat, dass ich Ihm mit verkrüppelter Hand dienen soll, dann habe ich das zu akzeptieren. Wenn nicht, wird Gudekar das auch heute Abend noch richten. Er ist ein großartiger Heiler. Der schafft das auch dann noch. Und wenn Ihr weiter mit mir diskutieren wollt, dann sind die Schweine wahrscheinlich bald eher in Hart, als dass Ihr anfangt, sie zu jagen. Firumar wartet auf die Gruppe, wir haben schon genug Zeit hier vergeudet. Auf jetzt, wir müssen weiter!”

Die ganze Zeit war Doratrava dem Austausch still gefolgt, hin und her gerissen, ob sie ihre Hilfe anbieten sollte, um Mika zurückzubringen, da sie doch an der Jagd mehr oder weniger sowieso nur als Beobachter teilnehmen durfte. Andererseits wäre sie dann aber ganz raus gewesen, und diesen Triumph wollte sie dem Geweihten eigentlich nicht gönnen. So hatte sie gehofft, Nivards Behandlung könnte Mika die weitere Teilnahme an der Jagd ermöglichen, aber obwohl die junge Frau nicht einmal geschrien hatte und Doratrava daher gedacht hatte, die Verletzung sei doch nicht so schlimm wie zuerst befürchtet, hatte sie sich wohl getäuscht.

Aber irgendwie war es bewundernswert, wie Mika um die weitere Teilnahme an der Jagd kämpfte, Doratrava konnte nicht umhin, ihre zuweilen auftretende eigene Sturheit in der jungen Novizin wiederzuerkennen. Leider konnte sie nicht beurteilen, ob die Behandlung durch einen Magier am Abend noch ausreichen würde, um die Hand zu retten, sonst hätte sie Mika vielleicht sogar unterstützt, zumal sie ja recht hatte, dass sie hier immer mehr Zeit verloren.

Nivard schüttelte den Kopf und seufzte hörbar ob soviel Unvernunft. “Es ist gewiss nicht Firuns Wille, in seinem Reich ohne Not jeglichen Verstand aufzugeben. In Eurem Zustand seid Ihr uns auf dieser Jagd keine große Hilfe mehr. Firun lehrt uns auch, das Unvermeidliche anzuerkennen und anzunehmen. In Eurem Fall heißt das, Euch so rasch wie möglich zu Eurem Bruder zu begeben.” Der Krieger dachte kurz nach, dann fügte er hinzu: “Um ehrlich zu sein, glaube ich sogar, dass Ihr, verwundet, wie Ihr seid, uns bei unserer Aufgabe, heute den Schweinebestand auszudünnen, eher hinderlich sein werdet!” Im Herzen tat es ihm weh, so hart mit der Novizin zu sprechen, aber zum einen war es wohl tatsächlich so, und zum anderen hoffte er, dass das Argument, die Gruppe zu schwächen, auch die hartgesottenste Firunsnovizin zur Vernunft bringen sollte.”

Fast zuckte Doratrava ein wenig zusammen bei Nivards Worten, die Mikas Stolz hart treffen mussten. Sie war sich nicht sicher, ob damit nicht genau das Gegenteil von dem erreicht wurde, was Nivard zu erreichen hoffte. Gespannt wartete sie auf Mikas Entgegnung.

“Mika, der Herr von Tannenfels hat recht, es ist für alle besser, wenn wir dich ins Dorf bringen”, bestätigte der Edle. “Liebes, sei vernünftig!”

“Gut, wie ihr wollt!” Die Novizin, nahm ihre Tasche über die Schulter und sammelte vorsichtig die Überreste der Laterne ein. Die Glasscherben wickelte sie in ein Tuch, das sie dann in den Laternenrahmen stopfte. Dieses wiederum steckte sie in ihren Rucksack. “Ihr braucht Euch nicht bemühen. Ich finde den Weg ins Dorf auch alleine. Ich kenne mich hier schließlich besser aus, als ihr. Und dann störe ich Eure Jagd nicht, indem ich auch noch einen von Euch aus der Gruppe reiße.” Mit diesen Worten drehte sich Mika um und fing an, den Weg zurück zu stapfen.

Einerseits erleichtert, andererseits mit so etwas wie einem schlechten Gewissen sah Doratrava der Novizin nach. Sollte sie sich dennoch anbieten, Mika zu begleiten? Falls irgendetwas auf dem Weg zurück passierte, würde diese mit einer Hand möglicherweise Schwierigkeiten bekommen.

“Ich denke, es ist besser, wenn jemand mitgeht”, brummte Borix zu Friedewald. “Sie mag den Weg zwar kennen, aber die Wunde sah so schwer aus, dass sie vielleicht zusammenbricht, wenn der erste Schock überwunden ist. Was meinst Du? Soll ich sie begleiten?”

Friedewald beugte sich zu seinem Freund. „Es ist wahrscheinlich wirklich besser, wenn sie jemand begleitet. Allerdings mache ich mir mehr Sorgen, dass ihre Füße eine andere Richtung einschlagen, als ihr Mund verkündet.“

Nivard nickte beipflichtend. Friedewalds Bedenken wären auch seine allererste Sorge gewesen. Er überlegte kurz, ob er die Novizin ins Dorf zurückbegleiten sollte. Allerdings hieße dies, dass nicht nur für ihn, sondern auch für Doratrava die Jagd vorbei wäre, und er damit gleichsam ihr die Chance raubte, sich vor Firun und seinem Diener Firumar zu beweisen. Andererseits war es von hier gar nicht weit bis zum Jagdschloss … und er gut zu Fuß, wahrscheinlich schneller als der Angroscho.  “Ich kann sie auch bis zur Jagdhütte begleiten, dort in sichere Obhut übergeben und dann wieder rasch zu Euch aufschließen. Falls Ihr mir die Suche nach Euch leichter machen wollt, wäre ich Euch äußerst dankbar, wenn Ihr mir ab hier eine leicht lesbare Spur hinterließet, zum Beispiel auffällig abgeknickte Äste im Buschwerk, am besten in Augenhöhe.”

Nivards Vorschlag riss Doratrava aus ihren Grübeleien. Wenn dieser angenommen würde, dann müsste sie ihn aber ohnehin begleiten, wenn sie nicht gegen die Auflagen des Geweihten verstoßen wollte. Kurz überlegte sie, dann erhob sie etwas zögerlich die Stimme: “Ich … halte es auch für besser, wenn jemand Mika begleitet. Aber wenn du gehst, Nivard, muss ich mitkommen, sonst kannst du ja nicht auf mich aufpassen. Da kann ich dann auch gleich allein mit Mika gehen und dann zurück kommen. Falls ich euch je nicht mehr finde, habt ihr niemanden verloren, der wichtig für die Jagd ist.” Sie konnte nicht verhindern, dass sich bei den letzten Worten Bitterkeit in ihre Stimme schlich.

"Doch, wir hätten dann Dich verloren." widersprach ihr Nivard, mit einem aufmunternden Lächeln. “Und ich wünsche mir, dass Du dieses Mal auf der ganzen Jagd dabei bist und nicht schon wieder vorzeitig abbrechen musst!”

"Wenn ich kurz auf Eure Tochter aufpasse, wärt Ihr dann so gut, so lange ein Auge auf die Dame Doratrava zu haben, nur, bis ich wieder zurück bin?" bat er dann Friedewald. "Dagegen können seine Gnaden und auch Firun eigentlich nichts haben, oder? Und falls doch, geleiten wir Eure Tochter einfach zu zweit."

Doratrava warf Nivard einen dankbaren Blick zu und nickte erleichtert. “Vielen Dank”, murmelte sie leise und schaute Friedewald fragend an, was er von diesem Vorschlag hielt. Nivard war ein echter Freund, und das, obwohl sie eigentlich noch gar nicht viel zusammen erlebt hatten. Allerdings war das dann jedes Mal sehr intensiv gewesen. Sie blickte zurück zu dem Ritter. Ja, wenn er rote Haare hätte und ausgeprägtere weibliche Rundungen, würde sie sich wahrscheinlich auch in ihn verlieben oder hätte es schon längst getan, wie sie ungebeten und ein wenig selbstironisch sinnierte. Aber so war es besser, da musste sie seine Traviafürchtigkeit nicht auf die Probe stellen, das war ihrer Freundschaft sicher zuträglicher. Bei diesen Gedanken kam ihr auch wieder Merle in den Sinn. Wie es ihr mittlerweile wohl erging?

Aufgrund der vielen Angebote, sich um Mikas Rückweg zu kümmern, blieb Borix nun stumm neben Friedewald stehen und wartete auf dessen Antwort. Schließlich sollte der Vater seine Tochter am besten kennen und würde daher auch die vermutlich beste Entscheidung über die Begleitung und den Fortgang der Jagd treffen.

Friedewald blickte fragend von einem der Anwesenden zur anderen. Schließlich blieb sein Blick auf Doratrava stehen. “Ich danke euch allen, für Eure Bereitschaft, Euch um meine Tochter zu kümmern. Wir brauchen bei der Jagd wirklich jede waffenfähige Hand. Wenn nun neben Mika noch jemand ausfällt, wäre das ein herber Schlag. Deshalb möchte ich Euch bitte, werte Dame, Euch meiner Tochter anzunehmen. Wie Ihr richtig sagtet, schon allein aufgrund des Banns seiner Gnaden dürft Ihr keine Jagdwaffe führen. Und allein Euch, Herr von Tannenfels, war es auferlegt, ein Auge auf die Dame zu halten. Dieser Aufforderung Seiner Gnaden sollten wir uns nicht widersetzen. Doratrava, ich weiß, wie sehr Ihr Euch wünscht, ein wertvoller Bestandteil dieser Jagdgesellschaft zu sein und dies dem Herrn Firun – oder zumindest seiner Gnaden – zu beweisen. Doch seid Ihr für uns im Moment am meisten wertvoll, wenn Ihr meine Tochter sicher heim geleitet. Ich wäre Euch zutiefst dankbar. Und Ihr könntet so auch Firumar beweisen, dass Ihr für die Jagdgemeinschaft da seid.” Friedewald schaute sich nach seiner Tochter um, die jedoch schon nicht mehr zu sehen war. “Mika? Mika! Verdammt, sie ist einfach losgelaufen!”

Friedewald Worte machten Doratravas Hoffnung sofort wieder zunichte, aber sie schaffte es, nur kurz die Lippen zusammenpressen. Da Mika schon außer Sicht war, war nun auch keine Zeit mehr zu diskutieren. Mit einem entschuldigenden Blick zu Nivard nickte sie Friedewald und Borix nochmals knapp zu, dann lief auch sie los, in die Richtung, die Mika hoffentlich eingeschlagen hatte. Wenn sie sich beeilten, konnte sie die Gruppe vielleicht wirklich nochmal einholen, und sie vertraute auf Nivard, dass zumindest er Zeichen hinterließ, vielleicht auch Borix als ehemaliger Jagdgefährte aus Nilsitz.

“Pass auf Dich… auf Euch auf!”, schickte Nivard ihr noch hinterher, da war Doratrava auch schon so gut wie weg. Für sein “Bis gleich!” hätte er schon fast die Stimme zu einem Rufen gehoben, zügelte sich aber noch im letzten Moment. Vielleicht gab es in der Nähe ja doch noch ein paar schwerhörige Wildschweine, die sie noch nicht in die Flucht geschlagen hatten …

So verließen die beiden jungen Frauen die Jagdgruppe. | Weiter hier

“Das arme Mädchen hat aber auch Pech”, meinte Borix, als die beiden Frauen außer Sicht waren, zu Friedewald. “Dann sollten wir weiter aufbrechen und gelegentlich ein paar Zeichen an den Bäumen hinterlassen, dass uns die Frau Doratrava wiederfindet.”

“Auf jeden Fall! Und bestens sichtbare! Auch wenn sie die Spur dreier kräftiger Mannen sicher auch sonst finden wird, soll sie doch nicht lange nach uns suchen müssen und bald wieder bei uns sein!” Nivard zwinkerte Borix zu. “Es kann doch nicht sein, dass wir auf jeder gemeinsamen Jagd erst alle Damen verlieren, ehe wir auf die Sauen treffen.”

Ob dieser Bemerkung Nivards musste Borix herzhaft lachen. “Es scheint ein schlechter Stern über unseren Begleiterinnen zu stehen”, bestätigte er grinsend.

“Hauptsache niemand verliert hier im Wald sein Leben. Dies würde mich sehr schmerzen und einen Schatten über die Hochzeitsfeier meiner Tochter Gwenn legen.” Friedewald schaute besorgt. “Vielleicht ist es besser, wenn die beiden ins Dorf zurückkehren. Aber ja, legt besser Zeichen aus. Falls die Tänzerin doch noch rechtzeitig zurückkehrt, wäre es fatal, wenn sie sich auch noch im Wald verirrt und wir sie suchen müssten.”

Nivard nickte. “Gut, dann sollten wir uns wohl langsam wieder auf den Weg machen.” Sein Blick kreiste bereits suchend in der Umgebung umher und fand alsbald auch mit einer nahestehenden jungen Eiche einen Baum einer der ‘gerechten’ Holzarten. Behend brach er einen etwa armlangen, noch schütter belaubten Ast ab und riss von diesem mit schnellen Bewegungen etwas Rinde von der Bruchstelle aus ab, auf dass das helle Holz gut sichbar sein möge. Von ihrem jetzigen Standort, der inzwischen so zertreten war, dass er ohne weiteres selbst für einen ungeübten Fährtensucher erkenn- und auffindbar wäre, würde jener Ast mit seiner Wuchsspitze als Leitbruch in die Richtung weisen, in die sie weitergingen.

Nivards Vorbild folgend knickte auch der Angroscho nach einigen Schritt den nächsten Ast ab und wiederholte es in seiner Meinung nach geeigneten Abständen.

Auch wenn die Missgeschicke und das Unglück gerade nicht ihm selbst widerfahren waren, hatten sie Nivard doch noch einmal in Erinnerung gerufen, dass im Walde, noch dazu auf der Jagd, Vorsicht oberste Tugend war. Außerdem konzentrierte er sich in seinem Bestreben, nur nicht auszurutschen und zugleich hinreichende Spuren für Doratrava zurückzulassen, so sehr auf seine Umgebung, dass die Sorgen, die ihn bis hier beschäftigt hatten, mit einem Mal ganz und gar zurücktraten. Sicher ging er durch den herbstlichen Wald, jeder Schritt fand festen Halt und war so leise, dass er kaum auszumachen war. Jetzt war der Krieger auf der Jagd. Sonst nichts.

Mit jedem Schritt tiefer in den Wald und auf der Suche nach den Wildschweinen hatte sich Borix weiter auf die Jagd eingestimmt, so dass er in voller Konzentration durchs Geäst schritt.

Noch immer ging Friedewald die Verletzung seiner Tochter durch den Kopf. Würde die Tänzerin Mika wohlbehalten ins Dorf zurückbringen? Würde Gudekar Mikas Hand heilen können? War seine Magie zu so etwas fähig? Zu spät bemerkte Friedewald die Wurzel, die quer über den Pfad gewachsen und von einem Laubhaufen verdeckt war. Er stolperte, konnte sich jedoch an einem Baumstamm auffangen.

Nur wenig später vernahmen der Edle von Lützeltal und seine beiden Begleiter lärmende Geräusche aus dem Wald. In der Ferne, in der die Gruppe des Jagdmeisters vermutet werden konnte, wurde ordentlich Rabatz gemacht. Tiefe Männerstimmen riefen „Jooooh joh!“ und Hunde kläfften immer wieder. Dazu das Knacken, Splittern, Poltern von Holz, das auf Holz geschlagen wurde. Für Friedewald, Nivard und Borix, die alle drei jagderfahren waren, das untrügliche Zeichen, dass es nun auch an ihnen war, mit dem Lärmen zu beginnen.

“Es geht los!” forderte Borix seine beiden Gefährten auf, dann suchte er sich einen stabilen Ast vom Boden aus und begann damit ebenfalls gegen die Stämme zu schlagen.

"Moork! Moork! Moork!" Mit der tiefsten Stimmlage, die ihm möglich war, begann auch Nivard im Rhythmus der Schläge Borix' zu rufen, und bald schon gesellte sich noch das laute Klopfen seiner Asthiebe hinzu. "Moork! Moork! Moork!" sprach er die Schwarzkittel direkt an - sie sollten wissen, dass nun ihre Zeit gekommen war.

Auch der Edle nahm sich einen alten, dicken Ast, nach dem er sich von seinem Stolperer gefangen hatte, und schlug damit sacht auf nahestehende Baumstämme, sich langsam in die Richtung bewegend, in die die Rotte getrieben werden sollte. ‚Moork, Moork‘, wiederholte er im Geiste und bedachte Nivard mit einem skeptischen Blick. ‚Naja‘, dachte er, ‚solange er nicht lauter rief, soll er sich ruhig zum Narren machen. Nur laut schreien sollten wir ja nicht. Aber das Kind ist eh schon in den Brunnen gefallen.‘

Wie Recht der Herr Lützeltals haben sollte: Irgendwo vor ihnen in der Ferne hörten die Männer es alsbald rascheln, grunzen und das Knacken von Holz. Keiner konnte genau sagen, wie groß der Abstand zwischen ihnen und der Rotte war, denn der Regen verfälschte jede Schätzung. Aber alles, was der Edle und seine beiden Begleiter wahrnahmen, war, dass sich dort eine große Gruppe Tiere durch den Wald bewegte. Eine sehr große Gruppe. Dies war nicht zu überhören.

Friedewald beschleunigte seine Schritte. „Die Familie hat sich also auf den Wege gemacht. Hoffentlich auf den richtigen.“ rief er den anderen beiden zu, während er weiterhin auf seine Schritte acht gab, über die zukünftigen Ereignisse nachsann, aber auch fortführend für Lärm sorgte. Seine Gedanken zogen zu der Senke, in der es ein Einfaches sein würde, die Rotte zu dezimieren, aber einem Gefühl nachgehend huschte ein sorgenvoller Gedanke auch zu seiner Tochter und ihrer Begleiterin. Die beiden wären völlig schutzlos, träfe die Rotte auf sie. Er wusste nicht, warum er auf diesen Gedanken kam, waren die beiden doch auf dem Weg nach Lützeltal. Andererseits kannte er seine Tochter. Sie gab nicht so leicht auf. Wenn sich ihr die Chance bot, würde sie einen Weg suchen, doch noch an der Jagd teilzunehmen. Nein, diesmal bitte nicht! Mit einem erzwungenen Vertrauen, mit welchem er gegen das ungute Gefühl in seinem Bauch antrat, streifte er selbiges ab, denn seine Aufmerksamkeit wurde im Hier und Jetzt gebraucht.

Da sich die Rotte nun näherte, machte Borix seine Armbrust bereit. Er blieb daher kurz stehen, um die Sehne zu prüfen und als er sie für in Ordnung befand, die Armbrust durchzuspannen und einen Bolzen aufzulegen. Als er damit fertig war, folgte er seinen Gefährten.

Während er zu ihnen aufschloss, versuchte er die Richtung zu erahnen aus der sich die Rotte näherte.

Geplant war, die Rotte rechts zu flankieren. Umso mehr Borix lauschte, umso eher bekam er das Gefühl, dass sie sich nicht parallel zu den Wildschweinen bewegten, sondern dass diese irgendwie näher kamen.

“Hört ihr das auch?” fragt Borix seine Jagdgefährten. “Die Rotte kommt auf uns zu. Müssen wir mehr Krach machen?”

Nivard hatte inzwischen auch die Sehne auf seinen Bogen gezogen und hielt diesen sowie einen Pfeil gezückt. Dergestalt gerüstet wirkte er viel orientierter und entschlossener, als er es tatsächlich war - Efferd ließ es so laut prasseln, dass er nicht mehr ausmachen konnte, woher genau die Rotte sich näherte. Er wusste nur, dass sie kam. Und zwar verdammt schnell. Und wenn Borix Recht behielt, direkt auf sie zu. Der Angroscho wirkte so sicher, so bestimmt in seiner Einschätzung, dass Nivard sie ihm sofort abnahm. "Sollten wir!" nickte er dem Bergvogt zu! "MOORK! MOORK!"

Mehr Lärm? Dafür konnte Friedewald sorgen, denn er rutschte, abgelenkt durch seine Gedanken an Mika, leicht auf den Blättern aus, weshalb ihm deutliches “Mistverdammt!” entwich. Er konnte sich jedoch gerade noch so auf den Beinen halten und zog sich lediglich eine leichte Schürfwunde am rechten Unterarm zu, als er sich reflexartig mit diesem an einem Baumstamm abstützte. Nachdem er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, machte auch der Edle seine Armbrust schussbereit.

Als Nivard mit dem Rufen begonnen hatte, stimmte auch der Angroscho mit ein und rief ein lautes “MOOORK! MOOORK!” durch das Gehölz.

Da vernahmen der Edle von Lützeltal und seine Gefährten von direkt voraus das aggressive Bellen eines anderen Hundes. Das Gebell war von der bedrohlichen Art.

“Ich denke, ein Hund hat sie aufgespürt”, stellte Friedewald fest. “Es geht wohl los. Lasst uns vorsichtig in die Richtung des Gebells vorangehen. Seid Ihr bereit?”

Ein erneutes Mal überprüfte Borix den Zustand seiner Armbrust, dann nickte er zufrieden. “Ich bin bereit!”

"Ebenso!" bestätigte Nivard mit einem grimmigen Lächeln. Er liebte dieses kribbelnde Gefühl der Aufregung, unmittelbar bevor es auf der Jagd ernst wurde, wenn sich alle Sinne auf die herannahende Beute und den Moment fokussierten. "Jetzt gilt es!"

Gruppe 3

Yendan hatte auf dem ihm unbekannten Gelände Schwierigkeiten, Halt zu finden und so kam es, wie es kommen musste. Unter einem rutschigen Blätterhaufen lugte wohl eine Wurzel hervor. Sein Fuß rutschte auf der nassen Rinde ab und der Kundschafter geriet ins Straucheln. Unglücklicherweise konnte er auch mit den Händen keinen Halt finden und so fiel er. Er war geistesgegenwärtig genug, die Saufeder loszulassen, um sich nicht an der scharfen Spitze zu verletzen. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei. Celio war sogleich zur Stelle und wuselte schwanzwedelnd um seinen Herrn, blieb aber ansonsten still.

Der Mersinger hielt sich am Ende der Gruppe, um nicht besonders aufzufallen, aber besonders, um die Nachhut zu sichern. Als er sah, dass Yendan stürzte, kam er zügig zu Hilfe. Jeder am Boden Liegende bot ein perfektes Ziel für den Bäckerpruch.

Der Kundschafter drehte erst seinen linken Fuß, dann seinen Rechten und griff nach seinem Speer. Als der Mersinger heran war, griff er dankbar nach dessen Hand und ließ sich hochhelfen. Vorsichtig verlagerte er das Gewicht von einem Bein auf das andere. “Nichts passiert. Habt Dank, Wohlgeboren”, flüsterte er.

Lares nickte und sah sich schnell nach allen Seiten um. "Passt auf Euch auf. Wir dürfen keine waffenfähigen Männer verlieren", raunte der junge Ritter in düsterem Ton.

Leodegar sah emotionslos auf die beiden Männer, während er die Leine der drei Jagdhunde, die alles stumm mit wachem Blick beäugten, in festem Griff hielt. Er lauschte immer wieder in den Wald hinein, ob er schon Grunzgeräusche vernehmen konnte. Noch waren sie nicht genug heran, um die Rotte sicher auf den vorgezeichneten Weg zu bringen.

Yendan nickte grimmig.

Kurze Zeit später hörten sie den lauten Schmerzensschrei einer jungen Frau aus der Richtung, in der Gruppe eins unterwegs war. Dem ersten Schrei folgte bald ein zweiter, etwas leiserer Schrei mit der selben Stimme.

"Oh verdammt. Bei den Göttern, er wird doch nicht…", murmelte Lares, doch als der zweite Schrei vernehmlich war, entspannte er sich merklich. Das konnte nicht der Erzverräter sein. Der hinterließ nichts unverrichtet.

Leodegar seufzte. War war heute nur los? Hoffentlich konnten sie die Jagd wie geplant durchführen. Er hatte nicht viel Interesse daran, mit Wulfhelm und Seiner Wohlgeboren noch einmal allein loszugehen.

Der Kundschafter horchte auf und wartete angespannt. Da die Schreie abebbten, wartete er auf Befehl des Einheimischen, was nun zu tun sei.

Da jedoch ein Warnsignal mit dem Horn ausblieb, machte die Gruppe sich daran, weiterzugehen. Unter Leodegars Führung bewegten sie sich auf dem angedachten Weg durch den Wald. Immer wieder blieb er stehen, maß Richtung und Distanz.

Diese Pausen nutzte der Mersinger, um immer wieder aufzuschließen. Sein Schritt war angesichts des nassen Laubes nicht sicher. Zwar konnte er sich aufrecht halten, doch verlangsamte die Unsicherheit seinen Fortschritt.

Dann kamen sie an die Stelle, die er markiert hatte. Wieder war dort ein Band um einen Stamm gebunden.

„Wir haben die Stelle erreicht. Der Schlafplatz der Rotte ist bald erreicht. Wir wollen sie nun wecken - sofern das denn noch nötig ist,“ das letzte brummte er seufzend.

Seine drei Hunde merkten die Angespanntheit ihres Herrn. Mit angespannten Gliedern hingen sie in den Leinen. Ihr Fell war triefnass, von dem Büschel Haare um ihre Schnauzen tropfte unablässig der Regen, der gar nicht so schnell weggeschleckt werden konnte, doch es schien ihnen nicht viel auszumachen. Sie wussten, was jetzt kommen würde und ertrugen die Nässe. Nur Aife fing leise zu fiepen an vor Ungeduld.

„Ja, mein Mädchen, ihr bekommt gleich das Zeichen“, murmelte Leodegar und legte eine Hand auf die Hündin. Sie und die anderen beiden wedelten mit den Ruten. Auch Celio, der Jagdhund von Yendan Zerf spürte die Aufregung, die das kleine Rudel erfasste.

Leodegar nahm sich anschließend einen Stock, der auf dem Boden lag und sah damit zu den beiden Herren seiner Gruppe auf. „Lasst uns die Rotte wecken.“ sagte er wie zur Aufforderung und dann begann er mit dem Stock gegen die Bäume zu schlagen und „Jooooh joh!“ zu rufen. Der erfahrene Waidmann rechnete eigentlich fest damit, dass nach all dem Lärm, den sie schon gemacht hatten, keine Sau mehr schlief, aber er wusste auch, dass, so lange keine Gefahr bestand, sich so eine Leitbache schon Zeit lassen konnte, ihre Familie zu bewegen, den guten Schlafplatz zu verlassen, vor allem bei diesem Wetter und wenn es dort im Gebüsch trockener und wärmer war.

Auf das Zeichen das Jagdmeisters mit der Leinenführung, fingen auch die Hunde an, Laut zu geben. Nicht ständig, um keine akute Gefahr dazustellen, wie bei einer Treibjagd, doch immer wieder ließ er sie nacheinander bellen, damit die Störung an Kraft bekam.

Vor allem Yendan, der selbst erfahren darin war, Jagdhunde zu führen, merkte recht schnell, dass die junge Hündin Aife mit ihrer Ungeduld Probleme bereiten würde, wenn sie weiterhin so in der Leine hing. Tatsächlich zog sie einmal so sehr an der Hand ihres Führers, um einer aufgescheuchten Maus nachzustellen, dass es diesen hart am Arm riss und er der Länge nach hinfiel. Aife wurde daraufhin von ihren Geschwistern durch drohendes Knurren, Keifen und Warnbisse zurück in die Reihen gezwungen, doch da lag der Jagdmeister schon im Dreck.

Lares zog den Jagdmeister aus dem Dreck. “Bei Firun, jetzt bleibt endlich auf Euren Füßen. Was meint ihr passiert, wenn Ihr mit dem Gesicht im Matsch liegt und er kommt?”, blaffte der Mersinger mit unterdrückter Stimme.

“Wenn wer kommt?”, fragte Yendan.

“Der Feind!”, antwortete Lares in verschwörerischem Ton und riss seine Augen weit auf. Der kleine, düstere Mann wirkte, als würde er von einem unsichtbaren Übel verfolgt, statt selbst der Jäger zu sein.

“Mmmmmh”, brummte Yendan, “glaube kaum, dass Borbarads Erben sich hierher trauen. Ham doch eh eigene Probleme, oder?” Lares schüttelte irritiert den Kopf.

„Meint der edle Herr den, vor dem sich auch Seine Hochgeboren fürchtet?“ warf der Jagdmeister ein. Er berappelte sich brummelnd und wischte sich den Dreck notdürftig mit dem Ärmel aus dem Gesicht. „Doch verzeiht, denkt Ihr wirklich, so jemand hat Interesse an UNS?“ fragte er den Ritter von Mersingen. „Mit Verlaub, hohe Herren, wir sollten unsere Aufmerksamkeit eher den Schwarzkitteln schenken. Diese Art von Gefahr ist mir geläufig. Und sie ist vor allem gegenwärtig!“ versuchte er, den Fokus wieder auf die aus seiner Sicht wichtigeren Dinge zu legen. Weil er verärgert über sich selbst war, dass er vor den beiden Gästen gerade keine guten Figur gemacht hatte, klang die Anregung des Jagdmeisters jedoch wie ein Tadel, der etwas über die übliche Etikette hinausging.

„Lernt erst einmal gerade zu gehen, bevor Ihr meint, Gefahren einschätzen zu können. Der Erzfrevler geht um und er sucht sich seine Beute dort, wo er sie am verwundbarsten findet! Er jagt die, die der Herrin Travia gefällig sind und reißt ihnen das Herz heraus, damit die Angehörigen leiden! Was meint Ihr? Was wäre ein besseres Opfer auf dem Altar seines dunklen Herren als das Leben des Brautvaters kurz vor der Vermählung seiner Tochter?“ Der Mersinger hatte die rechte Hand erhoben, als ob er von der Kanzel eines Praiostempels predigte. Seine Augen waren weit aufgerissen und wer genau hinblickte, konnte erkennen, dass sein linkes Augenlid zuckte.

“Ihr habt Recht, Wohlgeboren”, Yendan hob beschwichtigend die Hände und stellte sich zwischen die Beiden, “aber, wenn ich damals in der Praiostagsschule richtig aufgepasst habe, sind Streit und Missgunst die stärksten Mittel des Eidbrechers. Trotzen wir ihm, indem wir jetzt dem Herrn Firun huldigen und diese Jagd zu Ende führen. Dann wird der Grimme uns zur Seite stehen. Ay? Ay!” Er nickte bekräftigend.

“Ay!”

„Ay,“ bestätigte auch der Jagdmeister den ‚Schwur‘.

Währenddessen war die Hündin Aife unter den Drohungen ihrer Geschwister kleinlaut geworden und lief erst eine kleine Weile mit eingekniffener Rute neben den anderen her.

Irgendwo vor ihnen in der Ferne hörten erst die Hunde, und dann auch die Männer es alsbald rascheln, grunzen und das Knacken von Holz. Keiner konnte genau sagen, wie groß der Abstand zwischen ihnen und der Rotte war, denn der Regen verfälschte jede Schätzung. Aber alles, was sie wahrnahmen, war, dass sich dort eine große Gruppe Tiere durch den Wald bewegte. Eine sehr große Gruppe. Irgendwo voraus.

Die Hunde hingen jetzt hart in den Riemen und waren kaum noch zu bremsen, so sehr drängte es in ihnen, dem Wild entgegen zu laufen. So verschnellerte auch der Jagdmeister seine Schritte: „Wir sind gehört worden. Die Rotte bewegt sich. Bei Firun, lass sie auf dem richtigen Weg sein. Eilt euch!“ Was Leodegar nicht aussprach sondern nur dachte, war, dass es gefährlich werden würde, würde die Rotte auf nur eine einzige der Gruppen treffen.

“Hinterher!”, rief Lares - wenigstens mussten sie jetzt nicht mehr leise sein. Das war ihm bekanntermaßen nicht lieb. “Und bleibt auf den Füßen!”, kommandierte er.

“Ay”, kommentierte Yendan und machte sich daran den anderen zu folgen. Gelegentlich schlug er mit seinem Speer gegen einen Baum, um die Rotte von ihnen weg zu treiben. Bei dem nassen Untergrund könnte es gefährlich werden sich den wildgewordenen Schwarzkitteln entgegenstellen zu müssen. Er hielt schon mal nach Bäumen Ausschau, auf die man flink klettern konnte. Sicher war sicher.

Da vernahm Celios scharfes Gehör aus der Richtung schräg rechts von ihrer Position das aggressive Bellen einen anderen Hundes. Das Gebell war von der bedrohlichen Art und er verstand sofort, um was es ging: sein Artgenosse rief so laut, um eine drohende Gefahr abzuwenden. ‚Komm nicht näher, wenn ihr keinen Ärger wollt‘ bedeutete es.

Auch Aife und ihre beiden Geschwister vernahmen den Ruf des Rüden Rall. Aber sie waren dazu ausgebildet, sich nicht loszureißen - obwohl sie es sicherlich mit etwas Kraftaufwand hätten tun können. Kuro, der Leithund der kleinen Gruppe, bellte zurück. Eine Botschaft an den anderen, dass sie unterwegs waren, während er mit seinen Schwestern, die fiepten und knurrten, in den Riemen hingen und durch den Wald eilten, Celio und die Menschenmänner hinterher.

„Hört! Einer der Hunde stellt sie! Los, Beeilung!“ rief der Jagdmeister seinen Mitjägern zu, während er über Wurzeln sprang und den Hunden nach durchs Strauchwerk schlug, den Arm dabei schützend vor das regennasse Gesicht, damit die Äste nicht gar so schmerzhaft in die Haut schnitten.

Celio gliederte sich in die Meute ein, als wäre er Teil des Wurfes. Schließlich war der alte Rüde darin ausgebildet worden.

Yendan riet dem Mersinger, es ihm gleichzutun, hob seinen Arm ebenfalls auf Augenhöhe, die Hand zur Faust geballt, um die empfindliche Handfläche zu schützen, und eilte dem Jagdmeister und den Hunden hinterher.

Lares folgte den beiden Jägern und der kläffenden Meute auf dem Fuß.

***

Eine Novizin zu begleiten…

Mika war losgestapft, als der Rest der Jagdgruppe noch munter diskutierte, wer sie denn nun zurück begleiten sollte. Doch sie hatte nicht vor, einfach so nach Hause zu gehen. Sie hatte eine Mission: sie wollte, nein, musste zuvor noch Seine Gnaden Firumar informieren. Dies hatte höchste Priorität. Mika wollte deshalb gerade den Weg zur Waldhütte verlassen und einen anderen Pfad einschlagen, als sie weiter hinter sich Schritte vernahm. Es waren nicht die schweren Schritte eines Mannes in Jagdstiefeln, sondern eher leichte, sanfte Schritte. Sollte ihr etwa ausgerechnet Doratrava gefolgt sein? Wäre es jemand anderes gewesen, Mika wäre einfach im Wald verschwunden. Doch konnte sie die Tänzerin nicht allein im Wald zurücklassen, und so wartete sie, bis Doratrava aufgeschlossen hatte.

Doratrava war froh, Mika schnell wieder entdeckt zu haben und fast überrascht, dass diese auf sie wartete. Schnell schloss sie zu ihr auf. “Beeilen wir uns”, erklärte die Tänzerin in neutralem Tonfall, der ihre Gefühle nicht preisgab. “Dann kann deine Hand schnell versorgt werden und ich schaffe es hoffentlich rechtzeitig zurück.” Dabei fiel ihr ein, dass Friedewald zwar vom Dorf gesprochen hatte, Nivard aber vorgeschlagen hatte, Mika nur zur Jagdhütte zu bringen. Wenn das genügte, dann erhöhte das ihre Chancen deutlich, die Jagdgesellschaft wiederzufinden. Da Nivard niemand explizit widersprochen hatte, beschloss sie, es so zu machen, wenn Mika damit einverstanden war.

“Reicht es, wenn wir zur Jagdhütte gehen? Bis zum Dorf solltest du es dann schaffen, oder?”, fragte Doratrava daher sicherheitshalber.

Mika schüttelte den Kopf. “Ich habe weder vor, ins Dorf noch zur Jagdhütte zurückzukehren. Zumindest noch nicht. Mein Weg führt dort entlang.” Sie wies auf einen kleinen, schmalen Pfad, der sich durch den Wald schlängelte.

Ein Wildwechsel.

Im ersten Moment schaute Doratrava die Novizin perplex an. Die anderen verließen sich auf sie, sollte sie nicht dafür sorgen, dass Mika auch dort ankam, wohin sie geschickt werden sollte? "Äh ... was willst du denn da?", fragte Doratrava, einerseits aus Neugier und andererseits, um Zeit zu gewinnen.

“Nun, das ist doch ganz einfach, Seine Gnaden Firumar verlässt sich darauf, dass ich den Trupp meines Vaters begleite. Wenn ich ausscheide, muss er informiert werden. Auch, wenn sonst jemand ausfällt, denn sonst ist die ganze Jagdgesellschaft in Gefahr, falls die Schwarzkittel in Panik geraten. Ich könnte meinen Herrn jetzt mit dem Jagdhorn rufen, doch spätestens dann wäre die Rotte aufgeschreckt”, Mika senkte den Kopf und sprach leise und traurig weiter, “wenn sie es nicht schon durch meine Schreie ist. Ich muss also Seine Gnaden finden und ihm mein Versagen beichten. Danach kehre ich ins Dorf zurück, falls dies sein Wunsch ist. Also, Ihr könnt mich jetzt begleiten, allein nach Hause oder zurück zur Jagdgruppe gehen. Das ist Eure Entscheidung.”

“Ist das dein Ernst?”, fragte Doratrava eher noch überraschter als zuvor. “Wenn ich das richtig verstanden habe, ist doch Firumar den Jagdgruppen voraus, um von der anderen Seite her zu den Wildschweinen zu stoßen. Haben wir denn überhaupt eine realistische Chance, ihn halbwegs rechtzeitig zu erreichen?” Mal abgesehen davon, dass sie sich fragte, ob sie das überhaupt wollte. “Außerdem würde das die Heilung deiner Hand um Stunden verzögern. Ich kann das nicht beurteilen, aber wenn es wirklich eilig ist, damit keine bleibenden Schäden entstehen, dann ist die Frage, ob du das riskieren willst.”

Doratrava machte eine kurze Pause und sah Mika ernst und intensiv an. “Ich will und kann dich zu nichts zwingen, aber ich werde sicher nicht allein zum Dorf zurückkehren, und ohne dich auch nicht zurück zu den anderen.”

“Also gut, dann bleibt Euch wohl keine andere Wahl als mir zu folgen. Mit Borax hätte ich sicher keine Chance, Seine Gnaden einzuholen. Aber wir beide sind flink, selbst wenn wir vorsichtig laufen. Es ist die einzige Möglichkeit, Seine Gnaden zu informieren. Um meine Hand mache ich mir später Gedanken. Wenn Firun möchte, dass ich ihm mit meiner Hand diene, dann wird es einen Weg geben, dass Gudekar sie heilt. Er ist ein hervorragender Heilmagier!” Mika sprach mit innerer Überzeugung von Firuns Gnade und schwärmender Bewunderung für ihren Bruder. “Aber wenn Firun beschlossen hat, ich solle ihm ohne meine linke Hand dienen, dann wird die Heilung zu keiner Zeit gelingen. Jedenfalls sollten wir nicht lange Reden schwingen wie die alten Männer dort hinten, sondern uns sputen.”  

Doratrava verdrehte innerlich die Augen bei Mikas zur Schau gestelltem Gottvertrauen. Als ob die Götter jeden Sterblichen auf Schritt und Tritt überwachen und leiten würden …

Laut sagte sie nur: “Dann los!”, und machte eine auffordernde Bewegung mit der Hand. Sie war sich fast sicher, dass egal, was sie nun tat, sie am Ende wieder Ärger bekam, entweder von Firumar, dem sowieso nichts passte, was sie tat, oder von Friedewald, weil sie seine Tochter nicht gleich ins Dorf gebracht hatte, vielleicht würde ihr sogar Nivard Vorwürfe machen. Aber das half jetzt nichts, wenn sie zu viel grübelte, würde sie nur wieder ausrutschen. Sie hoffte nur, dass Mika das nicht nochmal passierte, denn mit der verletzten Hand würde sie sich kaum richtig abfangen können und dieser am Ende womöglich noch mehr schaden.

Äußerst konzentriert folgte Mika dem Pfad, der sie in Richtung der vermuteten Position des Firungeweihten führen sollte. Immer wieder blieb sie stehen und horchte nach Geräuschen, seien es die Geräusche der Rotte oder die der Jäger. Firumar selbst zu hören, machte sie sich keine Hoffnung, denn sie wusste, dass er sich lautlos im Wald bewegen konnte. Nach einer Weile blieb sie stehen und drehte sich zu Doratrava um. „Warum verachtet Ihr Seine Gnaden so sehr? Ist es etwas Persönliches, oder verachtet Ihr Firun selbst?“

Gezwungenermaßen blieb Doratrava stehen, obwohl sie so schnell wie möglich weiter wollte. Aber die Frage ließ auch gleich wieder den Ärger in ihr hochlodern. "Was?", erwiderte sie heftig, dachte aber gerade noch daran, die Stimme zu senken, um nicht den Wald zusammenzuschreien. "Firumar ist es doch, der offensichtlich mich verachtet", gab sie aufgebracht zurück. "Er hat mich spüren lassen, dass er nichts von mir hält, kaum, dass sein Auge auf mich gefallen ist. Dabei kennt er mich überhaupt nicht. Offenbar urteilt er lediglich nach dem äußeren Anschein und danach, dass ich keine Jagdwaffen mit mir führe." Kurz verstummte die Tänzerin, aber dann trieb es sie dazu, weiterzusprechen: "Sollte er die Entscheidung, ob ich geeignet bin, nicht Firun selbst überlassen? So, wie du nun auch ungeachtet der Konsequenzen dein Wohlergehen und die Gesundheit deiner Hand in Firuns Hände legst." Fast schon streitlustig schaute Doratrava Mika ins Gesicht.

Mika ging weiter, konzentrierte sich wieder auf den Weg. “Seine Gnaden verachtet Euch nicht. Er sieht und versteht. Wenn er zu dem Schluss gekommen ist, Ihr wäret nicht geeignet für eine firungefällige Jagd, dann muss dies einen Grund haben. Ich würde gerne verstehen, warum das so ist. Ist es, weil Ihr so viel Zorn in Euch tragt?”

Doratrava versuchte, ihr Temperament im Zaum zu halten, aber die Novizin machte es ihr nicht einfach. "Woher soll ich wissen, was Seine Gnaden in mir sieht? Zorn trage ich erst in mir, seit er mit mir so umgesprungen ist. Als ich zur Jagd kam, war ich ganz entspannt." Nach einer kurzen Pause ergänzte sie mit der entferntesten Andeutung eines Lächelns: “Na ja, wenn man von der Müdigkeit absieht.”

Die Novizin gab nicht nach. “Achtet Ihr denn die Götter und ihre Geweihten so gar nicht, dass Ihr so abfällig von Seiner Gnaden sprecht? Er urteilt doch nur nach dem, was er in Euch sieht. Wenn er so handelt, dass es Euch zornig macht, dann muss doch ein Teil Eurer Seele sich bereits gegen Firuns Gebote stellen. Und sei es, dass Ihr den heiligen Götterdienst, den diese Jagd bedeutet, nicht ernst genug nehmt.” Die Worte der jungen Frau hörten sich eher wie die eines neugierigen Kindes an, hatten aber auch einen ermahnungen, belehrenden Unterton, der schon ein wenig nach den Worten des Geweihten klang. “Wie steht Ihr zu den anderen Göttern? Euer Name trägt den Namen der guten Mutter in sich. Missachtet Ihr sie ebenfalls?”

Sollte das jetzt ein Verhör werden? Doratrava war sich wohl bewusst, dass sie je nach Gesellschaft nicht alles sagen durfte, was ihr durch den Kopf ging - was ihr teilweise sehr schwer fiel bei ihrem überschießenden Temperament und ihr schon des Öfteren Ärger eingebracht hatte. Sie atmete einmal tief ein und langsam wieder aus, um nicht sofort wieder eine impulsive, patzige Antwort zu geben. Allerdings würde sie vor der Novizin auch nicht kuschen. "Ich achte die Götter, alle zwölf, auch Travia, doch manche ihrer Geweihten achte ich nicht. Manche ihrer Geweihten neigen zu menschlicher Willkür, welche sie für den Willen der Götter ausgeben, so stellt es sich für mich wenigstens dar. Ich kann das natürlich nicht beweisen und mag damit manches Mal falsch liegen, aber im Großen und Ganzen denke ich, mit dieser Einschätzung recht zu haben. Nur darf man so etwas natürlich normalerweise nicht offen aussprechen, will man nicht die 'Strafe der Götter' oder die der Menschen, die denken, die Götter könnten sich nicht selbst verteidigen, so dass sie es an ihrer Statt tun müssen, auf sich herabrufen möchte. Ich will damit nicht sagen, dass Firumar…”

“SEINE GNADEN!” korrigierte Mika.

“...zwangsläufig einer dieser Geweihten ist, aber er macht es mir leicht, das zu glauben. Wenn er wirklich einen Fingerzeig seines Gottes erhalten hat, dass ich nicht an der Jagd teilnehmen solle, dann hätte er es mir erklären sollen, statt mich vor der ganzen Mannschaft zu demütigen. Ist das nicht Feigheit, seine Machtposition gegenüber einer deutlich Schwächeren auf diese Weise auszunutzen?" Doratrava wollte noch weitersprechen, klappte aber mit sichtlicher Anstrengung den Mund zu, da sie spürte, dass ihr Temperament und ihr Ärger nun doch wieder mit ihr durchzugehen drohten.

“Als Gefolgsmann Firuns ist Seine Gnaden kein redseliger Mann. Er muss nicht erklären. Er weiß. Lange Diskussionen, die zu nichts führen, sind nicht des Herrn Firun. Diese sucht Ihr besser bei den Praioten. Wenn es um Leben und Tod geht, um das Leben des Keilers oder Euer eigenes, erwartet Ihr dann auch, dass Euch der Keiler erläutert, warum er Euch die Beinschlagader mit seinen Hauern aufreißen will?” Mika seufzte. Das lange Reden während des schnellen Schrittes nach ihrem Blutverlust ermüdete sie. Doch wollte sie nicht aufgeben. Weder darin, ihr Ziel der Wanderung zu erreichen, noch die hübsche Tänzerin zu bekehren. “Seine Gnaden hat eine heilige, firungefällige Jagd zu leiten. Dies ist kein Schauspiel und keine Zirkusnummer. Die Verantwortung für zwölf Menschenleben - eine göttergefällige Zahl - liegt heute in seinen Händen. Da ist für Leichtfertigkeit kein Platz und lange Diskussionen keine Zeit. Und das ist kein persönlicher Groll gegen Euch. Höchstens gegen Eure Motivation, auf diese Jagd zu gehen. Denkt vielleicht einmal darüber nach und übt Euch in Demut!”

Doratrava presste die Lippen aufeinander, wieder stieg Bitterkeit in ihr auf. Da war sie wieder, die 'göttliche' Selbstgerechtigkeit. Die Novizin war offenbar eine gelehrige Schülerin. So langsam verfluchte die Tänzerin sich dafür, sich zu ihrer Begleitung angeboten zu haben. Einer der anderen hätte sie vielleicht auch eher davon abhalten können, jetzt unbedingt Firumar suchen zu wollen. "Vorhin ging es nicht darum, ob ein Keiler mir eine Schlagader aufreißt. Vorhin ging es darum, dass Seine Gnaden", nach Mikas Verbesserung gerade betonte sie diese beiden Worte besonders übertrieben, "mich durch seine Worte und Taten der Lüge bezichtigt hat, indem er mir unterstellte, die Jagd auf die leichte Schulter zu nehmen, nur, weil ich ehrlich war und dargelegt habe, dass meine Teilnahme daran tatsächlich einer Art Spiel entsprungen ist. Aber", und nun blieb Doratrava stehen und wandte sich Mika ganz zu, ihre smaragdgrünen Augen leuchteten in hellem Feuer, "ich kann sehr wohl zwischen Spiel und Ernst unterscheiden. Und wie ich Seiner Gnaden erklärt habe, nehme ich die Jagd durchaus ernst. Da er das offenbar nicht so sieht, bezichtigt er mich also der Lüge. Bei Firun!" Doratrava konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme nun doch lauter wurde, wenn auch nur eine Spur, dafür nahm sie nun eine brennende Intensität an. "Ich habe bereits mehr gesehen, als die meisten Leute, die ich kenne. Ich habe gegen Wesen gekämpft, die die meisten Leute für Sagengestalten halten, gegen Namenlosenpaktierer, Untote und Dämonen. Ich bin nicht wehrlos und ich bin nicht leichtsinnnig und ich weiß, wann ein Spiel zuende ist!"

Während der letzten Worte war die Tänzerin mit geballten Fäusten Mika bis auf wenige Fingerbreit auf die Pelle gerückt, doch nun machte sie einen schnellen Schritt zurück und schüttelte den Kopf, als wäre sie über sich selbst erschrocken. "Ent... entschuldige. Du kannst ja nichts dafür, aber wenn ich dir einen Rat geben darf: jede Geschichte hat zwei Seiten, und nicht immer ist die vermeintlich offensichtliche Seite die reine Wahrheit. Versuche zumindest, die zweite Seite zu finden und zu ergründen, bevor du ein Urteil fällst. - Und nun sollten wir weiter."

Mit Wohlwollen hatte Mika wahrgenommen, dass Doratrava nun über Firumar mit dem gebotenen Respekt sprach, in dem sie ihn als ‘Seine Gnaden’ titulierte. Mika machte noch keine Anstalten weiterzugehen. Stattdessen lächelte sie Doratrava an. “Dann erklärt mir, was war Eure wahre Motivation, auf diese Jagd zu gehen? War es der Wunsch, Eure Seele in Einklang mit der Natur zu bringen? War es, die Notwendigkeit, den hiesigen Bauern eine Sorge zu nehmen? War es die Lust am Töten eines wilden Tieres? Oder war es die Eingebung, dem jungen Herrn von Tannenfels zu folgen, ihm zu zeigen, dass das, was er vermag, auch in Eurer Kraft liegt? Oder hattet Ihr ganz andere Gründe? Sagt mir die Wahrheit, und ich werde Euch glauben.”

Irritiert blickte Doratrava die Novizin an, die sich völlig unbeeindruckt von ihrem Ausbruch zeigte. Sie brauchte einen Moment, um sich auf die Fragen zu konzentrieren und darüber nachzudenken, bevor sie antwortete: "Mir hat vorher niemand etwas davon gesagt, dass das hier etwas Firunheiliges sein soll. Die Jagd in Nilsitz war es sicherlich nicht. Soweit ich weiß, gibt es viele Adlige, die lediglich zum Spaß jagen, ehrlich gesagt hatte ich angenommen, das sei hier ebenso der Fall. Oder, wenn ich's mir recht überlege, habe ich gar nichts angenommen, sondern einfach nicht darüber nachgedacht. Ich wollte auch zuerst gar nicht an der Jagd teilnehmen, wie ich schon sagte, entsprang dieses alles einer spontanen Herausforderung, die ich gegenüber Nivard ausgesprochen habe: wenn er mich wach bekommt, nehme ich an der Jagd teil. Nivard weiß, dass ich morgens vor der achten oder neunten Stunde extrem schwer dazu zu bewegen bin, meine Lagerstatt zu verlassen, außerdem habe ich seine Entschlossenheit unterschätzt, auf diese Herausforderung einzugehen. Nun, er hat es tatsächlich geschafft, dass ich wach genug bin, um hier zu sein, wenn es auch nicht ganz einfach war. Und erst, als ich vorhin vor Seiner Gnaden stand, habe ich erfahren, dass es um so etwas wie einen Gottesdienst geht. Aber auch, dass die Jagd den Bauern hier hilft. Denn tatsächlich liegt es mir nicht, Tiere zum Spaß zu töten, aber wenn damit ein Sinn einhergeht, tue ich es ... na ja, gern ist vielleicht das falsche Wort, eher tue ich, was nötig ist. Wobei ich bei dieser Jagd ja wohl keine Tiere töten werden, wenn sie mich nicht angreifen." Hier flackerte wieder der bittere Zug um ihren Mund auf. Sie überlegte, ob sie noch etwas ergänzen sollte. Natürlich war sie nicht frei von Eitelkeit und wollte sich auch beweisen, aber eigentlich erst, nachdem der Geweihte sie so angegangen war. Das war also nicht ihre ursprüngliche Absicht gewesen, insofern auch nicht Teil der Antwort auf Mikas Frage. Und tatsächlich hatte sie die Teilnahme an der Jagd als Spiel gesehen, das sie mit Nivard gespielt hatte, aber nur bis zu dem Zeitpunkt, als Firumar und Friedewald klargemacht hatten, um was es heute ging. Aber das hatte sie ja schon zugegeben, also gab es keinen Grund, das nochmals zu wiederholen. Abwartend und ohne weitere Worte schaute sie Mika an.

Und so sah Doratrava Mikas freundliches und gleichzeitig überlegenes Lächeln, bevor diese sich umdrehte und weiter ging. Mika hätte nun lange erklären können, dass Doratrava vielleicht in einigen Punkten gar nicht so falsch lag, wollte ihr Vater doch ursprünglich selbst einfach nur eine Jagd zum Vergnügen der adeligen Hochzeitsgäste veranstalten, noch dazu auf das weiße Reh. Doch Mika hatte den Edlen davon überzeugen können, Seine Gnaden Firumar von Albenholz um die Leitung der Jagd zu bitten, und so hatte jener daraus eine heilige Mission gemacht. Und dies zeigte sich alsbald als wahrlich göttliche Fügung, hatten doch die Wildschweine in letzter Zeit den Bauern das Leben immer schwerer gemacht. Und so wurde aus dem reinen Vergnügen eine sinngebende Aufgabe. Doch Mika behielt diese Gedanken für sich. Stattdessen ging sie noch einmal auf Doratravas Einstellung ein. “Seht Ihr, genau dies war es wohl, was Seine Gnaden in Euch gesehen hat. Ihr seid unvorbereitet, unbedarft in diese Jagd gestolpert. Dies ließ seine Skepsis Euch gegenüber gedeihen, verbunden mit Euren – entschuldigt wenn ich es Euch so direkt sage – respektlosen Erwiderungen. Denkt einmal darüber nach.” Mika pustete leicht. “Ich hege keinen Groll gegen Euch. Ich sehe, in Euch steckt ein reines Herz. Versucht, in Ruhe zu Euch selbst zu finden, und auch Eure Seele wird Reinheit und Ruhe finden. Und nehmt die Aufgabe, mich zu Seiner Gnaden zu geleiten, als Eure Queste an, um Euch vor meinem Lehrmeister als würdig zu erweisen, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Ohne Euch wären wir elf, so sind wir zwölf. Es hat einen Sinn, warum das Schicksal Euch auf diese Jagd geschickt hat.” Nach einigen Schritten des Schweigens, während der Mika der Tänzerin Zeit gewähren wollte, über ihre Worte nachzudenken, fing sie erneut an zu sprechen. “Mein Schwester erzählte mir, Ihr wäret eine großartige Künstlerin, die es schafft, die Herzen ihres Publikums zu berühren. Gwenn hat wahrlich von Euch geschwärmt.”

So richtig wurde Doratrava nicht schlau aus Mika, die ihr recht neunmalklug daherkam und sich anmaßte, sie beurteilen zu können. Und dass es womöglich eine Fügung des Schicksals oder der Götter oder sonstwas war, dass sie hier dabei war, nur eben nicht notwendigerweise Firuns, hatte sie selbst schon dem Geweihten gegenüber erwähnt, das war aber nicht auf Gegenliebe gestoßen, eher im Gegenteil. Aber die Tänzerin hatte jetzt keine Lust mehr zu streiten, daher zuckte sie nur leicht die Schultern.

Auf Mikas neuerliche Frage hin, die diesmal eine ganz andere Richtung nahm, erhellte sich ihr Gesicht geringfügig. "Danke für das Kompliment. Ja, ich denke, meistens gelingt es mir, mein Publikum zu begeistern, doch du scheinst bisher nicht darunter gewesen zu sein. Aber bei der eigentlichen Hochzeitsfeier bist du doch dabei? Dann wirst du mich ja dort nochmal erleben und kannst dir dein eigenes Bild machen. Vorausgesetzt, wir kommen alle heil von der Jagd wieder heim."

“Heil heimkommen?” Mika hielt erneut an und streckte ihre Hand vor Doratravas Nase. “Wenn das ein Scherz sein soll, dann war der Euch aber mächtig misslungen!” Mika stapfte weiter. “Aber ja, ich hoffe, ich überlebe das hier heute doch noch, und dann freue ich mich schon darauf, Euch morgen zuzuschauen.” Ihre Stimme war sogleich wieder sanfter geworden. Leise ergänzte sie mit gesenktem Blick: “Sofern Seine Gnaden mich das lässt, nachdem ich ihn heute so enttäuscht habe.”  

Doratrava seufzte innerlich. Mika war wirklich eine gelehrige Schülerin ihres Meisters, nicht einmal diesen halben Scherz konnte sie als das nehmen, was er war. Und es war wirklich nur ein halber Scherz gewesen, denn sie dachte zurück an die Jagd von Nilsitz, wo sie eine Magierin wieder hatte zusammenflicken müssen, um danach noch auftreten zu können. Ob ihr dieses Glück im Zweifelsfall wieder beschieden war, wusste sie nicht und wollte sie auch nicht herausfordern, obwohl mit Gudekar ja ebenfalls ein ausgewiesener Heilmagier zur Verfügung stand.

Auf Mikas Aussage bezüglich des Scherzes ging Doratrava daher lieber gar nicht ein, aber ganz still konnte sie doch nicht bleiben. "Wieso sollte Seine Gnaden etwas dagegen haben, dass du der Hochzeit beiwohnst? Du bist die Tochter des Brautvaters, der hier Edler ist, und Schwester der Braut. Er kann dir doch nicht wegen eines Unfalls verbieten, mit deiner Familie zu feiern! Und es war ein Unfall, der jedem passieren könnte, selbst ich bin heute schon hingefallen, obwohl ich sonst keine Schwierigkeiten habe, auf Seilen zu laufen."

„Aber“, Mika zog die Nase hoch, und für Doratrava klang es so, als wäre Mika kurz davor zu weinen, „aber ich hatte nur eine Aufgabe: die Laterne tragen, damit wir ein Licht haben, falls wir es brauchen. Und nicht einmal das habe ich geschafft. Die Laterne ist zerbrochen und das Licht erloschen. Selbst für die einfachsten Aufgaben bin ich nicht fähig genug. Was ist, wenn nun irgendjemand wegen meines Unvermögens zu Schaden kommt? Wenn Ihr meinetwegen verletzt werdet, weil Ihr mich begleitet? Ich habe es nicht verdient, morgen fröhlich zu feiern.“ Während sie so in Selbstmitleid versank, ließ ihre Konzentration nach und Mika rutschte erneut auf dem feuchten Blattwerk aus, konnte jedoch gerade noch das Gleichgewicht wiederfinden, bevor sie erneut stürzte. Aber einen lauten Fluch konnte sie nicht mehr zurückhalten. “Scheiße, verdammt! Nicht schon wieder!” Der Ausruf ging ein jämmerliches Schluchzen über.

Erneut war es an Doratrava, innerlich zu seufzen, tief. Kaum hatte sie die Schale aus zur Schau gestellter Folgsamkeit gegenüber ihrem Lehrer durchbrochen, was im Übrigen gar nicht ihre ausdrückliche Absicht gewesen war, zeigte sich das junge, verletzliche Mädchen, das Mika doch eigentlich noch war. Fast war sie versucht, die Novizin nach diesem neuerlichen Missgeschick tröstend in den Arm zu nehmen, sah aber dann doch davon ab, da es sie vielleicht noch mehr gekränkt hätte.

"Wie ich schon sagte, es war ein Unfall. Dass du so unglücklich gefallen bist, um dir auch noch die Hand aufzuschlitzen, kann dir niemand, auch nicht Seine Gnaden zum Vorwurf machen." Und wenn er es doch tat, bestätigte er nur, dass er ein Arsch war. Das sprach Doratrava aber nicht laut aus, das würde Mika nur wieder zurück in Deckung treiben, da sie ihrem Mentor wohl trotz allem zu sehr ... verfallen war. Fast wünschte sich die Tänzerin, dass Firumar seine Novizin wegen ihres 'Unvermögens' verstieß, sie wäre dann vermutlich besser dran. Aber für Mika würde dann eine Welt zusammenbrechen, daher hoffte sie, dass der Geweihte irgendwie dazu zu bringen war, ihr den Fehltritt, der keiner war, zu vergeben.

"Und um mich mach dir mal keine Sorgen", sprach Doratrava weiter, ihre Gedanken für sich behaltend. "Wenn mir etwas zustößt, weil ich dich begleite, was wäre dann dir zugestoßen, wenn du allein gegangen wärst, so verletzt, wie du nun bist? Wie ich schon sagte, ich bin nicht wehrlos und kann normalerweise ganz gut auf mich aufpassen. Wir schaffen das schon. Und irgendwie werden wir dafür sorgen, dass du morgen eben doch fröhlich feiern kannst." Eine Fähigkeit, die dieser Firumar vermutlich vor langer Zeit verlernt hatte. Doratrava wusste nicht allzu viel über Firun, da sie bisher noch keine Berührungspunkte mit dieser Gottheit oder deren Geweihten gehabt hatte, aber sie hatte auch noch nie etwas davon gehört, dass Firun seinen Anhängern das Feiern verbot.

Auf Doratravas Worte entgegnete Mika nichts, sondern hielt kurz inne, um zu lauschen und sich zu orientieren. Dann ging sie weiter, überzeugt, den richtigen Weg zu Firumar zu folgen. Nach einer Weile fing sie an, vor sich herzureden. Es dauerte einen Moment, bis Doratrava erkannte, dass Mika betete. “Herr der schneebedeckten Weiten und dichten Wälder, weise mir den Weg. Sanfte Herrin, Tochter Firuns, erhöre mich. Dein Wille ist mein Gebet. Führe mich auf deinem Weg. Herr der schneebedeckten Weiten und dichten Wälder, weise mir den Weg. Milde Herrin, erhöre mein Flehen. Verscheuche die Angst vor Tod und Vergehen. Vertreib die Dämonen in Herz und Verstand. Weise mir den Weg, nimm mich bei der Hand. Herr der schneebedeckten Weiten und dichten Wälder, weise mir den Weg. Deine Lehre, mein Leben. Mein Leben, Dein Zorn. Dein Zorn, meine Prüfung. Meine Prüfung, Deine Lehre.”

Da Mika sich des Weges recht sicher zu sein schien, folgte ihr Doratrava, ohne sich viel Gedanken über den Weg zu machen, ohne allerdings die generelle Vorsicht außer Acht zu lassen. Als sie aber hörte, wie Mika betete, war wieder der Zeitpunkt gekommen, innerlich den Kopf zu schütteln, was langsam zu einer ungebetenen Gewohnheit wurde. Doratrava war zeitlebens auf sich allein gestellt gewesen und hatte gelernt, sich auf ihre eigenen Fähigkeiten zu verlassen. Ja, sie achtete die Götter, aber diese wegen jeder Kleinigkeit um Hilfe anzuflehen, fiel ihr nicht ein. Daher wusste sie nicht genau, was sie jetzt von Mikas Gebeten halten sollte. War das Gewohnheit? Oder war die Novizin sich doch unsicher und hoffte auf ein göttliches Zeichen, um den richtigen Pfad zu finden? Aber was sollte dann das Gerede von Angst und Dämonen? Sie wollte Mika jetzt aber nicht aus dem Tritt bringen, sondern schwieg und achtete lieber noch besser auf den Weg und die Umgebung.

Nach dem Ende ihres Gebets lief Mika wieder einen Moment schweigend vor Doratrava her. Dann fragte sie frei heraus: “Seid ihr gut mit Gwenn befreundet, oder seid ihr nur wegen Eures Auftritts hier? Ich frage nur, weil sich Gwenn gestern Abend so darauf gefreut hat, Euch nach der Nachtwanderung zu treffen und mit Euch zu plaudern. Hat sie mir erzählt, bevor ich ins Bett gegangen bin.”

Einmal mehr wunderte sich Doratrava über Mikas Sprunghaftigkeit, aber wenigstens war das kein Thema, über das ein Streit ausbrechen würde … hoffte sie. “Ich kannte Gwenn bisher überhaupt nicht”, antwortete sie daher frei heraus. “Sie hat mich gestern Nachmittag zum ersten Mal erlebt und war offenbar sehr angetan von meiner Kunst. Nein, der Herr Herrenfels hat mich engagiert, diesen kenne ich von früher, wenn auch nicht sonderlich gut. Gudekar hat meines Wissens auch ein gutes Wort für mich eingelegt, er hat mich auf der Schweinsfolder Hochzeit erlebt.”

“Ach, Ihr seid Gudekar mal begegnet? Auf dieser Hochzeit vor zwei Jahren? Interessant, wer da alles so dabei war…” Mika wär überrascht. Gudekar hatte ihr mal von der Hochzeit erzählt, aber scheinbar bei weitem nicht alles. "Hattet Ihr Gudekar damals auch näher kennengelernt?” Wer weiß, wer weiß…?

Doratrava runzelte die Stirn, da Mika die Frage so seltsam betonte. “Was meinst du mit ‘näher’? Auf der Hochzeit direkt haben wir uns mehr oder weniger nur gesehen, richtig gesprochen miteinander haben wir erst danach, und besser kennengelernt habe ich ihn dann nach dem Flussfest 1044.” Mittlerweile dämmerte es der Tänzerin, dass Mika vielleicht ebenso wie Nivard mehr über die Beziehung von Gudekar und Merle wusste. Gespannt wartete sie auf die Antwort.

„Nun, Gudekar, der sonst immer so schüchtern war, hat dort ja scheinbar einige junge Damen kennen gelernt. Tsalinde, Imelda, Meta, Liana, Euch, wer weiß, wen noch alles. Da muss irgend etwas mit ihm passiert sein, dass er sich so verändert hat, so offen für andere Menschen wurde, so viele Freundschaften geschlossen hat.“

“Na ja, das passiert halt, wenn man auf einer Hochzeit ist, da sind eben nun mal viele Leute, auch junge Damen.” Doratrava grinste flüchtig. “So schüchtern ist mir Gudekar bisher auch gar nicht vorgekommen, allerdings haben wir auch nicht über seinen Umgang mit jungen Damen gesprochen. War er denn früher anders?”

“Ich war ja noch nie auf so einer großen Hochzeit wie der von Gwenn”, sinnierte Mika. Sie überlegte, ob sie überhaupt schon einmal auf einer Hochzeit war. Lediglich die von Gudekar und Merle fiel ihr ein, aber da war sie noch klein. Und Gudekars Hochzeit fand im kleinen Kreis statt, nur die direkte Familie war damals zum Traviatempel in Albenhus gereist, um der Bundfeier der beiden Liebenden beizuwohnen. “Ich finde schon, dass Gudekar anders geworden ist. Ich meine, ich habe ihn lange schon nicht mehr gesehen und auch davor nur selten. Aber er wirkt viel froher und ausgelassener, seit er in Meta verliebt ist.”

Wie vom Donner gerührt blieb Doratrava stehen. "In META?", entfuhr es ihr unwillkürlich und nicht eben leise. Schnell senkte sie die Stimme wieder: "Entschuldige, aber das kam jetzt ein wenig überraschend." Ausgerechnet Meta ... ursprünglich hatte sie sich mit der Ritterin oder vielmehr ewigen Knappin, die sie ja lange Zeit gewesen war, ganz gut verstanden, aber bei eben jener Hochzeit in Schweinsfold hatte Meta sie ganz schön angefeindet, vielleicht, weil sie dort zusammen mit dem Bannstrahler Linnart vom Traurigen Stein anwesend war, der, wie so viele Anhänger des Praios, keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen sie gemacht und Meta daher vielleicht aufgestachelt hatte. Soweit sie wusste, weilte Meta als Gudekars Leibwächterin hier, wobei sie sich unterbewusst schon gefragt hatte, warum der Magier in seiner Heimat eine solche brauchte. Und jetzt, wo sie es sich recht überlegte, fiel ihr auch auf, dass Gudekar bei der Nachtwanderung gestern sich kein einziges Mal um Merle, dafür aber sehr ausgiebig um Meta gekümmert hatte, vor allem nach dem Bad im eiskalten Teich. In ihren Augen war Meta ungehobelt und grob, was fand der Magier nur an ihr, vor allem im Vergleich zu Merle? Aber das waren alles Gedanken, die ihr spontan durch den Kopf schossen, welche sie aber nicht unbedingt aussprechen wollte, daher konnte sie Mika im Moment nur verständnislos anstarren.

“Oh!” Erst jetzt wurde es Mika bewusst, dass sie hier versehentlich ein Geheimnis ausgeplaudert hatte. Sie schaute Doratrava entsetzt an. “Verdammt, das hätte ich nicht sagen dürfen. Bitte, verratet es nicht weiter. Und schon gar nicht, dass Ihr es von mir wisst”, flehte sie Doratrava an.

Aha, dachte sich Doratrava nun, von diesem ‘Geheimnis’ wusste Nivard dann also auch, deshalb hat er so herumgedruckst. “Hm”, machte die Tänzerin nachdenklich. “Ich bin niemand, der andere in die Pfanne haut. Also wenn du das so möchtest, behalte ich das für mich. Aber nun, da es heraus ist: woher weißt du das denn?” Merle wusste gestern Abend sicher noch nichts davon, von ihr konnte Mika das also nicht haben. Und Nivard würde Mika genausowenig etwas verraten, wie er es ihr gegenüber getan hatte. Also mussten noch mehr Leute von diesem ‘Geheimnis’ wissen. Namentlich Gudekar und Meta selbst, natürlich. Aber diesen würde doch eher daran gelegen sein, das auch geheim zu halten …

Mika druckste ein wenig rum. “Nun ja, ich hatte nur zu Hause mitbekommen, dass Gudekar da auf der Feier, naja, … Das hatte ich halt gehört, als sich Vater mit Kalman unterhalten hatte. Und dann habe ich in Ishna Mur Imelda kennengelernt, die Ingrageweihte. Und wir kamen so ins Gespräch. Dabei kam raus, dass sie Gudekar auch kannte von der Hochzeit. Und dann dachte ich, die beiden hätten vielleicht auch, denn Imelda konnte es ja nicht sein, über die Vater und Kalman sich unterhalten hatten. Das war schon eigentlich ganz komisch in Ishna Mur mit Imelda.”

Doratrava musste nun fast schon lächeln, wie sie Mika zuhörte, die versuchte, etwas zu sagen, ohne etwas zu sagen. Aber ihre Neugier war nun geweckt, und das wollte sie nun schon ein wenig genauer wissen. Vielleicht erfuhr sie ja sogar etwas, mit dem sie Merle helfen konnte. Und Meta war niemand, für den sie besondere Sympathien hegte. “Langsam, langsam”, bremste sie Mika daher. “Was hat Gudekar auf welcher Feier getan, über das sich dein Vater und Kalman - das ist Gudekars Bruder, oder? - unterhalten haben? Und was genau war komisch mit Imelda in Isha Mur?” Soweit sie wusste, war Imelda ganz gut mit Meta befreundet, da konnte es schon sein, dass Meta ihr etwas erzählt hatte. Im Übrigen hielt sie Meta sowieso für niemanden, der so ein Geheimnis bewahren konnte, da war es fast schon ein Wunder, dass nicht noch mehr Leute Bescheid wussten.

Bei den Erinnerungen an die fröhliche, unbeschwerte Zeit in Ishna Mur, musste Mika innerlich so lachen, dass sie jegliche Vorsicht in ihren Worten vergaß. “Also, auf der Schweinsfolder Hochzeit. Da hatte er diese eine Frau, Tsalinde, geschwängert. Und Vater hatte es auf dem Lichterfest in Liepenstein erfahren. Darüber haben sie sich unterhalten.” Mika machte eine kurze Pause, um zu sehen, ob Doratrava ihr folgen konnte.

Dieser verschlug es vor Staunen die Sprache, sie konnte Mika nur mit großen Augen anstarren. Tsalinde? Das hieß ja, Gudekar hätte Merle gleich mit zwei Frauen betrogen!

“Und komisch war in Ishna Mur, als sich Imelda und ich uns über Gudekars Geliebte auf der Hochzeit unterhalten haben, oder besser gesagt über beide, aber das wussten wir nicht. Ich hatte dann erzählt, dass sie schwanger ist, und Imelda hatte einen Schreck bekommen. Da kam erst raus, dass wir über zwei verschiedene Frauen reden, ich über Tsalinde und Imelda über Meta.” Mika musste schmunzeln.

“Pschht!”, machte Doratrava, da Mika vor lauter Eifer vergaß, ihre Stimme leise zu halten. Obwohl sie sich in gewisser Weise freute, dass die Novizin nun wenigstens von ihrer Verletzung und ihren Schuldgefühlen abgelenkt war. Nichtsdestotrotz wollte sie mehr wissen: “Und was hat Imelda genau erzählt über Meta und Gudekar?”

Mika überlegte eine Weile, weil sie versuchte, sich zu erinnern. “Ähm, also eigentlich nicht viel. Nur, dass sich Meta wohl zuerst nur aus Rache an ihrem Freund mit Gudekar eingelassen hatte. Der ist wohl Praiot oder Bannstrahler oder so, also der Freund, nicht Gudekar. Aber dann hat sie halt doch Gefühle für ihn entwickelt, also für Gudekar, nicht den Praioten. Für den hatte sie ja schon Gefühle. Aber Imelda meinte damals, dass Meta bestimmt nicht auf Dauer die heimliche Geliebte eines verheirateten Mannes bleiben will.” Mika lachte auf. “Da hat sich Imelda wohl ganz schön geirrt. Die sind ja jetzt auch schon zwei Jahre zusammen, und Gudekar hat es Merle noch immer nicht gestanden.”

Das wurde ja immer besser! Meta hatte Rache nehmen wollen an Linnart vom Traurigen Stein, weil er ihre Avancen abgewehrt hatte, und sich daher absichtlich mit einem Magier eingelassen! Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte über diese überaus erstaunlichen Informationen, aber zu Meta passte das irgendwie. Nur wie ernst war es der Neu-Ritterin damit? Immerhin wohl ernst genug, dass es schon zwei Jahre hielt und Gudekar von Merle wegtrieb. Wobei das Verhältnis der beiden wohl vorher schon nicht so gut gewesen sein konnte, wenn er noch mit einer anderen Frau geschlafen hatte.

“Hm, ich fürchte aber, da braut sich etwas zusammen”, murmelte Doratrava nun. “Nivard, der offenbar auch über das alles hier Bescheid weiß, deutete an, es könne sich noch hier auf der Hochzeit etwas entscheiden. Merle tut mir leid.” Aus den letzten Worten sprach echte Anteilnahme … vielleicht auch mehr.

“Wer ist Nivard und woher weiß der davon?” fragte Mika überrascht.

“Der Herr von Tannenfels”, antwortete Doratrava. “Wir sind gute Freunde, wie du vielleicht schon gemerkt hast. Woher er das weiß, wollte er mir aber trotzdem nicht sagen. Er hält seine Versprechen, auch mir gegenüber.”

“Ach der Herr von Tannenfels. Ja, der ist sicher ein ehrenwerter Mann.” Mika schaute besorgt zum Himmel. “Ihr könntet recht haben, dass sich da heute noch etwas zusammenbraut. Hoffen wir, dass das Wetter noch hält, bis wir von der Jagd zurück sind. Der Regen ist so schon unangenehm genug.”

Doratrava zog die Brauen zusammen. War das ein Schutzreflex von Mika, sie falsch zu verstehen? Nun, sie hatte genug erfahren, vermutlich alles, was Mika wusste zu diesem Thema, leider nichts, was ihr eine Idee gab, wie sie Merle helfen konnte. “Ja, beeilen wir uns lieber”, erwiderte die Tänzerin, nachdem sie dem Blick der Novizin nach oben gefolgt war. Außerdem konnte sie dann schneller wieder zurück sein, auch wenn sie sich eingestand, dass die Chancen, ihrer Jagdgruppe noch beistehen zu können, sehr gering waren, Leider.

“Merle tut mir auch leid. Auch, wenn ich glaube, dass Gudekar und Meta wirklich glücklich miteinander werden könnten. Aber es wird wirklich Zeit, dass Gudekar es Merle sagt.” Mika schaute verzweifelt. Sie mochte doch alle aus der Familie so gern. “Aber der Herr von Tannenfels hat wohl recht. Morgen nach Gwenns Trauung will Gudekar es Merle endlich gestehen, dass er sie verlassen wird.”

“Ach so?”, entfuhr es Doratrava überrascht. “Dann weißt du ja doch noch mehr darüber. Und warum denkst du, dass Gudekar und Meta zusammen glücklich werden können? Kennst du beide, vor allem Meta, so gut?” Sie selbst hatte Schwierigkeiten, sich eine längere, glückliche Beziehung vorzustellen, kannte sie so etwas doch selbst nicht.

“Nee, eigentlich nicht.” Mika schüttelte den Kopf. “Aber er hat immer so glücklich von ihr gesprochen, und wie gern er sie hat. Und wenn die beiden dann nach Tälerort gehen, dann steht ihrer Liebe nichts mehr im Weg.”

“Hm”, brummte Doratrava wenig überzeugt. Aber das waren eben Themen, zu denen sie nichts Schlaues sagen konnte. Warum nur mussten für das Glück der Einen so oft andere Menschen leiden?

Unvermittelt trat ohne jegliches Geräusch plötzlich ein großer, muskulöser Hund vor ihnen aus dem Gebüsch. Rall. Mika kannte den Rüden gut und sie wusste, dass das Tier mit Firumar eine Verbindung unterhielt, die man als nicht von dieser Welt bezeichnen konnte. So wusste die Novizin auch, dass es zwar der Rüde war, dessen Augen sie stumm doch aufmerksam anstarrten, aber dass es kein Voranmelden mehr brauchte, denn der Diener des Grimmigen wusste ab da wohl ebenfalls Bescheid. Sie hatte noch nicht verstanden, auf welche Art Hund und Geweihter miteinander  kommunizierten, aber sie taten es.

Rall schnupperte, sog den Duft nach Blut ein, den Mikas Verletzung verströmte. Der Verband war fast aufgeweicht und einige feine Tropfen des roten Lebenssafts fielen vermischt mit Regenwasser zur Erde. Dann wandte das Tier sich um und ging fort. Fast schien es so, als schwebe er über den nassen Waldboden, denn seine Pfoten sanken weder tief ein, noch hatten sie Mühe auf dem feuchten Blattwerk.

Als Doratrava den Hund sah, blieb sie wie angewurzelt stehen, ihre Hand fuhr zu ihrem Langdolch. Doch da er sich nicht bedrohlich gebärdete, vermied sie weitere schnelle Bewegungen und sah fragend und besorgt zu Mika, die seitlich einen halben Schritt vor ihr lief.

Mit großer Freude sah Mika den Gefährten ihres Lehrers. Am liebsten wäre sie auf ihn zugestürmt, um ihn in die Arme zu schließen. Aber sie beherrschte sich und blieb einfach ruhig stehen. Mika hatte Rall wortlos ihre verletzte Hand hingehalten, da sie ihm - und damit Firumar - zeigen wollte, was ihr geschehen war. Als Rall davon lief drehte sie sich zu Doratrava um und flüsterte ihr zu: „Wir sind bald bei Seiner Gnaden. Seid jetzt leise und vorsichtig, damit wir sein Tun nicht stören.“

Doratrava nickte stumm und machte eine auffordernde Handbewegung, da Mika weiter führen musste.

Diese folgte stumm und achtsam der Richtung, die Rall eingeschlagen hatte.

Aus der Ferne konnten die beiden Frauen alsbald lärmende Geräusche vernehmen. Tiefe Männerstimmen riefen „Jooooh joh!“ oder „Mook, mook, mook!“ und Hunde kläfften immer wieder. Dazu das Knacken, Splittern, Poltern von Holz, das auf Holz geschlagen wurde. Für Mika das untrügliche Zeichen, dass die anderen damit begonnen hatte, die Rotte zu wecken - falls dies überhaupt noch nötig war - und aus ihrem Unterschlupf zu vertreiben.

“Es geht los”, flüsterte die Novizin zu ihrer Begleiterin. “Jetzt müssen wir besonders aufmerksam sein. Wer weiß, in welche Richtung die Rotte aufbricht.”

Wie befürchtet würde sie es nun nicht mehr zurück zu ihrer Gruppe schaffen. Doratrava seufzte lautlos und nickte, tat aber nichts Eigenmächtiges, sondern achtete auf das Verhalten der Novizin, die besser wusste, wie es nun weiterging.

Irgendwo schräg vor ihnen hörten die beiden es alsbald rascheln, grunzen und das Knacken von Holz. Mika konnte nicht genau sagen, wie groß der Abstand zwischen ihnen und der Rotte war, denn der Regen verfälschte jede Schätzung. Aber alles, was sie wahrnahm, war, dass sich dort eine große Gruppe Tiere durch den Wald bewegte.

Rall hielt in seiner Bewegung inne und verharrte.

Da! Den Weg von Mika und ihrer Begleiterin kreuzte ein aufgescheuchter Fuchs. Mika wusste, was ihn aufgescheucht hatte. So schnell wie er floh und so dicht, wie er dabei an den beiden Zweibeinern vorbeihuschte, nahm er nicht Reißaus vor den beiden jungen Frauen und dem Rüden. Er floh vor etwas viel, viel Gefährlicherem.

Als der Fuchs vor ihr vorbei huschte, verharrte Doratrava im Schritt und zog einen ihrer Wurfdolche. Sie warf Mika einen fragenden Blick zu und versuchte gleichzeitig zu erkennen, ob die Geräusche auf sie zukamen. Auch die Bäume um sie herum unterzog sie einer schnellen Musterung, um im Zweifelsfall einen schnellen Fluchtweg nach oben auszumachen.

Mika wusste das Zeichen zu deuten. Sie waren in höchster Gefahr. Wortlos hob sie die Hand, um Doratrava zum Schweigen und Verharren aufzufordern, auch, wenn dies gar nicht nötig war, und lauschte. Dann drehte sie sich zu ihrer Begleiterin und flüsterte ihr zu. “Schnell! Hoch auf einen Baum, wenn du kannst. Aber leise!” Mika wusste, mit ihrer verletzten Hand würde sie es nicht rechtzeitig schaffen, selbst hinaufzuklettern. So blickte sie sich nach einem geeigneten Versteck um. Ein ausgehöhlter Baumstamm, ein großes Erdloch, ein unterspülter Wurzelballen, irgendetwas. Gleichzeitig flüsterte sie zu Rall: “Bitte, bleib bei mir Rall und steh mir bei!” Vielleicht konnte er mit seinem Gebell die Rotte vertreiben, wenn sie auf sie zukamen.

Wortlos steckte Doratrava den Dolch wieder weg und sprang auf den Baum, den sie bei ihrer kurzen Erkundung als am einfachsten zu erklettern erkannt hatte. Aus zwei Schritt Höhe streckte sie Mika die Hand hin, um ihr hochzuhelfen, da ihr klar war, dass diese nicht selbst klettern konnte mit ihrer Verletzung.

Da Mika in der direkten Umgebung kein geeignetes Versteck sah, überlegte sie, ob sie mit Doratravas Hilfe trotz ihrer verletzten Hand den Schwung finden konnte, sich auf den Ast zu retten. Ein Versuch war jedenfalls immer noch besser, als hier stehen zu bleiben, um sich von der Rotte aufschlitzen und niedertrampeln zu lassen. Mika packte mit ihrer rechten Hand Doratravas Unterarm und griff nach ihrem Handgelenk.

Währenddessen sprang Rall zwischen dem Baum und dem Wald, aus dem die Geräusche kamen, von einer Seite zur anderen, wechselte immer wieder wild die Richtung. Dabei blickte er geradezu zornig nach vorn und bellte bedrohlich, als wolle er rufen ‚Kommt nicht näher, sonst gibt es Ärger’.

Als Mika Doratravas Hand mit ihrer eigenen hielt und spürte, wie Doratrava sie kräftig nach oben zu ziehen anfing, wurde sie unsicher. Wie sollte sie auf den Ast klettern, ohne die Linke zu verwenden. Sie würde sich nicht halten können und vom Baum herunterfallen. Firun weiß, welche weiteren Verletzungen sie sich dabei holen konnte. Dieser Gedanke verunsicherte sie so sehr, dass sie den Schwung, den ihr Doratrava gab, nicht sinnvoll nutzen konnte. Sie spürte jedoch rechtzeitig genug, dass ihr Versuch kläglich scheitern würde, dass sie Doratrava los ließ und sich geschickt auf ihre Füße fallen ließ. Nun stand sie wieder unten auf dem Boden, Rall vor sich, hatte nichts gewonnen, aber vielleicht wertvolle Zeit verloren.

Als Doratrava merkte, dass Mika ihren Griff lockerte, obwohl sie sie doch eigentlich sicher hatte, musste sie notgedrungen ebenfalls loslassen, sonst hätte sie die junge Novizin nur komplett aus dem Gleichgewicht gebracht. Kurz überlegte sie, Mika nochmals die Hand hinzustrecken, aber die bedrohlichen Geräusche veranlassten sie, sich jetzt erst einmal in eine sichere Position hochzuziehen, von der sie im Zweifelsfall auch ihre Wurfdolche einsetzen konnte, ohne vom Baum zu fallen. Gleichzeitig versuchte sie, Mikas Position im Auge zu behalten, um den Überblick zu wahren, so gut es ging.

Mikas Herz klopfte laut in ihrer Brust und ihre Gedanken rasten, denn immer lauter wurden die Geräusche, die aus dem Wald genau in die Richtung der beiden Frauen zukamen.

Mika sah einen Moment erschrocken und zugleich nachdenkend von der Tänzerin auf dem Baum zu dem wütend kläffenden Rall und in das uneinsehbare Waldstück, das vor ihnen lag, und aus welchem die Rotte mit Grunzen, Knacken und Rascheln direkt auf sie zulief, denn daran hatte sie keine Zweifel mehr. Sie wägte ihre Möglichkeiten ab. Da erinnerte sie sich an etwas, was Seine Gnaden mal zu ihr gesagt hatte, als sie über die Wolfsjagd sprachen. Bisher war es nur eine weitere Lektion gewesen. In diesem Augenblick aber schienen sie ihr klar und das Beste, was sie in ihrer Situation jetzt noch tun konnte. ‚Rennst du weg, wirst du zur Beute, weil du dich bewegst. Bleibst du stehen, bist du ein Feind, weil du größer bist als sie. Daher mach dich klein, unterwirf dich, dann verlieren sie das Interesse, und ganz wichtig: verbirg vor allem dein Gesicht.‘

Vielleicht galt das, was sich bei der Wolfsjagd bewehren sollte, auch für das Saurudel. Sich an den dicken Stamm drückend, bewegte sie sich langsam auf die von der Rotte abgewandten Seite des Baumes. Dann ging sie in die Hocke und kauerte sich nieder. Ihren Kopf bedeckte sie mit den Armen, jedoch darauf bedacht, einen Blick auf Rall und den Wald zwischen ihm und den Schweinen werfen zu können. So verharrte sie abwartend, was die Rotte tun würde.

Doratrava hatte ihre Zweifel, ob man den Wildschweinen entgehen konnte, wenn man sich hinter einem Baum zusammenkauerte, aber sie hoffte, dass Mika als Firun-Novizin wusste, was sie tat und ihre Handlung nicht nur der Verzweiflung und Ermangelung anderer Möglichkeiten geschuldet war.

Da alles danach klang, dass die Rotte wirklich hier vorbeikommen würde, zog Doratrava nun auch wieder einen ihrer Wurfdolche. Es würde sich zeigen, was sie damit ausrichten konnte, sollte es hart auf hart kommen, aber kampflos würde sie MIka sicher nicht den Tieren überlassen. Grimmig starrte sie von oben ins Dickicht und versuchte, etwas zu erkennen.

Die erhöhte Position versprach einen guten Blick über das Jungholz hinweg in den Wald hinein und tatsächlich war dort, unweit von ihrem Standpunkt Bewegung im Gehölz zu sehen. Nur einen Moment später kam die Rotte in Doratravas Sicht. Quiekend, raschelnd, knackend und grunzend schob sich eine große Menge Wildschweine durch das regennasse Unterholz. Eine wirklich große Menge. Aber nicht gemächlich, nein, die Tiere pflügten rasant und trittsicher durch den Wald und schienen aggressiv, denn immer wieder bissen die Größeren Kleinere, die ihnen während der Hatz zu dicht auf die Schwarte rückten, oder boxten diese recht ruppig mit dem massigen Schädel beiseite. Allen voran trabte energisch ein wirklich großes Tier, dessen Fell heller war als das der anderen - und welches die Rotte genau auf jenen Baum hinführte, hinter dem die Novizin kauerte, auf dem die Tänzerin Ausschau hielt und vor dem der Hund des Geweihten kläffend hin und her sprang.

Leise hörte Doratrava von unter sich Mikas Stimme, die flüsternd immer und immer wieder die Zeilen „Alter vom Berg, weise mir den Weg, lass mich stark sein, grimmiger Herr!“ wiederholte. Als sich die Säue näherten, ging die Fürbitte in ein Summen über. „Ich fürchte weder Tod noch Kälte, ist Golgari auch nicht weit. Denn deine Milde, deine Wärme hüllt mich in sanfter Federn Kleid.“ Dann verstummte Mika wieder, bevor die Bachen auf sie aufmerksam wurden.

All ihre Instinkte verlangten von Doratrava, Mika irgendwie auf den Baum zu hieven, denn ob ihre Gebete etwas helfen würden, sobald die WIldschweine den Baum umrundet hatten und sie dann zwangsläufig entdeckten, war sehr fraglich. Und den kläffenden Hund schienen die Tiere einfach zu ignorieren. Doch wenn sie nun etwas dergleichen unternahm und Mika nicht sofort verstand und ohne Vorbehalte kooperierte, lieferte sie nur sie beide ans Messer … oder an die Hauer. Unsicher steckte sie den Dolch wieder weg, angesichts der Masse der bewegten Leiber konnte sie damit vermutlich sowieso nichts ausrichten, und rutschte auf dem Baum vorsichtig an eine Position, welche sie über Mika brachte. Wenn die Schweine wirklich auf die Novizin losgingen, würde sie versuchen, sich mit den Beinen um den untersten Ast zu klammern und Mika kopfüber herabhängend in die Höhe zu ziehen … wenn sie das denn schaffte, denn das war dann eher kein Akt der Akrobatik, sondern der Kraft, und mit dieser war sie absolut gesehen nicht allzu üppig gesegnet.

Mika flehte den Herrn ihres Herzens - Firun - um Beistand an, sank nicht nur körperlich, sondern auch geistig für den Moment in sich zusammen. So nahm sie die Geräusche der Umgebung klarer wahr. Denn jetzt, da sie die Augen nicht nutzte, war ihr Gehör viel besser und sie hörte das Schmatzen der Vielzahl an Hufen, die sich in den regennassen Boden gruben, spürte das Vibrieren des Waldbodens, irgendwo fiepten in Panik ein paar Mäuse. Sie vernahm ebenso das dumpfe Kommando-Grunzen der Leitbache und roch das metallische Blut, das aus ihrer Handwunde auf den Boden vor ihr tropfte, spürte die Wurzeln des Baumes, zu dessen Fuße sie sich zusammengekauert hatte, unter ihrem Gesäß, der Regen klopfte rauschend auf das langsam sich bräunende Blattwerk. Sie hoffte, niemand würde sich für sie hier interessieren. Ralls Kläffen und Bellen verhieß ihr zusätzlichen Schutz.

Dabei wusste sie nicht, dass eines der herannahenden Tiere den Rüden ins Visier genommen hatte. Während also nun die ersten kleineren vorwitzigen Tiere an dem Baum, hinter dem Mika sich zusammengekauert hatte, vorbei flitzten wie eine freche Vorhut, die es nicht erwarten konnte, mit der Masse an Leibern vorwärtszuschieben, konnte Doratrava von ihrem sicheren Platz im Geäst aus sehen, wie sich eines der Schweine aus der Gruppe löste und noch bevor die Rotte vor dem Baum eintraf im Galopp auf den lärmenden Widersacher zupreschte, um ihn zu attackieren. Die Sau schien dabei keine Scheu vor dem Hund zu besitzen. Ralls wütendes Bellen wich einen Moment lang einem bedrohlichen Zähnefletschen, dann hörte sie Rascheln von Bodenlaub und zwei Leiber, die aufeinandertreffen. Doratrava sah, wie der erfahrene Jagdgefährte dem Schwarzkittel erfolgreich ausgewichen war und diesen nur einen Lidschlag später in einem eigenen Angriff geifernd ansprang. Mika vernahm, wie Hund und Sau miteinander rangen. Es war ein Grunzen und Fiepen, Knurren, Jaulen und Quieken.

Doratrava hingegen konnte die Blutflecken sehen, welche die beiden Kontrahenten recht schnell am Leib trugen, da sie sich beiden nichts schenkten. Der Schwarzkittel hatte durch das dichte Fell deutlich mehr Schutz, doch der viel kleinere Rüde wehrte sich dabei beachtlich tapfer, obwohl er einige Male schmerzhaft jaulte, als der Schwarzkittel seinen massige Leib gegen den des Rüden schmiss oder eines von Ralls Beinen packte und zubiss.

Der Kampf der beiden Tiere unter dem Baum bewirkte allerdings, dass die Rotte ein Stück abdrehte, und nicht links und rechts am Baum vorbei steuerte, sondern, den Kampfplatz aussparend, nur rechts sowie in gutem Abstand vom Unterschlupf der beiden jungen Frauen anfing, vorbeizudrücken.

Doratrava und Mika sahen den Pfeil, der aus dem Dickicht geflogen kam, zwar nicht. Das laute Schmerzbrüllen des Schwarzkittels daraufhin war jedoch nicht zu überhören. Es tönte durch den ganzen nahen Wald. Und während jener Ruf die Rotte endgültig alarmierte, sah Doratrava von oben, wie Ralls Gegner wie von einer unsichtbaren Macht gefällt auf den vom Kampf aufgewühlten Grund fiel, wo er zuckend liegenblieb. Ihm steckte ein Pfeil tief im Nackenfell. Rall allerdings schien die Sache nicht beenden zu wollen. Der Rüde, der deutlich mitgenommen aussah, bellte wie zum Zeichen zwei Mal und da sein Gegner nun keine Gefahr mehr darstellte, nahm er sich seiner ursprüngliche Aufgabe wieder an: Mika zu schützen, indem er sich zwischen sie und die Rotte begab und diese lautstark verbellte. Allerdings nicht mehr ganz so kraftvoll wie zuvor, denn der Schwarzkittel hatte ihn ein paar Mal erwischt. Mehrere blutige Beiß- und Kratzmale zierten seinen Körper, außerdem hinkte er leicht.

Als der Hund das Wildschwein angefallen hatte, war Doratrava drauf und dran gewesen, doch wieder einen Dolch zu ziehen, um ihm beizustehen, doch die Sorge um Mika ließ sie verharren. Wenn doch noch ein paar der Tiere, die nun in großer Zahl da unten herumrannten, sie entdeckten, wollte sie gewappnet sein, ihren Plan in die Tat umzusetzen, und das ging nicht, wenn sie sich auf etwas anderes konzentrierte. Dennoch behielt sie den Kampf im Blick und versuchte auch, Mika nicht aus den Augen zu lassen.

Da traf der Pfeil das Wildschwein und fällte es wie ein Blitz. Überrascht sah Doratrava sich um, wer da geschossen haben konnte. War es der Firungeweihte gewesen? Denn zu ihm waren sie ja unterwegs, und die anderen Jäger sollten ihres Wissens nach weit weg sein. Aber sie konnte im Moment niemanden entdecken.

Etwas erleichtert, dass die unmittelbare Gefahr nun vorbei war, nahm sie die Beobachtung von Mika und den Tieren wieder auf, falls sich doch noch etwas zu ihren Ungunsten änderte. So, wie der Hund aussah, würde er wohl einen zweiten Kampf nicht überstehen, aber für den Moment schien sein Bellen zu genügen, um die anderen Tiere zu vertreiben.

Das Geräusch, das die vom Pfeil getroffene Sau beim Fallen verursachte, veranlasste Mika dazu, nun doch die Augen zu öffnen und den Kopf zu heben. Sie sah den Pfeil, der im Nacken der toten Sau steckte und musste freudig lächeln, denn sie erkannte den Pfeilschaft. Sie wusste, wer den Pfeil geschickt hatte. Doch dann sah sie mit einem Erschrecken die blutigen Wunden des Rüden. „Rall!“ entwich es ihr unwillkürlich im Flüsterton. „Mein armer Rall!“ Sie wäre am liebsten aufgesprungen um den Hund zu umarmen, doch wagte sie dies nicht, da sie seine Aufmerksamkeit nicht ablenken und die restliche Rotte nicht auf sich aufmerksam machen wollte. So verharrte sie weiter gehockt, bis die Gefahr gebannt sein würde.

Doratrava vernahm eine kleine Bewegung im Gestrüpp und nur einen Augenblick später trat Seine Gnaden Firumar mit gespanntem Bogen hervor. Sie konnte sich sicher sein, dass er sie bemerkt hatte, weil er einen Herzschlag lang mit seinem musterndem Adlerblick genau zu ihr hinauf sah, bevor er lautlos in geduckter Haltung zu der am Boden liegenden Sau schlich. Als er sah, dass sie noch nicht gänzlich dem Leben entsagt hatte, kniete er rasch nieder und lockerte den Griff seines Bogens, um das Tier mit einem beherzten Dolchstoß ins Genick zu erlösen. Der Körper der Sau erschlaffte. Sie war tot. Wie zärtlich strich der Geweihte seiner Beute übers Fell. Dann wandte er sich Mika zu und kroch auf allen Vieren langsam zu ihr hin. In seinem regennassen Wolfspelz, an dem Schlamm und Blätter klebten, verschwamm er - zumindest aus der Sicht von oben - fast mit der Umgebung.

Doratrava sah ihre Vermutung bestätigt, ansonsten war sie hier oben allerdings zur Untätigkeit verdammt. Sie beschränkte sich weiterhin aufs Beobachten und verhielt sich still, wenn auch ihre Anspannung erhalten blieb. Auch, wenn der Geweihte nun in deren Nähe war, schloss das unerwartete Wendungen sicher nicht aus.

Die Novizin spürte die Präsenz ihres Lehrmeisters noch ehe sie seine Hand an ihre Schulter fühlte. Ohne Worte öffnete der Geweihte seinen Fellmantel warf ihn über Mika wie eine Schneewehe, die sich über den schlafenden Wanderer legt, und im selben Augenblick waren beide Doratravas Augen entflohen, als habe der Wald sie verschluckt.

Die Gauklerin blinzelte, als die beiden Gestalten plötzlich aus ihrem Blick verschwanden. War das nun ein besonderer Trick von Firumar, oder eine Gabe, die sein Gott ihm schenkte? War das nicht so etwas wie Betrug, wenn Firun doch verlangte, dass man sich mit seinen eigenen Mitteln der Natur stellte? Oder zählten gottgegebene Gaben in diesem Fall als “eigene Mittel”? Doratrava schüttelte den Kopf, um diese müßigen Gedanken aus selbigem zu vertreiben und sich wieder auf die Umgebung zu konzentrieren. Eigentlich konnten doch die anderen Jäger dann doch nicht mehr so weit sein, wenn ihre Beute hier entlang zog …

Unter dem schweren Mantel war es warm und trocken. Es roch untrüglich nach Wald und Rall, der hin und wieder unter dem Mantel seines Herrn schlief, nach körperwarmem Leder, feuchtem weichem Moos und nach Frühlingswind, der im ersten Sonnenlicht eines neuen Morgens über glitzernden Schnee blies, ganz sanft nur, und die Kristalle zum Schimmern brachte wie es sonst nur die Sterne am nächtlichen Phexenshimmel konnten. Die dumpfen rhythmischen Trommelschläge, die Mika umgaben, gehörten dem Herzschlag des Lebens, dem sie wie gebannt lauschte, während ein melancholisches Lied, von tiefer sonorer Stimme gesungen, sie durch die aufziehende Dämmerung ihres Geistes trug. Denn nun, da sie wusste, dass er da war, und mit ihm auch ER, der Grimmige, ihr Gott, und alles wieder gut werden würde, setzte eine massive Erschöpfung ein, just, dass sie anfing, im Schutze beider Anwesenheit dem Hier und Jetzt zu entgleiten.

Sing mir vom Glitzerschnee und sanftem Wehen

Von Sonnenschein und Schlittenziehn

Von puderweiß bestäubten Tannen

Und Märchen am Kamin.

Sing mir vom Frühling und erstem zarten Sprießen

Was noch tief im Schnee geborgen schlummert

Soll Schwanentochters Wärme nun genießen

Und wachsen ohne Kummer.

Erschöpft von den Anstrengungen, ihrer Verletzung und nicht zuletzt ob des Blutverlusts fiel Mika nun in ein wohliges Dämmern. Ganz leise summte sie im Halbschlaf die Melodie, die in ihren Ohren klang, mit. Die Sorgen, die Angst war wie von Ifirns sanftem Hauch weggeblasen. Sie fühlte sich sicher und geborgen. Alles würde nun gut werden.

Rotte in Sicht

Das laute wilde Bellen verstummte irgendwann. Für Hundeohren war der Kampf zwischen dem vierbeinigen Gefährten des Geweihten und einem der Schwarzkittel deutlich hörbar - jedes menschliche Ohr tat sich naturgemäß schwer, jene vom Todeskampf zweier ungleichen Gegner stammenden Geräusche aus dem Hintergrundrauschen herauszufiltern, das von dem Rascheln, Knacken und Schmatzen, Grunzen und Quieken der großen Schweinefamilie verursacht wurde. Dann, nur kurze Zeit später, war ein lautes tierisches Schmerzbrüllen zu hören. Offenbar stammte es von einer der Sauen. Es tönte durch den ganzen nahen Wald und war gut zu vernehmen, so dass diejenigen, die sich am Gebell orientiert hatten, wieder die Sicherheit bekamen, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Erst danach setzte das bisherige Bellen wieder ein, wenn auch etwas weniger kraftvoll als zuvor.

Friedewald von Weissenquell schreckte auf, als er das Brüllen hörte. Schnell war ihm klar, dass es nicht von einem menschlichen Jäger stammte, was ihn beruhigte. “Nun gilt es!” raunte er seinen Gefährten zu und beschleunigte den Schritt, nachdem er seine Armbrust schussbereit gemacht hatte.

Lares nickte zufrieden. „Machen wir der Sau den Garaus.“

***

Tharga und ihre flinken Begleiter trafen auf ihrem eiligen Weg durch den Wald alsbald auf die Jagdhundemeute um den Jagdmeister des Edlen und seine beiden männlichen Begleitern, den Ritter von Mersingen und den Jäger des Hohen Herrn Storchenflug. Diese kamen von rechts auf die Baroness von Kaldenberg, den Dienstritter Seiner Hochgeboren von Rodaschquell und den junge Jägersmann Wulfhelm zu.

„Umrunden wir die Meute, damit sie uns nicht durch die Lappen geht!“ Lares machte sich auf, den Kreis weiterzuziehen.

Wulfhelm suchte den Blick seines Vaters. Ihn drängte es, auf direktem Wege zum Ort des Kampfes zwischen dem Jagdhund des Geweihten und den Sauen zu eilen, immerhin verlief die Jagd bisher nicht unbedingt wie geplant und womöglich waren dieser oder jemand anderes in Gefahr. “Eine Zangenbewegung also?”, fragte er laut in Richtung des Jagdmeisters, begleitet von einem fast unmerklichen Kopfschütteln, welches seine Meinung zu diesem Vorschlag kund tat.

Auch Arda war nicht begeistert: "Warum sollten wir die Tiere noch weiter ärgern?", fragte sie und lief etwas langsamer, um das Verdikt des Jagdmeisters abzuwarten. Ihre Hündin, Tharga, inzwischen lief direkt weiter auf die Rotte zu.

Die Hündin bewegte sich trotz ihrer langen Beine sicher durch den nassen Wald.

“Ja, wir dürfen keine Zeit verlieren. Die Rotte ist alarmiert und bewegt sich. Besser erlegen wir, was wir noch können, bevor sie Richtung Haderbruch stürzt. Ich möchte Ärger mit dem Hof um Zuständigkeiten vermeiden” erklärte der Jagdmeister schnell und eher an seinen Sohn gerichtet, da dieser der einzige war, der hier noch wusste, dass die Rotte gen Ruine Haderbruch und somit in den gräflichen Wald ziehen würde, hielt nichts sie auf, und dass die Bejagung dort trotz der Unterstützung des Firungeweihten anderen Regeln zu folgen hatte. Nebenbei löste er die Ringe von den Leinen der Hunde. “Die Kurzen sollen sie uns zutreiben.”

Den drei Liepensteiner Wolfsjägern sah man die Freude an. Entgegen der Erwartung blieben alle drei mit vor Spannung zitternden Leibern an seiner Seite, als ihr Rüdemann die Leinen löste.

Auch der alte Celio wartete brav auf ein Signal.

Erst auf des Meisters Befehl “Hol die Sau” stürzten Kuno, Aife und Rika los. Diesmal ohne Gebell, aber wieselflink und weiterhin überaus furchtlos brachen sie durch das Unterholz. Celio, der sich dem Rudel untergeordnet hatte, um ein Teil desselben zu werden, flitzte hinterher. Im nächsten Moment waren die vier fort.

“Kommt! - Wulfhelm, du schließt” rief der Jagdmeister aus, dann rannte er den Hunden hinterher.

Der Angesprochene nickte. “Voran!”, rief er den beiden ihm Zugeteilten zu. “Hoher Herr, es wird kein Signal geben, die Pfeile fliegen zu lassen, schießt, sobald ihr ihrer ansichtig werdet.” Auch er beschleunigte seine Schritte wieder, wobei er darauf achtete, seine Position als letzter in ihrer Reihe zu wahren.

Jäh erfasste Arda die Sorge um ihre Hündin. Sie wusste, es war jetzt hoffnungslos, dem Tier Einhalt zu gebieten. Der Jagdtrieb hatte Tharga erfasst. Die junge Adlige biss die Zähne zusammen und zwang ihre brennenden Oberschenkel dazu, mit den anderen Jägern mindestens Schritt zu halten, wenn nicht sogar das eigene Tempo noch zu erhöhen.

Der Rodaschqueller sagte nichts, schaute aber grimmig und missmutig ob des Kommandos. Wobei ihm durchaus klar war, dass Wulfhelm seine Fähigkeiten nicht kannte und vielleicht falsch einschätzte. Der Gedanke, mit Pfeilen in ein Gewühl zu schießen, behagte Darian überhaupt nicht. Er war sicherlich ein passabler Schütze, aber vermutlich waren es schnelle Ziele, die zudem teils gedeckt durchs Unterholz brachen. Und es bestand die Gefahr, das Ziel zu verfehlen und gegebenenfalls einen der Hunde zu erwischen. Und ein einfacher Pfeil bloß in die Flanke würde einen wütenden Eber ohnehin kaum stoppen.

Er beschloss, sein Bestes zu geben und einen Pfeil abzuschicken, wenn die Gelegenheit günstig war - um ansonsten dem Spieß zu vertrauen.

Lares sah dasselbe Problem wie Darian - deswegen entschloss er sich, die Pläne des Jagdmeisters zu übergehen und sich wenigstens in eine gute Schussposition zu bringen.

Für den Bogen war es eindeutig zu nass. Deshalb blieb die Sehne im Wachstuch und Yendan begab sich in eine standfeste, abwehrende Position. Den Speer zu den Geräuschen gerichtet.

***

Die Gruppe um den Edlen von Lützeltal bekam die Rotte von allen Jagdgruppen als erstes zu Gesicht. Die Schweinefamilie bestand tatsächlich aus unglaublich vielen Leibern. Friedewald, Borix und Nivard, alle drei versiert in der Jagd, hatten so eine große Gruppe Schwarzkittel noch nie zuvor gesehen. Die Rotte zog energisch aus westlicher Richtung in die östliche, während der Edle und seine Begleiter aus dem Süden auf das ‚Heer‘ von Fellen zueilten. Allen dreien wurde klar: anzuschleichen würde keinen Sinn mehr machen, denn durch das Rascheln und Knacken des Unterholzes, durch das die drei Männer gesprungen kamen, waren sie von den Schwarzkitteln ganz sicher schon bemerkt worden. Tatsächlich stieß eine der Sauen einen Warnruf aus, woraufhin andere ihre Schnauzen in die Luft hielten, um due Witterung zu prüfen.

Schnell suchte Friedewald einen Platz, von dem aus die Gruppe eine bessere Schussposition hatte. Er deutete zu Borix und Nivard, wie sie sich am besten verteilen sollten. Ein umgestürzter Baumstamm ermöglichte Borix eine erhöhte Stellung. Nivard wies er an sich schräg rechts vor dem Baumstamm aufzustellen, er stellte sich schräg links davon, die Armbrust zum Schuss bereit.

Nivard bestätigte mit einer kurzen Geste und begab sich sofort in die zugewiesene Position. Diese war gut gewählt. Sollte die Rotte direkt auf sie zukommen, könnten sie sich rasch auf die andere Seite des Baumstammes zurückziehen. Die Wildschweine würden sie zwar auch dort erreichen, aber ihr Lauf würde vorher an Schwung verlieren, so dass die Gefahr geringer war, geradewegs von einem der Schwarzkittel in vollem Spurte umgerannt zu werden. Jetzt suchte er festen Stand und legte den ersten Pfeil auf.

Borix versuchte als erstes auf dem rutschigen Baumstamm einen sicheren Standplatz zu finden. Als ihm das gelungen war, kniete er sich hin und ging mit der Armbrust ins Ziel.

Noch aber war viel Bewegung in der Rotte und die Distanz für einen gezielten Schuss auf solcherlei bewegte Ziele eigentlich zu groß.

Die Männer sahen allerdings, wie nach dem Warnruf die Rotte nicht etwa weiterzog, sondern einen Moment brauchte, um sich zu sammeln. Besser gesagt: die Größeren, die schon Erfahrungen mit Bejagung hatten, zwangen die Kleineren mit Beißen, Grunzen und Schubsen zur Raison, denn gerade die unerfahrenen Tiere kämpften mit der Angst und quiekten unsicher, da der Regen ihnen die Sinne benebelte. Es zeigte sich der Nachteil der zu groß angewachsenen Familie: es fehlte schnell an Kontrolle selbiger. Zwei Überläufer bekamen sich vor Aufregung in die Haare.

***

Inmitten dieses Chaos‘ hörten Friedewald, Nivard und Borix das Rascheln schneller Füße, das in ihre Richtung strebte und schon bald gab es Sicht auf die schwarze, große,schlanke Hündin der Baroness, die unweit des großen Hundes des Firungeweihten schlitternd zum Stehen kam. Die beiden Hunde bildeten ein gegensätzliches Paar: war Rall mit seinem weißen Fell kräftig und gedrungen, hatte die schwarzbraun-gescheckte Tharga - bei gleicher Masse - schlankere, elegantere Linien und war etwas größer. Und anders als der erfahrene Jagdhund des Firuni war die Wehrheimerin jung, unverletzt und voller Energie.

Alle Anspannung und Aufregung entlud sich aus der sonst eher ruhigen Tharga, als sie ihr Gebiss entblößte und mit rasender Wut in das Gebell ihres Artgenossen einfiel. Dabei machte sie vor lauter Übermut einige Scheinangriffe, bei welchen sie unvermittelt einen halben Schritt in Richtung der Rotte vorstieß und ins Leere schnappte, aber ihre Position in der Nähe ihres Artgenossen insgesamt beibehielt.

Die Rotte reagierte prompt auf den neuen Störenfried, der sich nun an die Seite des ersten stellte, dessen Kraft schon nachgelassen hatte. Ob sie eine echte Gefahr in ihr sahen oder ob sie der jugendlichen Frechheit der jungen Hündin, einfach nur eine Lektion erteilen wollten, ging aus dem Verhalten nicht hervor - denn: wer mochte schon in den Kopf einer Wildsau sehen - aber zu Thargas Ehre nahm nicht etwa eine der alten Bachen sie ins Visier, nein, es war die schlitzohrige, ergrauende Leitsau selbst, die sich der entblößten Zähne der Wehrheimerin entgegenstellte. Das Tier löste sich aus der Mitte der Gruppe und hielt, breitbeinig, die spitzen Eckzähnen ebenfalls entblößt, dem Gebell der Hunde erst einen Augenblick lang unbeeindruckt stand, bevor es ein bedrohliches Quieken von sich gab, das allen in der Nähe durch Mark und Bein fuhr, denn es klang nach purem Trotz und ebenfalls nach blankem Hohn. Im nächsten Augenblick aber stemmte sich die Bache in den Boden und katapultierte sich regelrecht aus dem Stand heraus der an Größe und Körpermasse weit unterlegenen Hündin entgegen.

Diese versuchte das Ungetüm abzufangen, konnte aber ihrer Gegnerin nicht die notwendige Masse entgegensetzen und geriet unter die Hufe der vierbeinigen Naturgewalt, die sie überrollte.

Die Hündin gab den Kampf keineswegs verloren, noch von ihrer unterlegenen Position schnappte sie nach der Kehle ihrer Kontrahentin, bekam diese jedoch nicht zu fassen. Noch immer knurrte und schnarrte Tharga zornig, die Überlegenheit ihrer Gegnerin verkennend.

Die Wucht des Niederschleuderns warf Tharga zwar zu Boden, doch es schien fast so, als sollte dies nur eine Warnung sein. Eine, die Rall allerdings nicht so verstand, oder verstehen wollte, denn er sprang die Bache von hinten an und biss in einen der Läufe, woraufhin die Sau einen wütenden Schrei von sich gab, den auch die herannahenden Jäger hörten, bevor sie ihren massigen Kopf drehte und damit nach dem Rüden schlug, ihn auch direkt traf, etwas in seinem Körper gab ein brechendes Geräusch von sich und der Schmerz in seiner Seite machte, dass Rall im Aufjaulen den Griff seiner Kiefer lockerte. Tharga vernahm die Pein ihres Artgenossen, welcher nach dem Stoß in die Seite erst einmal schwer atmend liegenblieb.

Gleichzeitig schossen nun wie der Blitz aus dem Unterholz die von der Leine gelassenen Wolfsjäger herbei. Das eingespielte Trio um die Meute aus Lützeltal fächerte rasch auf und begann die Rotte bellend einzukreisen, um ihnen nach allen Seiten hin den Weg abzuschneiden. Wie kleine Derwische fegten die niedrigen robusten Hetzer durchs nasse Gehölz. Mittlerweile schlammbesudelt rappelten sie sich auch nach jedem Ausrutschen blitzschnell wieder auf. Die Jagdhunde waren in ihrem Element, das konnte man sehen. Sie umkreisten allerdings nur die Rotte - Rall, Tharga und die Leitbache gehörten nicht zu diesem Radius, da sie sich außerhalb befanden.

Die Ablenkung durch Rall gab Tharga die Gelegenheit, wieder auf die Beine zu kommen und erneut nach der Kehle ihrer Gegnerin zu gehen. Ihren Körper flach am Boden haltend, schob sie sich flink unter die Sau, drehte ihren Kopf und versuchte sich in deren ungeschützten Hals festzubeißen.

Das klappte auch fast, doch alles, was Tharga zu packen bekam war das dichte, widerspenstige Borstenfell des weiblichen Schwarzkittels, welche das trotzdem mal so gar nicht lustig fand und sich mit einem tiefen verärgerten Grunzen und enormer Kraft aus dem Biss befreite. Ein Ruck des schweren massigen Kopfs zur Seite und das Fell glitt aus den Zähnen des Hundes. Eine weitere kräftige Bewegung des riesigen Schädels traf im nächsten Augenblick den zierlichen Kopf der Hündin und fegte diese ein Stück beiseite.

Die Hündin löste sich von ihrer Gegnerin, schüttelte sich kurz. Dann schnappten die scharfen Zähne aus einer anderen Position nach der Kehle der Leitbache, verfehlten diese doch.

Tharga hatte sich während ihres erneuten Angriffs vor die Sau positioniert, grollend und die Zähne fletschend, ständig in Bewegung und nach einem Angriffspunkt suchend, und schirmte ihren am Boden liegenden Artgenossen schützend vor ihr ab.

Die Bache stieß ein lautes bedrohliches Quieken aus und hielt ebenfalls die Stellung. Sie stand wohl nicht das erste Mal vor einem Hund, hatte während ihres langen Lebens schon Kämpfe mit ihnen oder sogar mit Wölfen gefochten und, wie man sah, überstanden, da beeindruckte sie das Zähnefletschen und das lauernde Tänzeln der dürren, schwarzen Hündin nicht im Geringsten. Sie schien sogar die Bewegungen der Hündin vorauszuahnen und ließ keine Blöße zu, denn sie bewegte sich schnaubend so, dass sie diese stets vor Augen hatte.

***

Durch das Gewusel der vier kleinen Hunde irritiert und von ihrer Anführerin abgeschnitten, steigerte sich die Unruhe in der Rotte, die sich nun gefangen sah. Zwar versuchten einzelne der älteren Sauen eine Bresche durch den Ring der Jagdhunde zu drücken, in dem sie sich diesen entgegenstellten, doch diese waren so wieselflink, dass kein Maul sie zu packen bekam.

Nur einem halbwüchsigen Keiler - an seinen Hauern als Überläufer erkennbar, der bei der nächsten Gelegenheit die Familie verlassen müssen würde - gelang es durch einige glückliche Haken auszubrechen und fortzulaufen. Das junge Tier aber wusste nicht viel von den Gefahren, die außerhalb der Rotte auf ihn warteten. Er war bisher von seiner riesigen Großfamilie sehr behütet worden und würde nach seiner Vertreibung erst lernen müssen, allein zu überleben. Noch fehlte ihm also dieses Wissen, um die unweit in Position gegangenen drei Jäger auszumachen, da er, glücklich den Hunden und dem Tumult entkommen zu sein für einen Moment mit dem Blick zurück verharrte, und dabei leider vergaß, in den Regen zu schnuppern. So entging dem jungen Schwarzkittel völlig, dass die Spitzen mehrerer Schusswaffen auf ihn angelegt waren.

Nivard hatte den herannahenden Keiler gut im Blick, zielte und ... genau in dem Moment, in dem er die Sehne schnellen ließ, zerspratzte ein großer Wassertropfen mitten in seinem Gesicht. Er verzog nur leicht, doch genug, um den Schwarzkittel alles andere als knapp zu verfehlen. Eine Woge der Verärgerung stieg heiß in dem jungen Krieger auf. Auf die Distanz hätte er treffen müssen!

Friedewald hatte den Keiler zuerst im Visier. Er hätte durchaus schon früher treffen können, doch er wollte nichts riskieren, sondern lieber abwarten, bis der Schuss ganz sicher sein Ziel treffen würde. Er krümmte den Finger und - zack - sauste der Bolzen aus der Führung der Armbrust. Im nächsten Moment jaulte der Keiler getroffen auf, auch wenn der Treffer nicht so präzise saß, wie gewollt und nur wenig Schaden machte. Der Edle beeilte sich, die Armbrust erneut zu spannen und einen weiteren Bolzen einzulegen.

Der Überläufer suchte währenddessen verwirrt nach der Ursache für den Schmerz in seiner Seite und drehte sich dabei mehrfach um die Achse, konnte aber den Bolzen mit dem Maul nicht erwischen.

Da Borix für den Schuß bereit war, ging er nur noch kurz ins Ziel und zog den Abzug. Mit einem metallischen “Zing” entspannte sich die Sehne und schleuderte den Bolzen auf das Wildschwein.

Schnell machte sich Borix wieder daran, die Gandrasch mit dem Geißfuß wenigstens einmal zu spannen, um schnell einen weiteren Schuß lösen zu können. Sollte allerdings genügend Zeit bleiben, so würde es sie wieder mit der Winde doppelt spannen.

Der Schuss riss nicht nur den Körper des Schwarzkittels auf, sondern ihn auch gleichzeitig aus dem Leben. Der junge Keiler war wohl zu überrascht von seinem eigenen Tod, dass er nur ein fast schon fragendes Grunzen von sich gab, während er niedersank, um sich am Boden liegend nicht mehr zu bewegen.

Friedewald hielt inne in seinem Versuch, die Armbrust zu spannen, und beobachtete den am Boden liegenden Keiler. Als dieser sich nicht mehr rührte, nahm er den Bolzen aus dem Bolzehalter und sicherte den Abzug. Mit der Rechten zog er ein Jagdmesser aus dem Halter. Vorsichtig ging er auf den leblosen Körper zu, um zu prüfen, ob das Tier tatsächlich tot war, oder ob es noch zu erlösen war, so wie es ihm während der Jagd in Liepenstein von Firumar erklärt wurde. Doch der Schwarzkittel war schon verschieden und ein Erlösen war nicht erforderlich.

Derweil hatte Borix die Armbrust mit der Winde wieder doppelt gespannt. Nachdem er einen Bolzen eingelegt und sie gesichert hatte, ging er zu seinem Freund.

“Das war der Erste!”

Dann beugte er sich über den toten Keiler und versuchte, den Bolzen aus dem Tier zu ziehen.

"Sauber!" lobte Nivard, um halb im Ernst, halb selbstironisch hinterherzuschicken: "Firun ist Euch beiden heute so hold, dass ich selbst gar nicht mehr treffen muss." Gleichzeitig sah er sich um, ob er seinen verschossenen Pfeil noch entdecken und bergen konnte, ohne dabei kopflos von den anderen weg oder gar in die Rotte zu rennen.

Zufrieden über den ersten Jagderfolg richtete sich Friedewald auf und steckte das Messer zurück. “Das kann sich bei der nächsten Sau schnell wieder ändern”, gab der Edle zu bedenken. “Wir sollten zu den anderen aufrücken. Ich denke, sie haben die Rotte umstellt und werden gleich auf sie losgehen.” Er spannte zügig seine Armbrust und machte sie erneut Schussbereit, um dann mit Bedacht auf die Rotte zuzupirschen.

***

Mika lief barfuß über den glitzernden Schnee, der unter ihren Schritten so weich und sanft nachgab, als liefe sie über ein daunengefülltes Kissen. Die vielen kleinen Kristalle, in denen sich das Sonnenlicht eines warmen Morgens aberbillionenmal brach, kitzelten ein klein wenig unter ihren Fußsohlen, aber da war keine Kälte. Nur Erfrischung. Selbst der Wind, der die feine zuckrige Pracht über die Höhen und in ihr Gesicht wehte, war wie die sanfte Berührung einer liebenden sorgenden Hand. Sehr angenehm. Ach, sie würde ewig über diese Weiten wandern können. Sie bückte sich, um der Rechten Schnee vom Boden zu schöpfen, damit sie Kristalle von nahem betrachten konnte, doch diese schmolzen rasch in ihrer warmen Hand zu Wasser, das einen kleinen spiegelnden See in ihrer Handfläche formte, auf dem sie sogar für den Bruchteil eines Augenblicks meinte einen keinen weißen Schwan zu entdecken, der dort schwamm. Als sie die Hand schloss, tropfte das Seewasser entlang zu Boden und gefror wieder zu Schneekristallen. Das war ein lustiges Spiel, das Mika gleich noch einmal wiederholte. Sie trank auch von dem Wasser. Es schmeckte köstlich. Wie der reinste Bergquell. Sie fühlte sich wohl erquickt und kraftvoll. Da sah sie vor sich zarte grüße Blätter, die sich durch die glitzernde Schneedecke reckten und weil sie den Anblick so schön fand, wie das zarte Grün in dem alles umgebenden Meer aus weißen Kristallen hervorstach, ließ sie sich auf die Knie nieder. Da schmolz der Kristallschnee und offenbarte ein feines kleines weißes Blumenglöckchen, das sich, als die Morgensonne darauf fiel, dem Licht entgegen reckte. Obwohl Mika wusste, dass dieses Blümelein nicht spielen konnte, klingelte es doch wie von Zauberhand, als der Wind den Blütenkelch fein schaukelte. Bimm-bimm. Bimm-bimm. Bimm-bimm.

Mimm-mimm. Mimm-mimm.

Mimm-maa. Mimm-maaa.

Miii-maaa. Miii-maaa.

Miiii-kaaa. Mi-ka.

„Mika! Erwache! Es ist Zeit. Rall braucht mich jetzt auch“, hörte sie eine tiefe, sonore Stimme. Sie kannte die Stimme. Sie gehörte dem Geweihten. Ihrem Lehrmeister. Seine Gnaden Firumar.

Kaum, dass sie die Augen aufschlug, war der schöne Traum vom Glitzerschnee vorbei und lautes Lärmen von Tierstimmen drang unweigerlich an ihr Ohr.

Sofort war Mika hellwach. Der Traum war fort, aber nicht die Kraft und Frische, die er ihr brachte. Ihre Sinne waren geschärft und sie stand auf, löste sich aus dem Mantel ihres Mentors. Für Doratrava tauchten beide wieder wie aus dem Nichts am Fuße des Baumes auf.

„Danke! Geht, rettet Rall, Euer Gnaden!“ Mika sondierte die Lage und hatte dank des Einsatzes der tapferen Hunde nicht das Gefühl, in akuter Gefahr zu sein. Sie blickte zu Doratrava und war dankbar, dass auch diese nicht in Gefahr schwebte.

Wenn sie an sich hinab sah, bemerkte die Novizin, dass der provisorische Verband um ihre verletzte Hand zwar noch nass und blutgefärbt war, aber die Wunde blutete nicht mehr, pulsierte stattdessen wie der Rhythmus des Lebens, dem sie eben noch lauschte, was an und für sich ein sehr angenehmes Gefühl war. Auch der Schmerz war nur mäßig.

Da es im Moment keinen Grund zu geben schien, die Wildschweine zu fürchten, ließ sich Doratrava behutsam, um nicht doch noch eines der Tiere aufschrecken, vom Baum gleiten und gesellte sich zu Mika. Sie warf ihr einen fragenden Blick zu, während sie Firumar bei seinem seltsamen Tun beobachtete. Und nun?

Als Mika und Doratrava hier an dem Baum ankamen, fühlte sich Mika hilflos. Sie war verletzt, konnte nicht auf den Baum klettern, die Wildschweinrotte kam direkt auf sie zu. Dann kamen Rall und Firumar und retteten sie. Nun, mit neuer Kraft, fühlte sie sich weniger hilflos. Doch ihre Hand war immer noch verletzt und sie war unbewaffnet. So fühlte sie sich nun nutzlos. Und das war noch viel schlimmer.

Der Geweihte war rasch aufgestanden und hatte sich blitzschnell orientiert. Statt sich aber in den Kampf um die Wehrheimer Hündin und das große Wildschwein einzumischen, obwohl er es zweifellos hätte erlegen können, und das sogar meisterlich, schulterte er seinen gefahrlos gemachten Jagdbogen, steckte den Pfeil zurück in seinen Köcher. Die nackten Händen offen zeigend und in einer Geste, die fast wie eine angedeutete Umarmung anmutete, trat er langsamen Schrittes an die beiden Hunde und die Leitbache heran. Doratrava und Mika hörten, wie er dabei sanft und beruhigend mit seiner dunklen Stimme auf die drei Tiere einsprach:

„Schwester, deren Geist so anders ist als meiner, lass mich verstehen und sehen, was dich bewegt. Die milde Herrin schenkt dir Dank. Schwester, deine Sprache sei die meine, meine Worte sollst du erkennen, wie ich die deinen. Dein Laut sei mein Laut. Zunge zu Zunge, Ohr zu Ohr. Erkennen heißt Verstehen.“

Die Leitbache verharrte, weil auch Tharga einen Augenblick verharrte, denn der Geweihte sprach plötzlich in ihrem Geiste ihre Sprache.

„Lass sie gehen. Du bist nicht für sie bestimmt. Und sie ist nicht für dich bestimmt. Ein anderes Ende wird euch beide finden. Aber heute wird noch nicht euer Ende sein. So will es unser aller Herr. Und wir müssen gehorchen.“

Das Grollen und Keifen der Wehrheimerin wurde zu einem tiefen Knurren, ihre Lefzen legten sich über die Zähne. Tharga traute dem Frieden nicht. Angespannt verharrte sie.

Die Gruppe um den Jagdmeister, seinen Sohn und die restlichen Gäste der Jagd waren nicht mehr weit entfernt. Sie konnten das wilde Kläffen der vier Wolfsjäger hören. Es klang bereits recht nah.

Jagdmeister Leodegar Häsler zeigte sich zufrieden „Sie haben sie!“ rief er erfreut durch den Regen.

Von allen anderen Dramen, die sich dort in und außerhalb der Rotte abspielten, hatte noch niemand von ihnen eine Ahnung. Nur die Baroness von Kaldenberg spürte die Schmerzen, die ihre Tiergefährtin im Kampf mit der alten Bache erlitt.

Als die noch Fehlenden endlich am Zielort angelangt waren, bot sich ihnen folgendes Bild:

Der Edle hatte sich mit seinen beiden Begleitern bei einem am Boden liegenden, vermodernden Baumstamm positioniert und einen jungen Schwarzkittel im Visier, den Hauern nach zu urteilen, ein junges Männchen, das bei der nächsten Gelegenheit die Rotte verlassen müssen würde.

Ungefähr 15 Schritt entfernt davon sorgten die vier Jagdhunde immer noch dafür, dass die große Rotte zusammen an Ort und Stelle blieb. Es waren viele Tiere, auf den ersten Blick nicht zählbar. Die innere Erregung der Rotte sorgte dafür, dass aus ihr Quieken, Grunzen, sogar Fiepen zu hören war. Die Tiere waren äußerst unruhig, panisch schon fast, die Hunde aber sorgten erfolgreich dafür, dass keine weitere Sau ausbrach. Schräg hinter der festgesetzten Rotte war ebenfalls Bewegung auszumachen und wer genauer hinsah, konnte dort einen großen Schwarzkittel sehen, der gegen einen der beiden anderen Hunde stand.

Arda erkannte Tharga natürlich sofort und verlor keine Zeit. Sie löste sich von ihrer Gruppe, um die Rotte zu umrunden und ihrer Hündin zu Hilfe zu eilen. Wieder biss sie die Zähne zusammen, um ihren schwindenden Kräften ihren schieren Willen entgegenzusetzen. Es kostete sie auch Überwindung, die lästige, schwere Saufeder nicht einfach fallen zu lassen und nur mit dem Rapier weiterzulaufen. Auf diesen lästigen Speer musste man ständig aufpassen, damit er sich nicht im Gestrüpp verfing!

Noch im sorgenvollen Ansturm durch den Wald stolpernd, spürte die Baroness eine Präsenz, die nicht direkt auf sie einwirkte. Vielmehr war es Tharga, auf die diese Präsenz einwirkte und die Arda spürte, weil sie verbunden waren miteinander, weil sie jeder ein Teil der selben Seelen waren. Tatsächlich sah die Baroness, wie sich der Firungeweihte mit nackten erhobenen Händen den Hund und Wildsau näherte. Und obwohl sie noch nicht nahe genug war, um dessen Stimme zu hören, hörte sie doch seine Worte in ihrem Geist, als er zu der Hündin sprach:

„…meine Worte sollst du erkennen, wie ich die deinen. Dein Laut sei mein Laut. Zunge zu Zunge, Ohr zu Ohr. Erkennen heißt Verstehen“ Und die Stimme in Arda fuhr fort: „Lass sie gehen. Du bist nicht für sie bestimmt. Und sie ist nicht für dich bestimmt. Ein anderes Ende wird euch beide finden. Aber heute wird noch nicht euer Ende sein. So will es unser aller Herr. Und wir müssen gehorchen.“

Zu gehorchen war nicht so stark im Wesen der jungen Baroness angelegt. Auf alles vorbereitet, wurde Arda langsamer, vorsichtiger, leiser. Die Situation genau beobachtend, kam sie näher, bis sie einige Schritt hinter Tharga und dem Firunpriesters stand. Ihr schweifender Blick blieb an dem kräftigen weißen Hund hängen, der mit pumpender Flanke am Boden lag.

So sehr sie erfreut war, dass ihre Hündin noch lebte, dass es nicht Tharga war, die dort lag, so sehr missbilligte sie den Eingriff des Priesters. Die Natur hatte gewählt! War es nun die Aufgabe der Götterdiener, das Wirken ihrer Götter zu deuten, oder meinten sie nicht vielmehr, Kraft ihres Amtes besser zu wissen, wie die Dinge zu passieren hatten? Eine Woge des Zorns schwappte über die junge Adelsdame, eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn, und sie fasste Rapier und Spieß fester.

Wulfhelm war unweit der Baroness von Kaldenberg zum Stehen gekommen, den Spieß nun mit beiden Händen gepackt und vor dem Körper. Nachdem er mit einem langen Blick die Situation um die Hunde, die führende Bache und den Geweihten erfasst hatte, wandte er den Blick wieder ab und spähte nach dem Rest der Rotte.

Als Tharga verharrte, spürte sie alsbald die Hand des Geweihten auf ihrem Schädel und sie erkannte, wer hier das jagende Rudel - bestehend aus Vier- und Zweibeinern - führte. Dieser Mann, der ihre Sprache sprach! Und von ihm ging ein klarer Befehl aus: “Zurück!”

Die Anweisung hallte auch im Geist der Baroness wieder.

Der einzige, der davon nichts mitbekam, war der Sohn des Jagdmeisters. Dafür konnte Wulfhelm sehen, dass zwischen dem älteren Geweihten, der schlanken Hündin und der großen Bache zuerst irgendetwas vorgegangen war, da die Tiere aufgehört hatten, sich zu taktieren, kaum, dass Seine Gnaden dazugetreten war. Es hatte auch ausgesehen, als entspanne sich die Situation.  Doch er kam nicht daran vorbei ebenfalls zu bemerken, dass seine und womöglich auch die Anwesenheit der Baroness nun dafür sorgte, dass das Gegenteil der Fall war und die Bache nun ihn und die Baroness argwöhnisch und mit rasch wachsender Unruhe musterte.

Tharga wich zurück, ein unwilliges, kurzes Jaulen ausstoßend. Sie spürte den Drang, dem Befehl eines in der Rudelordnung über ihr Stehenden zu folgen, und gleichzeitig das Rebellieren jener Instinkte, welche diese Rudelordnung ständig infrage stellten. Letzteres war beflügelt durch den Geist ihrer Herrin, der ständig bei und ein Teil von ihr war.

Die Baroness selbst verharrte. Sie wollte nicht jene sein, die dem Priester offen die Stirn bot. Doch ebenso wenig wollte sie sich vor diesem Konflikt, den Konflikt mit der Leitbache, drücken - und sei es, weil es ihnen verboten worden war, die Leitbache zu jagen.

"Das ist die Leitsau. Firun sei's gedankt, dass seine Gnaden sie trennen konnte und uns das 'wir oder sie' erspart bleibt." Wulfhelm vermied es so gut wie er konnte, zu wirken, als ob er zu jemand anderem als sich selbst sprach, auch wenn seine Worte laut genug waren, um von der Baroness von Kaldenberg gehört zu werden. “Hochgeboren, vielleicht ist es klug wenn wir ihr ein wenig Raum geben, sich zu lösen…”, sprach er sie vorsichtig an.

"...damit sie sich nicht provoziert fühlt?", zischte die Baroness mit zusammengepressten Zähnen. Sie hatte den Kopf etwas in Richtung Wulfhelm zur Seite gedreht, ohne jedoch ihre Augen von der Szene vor ihr zu lösen. Spott mischte sich in ihre Worte: "ZwölfeimHimmel, wir sind hier, um ihre Rotte zu bejagen! Es ist ihr gutes Recht, sich provoziert zu fühlen!"

“Ihr seid hier, weil ihr ein Gast des Edlen Herrn seid. Ich bin hier, weil die Rotte zu groß geworden ist und ihre Umtriebe und ihr Hunger die Erträge der Bauern gefährden. Aber wisst ihr, was schlimmer ist für diese Lande als eine große Rotte Sauen? Eine Rotte, die in viele zerfallen ist, weil ihr Leittier erlegt wurde.” Wulfhelm mühte sich neutral und ruhig zu sprechen, es war aber nicht schwer zu erkennen, dass seine Geduld schwand. “Ihr würdet mir also einen persönlichen Gefallen tun, wenn ihr euer Tier zurück pfeift!”

Die Baroness hob ungläubig ihre Augenbrauen, wandte sich dem jungen Jagdgehilfen vollends zu. Mit zu Boden gesenkter Spitze ihrer Waffe trat sie auf Wulfhelm zu. "Mein 'Tier' hat dem verletzten Hund des Priesters beigestanden.", entgegnete sie in derselben gedämpften Lautstärke, mit der sie angesprochen worden war.

Sie schien noch etwas hinzufügen wollen, besann sich jedoch eines besseren. Dann legte sich ein boshaftes Lächeln auf ihr Gesicht. "Gut… Ein 'persönlicher Gefallen' also - ich werde Euch beim Wort nehmen." Mit diesen Worten wandte sie sich von Wulfhelm ab.

Für einen Moment blickte der Jagdgeselle der Baroness nach, unsicher, ob er gerade glimpflich davongekommen war oder größeres Unglück, als er zur Zeit erfassen konnte, auf sich gezogen hatte. Er seufzte tonlos, klärte seinen Geist und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Jagd zu.

***

Erst, als Tharga so weit beiseite gegangen war, dass die Hand des Geweihten nicht mehr auf ihrem Kopf aufliegen konnte, warfen sich anschließend Mann und Wildsau einen Blick zu, worauf das Tier irritiert den Kopf schüttelte und ebenfalls ein paar Trippelschritte zurück wich. Die Leitsau tänzelte unruhig und sah in alle Richtungen. Fast konnte man meinen, dass sie nachsann, was sie tun sollte.

Seine Gnaden Firumar hob immer noch die linke Hand in die Höhe, der Wildsau entgegen, ging aber ganz langsam mit dem Blick immer noch in Richtung Wildsau gerichtet neben seinen am Boden liegenden Gefährten nieder.

Tharga war bereits bei dem Rüden, hatte die Schnauze zu dessen Kopf herabgesenkt und winselte ihm bemitleidend zu.

„Gut so. Du hast ihn beschützt, das war richtig. Er dankt es dir,” hörten Tharga und Ardare erneut die Stimme Firumars in ihrem Kopf, “doch jetzt übernehme ich die Wacht. Kehre zu deinem eigenen Rudel zurück.“ Dann war Tharga und Ardare, als verließ jemand ihren Geist. Und der Geweihte legte stattdessen sanft seine Hand auf den unregelmäßig atmenden Brustkorb Ralls.

Doratrava beobachtete das Geschehen mit gemischten Gefühlen. Sie war angespannt, da sie die Situation nicht einschätzen konnte und nicht wusste, ob womöglich doch gleich alle übereinander herfielen, zumal sie Arda und deren zynische Art, sich über alles und jeden hinwegzusetzen, schon erlebt hatte. Unruhig zuckte Doratravas Blick hierhin und dorthin, die Hand am Gürtel.

Ein kurzer, heller Pfiff ertönte, die Wehrheimer Hündin wandte sich ab und lief zu ihrer Herrin, die Tharga mit einem Klopfen an ihren linken Oberschenkel anzeigte, an ihre Seite zu kommen.

Ein paar Augenblicke später brachte der Geweihte auch den Rüden aus der Gefahrenzone, indem er ihn vorsichtig hochnahm - Rall fiepste vor Pein - hinüber zur Erle trug und dort vorsichtig zu Mikas Füßen unter den Baum ablegte. "Bleib bei ihm,” sagte er ihr dabei.

“Ja, Euer Gnaden! Komm her, Rall!” Mika kniete sich sofort zu ihm und kraulte ihn hinter den Ohren. Dann verbarg sie ihr Gesicht in seinem Fell. “Ich danke dir, Rall, Du warst für mich da, hast mich gerettet. Jetzt bin ich für dich da und sorge dafür, dass dir nichts weiter passiert. Jetzt wird alles gut, mein Hübscher.”

Da Doratrava sich immer noch für MIka verantwortlich fühlte, rückte sie zwei Schritte näher an diese und den verletzten Hund heran. An ihrer Anspannung änderte das allerdings nichts.

Rall reagierte nur mit den Augen. Er sah mitgenommen aus, obwohl nicht allzu viele blutige Striemen von seinem Konflikt mit der Leitsau kündeten. Es war eher ein tieferes Elend, welches er ausstrahlte, dessen Ursache unter seiner Haut lag, selbst unsichtbar, aber doch sichtbar in den ungleichmäßigen Atemzügen, die der Rüde machte. Und die ihm offensichtlich Schmerzen bereiteten.

Verzweifelt blickte sich Mika um, bis ihr Blick bei Doratrava hängen blieb. “Wir müssen ihm helfen. Er muss geheilt werden. Ach, warum nur ist Gudekar nicht hier? Er könnte Rall doch heilen!”

Tapsende Schritte weicher Pfoten auf dem Waldboden, dann senkte sich eine Hundeschnauze zu dem Rüden herab. Ein mitleidiges, klagendes Winseln ertönte neben Mika, als die große Hündin der Kaldenberger Baroness Anteil an den Verletzungen ihres Kampfgefährten nahm. In einem Versuch ihn zu trösten fuhr Tharga mit ihrer Zunge über Ralls Gesicht.

Menschliche Schritte verrieten, dass die Baroness ihrer Hündin gefolgt war.

"Dann ist das hier wohl das Lazarett?", konstatierte die Kaldenbergerin. Ihre Stimme klang härter, spöttischer als von ihr beabsichtigt. Mit einem schicksalsergebenen Seufzen ließ sie sich neben der Hündin auf die Knie nieder, legte ihre Waffen neben sich ab und begann damit, unaufgefordert den Hund zu inspizieren. Allerdings ging sie überaus behutsam mit dem Tier um, legte ihm sanft eine Hand auf die Flanke, bevor sie die Rippen betastete. Dabei summte sie beruhigend, wohlwissend, dass das Vibrieren des Klangs sich über die Berührungen auf den Rüden übertrugen. Ardare musste leider feststellen, dass der Schlag mit dem Wildschweinschädel dem Rüden mindestens zwei Rippen angebrochen hatte, eine davon bog sich gefährlich weit in den Brustkorb des Rüden hinein.

Die Wehrheimer Hündin hatte zu winseln aufgehört und sich auf ihre Hinterläufe gesetzt und sah ihrer Herrin mit überaus großer Aufmerksamkeit zu.

Die Baroness wiederum ließ es sich nicht nehmen, dann und wann aufzublicken, um sich ein Bild davon zu machen, wie es um die Wildschweinrotte stand.

Doratrava machte unwillkürlich einen Schritt zurück, als Arda sich zu ihnen gesellte. Die Bemerkung der Adligen sorgte schon wieder dafür, dass sich ihre Nackenhaare sträuben, aber sie verschränkte lediglich die Arme vor der Brust und sagte nichts, während sie mit einem Auge weiter auf die Wildschweine achtete.

Es entging der Gauklerin nicht, dass die Rotte unruhig wurde, vielleicht, weil der Geweihte die Leitsau vertrieben hatte, vielleicht, weil ihr die Hunde auf die Nerven ging. Sie hatte das Gefühl, dass jeden Moment Panik über die Herde kommen könnte und die Tiere alle gleichzeitig in verschiedene Richtungen stürmen würden. Daher hielt sie sich nahe des Baumes, an dem auch Mika lehnte, im Zweifelsfall konnte sie dahinter oder darauf Deckung nehmen.

Als die ersten Wildschweine losstürmten, sah sie ihre Befürchtung bestätigt, aber zumindest im Moment suchten diese sich andere Ziele. Hoffentlich waren die Jäger gewappnet. Es fiel ihr schwer, hier untätig herumstehen, aber sie erinnerte sich des Verbots des Geweihten, an der Jagd teilzunehmen. Sie würde sich daran halten, solange sie niemanden sah, der in akuter Gefahr war und die Wildschweine nicht sie selbst oder Mika angriffen.

Dann schaute sie wieder, was Arda da mit dem Hund des Geweihten machte.

Die Wehrheimer Hündin hatte zu winseln und heulen angefangen. Arda wandte sich ihr zu und blickte das Tier ruhig an, diese erwiderte den Blick unverwandt, mehrmals japsende Laute von sich gebend und unruhig auf der Stelle tänzelnd. Dieses seltsame Zwiegespräch dauerte mehrere Augenblicke an, bis Arda schließlich seufzte und irgendwas von “Sammeln” und “Gefallen” murmelte.

Der Baroness war klar, dass das Tier dringend und sehr rasch Hilfe brauchte. Offenbar hatte sich mindestens eine von Ralls Rippen, die eigentlich die Lunge schützen sollten, in einen Lungenflügel gebohrt. Dieser war dann zwangsläufig kollabiert. Sie hatte solche Verletzungen bereits auf dem Seziertisch gesehen. Der angestrengten Atemarbeit des Tieres nach zu urteilen, wurde der andere, noch intakte Lungenflügel gerade zunehmend vom eindringenden Blut und der Luft im Brustkorb zusammengepresst. Das Tier würde qualvoll ersticken…

Abermals seufzte Arda, schob die Ärmel ihres Mantels zurück und zog ihren Dolch. “Gibt es hier irgendwo Schilf?”, fragte sie die Umstehenden, während sie mit flinken Fingern nach einer geeigneten Stelle am Brustkorb des Tieres suchte.

Doratrava zog die Augenbrauen zusammen, als Arda den Dolch zog. Was hatte sie damit vor? Doch es war nicht ihr Hund, und falls Arda ihm etwas antat, dann wünschte die Gauklerin ihr viel Spaß mit dem Geweihten. Was die Frage nach dem Schilf anging, zuckte sie lediglich die Schultern, sie hatte keines gesehen. Sie blickte zu Mika, ob diese als Ortskundige etwas wusste.

“Am Ufer des Lützelbachs gibt es ab und an Schilf”, stellte Mika fest. “Ihr wollt Rall doch nichts antun?”

“Eine Hundepfeife? Irgendein hohles Röhrchen? Nichts? - Haltet ihn so ruhig, wie Ihr nur könnt.” entgegnete Arda resigniert. Sie setzte die Dolchspitze auf das Fell und setzte einen etwa daumenbreiten Schnitt in den seitlichen Brustkorb, zwischen zwei Rippen. Blut quoll daraus hervor, doch die Baroness begnügte sich nicht damit und machte sich daran, den Schnitt behutsam zu vertiefen. Dann legte sie den Dolch weg und fing an, mit dem Zeigefinger beherzt in der frischen Wunde zu bohren. Sie wirkte angestrengt, und schließlich gab es ein leises Pfeifen, das bei dem Lärm um die Wildschweinrotte kaum hörbar war. Das unregelmäßige, schwere Atmen des Hundes wurde ruhiger.

Rall blieb bei der gesamten Prozedur absolut still, als spürte er, dass ihm geholfen wurde. Vielleicht hatte er auch Vertrauen in die fremde Frau, weil er durch Tharga wusste, dass sie anders war, als die anderen, und er mit seinem Menschengefährten immer wieder auf Frauen ihrer Art traf, wenn sie durch die Wälder zogen.

„Vaters Pfeife!“ rief Mika aus, „Die hat er sicher dabei.“ Mika schaute sich um, ob sie in dem Kampfgetümmel ihren Vater ausmachen konnte.

“Es… es geht ja auch so.” murmelte Arda. Sie streichelte über das Hundefell und öffnete ihre arkanen Pforten. Das hatte sie Tharga versprechen müssen.

Der Lärm und die vorigen Reibereien mit ihren Jagdgefährten zehrten an ihren Nerven, dass Arda der Zauber fast misslungen wäre. Doch schließlich gelang es ihr, an der Lebensenergie des Jagdhundes anzuknüpfen, das schwindende Reservoir zu speisen. Trotz des Regens und der Kälte traten Schweißperlen auf ihre Stirn und die Oberlippe. Sie hatte bereits am Vortag gezaubert, dieses Heilen würde ihre Kräfte weiter schwächen, und das ausgerechnet dann, wenn - sofern Lares Recht behielt - der Bäckerpruch auf sie lauerte…

Die Baroness mühte sich, nach außen so zu tun, als wache sie lediglich darüber, dass der Hund ruhiger atme. Den Finger ließ sie wohlweislich in der Wunde, auch wenn sie ihn etwas zurückzog, damit sich das Rippenfell unter ihrer Fingerkuppe schließen konnte, und die Wunde trotzdem offen blieb. Sie wollte jedoch nicht erklären müssen, wieso der Schnitt im Fell sich so plötzlich schloss.

Mika beobachtete genau, was die Dame da tat. Dann verstand sie. Mika lächelte Arda an und flüsterte ihr zu: “Ihr seid eine Anconiterin, eine Heilerin, wie Gudekar! Danke! Firun sei Euch gnädig!”

Auch Doratravas - eher abweisende - Blicke ruhten auf Rall und Arda, so dass sie fast den Kampf der Jäger aus den Augen verlor. Menschen gegenüber trat Arda meist zynisch gegenüber, aber bei Tieren sah das offenbar anders aus. Sie wunderte sich, wo Arda, die vermutlich jünger war als sie selbst, Tierheilkunde gelernt hatte, fragte aber nicht, da sie sich schon denken konnte, wahlweise eine spitze, zynische oder verletzende Antwort ohne Informationsgehalt zu bekommen.

Ardas Augen weiteten sich für einen kurzen Augenblick, dann spitzte sie ihren Mund schnell zu einem spöttischen Schmunzeln und rollte mit den Augen. “Ich bin nichts dergleichen. Nur eine mittelmäßige Anatomin, die ihre Sinne beisammen hat.”

Soviel zu dem Thema Beantwortung von Fragen und Reaktion auf diese und Informationsgehalt, dachte Doratrava still bei sich, verzog aber keine Miene. Die Adlige hütete ihre Geheimnisse sehr eifersüchtig, so viel war der Gauklerin klar.

Bevor die Novizin weitere Fragen stellen konnte, deutete die Baroness auf die verletzte Hand: “Apropos - was habt Ihr da angestellt? Lasst mich einen Blick darauf werfen.”

Sie zog ihren Finger aus der Flanke des Rüden und wischte den blutigen Finger an dessen kurzem Fell trocken. Mit der anderen Hand strich sie dem Hund nochmal über Kopf und Flanke, welcher nun wieder ein wenn auch recht welpenhaftes Fiepen von sich gab, bevor sie sich vollends der anderen Frau zuwandte.

Die Betreuung des Verletzten schien Tharga zu übernehmen. Sie schnupperte an der Wunde in der Flanke, die erstaunlich wenig nachblutete, und wandte sich dann dem Kopf ihres Artgenossen zu. Mehrfach schleckte sie ihm fürsorglich über die Schnauze, der die Zuwendung gerne erwidern wollte. Der Schmerz war nicht mehr so stark und er bekam auch wieder besser Luft, also wagte der Rüde es, den Kopf nach seiner Artgenossin zu drehen, um dieser mit der eigenen Zunge kurz über die Schnauze zu schlecken, als diese sich ihm zuwandte.

Mika schüttelte den Kopf und verbarg ihre verletzte Hand hinter dem Rücken. “Das ist nichts, nur ein kleiner Schnitt.” Vor Trotz und verletztem Stolz zitterte ihre Stimme leicht. “Außerdem seid Ihr hier, um ein paar übermütige Wildschweine zu erlegen, und nicht, um ein dummes, tollpatschiges Gör zu bemuttern. Passt lieber auf, dass keiner der Jäger von den Schwarzkitteln über den Haufen gerannt wird!”

Wohlweislich hielt sich Doratrava auch aus diesem Austausch heraus. SIe war nicht Mikas Mutter, wenn diese sich also nicht helfen lassen wollte, war es ihre Sache. Wobei die Gauklerin es sich auch zweimal überlegen würde, ob sie sich von Arda helfen lassen wollen würde …

Das erinnerte sie aber daran, ihre Aufmerksamkeit wieder mehr der allgemeinen Lage zu schenken. SIe blickte auf und schaute sich um, immerhin schien die Jagd in vollem Gang zu sein.

Die Baroness hob eine Augenbraue. “Seid nicht dumm. Zeigt her!” verlangte sie mit ruhiger Stimme.

“Ihr wagt es, eine Novizin des Weißen Jägers ‘dumm’ zu schimpfen?”, protestierte Mika trotzig. “Die Hand kann sich auch mein Bruder nachher in Ruhe anschauen. Er ist ein großer Heilmagier! Geht nun, und tut, was Eure Aufgabe ist!” Mit der unverletzten, rechten Hand wies sie in Richtung der Wildschweinrotte, die immer wilder wurde. Eine Träne rann ihr über die Wange.

Ein rascher Wechsel von Gefühlen zeichnete sich auf dem Gesicht der Kaldenbergerin ab: Kurz aufflammende Wut bei den frechen Widerworten des Mädchens, dann die jähe Erkenntnis, dass diese Mika die Schwester Gudekars sein musste, und schließlich quasi-mütterliche Anteilnahme für den emotionalen Ausbruch des Mädchens. Es kostete sie Überwindung, doch sie schwieg zu den trotzigen Worten der Novizin.

Stattdessen hob sie eine Hand und rieb nicht zu zärtlich, aber auch nicht wirklich grob, mit dem Daumen die Träne weg. Die andere Hand war fordernd nach vorne gestreckt.

Mika schniefte, während sie versuchte, einen Gefühlsausbruch zu unterdrücken. Zögerlich zog sie die verletzte Hand hervor und streckte sie der Baroness entgegen. “Der Herr von Tannenfels hat die Wunde schon versorgt und einen Verband angelegt.” Doch, auch wenn die Blutung inzwischen aufgehört hatte, war der Verband von rotem Blut getränkt.

Nun war Doratrava wirklich erstaunt. Nach der schroffen Ablehnung Mikas hätte sie einen nicht weniger heftigen Ausbruch Ardas erwartet, und obwohl diese sich sichtlich beherrschen musste, blieb dieser aus, das Wegwischen der Träne zeigte sogar so etwas wie Anteilnahme. Jetzt war die Gauklerin neugierig, was Arda wohl mit der ziemlich zerschnittenen Hand machen wollte.

Die Baroness nahm Mikas Hand fest zwischen ihre. Routiniert wickelte sie den Verband ab. Je näher sie zur eigentlichen Wunde kam, desto vorsichtiger wurde sie. Es sprach Bände, dass die Stoffstreifen nicht schon längst an der Wunde anhafteten, sondern von stetig nachfließendem Blut feucht gehalten worden waren. Als die Wunde gänzlich frei lag, verwendete sie den Stoff, der innen gelegen war und noch nicht blutbesudelt war. Mit einem Stirnrunzeln betrachtete sie den klaffenden, stetig nachblutenden Schnitt.

“Was bei den Nieder…” entfuhr es ihr, doch sie korrigierte sogleich: “Wie habt Ihr DAS denn gemacht? Habt Ihr in eine Klinge gegriffen…? Nein… zu unregelmäßig…”

Nun begann Mika doch wieder zu weinen. “Nein, ich bin ausgerutscht und auf meine… Seiner Gnaden Firumars Laterne gestürzt. Dabei ist das Glas zerbrochen”, gab Mika schluchzend von sich.

“Bewegt alle Finger nacheinander. Fangt mit dem Zeigefinger an!” forderte Arda die Novizin unbeeindruckt auf, den genannten Finger leicht antippend.

Mit dem Daumen beginnend tat Mika, wie ihr geheißen, was ihr auch mit den ersten beiden Fingern gelang. Doch der Mittelfinger und der Ringfinger wollten sich nicht bewegen. Trotz der Schwellung spürte Arda keinen Gegendruck, als sie diese antippte. Wie ein Zweig an einem Strauch ließen sich die beiden Finger nach hinten biegen, soweit das Gelenk dies zu ließ. Diese Erkenntnis bewirkte, dass Mika noch stärker zu weinen anfing. Es war nicht der Schmerz, der ihr die Tränen in die Augen trieb.

“Das Glas wurde entfernt?” fragte Arda, das Offensichtliche aussprechend. Kurz ließ sie die Wunde aufklaffen und riskierte einen Blick in den Spalt, der sich durch die Dehnung nun doch wieder rasch mit Blut füllte. Ohne auf eine Antwort zu warten, presste sie grimmig die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. “Spätestens dabei wurden die Sehnen dieser beiden Finger durchschnitten.” Sie schloss die Augen für einen kurzen Moment. “Ich werde Euch nicht anlügen.” Damit blickte sie das Mädchen mit ihren klaren, grauen Augen an. “Knochen kann ich schienen, doch hier endet meine Handwerkskunst.” Unbewusst legte sie die Betonung auf das letzte Wort. “Sucht Euren Bruder schnellstmöglich auf, sonst werdet Ihr diese Finger nie mehr bewegen können. Ich hoffe, dass seine Magie helfen kann. Wenn nicht, oder wenn Ihr hier weiter im Wald herumtrödelt… Bald schon werden sich diese Finger zusammenziehen wie Krallen. Und dann könnt Ihr Euch Eure Priesterweihe an den Hut stecken.” Ihre Stimme klang eindringlich, es schwang auch Bedauern mit - was Mika nicht wissen konnte, war, dass sie Ardas Geheimnis zu nahe gekommen war, als dass diese es riskieren konnte, sich zu enttarnen und alles aufs Spiel zu setzen. Hexen waren in den Nordmarken nur wenig besser gelitten als Dämonenpaktierer… Für dieses Mädchen, das sie kaum kannte, dachte sich Arda, würde sie sich weder an den Scheiterhaufen binden, noch ins Exil schicken lassen.

Ohne weitere Erklärung griff sie in eine Gürteltasche und holte zwei Bahnen Leinenstoff heraus. Eine legte sie neben Rall, die andere - schmalere - begann sie systematisch um Mikas verletzte Hand zu wickeln.

Mikas Augen weiteten sich vor Schock aufgrund von Ardas Worten. Die verzweifelte Traurigkeit war wie weggefegt. Mika war wütend. “NEIN! Ihr habt ja keine Ahnung! Niemals werde ich wegen eines solch kleinen Kratzers meinen Weg zu Firun aufgeben müssen. Das sagt Ihr doch nur, weil Ihr Seine Gnaden nicht leiden könnt. Das hättet ihr wohl gerne!” Mit funkelnden Augen betrachtete Mika die Baroness und achtete nicht im Geringsten darauf, wie diese die Hand der Edlentochter weiter verband.

“Dann seid Ihr tatsächlich dumm. Dumm, hört Ihr? Wollt Ihr es schriftlich?” Ardas Augen funkelten ebenso böse wie diejenigen Mikas, doch ihre Stimme war kalt wie der Winter. “Firun ist der Gott, der keine Schwäche duldet. Ihr habt noch nicht mal die Weihe, aber Ihr wollt schon Acht-Finger-Mika sein? Lächerlich! Anmaßend!” Sie lachte freudlos auf.

“Helft mir wenigstens den Hund Eures Herrn zu verbinden, den ich überhaupt nicht kenne, aber den ich angeblich nicht leiden kann - ach ich vergaß, Ihr könnt nicht, Ihr habt ja nur eine funktionierende Hand!”, ätzte die Baroness.

Damit wandte sich an Doratrava: “Ihr! Gauklerin! Könnt Ihr nicht versuchen, dieser hier den Kopf zurechtzurücken?" Mit verächtlicher Miene deutete Arda mit ihrem Kinn in Richtung der Novizin.

Doratravas schon die ganze Zeit zur Schau getragenes Stirnrunzeln vertiefte sich bei dieser Ansprache. “Ich habe einen Namen, den du kennst”, erwiderte sie unwirsch, das “du” absichtlich benutzend. Immerhin waren sie ja auch schon zusammen unterwegs gewesen, wenn sie auch weit davon entfernt waren, Freundinnen zu werden. “Was Mika angeht, die ist so stur wie ein Steinklotz”, sprach sie dann etwas milder weiter, “sonst wären wir gar nicht hier, sondern schon längst im Dorf. Insofern sehe ich wenig Chancen, sie zu überreden, ohne sie zu fesseln und zu knebeln. Oder?” Die letzte Frage war direkt an Mika gerichtet, der Tonfall war allerdings nur ein wenig ironisch, obwohl Doratravas Stimmung eigentlich eine deutlich sarkastischere Note verlangte.

“Gut, dann gehen wir jetzt gemeinsam ins Dorf”, gab Mika trotzig nach. “Ich wollte ja eh lediglich Firumar Bescheid geben. Das dürfte ja wohl als erledigt gelten. Ich werde die Wildschweine dort”, sie deutete zur Rotte, “gleich mal höflich fragen, ob sie uns durchlassen.” Mit sarkastisch verstellter Stimme sprach sie: “‘Oh, werter Herr Eber, hättet Ihr bitte die Güte, die Tochter Eures Herrn, des Edlen von Lützeltal, der euch gleich aufzuspießen gedenkt, passieren zu lassen auf ihrem Weg ins Lazarett? Das wäre ja zu gütig von Euch!’ Aber vorher werde ich Euch helfen den armen Rall zu verbinden. Ihr werdet sehen, dass ich das auch mit einer Hand kann!” Sie kniete sich hinunter zum Hund ihres Herrn und begann ihn hinter den Ohren zu kraulen. Leise flüsterte sie ihm zu. “Zumindest dich wollen wir doch wieder vollständig herstellen, Rall.”

Doratrava suchte Ardas Blick und zuckte wortlos die Schultern. Dabei überlegte sie, ob sie Mika vielleicht wirklich fesseln und knebeln sollte, so uneinsichtig wie das Mädchen war. Aber das würde sie sicher nicht kampflos über sich ergehen lassen, und das wäre vermutlich nicht gut für die verletzte Hand, also tat die Gauklerin nichts dergleichen, sondern achtete wieder auf den Kampf und auf Arda.

Ungerührt reagierte Arda auf Mikas Ausbruch, indem sie eine Hand mit angewinkeltem Mittel- und Ringfinger hochhielt, die anderen Finger gestreckt, und mit regungslosem Gesicht meinte: “Eure Hand, Eure Entscheidung.” Dann fiel ihr auf, dass die Geste reichlich sinister aussah, und senkte die Hand schnell wieder.

Dann stubste sie den am Boden liegenden Hund an: “Genug ausgeruht, großer Jäger! Steh auf, wir müssen Dich jetzt verbinden.”

Tharga sekundierte ihr mit einem bestärkenden Bellen.

Rall zog sich wackelig auf seine Beine, ließ sich allerdings direkt nach dem Verbinden wieder zu Boden sinken.

Mika hatte Ardas Geste entweder nicht verstanden oder einfach ignoriert. Jedenfalls hatte sie trotz allem versucht, dieser beim Verbinden des Rüden zu helfen. Als dies erledigt war, streichelte sie noch einmal Ralls Kopf. “Ruh dich noch ein wenig aus. Die anderen werden der Rotte Einhalt gebieten und brauchen deine Unterstützung nicht mehr. Jetzt muss ich wohl gehen.” Mit diesen Worten stand Mika auf und blickte Doratrava und Arda auffordernd an. “So, wenn das erledigt wäre, wird es wohl Zeit aufzubrechen. Wer begleitet mich zurück ins Dorf?” fragte sie mit einer überraschenden Selbstverständlichkeit.

“Na, ich”, erklärte Doratrava eher mürrisch und verkniff sich das “muss ja weiter dein Kindermädchen spielen”. Allerdings herrschte um sie herum ein gewisses Chaos, was die Frage nach dem günstigsten Weg aufwarf.

“Ich werde Euch auch begleiten.” hörte Arda sich selbst sagen, zur eigenen Überraschung. Es war ein Impuls gewesen, der sie dazu verleitet hatte, und jetzt sah sie keine Möglichkeit, die Entscheidung wieder zurückzunehmen. Sie nahm ihre Waffen auf und erhob sich. Nach einer kurzen Inspektion des Jagdrapiers steckte sie dieses wieder zurück in die Schulterscheide.

Die Hündin der Baroness hatte sich nicht vom Fleck bewegt, saß noch immer auf ihren Hinterläufen. Als Ardas Aufmerksamkeit auf das Tier fiel, legte dieses den Kopf schief und blickte seine Herrin ungerührt an. Schließlich rollte diese mit den Augen, hob den Zeigefinger und verkündete: “Dann bleib bei Rall. Aber mach’ keine Dummheiten!” Tharga bellte wie zur Bestätigung kurz und hell auf, um sich dann so zu positionieren, dass sie ihren Schützling und auch die Wildschweinrotte besser im Blick hatte.

Überrascht hatte Doratrava Arda angeschaut, als diese ihre Entscheidung verkündete. Sollte sie sich nun darüber freuen, nicht allein mit der zickigen Mika zurückgehen zu müssen? Oder musste sie sich nun gar mit zwei zickigen Frauen, die sich gegenseitig anzickten, zurande kommen? Innerlich verdrehte sie seufzend die Augen, aber es war, wie es war. “Du führst”, forderte sie daher Mika auf. Sie traute sich zwar auch selbst zu, den Weg zurück zu finden, aber die Ortskundige bewerkstelligen das hoffentlich schneller und sicherer.

„Prima!“, freute sich Mika. „Wenn wir zu dritt sind, könnt Ihr zwei ja schnell eine Trage bauen und Rall transportieren. Wir können ihn ja nicht hier verletzt zurück lassen.“

Ardas Mimik versteinerte, ihre Wangen wurden feuerrot.

Unversehens fuhr ihre Wehrheimer Hündin herum und knurrte bedrohlich, ohne jedoch eine konkrete Gefahrenquelle zu fixieren. Sie hatte wohl den jähen Stimmungsumschwung ihrer Herrin gespürt, schien den Grund dafür aber nicht zu verstehen.

Mit leiser Stimme, die vor unterdrücktem Zorn bebte, sprach die Baroness: “Ihr habt meine Geduld lange genug auf die Probe gestellt! Der Hund bleibt hier, sein Herr und meine Hündin werden sich um ihn kümmern. Keine - weiteren - Ausflüchte!” Den letzten Satz betonte sie Wort für Wort. Mit erhobenem Arm deutete sie wahllos in eine Richtung, in die sich Mika nach ihrer Vorstellung in Bewegung setzen sollte.

Mika schaute die Baroness erschrocken – nein, eher überrascht, verwundert an. “Warum tragt Ihr soviel Zorn in Euch? Habt Ihr keine Liebe in Eurem Herzen?” Die Novizin wartete jedoch keine Antwort ab, sondern kniete sich noch einmal neben Rall und kraulte seinen Kopf. Leise, aber nicht so leise, dass die beiden Frauen sie nicht hören konnten, flüsterte sie Rall ins Ohr. “Kannst du laufen, mein Guter? Dann begleite mich. Ansonsten bleib hier. Firumar ist in der Nähe und wird auf dich achten. Dir wird nichts mehr geschehen. Ich habe vollstes Vertrauen in die Jäger, dass sie ihr Werk tun und dir keine Gefahr mehr droht. Jetzt muss ich mich auf den Weg machen, damit auch meine Hand wieder gesund wird. Wie soll ich sonst deinem Herrn angemessen dienen?” Noch leiser, so dass dies für die anderen höchstens noch zu erahnen war, ergänzte sie: “Ich hab dich lieb!” Dann stand die junge Lützeltalerin auf, wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Auge, zog ihre Kleidung zurecht und deutete auf einen Pfad, der praioswärts einen Bogen um die Wildschweinrotte und die Häscher schlug. “Da lang!” sagte sie bestimmt.

Halb hatte Doratrava erwartet, dass die beiden sich jetzt an die Gurgel gehen würden, und so war sie erleichtert, dass dem nicht so war und sie endlich los konnten. Sobald sie im Dorf waren, hatte sie ihre Pflicht getan und konnte endlich wieder machen, was sie wollte, daher konnte sie es kaum erwarten.

Ebenso erleichtert war die Gauklerin, keine Trage bauen zu müssen. Wie hatte sich Mika das vorgestellt? Sie war keine Handwerkerin, und Arda sicherlich auch nicht, dennoch konnte sie sich vorstellen, dass man dafür zumindest Seile gebraucht hätte, um Äste zusammenzubinden, und weder sie noch die anderen beiden hatten dergleichen bei sich, soweit sie das sehen konnte. Außerdem hätte der Bau sicher eine ganze Weile gedauert, so ungeübt, wie sie waren, und geeignete Äste zu suchen oder zu schneiden, während hier die Wildschweine kreuz und quer liefen und Pfeile und Bolzen herumflogen, wäre auch kein Spaß geworden. Ein Glück, dass Mika nicht darauf bestanden hatte.

“Also los, worauf wartet Ihr noch?” trieb Mika die beiden anderen plötzlich an.

Arda erging sich in Gewaltphantasien, in deren Zentrum Mika stand. Für die beiden Begleiterinnen waren diese Gedanken freilich unhörbar, vielleicht bis auf die leise murmelnd hervorgestoßenen Wörter, welche die Handlungen grob skizzierten und deren Umsetzung selbst ihr als Hochadeligen Schwert und Scharfrichter eingehandelt hätten. Derart vor sich hin schimpfend folgte sie der Novizin in den Wald.

Auch Doratrava war nicht gerade in friedlicher Stimmung, sie verbarg das aber hinter einer ausdruckslosen Miene, welche ihr Gesicht wie das einer Marmorstatue erscheinen ließ. Dass ihre Augen wie smaragdgrüne Edelsteine funkelten, verstärkte diesen Effekt, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst war. Ardas zorniges Gemurmel nahm die Gauklerin zwar wahr, sie konnte aber nichts verstehen und bemühte sich auch nicht darum, sondern setzte sich nun ebenfalls in Bewegung und bildete den Abschluss und die Nachhut der kleinen Gruppe. In dieser Rolle schaute sie sich um, ob die Wildschweine überhaupt von ihnen Notiz nahmen oder sie zumindest ignorierten.


Auf die Sau

Der Firungeweihte hatte erst dafür gesorgt, dass sich die Hündin und die Leitsau trennten, dann hatte er seinen verletzten Gefährten in Sicherheit gebracht. Doch er hatte sich nicht lange bei Mika unter der Erle aufgehalten, sondern Rall nur dort abgeliefert, sich im nächsten Moment schon wieder abgewandt und war mit energischen furchtlosen Schritten und nun zur Einschüchterung erhobenen Armen auf die Leitbache zugegangen:

„HÖR MICH AN! - DIR WOLLEN WIR NICHTS! - LEB! - UND FÜHR‘ DIE AM LEBEN GEBLIEBENEN, DENN SIE WERDEN DICH BRAUCHEN! ABER DAS HIER IST NICHT DEIN TOD! - DU STEHST UNTER SCHUTZ - GEH JETZT! - GEH!!!!!“ drangen seine Worte mit Machtfülle durch den Regen.

Tatsächlich konnten Ardare und Wulfhelm beobachten, wie die sowieso schon verunsicherte Leitbache rückwärts tänzelte, ehe sie sich ganz abwandte und wirklich ein paar Schritte in den Wald lief. Offenbar schien sie die Autorität des Geweihten bedingungsloser anzuerkennen, als es manche Mitglieder der Jagdgesellschaft taten. Ganz vertreiben ließ sich die erfahrene Anführerin freilich nicht. Vielmehr beäugte sie aus der Entfernung die Situation und die Lage, in der sich ihre Familie befand, wobei sie vor allem den Mann, der sie eben vertrieben hatte, nicht aus den Augen ließ. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Kinder in Gefahr gerieten, doch nicht immer war ein Geweihter des Herrn des Waldes dabei, dem sie sich zu beugen hatte.

Die Situation innerhalb der Rotte sah währenddessen wie folgt aus:

Längst hatten die größeren Sauen die jüngeren Mitglieder der Familie in ihre Mitte genommen und schirmten diese vor den vier geifernden Hunden und den nun immer näher kommenden Menschen ab. Dabei stießen sie bedrohliches Quieken aus, schleuderten den Störenfrieden mit ihren starken Schnauzen Bruchwerk und Laub entgegen, setzten auch zu Scheinangriffe an, um die unliebsamen Angreifer einzuschüchtern.

Der Mersinger hatte derweil die Rotte umgangen und schloss die Lücke, durch die die Tiere noch entweichen konnten. Er hatte seinen Bogen gespannt und wartete auf freies Schussfeld.

Yendan folgte dem Mersinger. Er hielt seinen Speer kampfbereit gegen die Schweine und war auf der Hut.

Darauf zu warten, in dem dichten Wald ein freies Schussfeld zu bekommen, schien Darian Zeitverschwendung. Der Wald war dicht, die Rotte in Bewegung, und es bestand Gefahr, ein Ziel zu treffen, das er nicht treffen wollte. Daher warf er den Bogen wieder über die Schulter und packte fest den schweren Speer, um nach vorne zu preschen.

Der Jagdmeister stürmte ebenfalls nach vorn, seine Saufeder fest in der Hand. Dabei rief er den Hunden einige kurzsilbige Befehle zu, aufgrund denen das Rudel die Rotte enger fasste. Mit einer Anrufung Firuns um Jagdglück auf den Lippen kam er neben dem Ritter aus Rodaschquell zum Stehen und suchte einen festen Stand, denn…

Als die Hunde auf Kommando ihres Rüdemanns die Schlinge um die große Schweinefamilie weiter zuzogen, schwappte dort die Panik über in Aktionismus und, als hätten die Tiere sich unbemerkt abgesprochen, verließen drei der Sauen ihren Platz am Rand der Rotte und sprangen zielgerichtet und zu allem bereit durch ein Loch im Netz der kläffenden, umherspringenden Hunde:

***

Ein Schwarzkittel kam geradewegs auf Yendan und Lares zu.

Yendan stellte sich seitlich zur Sau. Zum einen, um ein schmaleres Ziel zu bieten, zum Anderen, um den hinteren Fuß quer stellen zu können und so besseren Halt zu haben. Mit beiden Händen griff er den Stoßspeer und behielt die Sau im Auge. Er wartete, bis sie nah genug heran war. Im letzten Augenblick wich er zur Seite und rammte ihr den Speer in die Flanke.

Die Sau ließ ein verwundertes Grunzen ertönen und wendete nur wenige Schritte hinter den beiden Männern etwas unbeholfen. Dabei kippte der Speer aus dem dichten Fell und fiel auf den regennassen Boden, während das Tier den schmerzenden Hinterlauf hob.

In diesem Moment ließ der Mersinger seinen Pfeil fahren und traf das Tier. Nun aus zwei Wunden blutend, stand es schnaubend nur wenige Schritte vor den Männern und tangierte die beiden Jäger. Der Pfeil schaute aus dem dichten Fell heraus und gab dem Aussehen etwas morbides. Dann stemmte die Sau sich in den nassen Waldboden und setzte erneut zu einem Spurt an, direkt auf den Bogenschützen Lares zu, denn dieser schien dem intelligenten Tier gefährlicher als der andere Zweibeiner.

Der Kundschafter erfasste den Ernst der Lage sofort und hechtete auf den Adligen zu und stieß ihn aus der Bahn.

So sauste die Sau nicht mehr auf Lares zu, sondern prallte jetzt mit dem Jagdknecht Yendan zusammen, wobei das Tier die Zähne boshaft in den Oberschenkel des Waidmannes schlug. Dieser verzerrte das Gesicht und sog zischend Luft und Regen durch die Zähne, doch konnte er einen Schmerzenslaut nicht gänzlich unterdrücken. Zumindest Lares konnte ein heiseres "Ahhh" hören. Dann schlug er mit der bloßen Faust auf den Rüssel des Untiers, das daraufhin nur noch fester zubiss. Wie zum Trotz. Die spitzen Zähne des Weibchens drangen tief ins Fleisch des Oberschenkels. Yendan fühlte wie sein Bein warm wurde.

Ein dumpfes Knacken ließ erahnen, dass es mehr als nur eine Fleischwunde war. Diesmal kam kein Laut über Yendans Lippen, doch war er auch nicht fähig, einen weiteren Treffer zu landen.

Dies allerdings bot dem Mersinger die Gelegenheit, sein Schwert zu ziehen. Ohne groß zu fackeln - und Rücksicht auf Jagdwaffen bzw. Etikette zu nehmen - rammte er die scharfe, im Zwielicht blitzende Waffe mit beiden Händen von oben in den Rücken der Sau - dort wo Kopf und Körper verschmolzen. Er wollte kurzen Prozess machen.

Dem Hieb mit der Klinge hatte die Sau nichts entgegenzusetzen. Doch als das Schwert des Mersingers in ihren Nacken fuhr, um ihr Leben auszulöschen, rutschte der massive Kopf des Tieres im Todeskampf zitternd und unter gequälten Grunzlauten am Schenkel des Jagdknechts hinab, woraufhin die Zähne, die eben erst tief in das Bein eingedrungen waren, den Wunde und auch die Löcher in der ledernen Hose nach unten vergrößerten, als sie auf dem Weg des Schädels abwärts über den Schenkel schrammten. Dann gab der Kiefer endlich nach, der Biss verlor sich und der Schädel schlug auf dem Boden auf. Das robuste Tier zuckte noch zwei-, dreimal kräftig in Todeswehen, dann lag sie ruhig mit dem Gesicht zwischen den Beinen Yendans.

Aus einem davon sprudelte es regelrecht, denn die Sau hatte auf ein Spann Länge die Hauptschlagader aufgerissen. Innerhalb von Sekunden vergrößerte sich die Blutlache und vermischte sich mit dem schlammigen Boden. Das Gesicht des Mittdreißigers war kreideweiß und die Augen flatterten. Dann hauchte er sein Leben aus.

Lares hatte gar nicht genug Zeit, um sein Schwert aus der Sau zu ziehen und zu realisieren, dass er den Waidmann nicht gerettet, sondern getötet hatte. Als sich der kleine Mann auf den Jäger warf und die Aorta mit seinen Händen zudrücken, war es schon zu spät. Lares kannte sich mit Feldverwundungen aus. Schnell wurde ihm klar: Da war nichts zu retten. Dennoch riss er sich Streifen von seinem Hemd ab, um das Bein abzubilden. Von oben bis unten in Blut - des Tieres und des Menschen gleichermaßen - getaucht, mühte er sich ab, das Unabwendbare zu verhindern. Als das Blut zu fließen aufhörte, saß der Mersinger noch immer neben Yendan. Ein markerschütternder Schrei zerriss die Stille des Waldes.

Auch anderswo stürmte zeitgleich eine der Beschützerinnen der Rotte mit Entschlossenheit auf den Edlen von Lützeltal zu.

"Vorsicht!" rief Nivard diesem geistesgegenwärtig zur Warnung zu und machte sich eilig daran, einen Pfeil aufzulegen und auf das heranpreschende Wildschwein zu zielen.

“Habt Dank!” rief der Edle, zwar, aber er hatte die ausbrechende Sau genau im Blick. Er hob die vorbereitete Armbrust und zielte genau, abwartend, bis das Tier in günstiger Schussposition war. Dann drückte er ab, ließ den Bolzen in Richtung des Angreifers fliegen, nur um im nächsten Moment aus der Laufrichtung der Sau auszuweichen. Der Bolzen traf die Sau empfindlich in die Brust. Im letzten Moment, gerade bevor die getroffene Sau im Stolpern auf Friedewald prallte, sprang er zur Seite und rollte sich auf dem vom nassem Laub weichen Waldboden wie in seinen jungen Jahren ab, wobei er die Armbrust auf dem Boden ablegte, so dass das Schwein sie nicht zertrampeln konnten. Verdutzt von seinem selbst nicht erwarteten Geschick blieb der ältere Edle einen Moment auf dem Boden sitzen und betrachtete sein Werk.

Nivard wartete lange, bis er schoss. Zu lange. Nein, jetzt konnte er die Sehne nicht mehr schnellen lassen - die Gefahr, dass er Friedewald träfe, wäre zu hoch. Der junge Krieger ließ den Bogen sinken und beobachtete mit Erstaunen und Bewunderung, wie fließend Friedewald einen vortrefflichen Schuss setzte, auswich und seine Waffe noch in seiner Bewegung geradezu geordnet ablegte. Respekt! Beherzt griff er selbst zur Saufeder, für den Fall, dass der Bolzen alleine wider Erwarten noch nicht ausreichte, den Schwarzkittel gänzlich zu erlegen. Dann nämlich schwebte Friedwald in durchaus ernster Gefahr. So gewappnet rückte er vor.

Den getroffenen Schwarzkittel hatte die Wucht des Einschlages von Friedewalds Bolzen mitten aus der Geschwindigkeit unsanft abgebremst, und weil dem Tier unvermittelt Kraft fehlte, konnte es das anvisierte Ziel nicht wie geplant umrennen. Es hatte sich überschlagen und versuchte nun wieder auf die Beine zu kommen. Nivard und Friedwald hörten sehr deutlich, wie es röchelte, doch trotzdem alles dran gab, wieder aufzustehen, um weiter zu kämpfen.

Dies zog Friedewalds Aufmerksamkeit sofort wieder auf die Sau. Er stand auf, um bei einem erneuten Angriff ausweichen zu können und zog sein Jagdmesser. “Los, auf sie!” rief er seinen Gefährten zu.

Doch plötzlich sah der Edle aus dem Augenwinkel etwas, das seine Konzentration ablenkte. Unwillkürlich drehte er seinen Kopf nach rechts. Lief da nicht Mika? Ja, doch, tatsächlich, das war Mika, gefolgt von der Baroness von Kaldenberg und der Gauklerin. ‘Sollten Mika und Doratrava nicht längst im Dorf sein? Was machen die bloß hier?’ dachte er. Doch er war erfahren genug, sich nicht zu lange ablenken zu lassen und blickte schnell wieder auf die Sau.

In dem Moment als sich Friedewald aus dem Weg der Sau begeben hatte und diese zu Boden gefallen war, zog Borix den Abzug der Gandrasch durch. Und zum zweiten Mal zischte der Bolzen aus der Führungsrinne der Armbrust und fand sein Ziel. Tief bohrte sich der Bolzen in die Flanke des bereits stark blutenden Tieres.

Ohne das Ergebnis seines Schusses in Augenschein zu nehmen, begann der Angroscho wieder die Armbrust zu spannen.

Nivard - vollends auf das Jagdgeschehen fokussiert - hatte die Damen in seinem Rücken gar nicht wahrgenommen. Stattdessen sah er nur, wie Borix’ Bolzen unwiderstehlich die borstige Haut des Wildschweines durchdrang und sich tief in dessen Leib bohrte. Der Krieger nutzte die Nachladephase, die den Angroscho gewiss einige Momente kosten würde, und rückte dem Schwarzkittel entschlossen mit der Saufeder zu Leibe, um zu Ende zu bringen, was seine beiden Gefährten so trefflich begonnen hatten. Humorlos rammte er den wuchtigen Jagdspieß von schräg vorne in die Schulterpartie des Schweines.

Das Tier quiekte fast jaulend auf. Nivard spürte, wie ein Widerstand in dem Wildschweinkörper nachgab und dann, wie sein Körper unter dem Griff seiner Jagdwaffe zu Boden ging. Er sah direkt in die angstvoll verdrehten Augen eines Tieres, das gerade dabei war, qualvoll durch sein eigenes Blut zu ersticken und trotzdem noch versuchte, den schweren Leib über die Vorderbeine aufzustemmen - aber jäh daran scheiterte, da ihm die Kraft entwich.

Nivard dauerte die arme Sau - mutig hatte sie sich ihnen entgegengestellt, die ihren zu verteidigen, doch gegen die tödliche Präzision der beiden Jagdgefährten und seinen Spieß am Ende keine Chance besessen. Sie sollte nicht länger leiden müssen. Mit einem stummen Gebet zu Firun, eher ein Gedanke als viele Worte, der auch seinem tierischen Gegner Respekt zollte, zog Nivard die Saufeder zurück und stieß ein weiteres Mal zu, weniger kräftig als zuvor, dafür gezielter. Unausweichlich fuhr der Jagdspieß ins Herz und brachte sein Werk zu Ende.

Friedewald nickte dem jungen Krieger anerkennend zu. Auch seine Gedanken waren bei Firun, um der Sau ebenfalls Anerkennung für ihren Mut und ihren Willen zu zollen. Anschließend blickte er noch einmal in die Richtung, in der er vor kurzem seine Tochter gesehen zu haben glaubte. Doch von den drei Frauen war inzwischen nichts mehr zu sehen.

Nachdem die Armbrust wieder bereit war, trat auch Borix zu seinen beiden Jagdgefährten an die tote Sau. “Auch diese wird keinen Schaden mehr anrichten”, meinte er dann, nachdem er kurz andächtig verharrt war. “Aber, Freunde, es gibt noch mehr Schwarzkittel, die Friedewalds Land verwüsten.”

Auch ein dritter Schwarzkittel passte mit intelligentem Blick eine größere Lücke zwischen den Hunden ab, verfiel ebenfalls aus dem Stand in den Galopp und rannte geradewegs auf den Ritter aus Rodaschquell und den Jagdmeister zu.

Jetzt gilt es! In Bruchteilen von Sekunden erinnerte sich der Ritter an die Lektionen, die ihm daheim der gestrenge Jagdmeister Keldor beigebracht hatte. Darian packte seinen Speer fest mit beiden Händen, rammte das Ende in den Boden und stemmte seinen Fuß dagegen, um dem Speer zusätzlichen Halt zu geben.

Und dennoch: So erfahren er auf dem Schlachtfeld auch war, und so oft er auch an einer Jagd teilgenommen hatte - ein ausgewachsenes, panisches Wildschwein auf sich zustürmen zu sehen, verlangte stets aufs Neue Selbstsicherheit. Sein letzter Gedanke, bevor der Schwarzkittel auf ihn treffen würde, galt dem grimmigen Meister der Jagd, dem Herrn der endlosen weißen Weiten des Nordens, dem König der schneebedeckten Gipfel der Ingrakuppen: Firun.  

Um dem Manöver des Jagdgastes mehr Erfolgsaussichten zu bescheren, suchte der Jagdmeister blitzschnell Deckung hinter dem Ritter und seinem Speer. Einerseits, um der Sau nur ein Ziel zu bieten, an dem sie sich aufreiben konnte, und andererseits, um sich von hinten gegen den Ritter stemmen zu können, wenn die Sau auf den Speer auflief. Er hielt seine eigene Waffe jedoch griffbereit, um dem Tier im Notfall ebenfalls beikommen zu können.

Darian wurde schnell klar, dass der Schwarzkittel keineswegs panisch agierte, sondern sehr überlegt direkt auf ihn zusteuerte. Es sah so aus, als habe er zwar den Ritter aus Rodaschquell im Blick, wohl aber nicht dessen ihm entgegengestellten Jagdspeer. Vielleicht sah das Tier die Waffe im fallenden Regen mit seinen kleinen Augen auch schlecht. Oder es dachte sich nichts dabei. Wer wusste das schon. Jedenfalls versuchte die Sau Darian umzurennen, sie rannte aber zuerst gegen die Spitze des Speeres. Ihre Geschwindigkeit und der Wille, den Eindringling gefährlich nahezukommen, taten das Übrige, dass sich die Waffe beinahe von ganz allein in den Brustkorb des Tieres bohrte. Mit einem gellenden Ruf, der auch von einem Dämon aus den Niederhöllen hätte stammen können, spießte sich die Sau auf Darians Waffe auf.

Grimmig und entschlossen hielt der Sturmfelser den Speer in seinen Fäusten, als er die volle Wucht des Angriffs spürte. War es das Stoßgebet an Firun gewesen, das er in seinem Herzen geformt hatte? Der Schwarzkittel rannte geradewegs in die Waffe. Darian rutschte zunächst etwas nach hinten, hielt den Speer, der nun gleichermaßen sein Schild war, jedoch weiterhin unnachgiebig und bot all seine Kraft auf. Wäre der Speer nicht zwischen ihnen beiden gewesen, so wäre er zweifellos niedergerannt worden. Mit einem lauten Schrei stemmte er sich nun mit aller Macht entgegen, in dem festen Willen, den Speer noch tiefer in das vermutlich tödlich getroffene Tier zu treiben, um seinem Leiden schnell ein Ende zu setzen - so, wie es der unnachgiebige Herr des ewigen Frostes und der ehrbaren Jagd gebot. Denn dies war die Lektion, die Keldor ihm als erstes gegeben hatte: Achte die Geschöpfe der Jagd! Jage sie nicht zum Spaß, und beende ihr Leiden, so schnell du es vermagst.

Die so gebundene Sau überfiel Schmerz und Panik, doch es gab nur noch einen Weg für sie. Und so stemmte sie mit ungebrochenem Willen die Hinterläufen in den Waldboden, um unter widerwärtigem Brüllen noch weiter an ihren Widersacher heranzurücken. Wild mit den spitzen Zähnen nach Darians Arm schnappend, während das Blut ihr schon aus dem Maul quoll, schob sie sich noch etwas näher an ihn heran. Dunkelrot ergoss sich Lebenssaft aus der Wunde in der Wildschweinbrust. Dabei drückte sie die Spitze des Speers weiter in das Innere ihres kraftstrotzenden Körpers, noch nicht gewillt, aufzugeben. Doch das Tier rutschte auf dem feuchten Grund aus und der massige Leib hing auf einmal schwer auf dem Speer in Darians Hand, als dieser das volle Gewicht des Schwarzkittels trug, ehe er dem Ritter aus den Händen riss. Die Sau brach nieder und während sie mit weit aufgerissenen Augen ihrer Niederlage bewusst wurde, erreichte sie der Tod. Ihr Kopf sackte zur Erde und sie wurde still.

Schnell zückte der Sturmfelser seinen schweren Dolch - das Geschenk eines dankbaren Schmieds der Angroschim, dessen Tochter er einst gegen einige Orks beigestanden hatte -, sprang nach vorn und beugte sich über das verendete Tier, um sich zu vergewissern, dass dieses auch tatsächlich sein Leben ausgehaucht hatte.

Als er dessen gewiss war, gönnte er sich einen kleinen Moment, um wieder zu Atem zu kommen - und um dem unnachgiebigen Fürsten des nie endenden Frosts zu danken. Erst dann zog er seinen Speer aus dem Brustkorb und blickte sich um, wie es um die Lage bestellt war.

Wulfhelm hatte sich den zusammengetriebenen Sauen nur ein paar Schritte genähert. Die Baroness von Kaldenberg brauchte seiner Einschätzung nach seine Unterstützung nicht und der Herr von Sturmfels war zu weit an seiner Flanke, um jetzt noch an seine Seite zu eilen. Die Schwarzkittel begannen nun auszubrechen und die entscheidenden Augenblicke der Jagd brachen an: obwohl es ihn reizte, den Spieß zu packen und in der Hoffnung ebenfalls Jagdbeute zu machen nach vorne zu stürmen, mahnte er sich doch zur Mäßigung. So ließ der den Blick schweifen, bemüht in dieser hektischen Situation nicht den Überblick zu verlieren und verweilte auf seiner Position.

So sah er, dass einer der umstellten Schwarzkittel nun mit einem brachialen Kopfstoß die Hündin Rika erst angriff und umstieß, der Hündin alsdann nachsetzte, um das mächtige Gebiss in den Rücken des Tieres zu versenken. Rika jaulte erbärmlich auf.

Zwischen zwei Herzschlägen traf der Sohn des Jagdmeisters eine Entscheidung: Mit einem kurzen, gellenden Pfiff hieß er die Hunde abzulassen vom Zusammentreiben der Rotte, woraufhin diese sogleich ihrer gestürzten Schwester beisprangen. Celio folgte seinem neuen Rudelführer Kuno in schnellem Lauf um die Rotte herum zu demjenigen, der die Jagdhundemeute gerufen hatte. Wulfhelm selbst rannte, den Spieß halb erhoben, ebenfalls dem Kampfplatz entgegen und während sich zwei der drei verbliebenen Winhaller bereits in der Sau verbissen, nämlich die beiden Rüden Celio und Kuno, stach der Jägersmann aus vollem Lauf mit dem Spieß in die Flanke der Bache. Der Winkel seines Angriffs war aber schlecht, obwohl der Spieß die Haut ritzte, gelang es ihm nicht, ihn tief ins Fleisch zu treiben.

Der Rüde des Lützeltaler Rudels hatte Mühe, sein Gebiss in das nasse Fell der Sau zu schlagen, die vorhin auch noch im Dreck gelegen haben musste. Celio, der Jagdhund von Meister Yendan indes sprang nach der empfindsamen Schnauze des Schweins, erwischte aber auch nur einen Zipfel der Wange, denn der Schwarzkittel versuchte natürlich die beiden Angreifer durch Schütteln loszuwerden, was ihm zu anfangs auch recht gut gelang. Ein Schmerz in der Flanke lenkte das Tier jedoch ab, so es sich daraufhin wütend umwandte, um zu sehen, wer da noch war.

Wulfhelm nahm sich einen Moment, um einen sicheren Stand einzunehmen, ehe er mit einem weiteren Stich der Sau zu Leibe rückte. Erneut schrammte die Spitze seiner Waffe an der ledrigen Haut des Schwarzkittels entlang, ohne sie empfindlich zu punktieren.

Darian, der eben erst aus dem Zweikampf mit seiner eigenen Gegnerin kam, sah sich um und bemerkte, wie links neben ihm ein Tumult entstanden war: eine ausgebrochene Sau befand sich mit zweien der Hunde und dem jungen Jagdgehilfen Wulfhelm im Nahkampf. Während der junge Mann mit dem Speer zu Werke war und recht nah an der Sau dran stand - eigentlich in viel zu gefährlicher Nähe - beharkten die Hunde das Tier mit Bissen. Unweit von den so in sich verbissenen Kontrahenten lag ein weiterer Hund leblos am Boden.

Auch Wulfhelms Vater sah dies. Doch hielt er sich noch zurück.

Zunächst war der streitbare Ritter sofort drauf und dran, Wulfhelm zur Seite zu springen, ehe er dessen Vater gewahr wurde - dessen Zögern auch ihn selbst innehalten ließ.

Der Jagdmeister sah, dass Darian bebte und nicht gewillt war, noch länger abzuwarten, während vor ihm ein Kampf tobte.

Ein letzter fragender Blick ging an Leodegar. Ein Blick, der beredt von “wollen wir nicht eingreifen?” sprach. Doch die Autorität des Jagdmeisters erkannte der Sturmfelser an, also gab er ihm einen Moment, zu reagieren - ehe er es ansonsten selbst tun würde.

„Er hat sich eingemischt, nun muss er das ohne uns schaffen,“ hörte Darian die Stimme des Jagdmeisters neben sich und dem Ritter wurde dabei klar, warum der Jägersmann zögerte, seinem eigenen Sohn zur Hilfe zu kommen: Weil der Glaube an Firun lehrte, dass man zu sich fand, wenn man sich der wilden Natur auslieferte, und weil Verweichlichung nicht zu jenen Dingen gehörte, die dem Grimmigen gefiel. Offenbar - so konnte Darian zu der Erkenntnis gelangen - sah der Jagdmeister die Konfrontation seines Sohnes mit der Sau als Prüfung für diesen an und griff deswegen nicht ein. Wulfhelm würde seine Gegnerin mit Hilfe der Hunde alleine bezwingen müssen. Ein hartes, aber ein aus firungefälliger Sicht konsequentes Los.

Rondra lehrte, denjenigen zur Seite zu stehen, die dieser Hilfe benötigten. Und mochte man das Ringen mit einer Bache oder einem Keiler als ehrbaren Zweikampf erachten, den zu unterbrechen auch nach Rondras Geboten nicht gestattet war? Wohl kaum. Aber Darian verstand, was der Jagdmeister meinte. Dies hier war etwas ähnliches.

Doch dass es dem ungestümen Ritter außerordentlich schwer fiel, sich hier zu beherrschen, war nur zu offensichtlich. Er warf Leodegar einen missmutigen Blick zu. Und hielt sich zurück.

Hart war es, so zu handeln. Aber hart und unnachgiebig war eben auch der Herr der endlosen weißen Weiten.

Wulfhelm hatte eben erst erneut mit nur magerem Erfolg durch das dichte Fell gestochen, da fuhr die Sau abermals herum, als einer der Rüden, Kuno, in eines ihrer Beine biss und der andere, Celio, die Zähne in den empfindsamen Schwanz schlug, woraufhin das Tier ein wütendes Brüllen von sich gab. Die letzte Hündin, Aife genannt, war nun ebenfalls heran und mischte mit, indem auch sie die Sau ansprang und biss. Die Angriffe der Hunde lenkten den Schwarzkittel ab.

Wulfhelm trat einen halben Schritt zurück, korrigierte seinen Griff um die Waffe und stieß sie mit einer flinken Bewegung erneut in die Sau. Abermals schnitt die Spitze seines Jagdspießs die Haut, ohne mehr als eine oberflächliche Wunde zuzufügen. Der junge Jäger ließ ein frustriertes Keuchen hören.

Mit einem erfolgreichen Tritt entledigte sich die Sau dem Rüden Celio an ihrem Bein, der daraufhin aufjaulte, als der Klauenfuß ihn in den Bauch traf. Auch Kuno, der ihr am Schwanz hing, bekam einen Tritt ab, als die Sau wild auskeilte. Nur die Hündin Aife, die ihr an eines der großen, mit Zottelfell bewachsenen Ohren gesprungen war, konnte das Tier nicht erreichen. Sie ließ das Ohr nicht los, selbst, als die Sau den Kopf schüttelte und sich wand, nachdem sie erneut einen Schmerz in ihrer Seite spürte und sich umdrehte, um zu sehen, wer ihr da so schmerzhaft beikam. Wulfhelm sah sich nur einen Moment später von zwei wütenden Schweineaugen gemustert, und mit dem Willen, den größten ihrer Peiniger auszuschalten, weil er für die Pein in ihrer Seite verantwortlich sein musste, senkte die Sau den Kopf und stemmte sich in den Boden, um gegen Wulfhelms Beine anzugehen. Da sprang jedoch auch der Rüde Kuno an das noch freie Ohr und das Gewicht beider Hunde bremste sowohl die Sau in ihrer Bewegung ab und drückte gleichzeitig den Schädel einen Moment lang nach unten.

Wulfhelm sah seine Gelegenheit: Mit einem entschlossenen Schritt trat er an die Sau heran und legte nicht nur die Kraft seiner beiden Arme, sondern auch einen Teil seines Körpergewichts in seinen von schräg oben hinab geführten Stich. Sein Jagdspieß fand sein Ziel, nicht in der dicken Schädelplatte des Tieres, sondern im kurz dahinter befindlichen Halsansatz und die Spitze seiner Waffe sank tief, fast bis zum Heft, ins Fleisch der Sau.

Diesmal verwundete Wulfhelms Speer das Tier nicht nur, er beendete auch sein Leben. Mit einem dumpfen Grunzton, der allerdings jäh endete, erschlaffte der Körper der Sau, und als der Rüde Celio sie ansprang und in den Rücken biss, merke diese den Biss schon gar nicht mehr.

Auch Kuno und Aife, die noch an den Ohren des Tieres hingen, ließen noch nicht ab von ihrem Tun, so sehr waren sie noch in ihrem Jagdtrieb gefangen. Sie zerrten und knurrten und rupfen an den Ohren, als wollten sie diese abreißen.

Einen langen Moment verharrte Wulfhelm, sein Gewicht auf den Spieß gestützt, ehe er sicher war, tatsächlich die Wildsau erlegt zu haben. Die Anspannung und Aufregung des nun gewonnenen Nahkampfs mit dem Schwarzkittel wich dem Hochgefühl von überwundener Gefahr und Sieg. Er atmete lange aus, ließ den Spieß einfach im gestürzten Tier stecken und blickte einmal an sich herab. Dann kehrte die Erinnerung zurück, weshalb er sich in diese, nicht gerade ungefährliche, Situation begeben hatte und schob seinen Triumph beiseite. “Rika!”

Schnell hatte er sich bei der gestürzten Hündin niedergekniet und untersuchte mit besorgter Miene ihre Verletzungen.

Es sah nicht gut aus um die Hündin. Ihr Atem ging flach und ihr Rücken zeigte deutlich blutige Spuren des Schwarzkittelangriffs. Am Besorgniserregendsten war, dass ihre Hinterläufe nicht auf Wulfhelms Berührungen reagierten.

Wulfhelm murmelte einen leisen Fluch, während er aus einer seiner Taschen das Bündel Verbandszeug hervorzog. Seine Kenntnisse der Heilkunst, ob nun bei Mensch oder Tier, reichten bei weitem nicht aus, um ihm nun Sicherheit über die nun nötigen Schritte zu geben. Die Blutung zu versorgen, konnte jedenfalls nicht schaden und so machte er sich daran mit zitternden Fingern einen Verband über die Rückenverletzung der Hündin zu legen.

Es war ein beinahe sinnloses Unterfangen, im Regen einen Verband anzulegen und zu erwarten, dass dieser trocken bliebe. Dabei spielte es keine Rolle, wie gut der Verband saß. Selbst ein präzise von meisterlicher Heilerhand angelegter Verband weichte in kürzester Zeit durch.

Frustriert betrachtete der junge Jäger sein Werk, er verstand genug von der Heilkunst, um die Unzulänglichkeit seiner Versorgung der Hündin zu erkennen und wusste gleichzeitig, dass er zu mehr nicht imstande war. So verlegte er sich darauf, Rika beruhigend durch das Fell zu streichen und ihr leise zuzureden.

Die Rotte flieht

Nachdem Wulfhelm, der Sohn des Jagdmeisters, die Hunde des kleinen Jagdrudels zu sich gerufen und so von ihren Positionen im Kreis um die Rotte abgezogen hatte, standen der Gruppe Schwarzkittel nun mehr nur noch menschliche Gegner gegenüber. Deutlich war zu erkennen, dass die Schwarzkittel, bei denen es sich zumeist um jüngere Sauen, Überläufer und Frischlinge aus den letzten Würfen handelte, nicht recht wussten, was zu tun war. Die große Familie lief ständig auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser Situation hin und her, manche kleinere Tiere wurden gar getreten und gingen quiekend zu Boden. Die Angst der Schweine war weiterhin spür- und vor allem hörbar, nun aber bot sich in den Augen etlicher Tiere dann doch Gelegenheit zur Flucht und diese ergriffen sie.

So schlüpfte ein großer Teil der Rotte durch die größte Lücke im Ring und entfloh in dieselbe Richtung, in der auch schon die Leitbache entflohen war.

Eine wesentlich kleinerer Gruppe bestehend aus 8 Tieren drückte sich rasch zwischen den Gruppen um dem Ritter von Mersingen und dem Edlen von Lützeltal hindurch, wie sie den dortigen Jägern schöne Ziele bot. Unter den 8 Tieren war 1 jüngere Sau, der die kleine Gruppe wohl in ihrer Verwirrung folgte, 1 etwa gleichaltriges Weibchen, 2 Überläufer und 4 ältere Jungtiere.

***

Friedewald hatte seine Armbrust aufgehoben, nachdem Nivard der Sau den Garaus gemacht hatte. Der Edle war eigentlich recht zufrieden. So wie er es überblickte, waren drei oder vier ältere Tiere erlegt worden. Der Plan sah jedoch vor, noch einige der Jungtiere aus der Rotte zu nehmen, damit diese nicht zu schnell wieder zu zahlreich wurden. Deshalb war er nicht zu sehr zufrieden, dass die Rotte zu fliehen gedachte. Schnell versuchte er, seine Armbrust neu zu laden, um wenigstens noch einen der Frischlinge zu erledigen, bevor die Rotte im Gehölz untertauchen konnte.

Er traf das Jungschweinchen, das noch Anzeichen seines gestreiften Kinderfells trug, in die Flanke, welches daraufhin laut aufquiekte, als es hinfiel. Es stand nicht mehr auf, quiekte aber immer noch, fast herzzerreißend.

Friedewald lief auf das arme Ferkelchen zu, brüllte dabei, um die fliehenden, größeren Schweine weiter zu vertreiben und zog sein Jagdmesser. Als er das kleine Schweinchen erreicht hatte, kniete er sich neben es und blickte in dessen erschrocken-überraschten Augen. Es dauerte den Edlen, die Qualen zu sehen. Während er mit seinem Messer gezielt und kräftig auf dessen Brustkorb einstach, redete er zu dem Ferkel: „Es tut mir leid, dass du dafür zahlen musst, dass deine Familie meinen Bauern die Lebensgrundlage nimmt. Dein Leben, um das meines Volkes zu bewahren. Du hättest etwas besseres verdient.“ Er wartete, bis das Quicken verstummte und das Ferkelchen nicht mehr atmete. Dann zog er Jagdmesser und Bolzen aus dem toten Körper.

***

Auch Nivard griff rasch Pfeil und Bogen. Mit etwas Glück und Geschick könnte er vielleicht noch einen Überläufer zur Strecke bringen - die gaben einen größeren Braten ab und hatten auch bessere Aussichten, den nahenden Winter zu überstehen und im kommenden Sommer die Felder verwüsten zu können, als die Frischlinge.

Schnell war angelegt, noch schneller gezielt und intuitiv die Sehne losgelassen - doch fand Nivards Pfeil tatsächlich sein Ziel und bohrte sich in den Leib des Überläufers, den er noch hatte erlegen wollen.

Der Treffer drückte den kleinen Keiler zur Seite und er rumpelte auf eines der Jungschweine, das sich kreischend beschwerte, weil er es zwischen sich und einem Stamm einquetschte. Es wandte sich schnell aus der Umklammerung und lief noch etwas schneller, den anderen hinterher, in den Wald hinein.

Der getroffene Keiler sammelte sich kurz, bevor auch er hinterher spurtete.

Nivard legte sofort den nächsten Pfeil auf. Der Keiler durfte nicht entkommen. So getroffen wie er war, würde er ohnehin in den nächsten Tagen von einem Raubtier erlegt, oder - wenn er weniger Glück hatte - qualvoll verenden. Nein, Firun lehrte, dass die Jagd auf ein verletztes Tier zu Ende zu bringen war, und so wollte er es halten. Leider hatte er diesmal zu hastig gezielt, und sein Schuss ging fehl. Leise fluchend setzte er dem Überläufer hinterher.

Sein Spurt führte ihn jedoch nicht weit, rutschte er doch schon nach wenigen Schritten auf einer nassen Blattschicht, unter der sich tückischer Matsch verbarg, aus, während sich das Wild immer weiter entfernte.

Rasch rappelte er sich auf, um die Verfolgung wieder aufzunehmen, da hörte er Schritte auf sich zukommen, die von einem der Jäger stammen mussten. Noch immer konzentrierte er sich aber darauf, zu erspähen, wohin das Tier floh.

***

Es ging schneller, als er schauen konnte. Plötzlich huschten die Tiere ins Unterholz. Darian warf den Speer zur Seite und nahm eilig den Bogen von der Schulter, um vielleicht noch eines der kleineren Tiere zu treffen. Allerdings malte er sich keine großen Erfolgschancen aus…

Sein Pfeil traf den zweiten Überläufer in das fleischige Gesäß. Das Tier schrie auf und knickte hinten ein, berappelte sich jedoch wieder und humpelte der Gruppe hinterher. Weit kam der Keiler allerdings nicht. Während die Gruppe um die beiden Sauen und die restlichen Frischlinge nach links abbogen, blieb der Getroffene zwischen einigen jüngeren Bäumen zitternd zurück. Dort, hinter einer ‚Wand‘ aus Jungbuchen versuchte er, sich den Pfeil aus dem Hintern zu ziehen, kam aber nicht mit dem Maul an den Pfeil heran.

Als er sah, dass er getroffen hatte, jagte der Sturmfelser hinterher. Nach wenigen Momenten bei dem jungen Keiler angekommen, zog er ohne zu zögern erneut den schönen Dolch aus der Schmiede des Angroschim aus seiner Scheide. Jener Dolch, der ihm fast so wertvoll war wie das Schwert, welches er einst von seinem Oheim auf dem Schlachtfeld erhalten hatte vor so vielen Jahren…

Er kniete sich auf den Waldboden - und beendete seine Jagd in jenem Moment, da das panische Quieken erstarb.

Einmal mehr gedachte er des alten Keldor daheim in Rodaschquell - und Leodegar, der ihn so sehr an den Jagdmeister in den Landen seiner elfischen Herrin erinnerte.

Dann reinigte er den Dolch, wartete einen Augenblick, nahm dann das Tier auf seine breiten Schultern und ging zurück zu den anderen.

***

Darian kam auf dem Weg zurück an dem jungen Krieger Nivard von Tannenfels vorbei, der unweit von ihm gestolpert und auf den Boden gefallen war, als dieser einem anderen Schwarzkittel nachstellte. Gerade hatte sich Nivard enttäuscht aufgerappelt, selbst seiner eigenen angeschossenen Beute verlustig gegangen - was aber Darian noch nicht wusste.

Mit einem breiten Lächeln schritt der Kämpe geradewegs auf Nivard zu, den jungen Keiler auf den Schultern.

“Und?”, fragte er. “Wie schaut’s aus? Die Rotte haben wir wohl recht ordentlich aufgescheucht, was?”

"Ja, kann man wohl sagen." Noch immer starrte Nivard angestrengt ins Dickicht, wo sich hier und da noch ein Ast bewegte und von wo das Rascheln und Grunzen der flüchtigen Schweine zu vernehmen war. "Wieviele habt Ihr erwischt? Wir haben zwei... nein drei erlegt. Da vorne..." er deutete jetzt in die Richtung... "trägt aber ein junger Überläufer einen Pfeil von mir in die Wälder. Ich muss ihn noch ganz zur Strecke bringen, wie es der Herr Firun gebietet. Wollt Ihr mitkommen?"

Der Ritter nickte stumm. Dann ging er langsam in die Hocke und legte behutsam das tote Tier ab.

“Eine stämmige Sau hat der Speer erlegt. Und diesen hier” - er deutet auf den jungen Keiler -  “habe ich gerade eben noch mit dem Bogen erwischt”. Er nickte in Richtung Dickicht. “Herr Firun scheint aber auch mit Euch zu sein, Herr Nivard. Fordern wir ihn nicht heraus, indem wir die Beute warten lassen!” Er lächelte. Ein Zeichen, dass die Anspannung in ihm nachgelassen hatte.

"In der Tat. Jeder Moment, den wir jetzt verschenken, wird die Zeit um ein mehrfaches verlängern, bis wir den jungen Keiler haben werden. Denn ich fürchte, es wird noch ein wenig dauern, ehe seine Flucht erlahmen wird." Nivard machte sich wieder an die Verfolgung.

Der Edle von Lützeltal bekam mit, wie die beiden jüngeren Männer sich unterhielten und dann ihre Beutetiere zurück ließen, um weiter in den Wald hinein zu gehen. Der Rotte nach.

“Ja, eilt Euch! Viel Erfolg und passt auf Euch auf! Ein verletztes Tier ist unberechenbar!” rief Friedewald den beiden jungen Männern hinterher. Dann packte er Darians Beute, um diese in Sicherheit zu den anderen erlegten Tieren zu bringen.

Darian nickte ihm kurz zu, ehe er Nivard weiter ins Dickicht folgte.

[Weiter geht‘s unten bei „Nachsuche“]

***

Nachdem Jagdmeister Leodegar Häsler sich mit gewissem Stolz in der Brust überzeugt hatte, dass sein Sohn sich vor dem Herrn der Jagd erfolgreich gegen den Schwarzkittel zu beweisen wusste, hetzte er der großen Gruppe Schwarzkittel hinterher. Dazu rief er seine Meute an seine Seite.

Kuno und Aife ließen augenblicklich ab vom Ohr der toten Sau und sprangen zu ihrem Herrn. Auch Rika hörte den Ruf ihres Herrn und das Bellen ihres Bruders Kuno, des Rudelführers. Sie hob den Kopf und wollte ebenfalls mit, aber die Verletzung hielt sie weiterhin am Boden fest, woraufhin sie angstvoll winselte. Ihre Rasse war zäh und ausdauernd, den blutigen Biss im Rücken würde sie pflichtbewusst und aus Charakterstärke heraus ignorieren können, doch verstand sie nicht, warum sie kein Gespür in ihren Hinterläufen mehr besaß und so sah die Hündin aus angstvollen Augen zu Wulfhelm auf, der ihr eben einen Verband umlegte und mit einem kurzen Befehl anwies liegen zu bleiben.

Celio hatte nicht mitbekommen, was seinem Rudelführer widerfahren war und rannte mit dem Rudel mit.

Leodegar brauchte kein Kommando geben - die Hunde wussten, was von ihnen erwartet wurde, und flitzten dicht am Boden der fliehenden Rotte hinterher. Schon bald hatten sie eines der kleineren Tiere als Beute ausgemacht und es durch Kläffen abgelenkt, sodass es sich selbst von der Rotte separierte. Dann brachten sie das Schwein durch Bisse in die Beine zum Stolpern und hielten es durch Bellen und Schnappen an Ort und Stelle. So festgesetzt harrte der junge Schwarzkittel seines Schicksals, welches sich in Gestalt des Wildhüters näherte. Dieser schleuderte noch im Ansturm seine Saufeder nach vorn, aber verfehlte das Tier - welches erschrocken aufsprang, als die Spitze der Waffe vor ihm in den Waldboden fuhr. Laut “Auf die Sau!” rufend, konnte Leodegar nur hoffen, dass ihm das nächste Jagdmanöver gelang, ehe sich die Sau über die Hunde hinweg aus dem Staub machte. Während Aife noch wie besessen kläffte und vor der Sau einschüchternd auf und ab sprang, griff ihr Bruder mit Celio die Sau gemäß dem Kommando an. Das Gebiss des einen Rüden packte erneut die empfindsame Ohrregion, weil das einfach ein Teil war, der sich trotz dichtem Fell und Nässe gut greifen ließ. Der andere versuchte, seine Zähne in das weiche Bauchfell zu schlagen. Nur Augenblicke später stürzte sich auch die Hündin auf die Beute und schnappte nach dem Pürzel.

Noch im Anrennen zog der Jagdmeister seinen langen Hirschfänger und warf sich, das Messer parat, auf die junge Sau, die der Wucht nichts entgegen setzen konnte und durch den Jägersmann seitlich zu Boden gedrückt wurde. Sie war noch jung genug, dass dies möglich war. Nur einen Herzschlag später fuhr ihr die Klinge des erfahrenen Jägers durch die so entblößte Brust. Die Jungsau brüllte auf. Routiniert drehte Leodegar die Klinge leicht, um dann gleich noch einmal tiefer in den Körper zu stechen. Er wusste genau, wo das Herz der Sau hing und dass ein Stich hinein ihr Leiden beenden würde. Als das Tier unter ihm zu zucken aufhörte, befahl er den Hunden loszulassen - was diese, anders als bei der Beute, die sie unter Führung Wulfhelms gemacht hatten, auch sogleich anstandslos taten. Der Jagdmeister  selbst zog die blutige Rechte aus dem Brustkorb und sah in die erloschenen Lichter, ehe er Ifirn für ihre Gnade dankte und dem Tier für sein Opfer, während er das Blut von seinem Messer am nasse Fell abzog.

Erst dann stand er auf und sah sich um. Kuno und Aife ließ er das noch warme Wildschweinblut von seiner Hand schlecken. Als Belohnung. Die Hunde würden zwar später noch auf ihre Kosten kommen, wenn sie die erlegten Tiere aufbrachen, aber eine kleine Bestätigung fand er nach ihrem Einsatz angebracht.

Anschließend schulterte er die kleine Sau und machte sich auf den Weg zurück zu dem Ort, an dem sie die Rotte umstellt hatten.


~ * ~

Nachsuche

Die Fährte der Schweine war auf dem feuchten Waldboden gut zu sehen. Das nasse Laub umgewälzt von schnellen Füßen, an erdigeren Stellen hin und wieder gut sichtbare Hufabdrücke. Die Tiere waren in westliche Richtung davon. Alsbald trafen der Krieger und der Ritter auf Seine Gnaden Firumar, der im Begriff war, gerade einen Zweig auf die Brustwunde eines Schwarzkittels zu legen. Er hob überrascht den Kopf mit dem strengen Blick, als er das Paar auf sich zukommen sah.

„War das der eurige?“

Alsbald dämmerte es den beiden jüngeren Männern, dass der Geweihte sich ihres gesuchten Tieres angenommen hatte.

„Wer war der Schütze?“

Darian hielt sich zurück, um Nivard antworten zu lassen. Es stand ihm nach seinem Dafürhalten nicht zu, hier das Wort zu ergreifen.

"Das war ich." räumte Nivard geradeheraus ein. "Wir setzten dem Überläufer gerade nach, um zu vollenden, was ich begonnen habe, wie es der Herr Firun und der Respekt vor diesem Wesen verlangen. Wie ich sehe, seid Ihr uns zuvorgekommen und habt dem Leiden des Tieres ein Ende bereitet. Dafür danke ich Euch!"

Nivard war der Auftritt des Geweihten heute Morgen noch bestens eingedenk. Er erwartete daher, dass Firumar gleich wieder damit anfing, ihn maßregeln zu wollen. Der junge Krieger sah dem Diener Firuns geradewegs in die Augen. Er war sich keiner Schuld bewusst, und Demut und Respekt hatten nichts mit auf den Knien kriechen zu tun.

Zu Nivards Verwunderung blieb ein Tadel aus. „Ihr habt gut getan,“ sprach der Geweihte und nickte. Dann bückte er sich und brach von dem Zweig, den er eben in die Wunde legte, etwas ab und reichte es Nivard. „Dann gebührt dies euch,“ erklärte der Geweihte dabei, als er ihm den kleinen Zweig übergab. „Steckt es ruhig an eure Kleidung. Ich erhebe keinen Anspruch drauf, denn es war euer Pfeil, der dem Kittel zuerst galt und es war richtig von euch, ihn nicht verwundet ziehen zu lassen. Da wir jedoch alle Gäste auf einer Traviabundfeier sein sollten, statt das Unterholz zu durchkämmen auf der Suche nach einem leidenden Tier, nahm ich mich eures Gegners an. - Ohne einen Spürhund hättet ihr euch bei diesem Wetter sowieso schwer getan.“

Nivard überlegte kurz, ob er den Zweig dankend ablehnen sollte, immerhin hatte er den Kittel nur verletzt, aber nicht endgültig erlegt, doch wollte er sich nicht mit dem Geweihten nur aus lauter Bescheidenheit anlegen. "Habt Dank!" erwiderte Nivard daher nur leise und steckte sich den Zweig an.

Dann wandte sich der Geweihte an den Ritter: „Auch ihr habt gut getan, euren Kameraden zu begleiten. Zu zweit werdet ihr den Kittel leichter zu den anderen bringen!“ Anschließend trat der Ältere beiseite und überließ es den beiden jüngeren Männern, das erlegte Tier zur Jagdgesellschaft zu ziehen.

Darian nickte.

“Haben wir denn ein Seil?”, fragte er dann. Vielleicht wäre es besser, das Tier auf die Schultern zu nehmen? Der Gedanke behagte ihm zwar nicht ganz, aber immerhin hätte er schon etwas Übung darin. Allerdings ließ er Nivard gegebenenfalls den Vortritt. Schließlich hatte jener diesen Keiler erlegt.

"Kein langes. Aber einige kürzere Lederstricke. Mit denen könnten wir das Schwein rasch an einen stabilen Ast hängen und diesen an beiden Enden schultern." überlegte Nivard laut. "Allerdings wartet unweit noch Euer Schwein. Vielleicht schultere ich dieses hier besser?"

“Ja, so ist es. Dann lasst uns keine Zeit verlieren. Scheint doch ganz gut zu laufen!”

Er schaute sich nur kurz um, um sicherzustellen, dass nicht irgendwo aus dem Unterholz doch noch ein versprengter Schwarzkittel hervor brach.

"In der Tat. Firun ist heute mit uns!" Mit diesen Worten wuchtete Nivard das erlegte Schwein auf seine Schultern. Auch so ein vermeintlich junger Schwarzkittel brachte bereits einiges auf die Waage und damit später an den Spieß, wie der junge Krieger durch die gestemmte Last eindrücklich vor Augen geführt bekam. Mit dieser wurden auch die Schritte beschwerlicher, da er nun wesentlich tiefer in den Matsch einsank. "Den Göttern sei Dank” fuhr Nivard mit deutlich gepressterer Stimme zu Darian fort, “ist mit Ausnahme der Novizin auch niemandem etwas schwereres zugestoßen. Und die wird hoffentlich bereits gut versorgt. Solche Saujagden sollen auch schon ganz anders verlaufen sein. Da kann schnell mal was Dummes passieren."

“Ich hoffe, dass es nicht zu ernst ist.”

"Die Hand sah nicht gut aus.” Nivard verzog vielsagend sein Gesicht. “Wäre ihr Bruder nicht Anconiter und auch auf dieser Feier, und hätten wir sie nicht bereits in Begleitung zu diesem geschickt, würde ich mir ernsthaft Sorgen machen. So aber dürfte sie gewiss längst in heilenden Händen sein."

Darian machte ein paar Schritt auf Nivard zu, um ihm zu helfen, den Keiler zu schultern.

“Die Biester können ganz schön zulangen. Unser Jagdmeister daheim in Rodaschquell hat mir einmal erzählt, dass ein Keiler einem übermütigen Ritter den ganzen Oberschenkel aufgerissen hat, weil dieser unvorsichtig war und gedacht hatte, ein Schwarzkittel stelle doch keine Gefahr für einen echten Ritter dar. Lasst Euch das eine Lehre sein, es ihm nicht nachzutun - das hatte Keldor damals zu mir gesagt.”

Er lächelte verschmitzt.

“Ein bisschen schroff ist er ja, unser guter Jagdmeister. Aber ein guter Hüter der Wälder. Sogar Vogt Korninger hat einmal ein gutes Wort über ihn gesagt.”

Nivard nickte mit einem wissenden Grinsen, wobei nicht gänzlich offenbar war, ob er damit der Schroffheit guter Jagdmeister beipflichtete oder der weithin bekannten allgemein 'hohen Meinung' zu seinen Mitmenschen, die Vogt Korninger (den er aber selbst nur flüchtig kannte) auf Gesichtszügen und Lippen trug.

Als Nivard den Keiler geschultert hatte, nickte der Sturmfelser.

“Ich denke, das passt so. Lasst und zu den anderen gehen.”

"Danke!" Nivard versicherte sich noch einmal des richtigen Sitzes der Beute.

"Ja. Den Respekt vor dem Schwarzwild haben mir meine Eltern auch von Kleinauf eingebläut." griff er dann nochmals das Thema auf. "Wobei ich sagen muss, dass Ihr nur einmal einen ausgewachsenen Goblinkrieger auf einem Schwein habt reiten sehen müssen, dann bezweifelt ihr keinesfalls mehr die Stärke und Wehrhaftigkeit der Schwarzkittel."

Mit einer kraus gezogenen Stirn und einem skeptischen Blick wog Darian die Worte ab.

“Ich hatte schon einmal davon gehört, es aber für ein Ammenmärchen gehalten, mit dem man unartigen Kindern Angst machen will. Sei brav, sonst kommt der Goblin auf seinem wilden Schwein und holt dich! Ich kann mir das kaum vorstellen, dass eine so schmächtige Kreatur wie ein Goblin ein Wildschwein überhaupt reiten, geschweige denn zähmen kann. Habt Ihr das wirklich selbst gesehen?”

"Wie sie sie genau zähmen, habe ich noch nicht gesehen." räumte Nivard ein. Inzwischen stand ihm vor Anstrengung der Schweiß auf der Stirn. "Aber auf einem Wildeber sitzen mehr als nur einmal. Glaubt mir, die beherrschen ihre Reittiere. Wusstet Ihr, dass ihre Muttergöttin sogar die Gestalt eines Wildschweins hat? Wenn ein Volk auf Deren etwas von Schweinen versteht, dann am ehesten die Goblins, will ich meinen."

Die Skepsis war zwar noch nicht ganz gewichen, aber Darian sah keinen Grund, an Nivards Worten zu zweifeln.

Dennoch war seine erste Antwort nicht mehr als ein “Hm…”

Allein die Vorstellung, dass eines dieser staksigen kleinen Wesen auf einem Eber ritt, schien ihm irgendwie … grotesk.

“Nun, ich habe es noch nicht erlebt, wie Ihr meinen Worten entnehmen könnt. Und es gibt Dinge, die ich mir lieber vorstellen mag als eine Rotte von Goblins auf Wildschweinen.”

Er lächelte verschmitzt, als er bemerkte, dass Nivard unter der Last ächzte, die er auf seinen Schultern trug. Seine Hilfe bot er jedoch nicht an. Zum einen, weil es sich in diesem Fall nicht ziemte, und zum anderen, weil er wusste, dass in wenigen Schritten seine eigene Beute auf ihn wartete.

Als die beiden Männer kurz darauf an die Stelle traten, wo er seinen eigenen jungen Keiler zurückgelassen hatte, musste Darian aber dann doch auflachen.

“Da brat mir doch einer ‘nen Storch”, sagte er mit in die Hüfte gestemmten Armen und fügte nicht ganz ernst gemeint hinzu: “Jemand hat mein Schwein gestohlen!”

"Der Happen lag aber einfach auch zu appetitlich hier im Walde herum - Wer weiß, wer oder was ihn sich geschnappt hat..." lachte auch Nivard. "Seine Artgenossen waren es jedenfalls nicht - die hätten es erst in der Dämmerung geholt und verputzt... und andere Spuren hinterlassen..." Beim Betrachten fiel dem jungen Krieger ein Schwank Jägerbosparano aus der Heimat ein: "Seid Ihr ganz sicher, dass es sich nicht nur totgestellt und von Euch herumtragen lassen hat? Wildschweine sind gewitzte Tiere."

“Nein, da bin ich sicher”, sagte Darian amüsiert. “Das müsste schon ein sehr seltsamer Keiler gewesen sein, wenn er sich mit aufgeschlitzter Kehle von einem schnaufenden Ritter durch die Gegend tragen lässt.”

Etwas ernster fügte er hinzu:

“Man hat mich gelehrt, mich zu vergewissern, dass die Beute auch tatsächlich erlegt ist!”  

"Gewiss. Das sind wir alleine schon den Geschöpfen schuldig, die wir jagen. Außerdem könnte es auch eine unangenehme Erfahrung werden, wenn so ein verletztes Tier unerwartet wieder aufwacht..."

Der Sturmfelser nickte ihm kurz zu. “Kommt, lasst uns aufholen zu den anderen, sie warten vermutlich schon.”

Beute gemacht

Die Rotte war geflohen und außer Sicht. Doch die Jagd Gesellschaft hatte eine gute Anzahl an Schwarzkittel erlegt:

  • Yendan und Lares hatten eine ältere Sau (1) erlegt, diese hat jedoch Yendan mit in den Tod gerissen.
  • Nivard, Borix und Friedewald hatten zuerst einen jungen Keiler (9), dann eine ältere Sau (2) erlegt.
  • Friedewald hatte gerade eben noch einem jüngeren Schwarzkittel (5) den Garaus gemacht, den er zum Sammelpunkt schleppte.
  • Darian hatte ebenfalls eine ältere Sau (3) erlegt - bzw. diese hatte sich auf seinem Jagdspieß fast wie von selbst aufgespießt - und dann einem jüngeren Keiler (6) nachgestellt.
  • Wulfhelms Beute bestand aus einer Sau (4), die er gemeinsam mit den Hunden zu Fall brachte.
  • Sein Vater Leodegar war erst als Jagdhelfer für den Ritter Darian zu gange gewesen, später war er mit den Hunden dem größeren Teil der Rotte gefolgt und hatte so ein junges Weibchen (8) mit dem Hirschfänger erlegt.
  • Seine Gnaden Firumar erlegte eine Jungsau (7), nachdem er die Leitbache erfolgreich davon abgehalten hatte, sich der Jagdgesellschaft entgegen zu stellen, und er das von Nivard zuvor angeschossene Tier bemerkte. Er teilt die Beute rituell mit Nivard, weil der sich anschließend sehr verantwortungsbewusst auf Nachsuche begab.

Letztlich lagen 9 Tiere unterschiedlicher Größe vor der versammelten Jägerschaft.

***

Der Tribut

Die Jagd war vorbei. Die Mitglieder der Jagdgesellschaft sammelten sich auf Geheiß des wieder aufgetauchten Firungeweihten an dem Ort, an dem sie vor noch nicht so langer Zeit die Rotte gestellt hatten.

Die Beutetiere wurden Seite an Seite aufgereiht für das letzte Ritual dieser Jagd: dem Abblasen und Anempfehlen der Beute für Firuns göttliche Jagd.

Nur der Ritter Lares und der Jagdknecht Yendan schienen sich nicht zu den anderen gesellen zu wollen. Der Mersinger mochte anscheinend überhaupt nichts tun, auch nicht seine Beute zu den anderen erlegten Tieren auf den Sammelplatz ziehen. Dafür schrie er aus Leibeskräften, als man nach ihm rief und auch anschließend nach den beiden Männern sah. Doch welches grausame Bild bot sich:

Der Mersinger saß wie versteinert auf dem nassen Waldboden und machte keine Anstalten, sich zu bewegen, neben ihm ein grauer zotteliger Berg, seine Beute. Der Jagdknecht lag ebenfalls auf dem Boden. Alles war in Blut getaucht. Auf dem Boden neben der Sau lag ein besudeltes Schwert. Der Ritter selbst war von oben bis unten in Blut unterschiedlicher Farbe gebadet. Seine Hände troffen noch, sein Hemd hing in Fetzen. Offenbar hingen Streifen davon an Yendans Schenkel - ebenfalls rot und nass.

“Oh, mein Herr Firun!” stieß der Edle von Lützeltal, der zu dieser Jagd geladen hatte, erschrocken aus, als er Yendans blassen und blutverschmierten Körper auf dem matschigen Waldboden liegen sah. Schnell ging er auf die Stelle, wo dieser lag, zu und kniete sich zu Lares und dem Toten. “Das hätte nicht sein dürfen!” Dann wurde er gewahr, dass auch der Mersinger über und über mit Blut besudelt war. Friedewald legte ihm die Hand auf die Schulter. “Herr von Mersingen! Wohlgeboren! Lares!” versuchte er den Mann anzusprechen und aus dessen Schock zu befreien. “Geht es Euch gut? Seid Ihr auch verletzt?”

Doch Lares starrte nur mit bohrendem Blick in den Boden. Aus seiner offenen Kehle kam kein Laut mehr. Der junge Mann wirkte völlig apathisch.

Während sich der Edle fassungs- und hilflos seinem bis ins Mark schockierten Gast gegenüber sah, war Seine Gnaden Firumar dabei, vor jedes der Tiere einen Zweig niederzulegen, denn dieser sollte von dem Erleger in die Wunde gesteckt werden, als Zeichen der Dankbarkeit und dem Respekt. Es war auch üblich, dass der Erleger sich davon etwas abbrach, um es - ähnlich einer Trophäe - mit nach Hause zu nehmen, als Zeichen für seinen Jagderfolg. Dabei legte der Geweihte jedem der Tiere die Hand auf und versank für einen kurzen Moment mit geschlossenen Augen in Andacht mit sich und seinem Herrn.

Borix schaute sich nach Nivard und Friedewald um, denn sie hatten die beiden Schweine ja gemeinsam erlegt, also gebührte auch ihnen gemeinsam die Ehre, die Strecke zu markieren.

Celio lief stolz und fröhlich zu seinem Rudelführer. Doch verhielt dieser sich merkwürdig. Er grüßte ihn nicht, gab ihm keine Leckerlies und streichelte ihn auch nicht. Fragend stupste er ihn an. Nichts. Ein weiteres mal. Wieder nichts. Er leckte ihm übers Gesicht, um ihn zu wecken - er wusste, dass der Mensch das nicht leiden konnte - doch wieder nichts. Winselnd und mit traurigen, ratlosen Augen guckte er die anderen Menschen an.

Dann trottete er zu Lares und schob seinen Kopf unter die Hand des Ritters.

Als sich Lares überhaupt nicht rührte, traf Friedewald eine Entscheidung, die ihm nicht leicht fiel, die er jedoch für unumgänglich hielt, um den Mann aus seiner Schockstarre zu befreien. Die Ehre der erlegten Beute war ihm gleichgültig, wollte er doch in erster Linie sein Tal von der Plage entlasten. Dass dafür andere mit ihrem Blut und ihrem Seelenheil den Preis zahlen mussten, war ihm überhaupt nicht recht. Der Edle zog einen Lederhandschuh aus, holte Schwung und schleuderte Lares den Handschuh mit einem Klatschen ins Gesicht. “Herr von Mersingen! Kommen Sie zu sich! Es ist vorbei. Ihr könnt nichts mehr für ihn tun.”

Der Handschuh traf den jungen Mann mitten ins Gesicht und hinterließ einen roten Striemen. Der Mersinger bewegte den Kopf leicht in Richtung des alten Edle, doch starrte er nur durch ihn hindurch. Auf weichen Knien erhob er sich und setzte einen Fuß vor den anderen - grob in Richtung des Dorfes.

Friedewald wandte sich an seinen alten Freund. “Borix, kannst du vielleicht auf den Herrn von Mersingen Acht geben, bis wir aufbrechen?”

“Gerne, mein Freund”, nickte der Angroscho und ging dann auf Lares zu. “Kommt, Herr von Mersingen, es ist vorbei.” ‘Zumindest die Jagd. Der Tod wird Dich sicherlich noch ein wenig begleiten.’

***

Behutsam hatte Wulfhelm die verletzte Hündin zur Streckelegung getragen und stand nun über dem leise fiependen Tier. Erschöpfung dominierte seinen Ausdruck und der langsam auffrischende Wind blies die nassen Strähnen seines Haares ihm ins Gesicht, während er mit stummem Grauen die Szene um den Herrn von Lützeltal und dessen edlem Gast beobachtete. Der Jagdknecht - wie war sein Name noch gleich gewesen? - lag reglos auf dem Boden und das Verhalten des Ritters ließ wenig Raum für mögliche Erklärungen. Eine finstere Kälte griff nach seinem Herz, nicht jene, die dem Herrn Firun gefällig war und Klarheit und Zweckbestimmung brachte, sondern eine nasse Kälte, welche in die Seele kroch und die Flammen von Lebensfreude und Hoffnung flackern ließ. Gebannt starrte er zu dem Blutbad hinüber, die Sau, deren Erlegerbruch auf ihn wartete, ebenso vergessen wie die Hündin zu seinen Füßen.

„Es ist lange her, dass der Grimmige in Lützeltal ein Leben forderte,“ hörte Wulfhelm neben sich plötzlich die Stimme seines Vaters.

Wulfhelm erschrak nicht, kurz schien es als hörte er die Stimme seines Vaters nicht, dann drehte er aber doch langsam den Kopf zu ihm, auch wenn sein Blick leer und ausdruckslos war.

Der ältere Jägersmann, der an dem Tod des anderen Jagdknechts ebensowenig mehr ändern konnte als alle anderen, legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. „Hast dich wacker gehalten gegen den Schwarzkittel, der dir ans Leder wollte.” Wulfhelm nickte, aber ohne Überzeugung.

“- Du auch, Mädchen", ergänzte Leodegar und ging in die Hocke, um der Hündin Rika als Lob über Kopf und Fell zu streichen. Gefühlvoll kraulte er den fiependen Jagdhund unterm Kinn, hinter den Ohren, schließlich auch an der Brust - aber alles, was sich bewegte, waren Kopf, Hals und die Vorderbeine. Die beiden hinteren Läufe zuckten zwar auch, doch mehr, weil sich vorne etwas bewegte. Leodegar hielt in seiner eigenen Bewegung inne, als denke er nach, dann strich er Rika noch einmal über den Kopf und ohne den Blick von ihr abzuwenden: „Wie denkst du über ihre Verletzung, mein Sohn?“ wollte er von Wulfhelm mit gefährlich abgeklärtem Tonfall wissen.

Der junge Jagdgeselle senkte den Blick, atmete tief ein und wieder aus, dann räusperte er sich. “Sie wird sich etwas gebrochen haben, die Sau hat sie übel erwischt.” Seine Stimme war flach, er wirkte mit den Gedanken anderswo. “Ich - Ich weiß nicht - vielleicht sollte seine Gnaden sie einmal ansehen”, murmelte er.

Sein Vater seufzte und wischte sich in einer Geste des Bedauerns über das regennasse Gesicht. “Ich weiß leider, was er sagen wird. Und ich sehe es genauso." Leodegar sah noch immer auf die Hündin hinab, während sie unter seinen Streicheleinheiten nach Zuneigung bettelte, aber ihr freudiges Fiepsen wurde von gequälten Schmerzlauten unterbrochen, die von ihrem jämmerlichen Zustand kündeten. “Sie wird die Hinterläufe nicht wieder bekommen. Du weißt auch, was das heißt.”

“Ich habe sofort gesehen, dass es sie schwer getroffen hat.” Wulfhelms Stimme war rau und er sprach leise. “Sie wird nicht mehr mit uns jagen, oder? - War ich zu langsam?” Er wirkte erschüttert, strich sich abwesend über den Unterarm.

“Nein, warst du nicht. Nur etwas anderes stärker.” Erst jetzt sah er zu seinem Sohn auf. “Wir dürfen sie nicht leiden lassen. Das hat unser Mädchen nicht verdient.” Das Gesicht des Jagdmeisters blieb starr, als er seinen Dolch zog. Kurz teilte er einen Blick mit seinem Sohn, bevor er sich wieder der verletzten Hündin widmete und sie noch einmal ausgiebig streichelte. “Eiskalter Herr, hart ist dein Weg, den du uns vorzeigst. Schwanengleiche, gnädig ist deine Erlösung.”

Dann fuhr die Klinge ins Fell des Tieres und mit einem letzten Fiepen starb die Hündin in den Armen ihres Rudelführers. Leodegar strich über den Kopf des nun leblosen Körpers, dann hob er sie auf und wendete sich zu seinem Sohn hin. “Nun wird sie wieder jagen, auf immer. Nimm sie mit nach Hause, dass deine Mutter trauern kann. Sie war ihr immer die liebste unter den dreien.”

Wulfhelm schluckte und etwas in seinem Blick brach. Er nickte einmal, fast unmerklich, und blinzelte langsam. “Firun befohlen”, murmelte er leise.

***

Freudlos ging Friedewald zu den aufgebahrten Schweineleibern und hob die Zweige der Beute seiner Jagdgruppe auf. Er brach dem Brauch folgend kleine Äste für sich und seine Gefährten Nivard und Borix ab und steckte den Rest in die Wunden der Tiere. Anschließend überreichte er den Gefährten, die neben ihm standen, wortlos ihren Anteil.

Schweigend nahm Borix den Zweig entgegen. War die Jagd auch erfolgreich gewesen, so hatte das nur durch einen hohen Verlust erreicht werden können. Konnte der Tod eines Menschen den möglichen Hungertod der Dorfbewohner aufwiegen?

Völlig freudlos ließ auch Nivard sich einen weiteren Zweig geben, noch immer schockiert, dass ein Jagdgefährte den Tod fand, noch während oder kurz bevor er mit Darian scherzend durch den Wald gestopft war. Auch wenn dem Ambelmunder Burgoffizier sehr wohl bewusst war, dass - wer sich in die Hand Firuns und damit in Gefahr begab - auch darin umkommen konte, machte ihn der Verlust betroffen. Das alles nur wegen ein paar Schweinen...

Schließlich blickte sich der Edle um. „Es sind mehr Tiere, als wir transportieren können. Wichtig ist, dass wir den Toten zu seinem Herren bringen. Zwei von uns sollten aus Ästen und Seilen eine Trage bauen. Die anderen könnten anfangen, die Beute aus dem Wald zur Straße zu bringen. Dort steht eine Schutzhütte, wo wir die Säue deponieren können. Später können sie mit einem Karren aus dem Dorf geholt werden. Und sollte der Sturm schlimmer werden, finden wir in der Hütte einen provisorischen Unterschlupf.“

„Wohlgeboren,“ mischte sich Leodegar ein, der merkte, dass sein Lehensherr dezent überfordert mit der Situation war. Vor allem, weil der erstarkende Wind den Regen immer heftiger auf sie herab drückte und nicht nur von oben, sondern nun auch von allen Seiten in die Gesichter spritzte. „Ich gebe euch Wulfhelm mit für den sicheren Rückweg ins Dorf.“ Dabei sah er zu seinem Sohn hin.

„Ich selbst werde mit seiner Gnaden von Albenholz und den Hunden hier bleiben und das Wild aufbrechen.“ Hier fasste der Blick des Jagdmeisters den Geweihten ein, der daraufhin zustimmend und stumm nickte.

„Geht Ihr mit Euren Gästen zurück, Wohlgeboren, und schickt beizeiten ein paar Männer mit einem Wagen. Bis dahin werden wir alles soweit vorbereitet haben.“ So der Jagdmeister mit Zuversicht - oder auch der Notwendigkeit geschuldet.

„Ja, danke, Leodegar!“ Friedewald nickte zustimmend. So klang es sinnvoll. So sollte er sein. „Wir gehen direkt ins Dorf. Wir machen nicht den Umweg über das Jagdschloss. Und wir nehmen ihn mit“, Friedewald deutete ausdruckslos auf Yendans Leichnam. “Sein Herr lagert vor dem Dorf auf den Wiesen. Er weiß, was mit dem Toten geschehen soll.“

Wulfhelm nickte ernst. “Ich finde das Dorf von hier. Verlasst euch auf mich”, versicherte er den Anwesenden, auch wenn seine Stimme mechanisch klang.

„Ich weiß, Wulfhelm. Ihr kennt die Wälder besser als ich selbst“, sprach der Edle seinem Untergebenen sanft Mut zu. Mit kräftiger Stimme versuchte Friedewald dann Entschlossenheit zu zeigen. „Gut, sobald die Trage fertig ist, brechen wir auf.“

Der meist gut gelaunte und zu Scherzen aufgelegte Sturmfelser war schweigsam und blass. Einmal mehr hatte sich gezeigt, dass eine Jagd eben nicht der Spaß war, den so mancher Adliger darin vermutete. Boron hatte einen aus der Mitte der Jagdgemeinschaft zu sich geholt. Und der Anblick des Mersingers nahm ihn mit. Diesen sonst so stolzen und ernsten Mann so … gebrochen zu sehen, war ungewohnt und irgendwie schmerzend.

“Ich will helfen, die Bahre zu bauen, und werde sie auch tragen”, sagte er.   


Drei Damen auf dem Weg ins Dorf

Nach langer Diskussion hatten es Ardare von Kaldenberg und die Gauklerin Doratrava endlich geschafft, die Firunnovizin Mika von Weissenquell davon zu überzeugen, ins Dorf Lützeltal zurückzukehren, damit diese sich ihre verletzte Hand vom Anconiter Gudekar von Weissenquell, Mikas Bruder, heilen lassen konnte. Der Sturkopf Mika stapfte nun fest entschlossen den Waldpfad in Richtung Süden entlang, gefolgt von der Baroness. Den Abschluss dieser Wandergruppe machte Doratrava. Der Regen prasselte unablässig auf die drei Frauen, und ein heftiger Travia-Sturm zog langsam auf. Die drei froren in ihren durchnässten Kleidern.

“Es wird wirklich Zeit, dass wir zurückkommen”, warf Mika ein, als wäre nicht sie es gewesen, die die Rückkehr so lange hinausgezögert hätte. “So zierliche Damen wie Ihr sollten sich bei solch einem Wetter wirklich nicht im Wald herumtreiben. Da muss man schon etwas aushalten können. Passt auf, dass ihr von keinem herabfallenden Ast erschlagen werdet! Seid froh, dass ich Euch führen kann.”

Bei diesen Worten schüttelte Doratrava lediglich stumm den Kopf, das konnte Mika aber nicht sehen, wenn sie sich nicht zufällig herumdrehte, da die Gauklerin ganz hinten lief und auch immer wieder mal selbst einen sichernden Blick zurück warf. Das Mädchen war ganz schön von sich eingenommen und schien trotz der Tatsache, dass sie nun schon seit Stunden im verregneten Wald unterwegs waren, ohne dass Doratrava geschmolzen war, immer noch der Meinung zu sein, sie wäre aus Zucker. Auch Arda schlug sich für eine Adlige bisher ganz gut. Fast schon schadenfroh erwartete sie eine mindestens spitze Bemerkung der vor ihr laufenden Frau.

Und die Baroness blieb Doratrava den Gefallen nicht lange schuldig. Als müssten sich nun alle Gedanken entladen, die sich gleich schweren Gewitterwolken in ihrem Geiste gesammelt hatten, fing Ardas Triade an, auf Mika herabzuregnen: “Soll ich nachschauen, ob sich eine der Laternenscherben in Euer Hirn gebohrt hat? Ihr habt wohl bereits vergessen, dass ‘die zierlichen Damen’ EURETWEGEN hier entlanglaufen. ‘Ein Ast auf uns herabfallen’? Wegen EURES Ungeschicks ist die Jagdgesellschaft dreier Teilnehmer verlustig gegangen. Und Euer Mentor hat beinahe seinen Jagdgefährten verloren, als dieser EUCH beschützt hat. Wenn einer der Teilnehmer dieser Jagd auf der Strecke bleibt, wenn Euer geliebter Rall nicht mehr aufsteht, dann tragt IHR die Schuld daran. Tolle Novizin des Jagdgottes! Na, ist Euch immer noch zum Scherzen zumute? Anstatt also frech oder anmaßend zu werden, solltet Ihr die Zeit hier im Wald zur Kontemplation nutzen. Wie würde der Gott, dem Ihr Euer Leben weihen wollt, über Euer Verhalten urteilen? Seid so verantwortungslos Euch selbst gegenüber, wie es Euch beliebt. ‘Wäh, ist doch nur ein Kratzer!’” Dafür, dass Arda keine Schaustellerin war, konnte sie Mika in Stimme und Körpersprache verblüffend gut imitieren, als sie theatralisch (und überhaupt nicht einer Hochadeligen würdig) mit ihrer Hand herumwedelte. “Doch sobald Eure Verantwortungslosigkeit bittere Folgen für andere hat, sollte Euch das aufhorchen lassen. DAS ist der Grund, warum Firun keine Schwächen seiner Gefolgsleute duldet. Und kommt mir nicht mit ‘Wie könnt Ihr es wagen…’! ICH kenne mein Brevier der Zwölfgöttlichen Unterweisungen, IHR hingegen seid gerade mal eine Aspirantin auf die Götterweihe, eine Novizin des Firun, die anscheinend nicht mal weiß, für welche Werte ihr Gott steht!” Die Kaldenbergerin hatte sich - wieder mal - in Rage geredet. Eine steile Falte stand auf ihrer Stirn. Es tat gut, sich ausgesprochen zu haben. Die Spannung, die sich unbemerkt in ihren Schultern gebildet hatte, löste sich. Keine Frage, sie hatte ein wenig über die Strenge geschlagen, gestand sie sich selbst - aber sicherlich niemand anderem! - unwillig ein.

Mika blieb stehen und schaute Arda unverwandt an. „Firun stellt mich auf die Probe“, sagte sie ohne jegliche Gefühlsregung. Weder Arda noch Doratrava konnten sagen, ob Mika die Handverletzung oder ihre Begleitung als göttliche Probe ansah. „Firun weiß, warum er mich auf diesen Weg schickt. Doch es war Eure Entscheidung, mich zu begleiten. Alternativ hättet ihr durchaus weiter bei diesem Unwetter im Wald stehen bleiben können. An der Jagd habt ihr Euch ja bisher eh nicht aktiv beteiligt. Ihr habt aber meine Frage von vorhin noch nicht beantwortet: Warum tragt Ihr so viel Zorn in Euch?“

Zwar war genau das passiert, was Doratrava erwartet hatte, aber Arda vergriff sich mal wieder wie immer im Ton. Nun, ja, auch das hatte die Gauklerin eigentlich erwartet. Andererseits hatte das freche Gör von Firunnovizin wahrscheinlich nichts anderes verdient.

Allerdings war Doratrava durchaus überrascht, als diese die Angriffe so einfach an sich abperlen ließ. Sie beschloss, sich weiterhin nicht einzumischen, sondern lieber weiter auf die Umgebung zu achten, wenn es die beiden anderen schon nicht taten.

“Warum ICH… Zorn?” schnappte Arda. “Wo ich doch froh sein sollte, Teil Eurer göttlichen Probe sein zu dürfen! Mich und meine Hündin opfern zu dürfen, damit IHR etwas dabei lernen könnt!” Die Baroness schüttelte ungläubig den Kopf. “Ihr scheint eine sehr hohe Meinung von Euch zu haben, oh Liebling Alverans! Als ob die Götter solch ein Aufhebens um ein dummes Hühnchen wie Euch machen würden!” Wieder bildete sich diese steile Falte auf der hohen Stirn der Kaldenbergerin: “IHR stellt meine GEDULD auf die Probe! Geht nun weiter, bevor Ihr den Herrn Firun mit Eurem Geseiere zum Lachen bringt!”

„Ihr tragt wahrlich keine Liebe in Eurem Herzen, und ich habe das Gefühl, ihr wollt das auch nicht. Schade, ich glaube, ansonsten könntet Ihr eine wirklich nette Person sein.“ Mika drehte sich weg und nahm ihren Weg zum Dorf wieder auf.

Zumindest lässt sie sich nicht provozieren, dachte Doratrava bei sich, während sie wieder einmal nach hinten blickte. Sie war sich nicht sicher, ob sie in der gleichen Lage so ruhig geblieben wäre. Eher nicht, so, wie sie sich kannte.

Dieses dumme Hühnchen kann unmöglich wissen, was ich in meinem Herzen trage, dachte sich Arda, atmete tief durch und verkniff sich ihren Kommentar. Wie so oft, nachdem sie sich aufgeregt und gestritten hatte, ergriff auch jetzt eine schwere Melancholie, gepaart mit einer geistigen Müdigkeit, einer Leere, ihr Gemüt. Sie war froh, dass die Novizin sich nicht umdrehte, dass Doratrava nur ihren Rücken sehen konnte, und dass der Regen auf ihrem Gesicht die verräterischen Spuren der Tränen verwischte.


***

Mika führte die kleine Gruppe auf verschlungenen Pfaden durch den Wald. Zwischenzeitlich fürchteten Arda und Doratrava, Mika hätte sich verlaufen, doch schließlich, nach gefühlt endloser Zeit, öffnete sich der Wald und sie trafen auf den Weg, die von Lützeltal gen Firun über Hart nach Unkenau führte. Wortlos folgte Mika dem Weg in Richtung des Dorfes. Kräftig wehte der Wind den drei Frauen um die Ohren und ließ sie in ihren nassen Mänteln frieren. Hier, auf offener Wiese, pfiff der nasse Wind noch einmal heftiger als im Unterholz des geschützten Waldes. Als die drei die ersten Bäume der Streuobstwiesen vor dem Dorf erreichten, blieb Mika stehen und schaute zu ihren beiden Begleiterinnen.

“Ich möchte Euch danken, was Ihr für mich getan habt! Ich verdanke Euch mein Leben. Es tut mir leid, dass Ihr aufgrund meines Missgeschicks die Jagd versäumt habt.” Mika wandte sich nun Arda zu und ergriff mit ihrer Rechten Ardas Hände. “Ich hoffe, Eurem Gefährten, Tharga geht es gut!” Die Novizin drehte sich dem Dorf zu und nahm den Weg wieder auf.

Sie war ein Dickkopf, ohja, aber nun doch froh, dass sie den Wald hinter sich lassen konnten, da der Schmerz in ihrer verletzten Hand nun langsam unerträglich wurde und sie ihn bald nicht mehr ohne weiteres vor den anderen beiden ignorieren können würde.

Doratrava war nicht sehr nach Sprechen zumute, daher hatte sie zu Mikas Dank nur genickt. Sie wurde nicht wirklich schlau aus der jungen Frau, die mit nichts erkennen ließ, dass sie mit Arda Streit gehabt hatte. Wobei … eigentlich hatte Arda nur mit ihr Streit gehabt, Mika war ja gar nicht darauf eingegangen. Die Gauklerin war schon ein wenig neugierig, ob Mika denn gar keinen Groll gegenüber Arda fühlte oder das nur gut verbarg. Aber fragen wollte sie danach nicht, zumindest nicht jetzt.

Zur Jagd zurückzugehen wäre sicherlich sinnlos. Sie beschloss daher, ihre Unterkunft aufzusuchen und irgendwie ein Bad zu organisieren, das war etwas, das sie jetzt wahrlich brauchen konnte. Allerdings musste sie bis zu dem “Jagdschloss” noch eine halbe Stunde weiter durch dieses Sauwetter laufen, wozu sie jetzt nicht mehr wirklich viel Lust hatte. Vielleicht war es ja auch möglich, im Dorf ein Bad zu bekommen. Für den Moment folgte sie Mika daher, mit einem wortlosen Seitenblick zu Arda. Was diese tat, war ihr egal.

Trotz der Schmerzen in ihrer Hand, riss sich Mika zusammen und ließ sich nichts anmerken. Sie war froh, bald das Dorf zu erreichen. Gudekar könnte sich dann um die Wunde kümmern. Aber bis dahin würde sie sich vor den beiden Begleiterinnen – insbesondere vor der kaltherzigen Baroness – keine Blöße geben.

“Mika!” Arda stand noch immer und sprach die sich entfernende Firunnovizin an. “Frau von Weissenquell!”, korrigierte sie sich sofort. Ihre Stimme hatte die Härte von vorher verloren.

Sie wartete, bis die Angesprochene sich umdrehte, hob an zu sprechen und überlegte es sich dann anders. Um die entstehende Lücke zu füllen, sagte sie: “Tharga geht es gut.” Sie atmete einmal tief durch, und dann sagte sie unvermittelt: “Wisst Ihr, ich war auch mal eine Novizin.”

Mika war froh, dass die Baroness eine Reaktion zeigte und blieb sofort stehen, um sich zu ihr zu drehen, als sie angesprochen wurde. Mika lächelte, so gut die die Schmerzen dies zuließen. „Mika ist schon richtig, Euer Wohlgeboren. Ich hoffe sehr, dass Ihr wegen Tharga recht habt.“ Für Mika war es klar, dass Arda hier ihre tiefste Hoffnung ausdrückte, denn woher sollte Arda über den Zustand ihres Hundes Bescheid wissen? „Ihr wart eine Novizin?“ fragte Mika neugierig. „Welchem Gott wolltet Ihr dienen. Und was hat Euch letztlich davon abgehalten?“

Die Baroness blickte kurz zurück zu Doratrava. Sie mochte es eigentlich gar nicht, Persönliches preiszugeben. Sie seufzte. “Ich bin auf Burg Rhodenstein in Weiden geboren und aufgewachsen. Meine Eltern haben der Rondra ihr Leben geweiht und ich sollte in ihre Fußstapfen treten.” Dann zuckte sie mit den Achseln und lächelte traurig. Man sah ihr an, dass es ihr schwer fiel weiterzusprechen. Sie schickte sich an weiterzugehen.

Doratrava behielt ihren ausdruckslosen Gesichtsausdruck bei, auch wenn Arda nun fast Anstalten machte, aufzutauen, was sie in keinster Weise erwartet hatte. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass es nur der kleinsten Störung bedurfte, um die Adlige wieder in die üblichen Muster zurückfallen zu lassen. Daher überließ sie das Gespräch Mika - wenn Arda es denn weiterführen wollte. Sie selbst folgte den beiden lediglich, fast wie ein stummer Schatten, der sich jederzeit auflösen konnte.

Mika nickte verstehend. „Manchmal sehen Eltern nicht, oder erst sehr spät, welchen Weg die Götter für ihre Kinder vorgesehen haben.“ Mika sprach aus eigener Erfahrung. Mika nahm den Weg ins Dorf wieder auf, lief aber neben der Baroness her, jetzt, da der Weg breiter war als im Wald. „Doch ist es gut, wenn Ihr letztlich Euren Weg gefunden habt. Peraine muss dankbar sein, dass ihr letzten Endes ihrem Ruf gefolgt seid.“

Die Baroness lächelte gequält. Sie hatte das Gespräch mit der Absicht aufgenommen, der jungen Novizin wertvollen Lebensrat zu erteilen - und prompt hatte Mika die Rollen vertauscht und versuchte sich nun ihrerseits als Seelsorgerin. Hinzu kam, dass das Mädchen sämtliche ihrer Aussagen anders interpretiert hatte, als sie von Arda gemeint waren.

“Was ich zu sagen versuchte… Ich weiß ein wenig über Proben, die Götter - oder Fatas, wie ihr wollt - einem vielleicht tatsächlich, vielleicht auch nur vermeintlich auferlegen. Wenn Ihr Euch die Handsehnen zerschneidet und Euer Bruder, der glücklicherweise Heilmagier ist, gleich im Dorfe nebenan weilt, und Ihr das meinetwegen als göttliche Probe interpretieren wollt… Dann, um der Zwölfe willen, macht es Euch nicht zu schwer und lasst Euch gleich helfen. Und dankt meinetwegen Eurem Gott für diese einfache Probe. Und hofft - HOFFT! - darauf, dass Euch jene Probe erspart bleibt, an der Ihr scheitert.” Die Worte der Baroness waren sanft, aber eindringlich gesprochen. Bei den letzten Worten war sie stehen geblieben und hatte die Novizin bei den Schultern gefasst. Ihre klaren, schönen grauen Augen hielten Mikas Blick.

Mika hob ihre verletzte Hand und betrachtete diese eindringlich. Lange hatte sie die Schmerzen, die die Wunde verursachte, ignoriert. Sie war sich sicher gewesen, dass der Herr von Tannenfels sein Handwerk verstand und sie bestmöglich für den Tag versorgt hatte. Sie war sich sicher gewesen, solange, bis Arda kam und sich die Hand betrachtet hatte. Arda schien vom Fach zu sein. Auch wenn sie vor Ort nicht helfen konnte, machte sie den Eindruck, sie wüsste, wovon sie sprach. Das machte Mika Angst, doch dieser Angst wollte sie keinen Raum lassen. “Wenn Firun möchte, dass ich eine gute Jägerin werde, wird er nicht zulassen, dass…”, sie wollte es nicht aussprechen. “Und wenn Firun mir die Hand nehmen möchte, dann wird auch Gudekar das nicht verhindern können. Und dann werde ich ihm beweisen, dass ich eine würdige Schülerin bin und dennoch einen Weg finden, ihm zu dienen!”

Doratrava verdrehte hinter den beiden die Augen und musste an sich halten, weiterhin stumm zu bleiben. Immer waren es die Götter, die für alles verantwortlich waren und alles richten oder zulassen oder verhindern sollten! Wie einfach es doch war, sich auf diese Weise aus der eigenen Verantwortung zu schleichen. Aber die Gauklerin biss die Zähne zusammen und sagte nichts.

Mika schaute zu Arda hoch. Ihre Augen wirkten nicht so sicher, wie ihre Worte vermuten ließen. Schüchtern fragte sie: “Meint Ihr… meint Ihr, ich könnte meine Finger wahrlich verlieren?”

“Sagen wir es so - Ihr könnt Euch glücklich schätzen, dass Euer Bruder ein Heilmagier und in Eurer Nähe ist.” Das Gemüt der Baroness war kurz davor gewesen, wieder hochzukochen, doch dann erkannte sie, dass die Selbstsicherheit des Mädchens nur eine Maske war. “Wenn mich meine Kenntnisse des Zwölfgöttlichen Breviers nicht trügen, ist der Herr Firun nicht bekannt dafür, seinen Dienern gebratene Tauben in den offenen Mund fliegen zu lassen. Es sind schon Eure beiden Füße, die Ihr bemühen müsst, um Eure Verletzung zu Eurem Bruder zu bringen. Der Gott der Jagd wird es nicht für Euch tun.” Arda löste ihre Hand von den Schultern der Novizin und klopfte ihr aufmunternd auf den Rücken, als sie den Weg wieder aufnahm. “Meine Überzeugung ist, dass Euer Bruder Eure Hand heilen wird. Und wenn Ihr aufhört Dummheiten zu begehen, werdet Ihr eines Tages eine Firunpriesterin mit zwei gesunden Händen sein.” Ardas Augen tanzten schalkhaft, was die Ausstrahlung der ohnehin sehr schönen Frau enorm erhöhte.

“Aber… aber, ich musste seiner Gnaden Firumar doch Bescheid geben, dass ich meine Aufgabe nicht weiter erfüllen konnte.” Nun konnte sich Mika nicht mehr zusammenreißen und Tränen sammelten sich in ihren Augen, rannen die Wangen hinunter, wo sie sich mit den Regentropfen vermischten. “Ich konnte doch nicht heulend und zeternd wie eine Kammerzofe bei dem kleinsten Missgeschick nach Hause rennen. Firun verzeiht doch auch keine Schwäche. Ich musste ihn finden!”

Wieder drängte es Doratrava, etwas zu sagen. Wenn der Geweihte seine Novizin kannte und in irgendeiner Weise wertschätzte, dann hätte er sich bei ihrem Ausbleiben sicher denken könnten, dass etwas Schlimmes passiert war, was ihre Handlung rechtfertigte. Also hatte Mika entweder kein Vertrauen in die Urteilskraft des Geweihten - oder in sich selbst. Aber erneut biss sie die Zähne zusammen und sagte nichts.

“Und Ihr habt anscheinend noch nicht gewusst, welcher Art die Verletzung war, bis ich es Euch sagte”, bestätigte Arda die Novizin, die sich bestätigt fühlte und mit dem Kopf nickte. “Aber dann… nun, wir sind alle froh, dass Ihr letztlich die richtige Entscheidung gefällt habt.” Die Baroness drehte sich zu Doratrava um und warf ihr mit einem nach oben gezogenen Mundwinkel einen vielbedeutenden Blick zu.

Überrascht, dass Arda Notiz von ihr nahm, zuckte Doratrava erst die Schultern, aber dann huschte doch der Schatten eines Lächelns über ihr Gesicht, bevor es wieder in marmorhafte Starre verfiel.

“Ich werde Eurem Bruder gleich mitteilen, was ich an der Wunde beobachtet habe. Danach kann er sich ein eigenes Bild machen.”

Sie griff nach ihrer Kapuze, um diese auszuschütteln und dann - ungeachtet des verbliebenen Wassers, das unweigerlich in ihren Nacken tropfen würde - doch wieder aufzusetzen. Der Wind war stärker geworden und pfiff unangenehm durch die Bäume hindurch.

“Es pocht jetzt ziemlich, der Schmerz - oder?”

“Ja, ein wenig”, musste Mika zugeben, ohne sich die Blöße geben zu wollen, ihre wahre Pein offenzulegen.

“Schaut, ob Ihr den Verband etwas lösen könnt.” schlug sie vor. Dann winkelte sie mehrfach den linken Arm an und streckte ihn wieder. “Seht, meinen Arm.” An der vom Ärmel des Ledermantels bedeckten Gliedmaße war nichts Ungewöhnliches zu sehen. “Mir wurde vor einigen Jahren der Ellenbogen zerschlagen. Das Gelenk - es war völlig zersplittert. Ich drohte den Arm zu verlieren.” Sie zuckte mit den Achseln. “Magie”, war das einzige Wort, das sie zur Erklärung anbot. Offensichtlich, um Mika Hoffnung zu machen, die daraufhin ein gequältes Lächeln von sich gab.

Nun war Doratravas sowieso nicht sonderlich ausgeprägte Selbstbeherrschung erschöpft und ihre Neugier gewann die Oberhand, zumal Arda ungewöhnlich redselig zu sein schien. “Wie ist das passiert?”, fragte sie von hinten. “Also das mit dem Ellenbogen?”

“Hm.” begann die Kaldenbergerin. Sie wirkte etwas verlegen. “Ein… Haus ist auf mich herabgestürzt.”

Doratrava konnte nicht verhindern, dass sie die Augen aufriss, wobei sie gleichzeitig nicht wusste, ob Arda das ernst meinte. “Ein HAUS?”, rief sie aus. “Wie meinst du das?”

Fast synchron mit Doratrava fragte auch Mika überrascht: “Ein Haus?”.

Die Baroness machte nicht den Eindruck, als würde sie scherzen. Doch abgeklärt war sie ebenfalls nicht. Eher schien sie Schwierigkeiten zu haben, die Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit in Worte zu fassen, jedenfalls suchte sie nach den richtigen Worten: “Es… man könnte sagen, es war Glück im Unglück. Wäre das Haus nicht auf mich draufgefallen, wäre ich jetzt tot.”

Jetzt war Doratravas Neugier erst recht angestachelt worden, und ihr Gesicht verlor die marmorne Starre und wurde lebhafter. “Jetzt sag schon, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen”, sprach sie Arda fast schon freundlich an. “Wie kann es jemandem vom Tod retten, wenn ein Haus auf einen fällt?”

Das wollte Mika auch gern wissen und schaute Arda fragend an.

"Weil… weil dann die anderen Häuser nicht mehr auf mich drauf fallen konnten. Und mein Arm war eingeklemmt, ich konnte nicht in den Abgrund fallen, als der Boden… sich öffnete, um alles zu verschlucken." Arda klang so, als müsste sie sich das Geschehene selbst erklären, als lägen die Ereignisse in ihren Erinnerungen hinter einem Nebel.

Sie erkannte an den Gesichtern ihrer Begleiterinnen, dass sie aus dem Erzählten nicht schlau wurden. Nach kurzem Nachdenken präzisierte sie daher: “Die Trümmer bildeten eine Höhle um mich herum. Nur mein Arm war eingeklemmt. Zum Glück. Denn dann sackte der Boden unter meinen Füßen weg. Da hing ich dann… mit eigener Kraft hätte ich mich nicht halten können. Nicht SO lange.”

“Das muss ja schrecklich gewesen sein!” stieß Mika mitfühlend aus. Gerne hätte sie die Hintergründe erfahren, wann und wo das passiert war und was es mit dem sich auftuenden Erdboden auf sich hatte. Aber sie hatte das Gefühl, falls Arda das erzählen wollte, würde es jetzt von selbst aus ihr herauskommen. Und wenn nicht, würde ein Nachbohren auch nicht helfen. Mitfühlend versuchte Mika ihre rechte Hand auf Ardas Schulter zu legen, um diese tröstend zu streicheln.

Doratrava hingegen kannte diese Zurückhaltung nicht, zumindest nicht jetzt. “Wo war das denn? War das ein Erdbeben? Warst du da allein? Und wer hat dich gerettet?”, schoss sie eine Frage nach der anderen ab.

Es schien zunächst, als hätte Arda sie nicht gehört. Sie schritt voran, als sei sie ganz auf den Weg konzentriert. Dann sagte sie unvermittelt: “Arivor. Ich war in Arivor.”

“Arivor?” Doratrava runzelte die Stirn. Dort war sie noch nicht gewesen, aber natürlich hatte selbst sie von dem verheerenden Sternenfall dort gehört. “Aber du redest nicht gern darüber, hm?”

Mika, der dieser Ort nichts sagte, war neugierig, die Geschichte zu hören. Sie liebte Heldengeschichten. Eine aus erster Hand zu hören, war nicht alltäglich für sie. Außerdem lenkte sie das Zuhören von den Schmerzen in der Hand ab.

“Offen gestanden kann ich mich nicht… Nein. Ich erinnere mich an alles. Aber ich kann es nicht…” Die Baroness rang nach den richtigen Worten, als sie Doratrava antwortete. “Zum Beispiel mein Arm: Ich weiß, dass ich niederhöllische Schmerzen hatte. Aber ich weiß nicht mehr, wie genau es sich anfühlte. Es sind viele Leute gestorben damals, auch Leute, die mir sehr am Herzen lagen, sehr viel bedeuteten. Meine Mentorin.” Nach einer kurzen Pause sagte sie mit einem schiefen Lächeln in Richtung Mika: “Jetzt wisst, Ihr, was ich damit meinte, als ich sagte, ich wüsste ein bisschen etwas über göttliche Proben…”

Doratrava schüttelte den Kopf. “Ähm .. ich verstehe kein Wort”, gab sie zu. Natürlich verstand sie Ardas Worte, aber sie ergaben keinen rechten Sinn für sie. “Wie bist du da herausgekommen? Wer hat dich gerettet?”, fragte sie daher erneut.

“Die Erde hat nochmals gebebt, oder… Wie auch immer, die Trümmer sind nochmals verrutscht, und ich konnte… Naja, teils bin ich gerutscht, teils geklettert, teils gefallen. Unter der Stadt gibt es - oder gab, was weiß ich - eine große Nekropole, die war aufgebrochen, durch den Sternenfall. Ich bin in einen Gang gekrochen und habe einen Weg nach oben gefunden.” erklärte Arda. “Eine Bekannte meiner Mentorin, die außerhalb der Stadt wohnte, hat mich dann mit einem Vinsalter Heilmagier in Kontakt gebracht.” Das zuletzt Gesagte war eine Lüge, daher ging die Baroness leichtfüßig über diesen Teil hinweg. “Um Deine Frage zu beantworten: Keiner hat mir geholfen.” Und mit Nachdruck fügte sie hinzu: “Niemand.”

Mika staunte über diese Geschichte und bewunderte Arda für ihren Mut. Da wollte sie nun wirklich nicht weiter über diese harmlose Handverletzung jammern.

Erstaunlich, da hatte diese oft so hochnäsig daherkommende Adlige doch auch schon Einiges mitgemacht und konnte wohl von Glück reden, hier noch zu stehen und ihnen das zu erzählen. Gegen Ende schien sie sich aber langsam wieder darauf zu besinnen, dass sie sich normalerweise lieber abweisend gab - oder wollte sie damit etwas übertünchen, etwas verbergen? Die Gauklerin hielt das nicht für unwahrscheinlich, hielt es aber für besser, nicht direkt danach zu fragen. “Niemand? Du klingst … bitter, so, wie du das sagst”, sagte sie stattdessen.

“Es ist nicht schön, allein zu sein auf der Welt.” antwortete Arda schlicht und klang dabei traurig. “Nicht zu wissen, wo man hingehört.” Sie blickte zuerst zu Mika, dann zu Doratrava, und ergänzte mit einem ironischen Lächeln: “Ich wünsche Euch sehr, dass Ihr KEINE Ahnung davon habt, worüber ich gerade rede.”

“Nun, du hattest wenigstens Eltern, die sich um dich gekümmert haben”, gab Doratrava zurück, schroffer als beabsichtigt, was sie sogleich bereute. “Hm, tut mir leid. Aber doch, leider habe ich Ahnung davon, worüber du geredet hast. Aber hast du nicht noch Familie, Freunde?” Nach kurzem Zögern setzte Doratrava, nun selbst ironisch, hinzu: “Wobei du es einem durchaus nicht leicht machst, deine Freundin zu werden, weißt du.”

“Halt, halt, halt, Doratrava!” Mika hatte wirklich keine Ahnung, wie es wohl wäre, keine Familie zu haben, nicht zu wissen, wo man hingehörte. Sie hatte eine Familie, wenn auch ihre Mutter kurz nach ihrer Geburt gestorben war. Eine Familie, die immer für einander da war, die stets zusammenhielt, komme, was da wolle. Sie waren schließlich die Weissenquells! Und Mika wusste auch, wo sie hingehörte. In den Wald, in die Natur. An die Seite seiner Gnaden, dem sie noch eine lange Zeit zu folgen hatte, bis sie bereit war, die Weihe zu erlangen und dann ihren eigenen Weg zu gehen. Nein, sie konnte nicht nachvollziehen, wie sich die beiden anderen Frauen fühlen mussten. Aber sie spürte, glaubte es, war sich sicher, dass die Baroness genauso wie die Gauklerin sich dieselbe Geborgenheit wünschten, sich ersehnten, die Mika ihr eigen nennen konnte. “Ihr seid keineswegs besser als die Baroness, wenn es darum geht, die eigene Seele vor anderen zu verschließen! Ihr solltet ihr dies nicht vorwerfen. Aber Ihr habt schon Recht. Wenn man Freunde und Familie finden will, darf man sich nicht vor den Menschen verschließen. Wisst Ihr, Ihr seid in Lützeltal immer willkommen, wenn Ihr einmal einsam seid. Im Haus meines Vaters gibt es für einsame Freunde immer ein wärmendes Feuer.” Mika lächelte die beiden Frauen an.  

Doratrava runzelte die Stirn bei Mikas Vorwurf. Erst wollte sie impulsiv antworten, konnte sich dann aber doch noch im Zaum halten. “Hm, mag schon sein, dass ich nicht gleich jedem und jeder das Innerste meiner Seele ausschütte, wer tut das schon”, gab sie dann halbwegs ruhig zurück. “Aber ich baue auch keine Mauern um mich auf, indem ich versuche, möglichst verletzend zu wirken.” Sie warf Arda einen halb entschuldigenden Blick zu. Die Adlige war ihr bis zum heutigen Tag genau so vorgekommen, kalt, abweisend und verletzend jedem gegenüber, der nicht ihrem Stand entsprach und auch einigen gegenüber, die es taten. Aber seit sie von Arivor erzählt hatte … war sie irgendwie anders. Wenn es anhielt.

“Aber danke für das Angebot”, fuhr sie in versöhnlicherem Tonfall fort und lächelte ansatzweise zurück.

Die Baroness winkte mit einem müden Lächeln ab. “Wenn Ihr es genau wissen wollt: Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Er starb vor meiner Geburt, für Rondra und das Reich! Meine Mutter folgte ihm, da war ich fünf. Mein Bruder kehrte nicht mehr von einer Patrouille gegen die Orks zurück, da war ich 11. Meine Mentorin - eine Ersatzmutter für mich - starb in Arivor, da war ich 17. Zu meiner Überraschung nahm mich mein Oheim auf, den ich nicht kannte, doch er - und meine Base, und ihre drei Kinder - starben, da war ich 20 Jahre alt.” Trocken schob sie in Richtung Doratrava nach: “Täusche ich mich, oder wart Ihr nicht auch Gast auf jener Hochzeit?” Bitter, beinahe böse, lachte sie auf. “Jetzt zähle ich 24 Sommer, und es ist angenehm ruhig geworden die letzten Jahre… Die Moral von der Geschicht’ - Wem ich meine Seele öffne, den verliere ich. Wer mir etwas bedeutet, der stirbt!” Arda ätzte hinterher: “Na? Wer möchte noch immer meine Freundin sein?”

“Menschen sterben nun einmal. Das ist der Lauf der Dinge, die die Götter für uns vorgesehen haben. Ich glaube nicht, dass es irgend einen Makel an Eurer Seele gibt, der den Tod anzieht. Meine Mutter ist gestorben, da war ich noch ein Säugling. Ich habe gar keine Erinnerung an sie. Und meine älteste Schwester war schon lange fort, als ich geboren wurde.” Mika schaute traurig. Sie hätte Joleante, deren Namen sie als zweiten Vornamen trug, so gerne einmal kennengelernt. “Aber wir können uns doch deswegen nicht von allen anderen Menschen abkapseln.” Mika schwieg eine Weile und lief mit gesenktem Blick weiter. Als die Stille unerträglich zu werden drohte, hob sie den Kopf und blickte zu Arda. Ganz leise sagte sie: “Ich glaube, ich wäre gerne Eure Freundin.” Sie hatte feuchte Augen.

Auch Doratrava hatte eine Weile geschwiegen nach diesen unerwarteten Eröffnungen Ardas. Irgendwie fühlte sie sich verpflichtet, nun auch etwas von sich zu erzählen. “Meine leiblichen Eltern kenne ich nicht. Entweder wollten sie mich nicht, oder es ist ihnen etwas Schlimmes passiert oder was weiß ich, ich wurde als Säugling auf den Treppen eines Traviatempels abgelegt und von dem Tempelpaar aufgezogen, bis ich acht war. Dann habe ich es in diesem orangefarbenen Käfig nicht mehr ausgehalten und bin abgehauen, als eine Gauklertruppe durch das Dorf kam. Und so wurde ich Gauklerin. Aber in der Tat, so viele Menschen wie du, Arda, habe ich nicht verloren. Ob ich eine echte Familie mit Geschwistern und allem habe, weiß ich nicht, und nach so langer Zeit wäre es wohl auch kaum mehr meine Familie. Aber ich habe gelernt, damit zu leben und immer nach vorne zu schauen. Das Einzige, was mir immer noch nach und nahe geht, ist die erzkonservative, verklemmte Erziehung durch die Traviageweihten, die mir einen Teil meiner Jugend gestohlen haben, weit über mein achtes Lebensjahr hinaus.” Hier musste Doratrava innehalten und atmete scharf ein, denn auch ihr drohten die Tränen zu kommen, allerdings die des Zorns und der Verbitterung. “Es hat lange gedauert, bis ich mich … körperlicher Liebe hingeben konnte, und die Umstände beim ersten Mal waren auch nicht schön und nichts, woran ich gerne zurückdenke. Und nun … sterben die Leute zwar nicht, in die ich mich verliebe, aber ich scheine nicht fähig zu sein, sie länger als ein paar Tage an mich zu binden.” Die Gauklerin schluckte, blinzelte und musste wegsehen. Aus einem ihr nicht erklärlichen Grund hatte sie sich hinreißen lassen, viel mehr zu sagen, als sie eigentlich wollte. Mika kannte sie kaum und Arda war zumindest bisher alles andere gewesen als ihre Freundin - was vielleicht, in Anspielung auf ihre letzte Bemerkung, ganz gut war, wie sie in einem kurzen Aufflackern von Ironie bei sich dachte. Dann war sie damit beschäftigt, ihre Selbstbeherrschung zu wahren und traute sich nicht, die anderen anzusehen.

“Ihr solltet nicht so arg über die Geweihten der guten Mutter urteilen”, belehrte Mika, wieder in ihren vorlauten Ton zurückfallend. “Sie sind gute Menschen, die sich um Euch gesorgt haben und nur Euer Bestes wollen. Wusstet Ihr, dass Merle, also die Frau von meinem Bruder, auch im Waisenhaus der Traviakirche aufgewachsen ist? In Albenhus. Und sie ist darüber sehr glücklich. Dort hat Gudekar sie auch kennengelernt, als er dort immer nach den kranken Kindern geschaut hat.”

“Nun, da wir alle Geheimnisse voneinander kennen, müssen wir uns von nun an vor dem Schlafen gehen gegenseitig die Haare kämmen und uns dabei erzählen, in wen wir uns auf dem Dorfplatz verguckt haben?”, spottete Arda. Einem Impuls folgend, ließ sie den Speer fallen, den sie noch in der Hand trug. Dann legte sie einen Arm um Mikas Schultern, zog deren Kopf in einer rauen, aber herzlichen Geste an sich und gab ihr einen Kuss auf den nassen Scheitel. “Eine von uns beiden wird das noch bereuen”, orakelte sie. Dann, noch immer Mikas Kopf haltend und an sich drückend, bot sie Doratrava die andere Hand an.

Noch während sie der Gauklerin die Hand hinstreckte, sprach sie scherzhaft zu Mika: “Kleine Freundin - wenn Du mich nochmal zu belehren versuchst, reiße ich Dir den Kopf herunter. Meine Freundin darfst Du sein, wenn Du es unbedingt magst, meine Beichtmutter nicht!”

Erst sehr verspätet kam Doratrava in den Sinn, dass Arda von der Hochzeit in Hlûtharsruh gesprochen haben musste, dem ersten Fest, wo sie, Doratrava, vor Adligen hatte auftreten dürfen, und das mit überwältigendem Erfolg. Und nur einer extrem mysteriösen Warnung war es zu verdanken, dass sie dort nicht wie so viele andere Auge in Auge mit Vampiren hatte kämpfen müssen. Aber sie sagte jetzt nichts weiter dazu, sondern nahm nach kurzem Zögern Ardas Hand und legte die andere ebenfalls auf Mikas Schulter. “Meine Haare kämme ich lieber selbst und in wen ich mich vergucke, geht euch nichts an.” Und speziell an Mika gewandt fügte sie hinzu: “Den Kopf reiße ich dir zwar nicht herunter, wenn du mich wieder zu belehren versuchst, aber vielleicht strecke ich dir die Zunge heraus!”

Nun musste Mika lachen. “Das kann ich auch!” sagte sie gespielt patzig, zog die Nase hoch und zeigte Doratrava, dass sie nicht log. Mika war nun ein wenig stolz auf sich, mit ihren vielen Fragen doch noch die Seelen der beiden Frauen berührt zu haben. Sie hatte die beiden also doch richtig eingeschätzt.

Kurz war Doratrava versucht, es Mika gleichzutun, aber sie beherrschte sich und lächelte nur. “Na komm, jetzt aber los, damit Gudekar sich endlich deine Hand ansehen kann. Außerdem will ich irgendwann wieder trocken werden, vorzugsweise heute noch. Oder zumindest wärmeres Wasser haben. Du doch auch, Arda?”

“Und Du, Doratrava: Bitte ‘Ihr’ und ‘Euer Wohlgeboren’, spar’ bitte das vertrauliche Du für die Momente auf, in denen wir nicht in Gesellschaft sind. Sonst fangen am Schluss alle an mich zu duzen und es wird noch viel schwieriger eine Dame von Stand zu sein, als es ohnehin schon ist.” Die Baroness hatte Mika aus dem festen Griff entlassen, und so die Möglichkeit gegeben, sich ganz aus ihrer Umarmung zu lösen, wenn sie denn wollte. Arda hoffte, dass Mika das Gesagte auch auf sich bezog.

Mika löste sich jedoch nicht sofort aus Ardas Umarmung. Nach dem langen Jahr der Entbehrungen in Firumars Obhut war menschliche Wärme das, was ihr am meisten fehlte. Und Ardas Wunsch, da war sich Mika sicher, würde sie respektieren.

Aha, so ganz konnte Arda wohl doch nicht aus ihrer Haut. “Ja ja, schon gut”, gab Doratrava etwas unwirsch zurück. “Gerade sind wir ja nicht ‘in Gesellschaft’, oder? Und nachher im Dorf werde ich mich bemühen.” Aber nichts versprechen, setzte sie in Gedanken hinzu, da sie sich kannte.

***

Als die drei Frauen ihren Weg zum Dorf fortsetzten, kamen sie bald an die Wiese, auf der einige der Gäste und die meisten auswärtigen Händler des Marktes ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Der Sturm, der inzwischen aufgezogen war, zerrte an den Zeltplanen und hatte diese nicht nur bei einem Zelt von den Stangen gerissen. Die Planen schlugen mit lautem Knallen im Wind hin und her und die Enden der Seile, die sich einseitig selbst gelöst hatten, peitschten durch die Luft. Etliche Bewohner der Zeltstadt – Knappen und Herolde der Ritter, fahrende Händler, deren Geschäfte ins Wasser gefallen waren, und die Musiker, die am Abend zum Tanz spielen sollten – versuchten zu retten, was im Lager zu retten war. Unterstützt wurden sie von zahlreichen Helfern aus dem Dorf, Bauern und Handwerkern, die mit anpackten und die Ausrüstungen der Gäste in die Scheunen ihrer Höfe brachten. Den Göttern sei gedankt, dass es anscheinend noch keine Verletzten gab, dachte Mika. Arda hatte das Gefühl, dass bereits genügend helfende Hände das Zeltlager zu retten versuchten, während Doratrava einfach nur dankbar war, dass Gwenn, die Schwester der Novizin, ihr am Tag zuvor noch ein trockenes Zimmer in der Jagdhütte vermittelt hatte.

Normalerweise hätte Doratrava geholfen, alles, was möglich war, in Sicherheit zu bringen, zumal sie sowieso schon bis auf die Haut durchnässt war, aber erstens waren da schon so viele Leute unterwegs, dass es vermutlich keinen Unterschied machte und eher das Chaos noch vergrößert hätte, und zweitens wollte sie sichergehen, dass Mika wirklich versorgt wurde, also blieb sie bei der Novizin, solange sie niemanden entdeckte, der in akuter Gefahr war.

Dieselben Absichten verfolgte Arda, die hoffte, dass Gudekar sich nicht an irgendwelchen Verletzten verausgabt hatte. Was, wenn er keine arkanen Kräfte mehr zur Heilung seiner Schwester hatte? Würde sie womöglich selbst die notwendige Magie wirken müssen?

Freilich verfolgte sie weitere Gedanken. Das gestrige Gespräch mit dem Bald-nicht-mehr-Anconiter hatte noch Fragen offen gelassen, und die Baroness hatte durchaus Interesse daran herauszufinden, ob im Kloster, das ja nicht weit der heimatlichen Baronie lag, nicht etwa doch etwas im Argen lag.

Ihre Gedanken schweiften zu dem zuvor geführten Gespräch mit Mika und Doratrava, welche alte Erinnerungen hatten wach werden ließen. Es kostete sie Kraft, sich aus dem Strudel der Gedanken zu lösen, der sich immer dann auftat, wenn sie achtlos die Schwelle zu jenem gedanklichen Raum, der die Ereignisse in Arivor beherbergte, übertrat.

Als sie sich mit Mühe doch aus ihren Gedanken lösen konnte, nahm sie die Unordnung der umgestürzten Zelte, des Chaos und der in Unordnung durch die Gegend hetzenden Leute zum ersten Mal bewusst wahr. Ein Schwindelgefühl setzte bei ihr ein, Desorientierung, als würden Vergangenheit und Gegenwart sich überlagern. Sie wankte ein paar Schritte zur Seite, konnte aber einen Sturz verhindern und ihre Unsicherheit vor ihren Begleiterinnen als einfaches Stolpern tarnen. Wind und Wetter machten den Weg zum Herrenhaus keineswegs zu einem Praiostagsspaziergang…

Doratrava entging das Stolpern der Adligen nicht, aber als sie nach kurzem Zögern schon eine helfende Hand ausstrecken wollte, fing diese sich wieder.

Mika, die mit ihrer verletzten Hand eh keine Hilfe gewesen wäre, lief zielstrebig an dem Lager vorbei auf das Dorf zu.

Während die drei jungen Frauen dem Weg ins Dorf weiter folgten, setzte vom Dorfplatz her das Läuten einer Glocke ein. “Das ist die Sturmglocke! Wir sollten uns sputen!” bemerkte Mika und erhöhte das Tempo ihrer Schritte abermals.

Nur wenige Minuten später erreichten sie die Kreuzung, an der nach rechts der Weg zum Dorfplatz führte und links das Tor zum Gutshof lag. Mika ging sogleich in den Hof vor dem Herrenhaus.