LH10-Für Peraine

10. Akt: Für Peraine – Morgengrauen

(14. Travia 1045 BF, morgens)

  • Der Morgen nach den Übergriffen bringt neue schlechte Nachrichten. Ein gesegnetes Frühstück mit Götterandacht bringt jedoch Entspannung.

Ein Kapitel der Lützeltaler Hochzeit

Morgengrauen

Langsam ging das Praiosmal über dem Lützeltal auf, doch der herbstliche Nebel hüllte das gesamte Dorf in ein fahles Grau. Es war der Tag, für den die Hochzeit von Gwenn von Weissenquell und Rhodan Herrenfels geplant war. Doch diese konnte nicht stattfinden, denn der Lolgramoth-Paktierer Jast-Brin von Pruch hatte tags zuvor sein blutiges Werk fortgeführt und nicht nur die Braut sowie einen Novizen der jungen Göttin Tsa durch den Limbus entführt, sondern auch mehrere Dorfbewohner aus dem Umfeld der Edlenfamilie getötet.

Eigentlich sollte das ganze Dorf mit Rosenblüten geschmückt sein, die extra für diesen Anlass per Schiff über den großen Fluss und die Ambrocebra aus Rosenhain, der Heimat des Bräutigams, hierher gebracht wurden. Doch auch die Rosen waren vernichtet worden, als ein unheiliger Sturm über das Tal wütete und einen Baum entwurzelte, der den Wagen traf, auf dem die Rosenbüsche ins Dorf gekarrt worden waren.

Alle Feierlichkeiten waren abgesagt worden, doch erwartete man die Ankunft des Tempelpaares der Travia aus Albenhus für den Vormittag. Dann sollte nun stattdessen ein Gottesdienst abgehalten werden, um die Toten zu ehren und für die Rückkehr der Vermissten zu beten. Davor waren jedoch noch weitere Ereignisse aufzuarbeiten und zu besprechen. Die Gauklerin Doratrava war von Eoban von Albenholz der Frevelei und Paktiererei angeklagt und von Kalman von Weissenquell festgesetzt worden. Über ihr weiteres Schicksal sollte entschieden werden. Auch das Verhalten des Anconiters Gudekar von Weissenquell, der seine Frau Merle öffentlich mit seiner Geliebten gedemütigt, sie dann angeblich mit Beherrschungsmagie gefügig gemacht hatte und schließlich mit seiner Geliebten geflohen war, würde noch für Gesprächsstoff sorgen. Zwar gab es einen Suchtrupp, der noch in der Nacht die Verfolgung der Flüchtlinge versucht hatte, doch wurde dieser von einigen Schergen des Paktierers überfallen, die versuchten, Gudekar in den Kreis der Verdammnis zu verführen. Der Anconiter schien dieser Versuchung widerstanden zu haben und half schließlich seinen Verfolgern. So entschied man sich schließlich, Gudekar und Meta ziehen zu lassen, doch die Zweifel blieben, ob der Magier nicht doch mit dem Paktierer im Bunde stand.

Die anderen Angehörigen der Edlenfamilie und ein Großteil der Gäste hatten sich am Abend vorher auf Anordnung der gräflichen Vögtin Witta von Dürenwald in der Zehntscheuer am Dorfplatz versammelt, da man um ihre Sicherheit fürchtete und das Herrenhaus nach den Vorfällen am Abend als dämonisch verseucht galt.

Einige der Hochzeitsgäste waren bereits in der frühen Morgenstunde abgereist.

Dazu zählten der Bräutigam Rhodan Herrenfels, der schnell nach Elenvina reisen wollte, um mit seinen dortigen Kontakten nach Gwenn suchen zu lassen.

Ebenso war sein Dienstherr Lares von Mersingen mit seinem Gefolge abgereist. Lares, der bereits seit längerem seelisch instabil war, war am Abend vorher in Besessenheit geraten und hatte angefangen, ketzerische Worte von sich zu geben. Seine Schwester wollte ihn nun so schnell wie möglich in die Obhut der Praioskirche bringen, damit sein Geist gesunden und sein Makel reingewaschen werden sollte. Dafür hatte die Baroness von Kaldenberg ihre Kutsche zur Verfügung gestellt, um Lares so schnell wie möglich nach Albenhus zu bringen, von wo aus er mit einem Flussschiff weiterreisen sollte.

Eoban von Albenholz zählte ebenfalls zu denjenigen, die mit ihrer Abreise nicht erst auf die Ankunft der Traviageweihten aus Albenhus warteten. Bereits mit Anbruch des Tages war seine Familie nach Klingbach abgereist. Eoban und auch seine Frau Margalin mussten wegen der beunruhigenden Nachrichten von Drachen, entführten Bannstrahlern und Toten in Liepenstein nach dem eigenen Lehen sehen. Und gleichzeitig wollte Eoban seine Frau und Kinder nach den Ereignissen des Vortages in Lützeltal keinen Augenblick länger den Gefahren in diesem verfluchten Tal aussetzen.

~ * ~

Das letzte Geschenk

Doratrava wurde von einer plötzlichen Unruhe im Vorraum der Gefängniszelle geweckt. Sie stellte fest, dass es bereits hell war, wenn auch für ihren Geschmack noch immer viel zu früh. Andererseits war in der Zelle, in der sie die Nacht verbracht hatte, nicht viel geschehen, so dass sie außer zu schlafen kaum etwas Sinnvolles tun konnte. So war sie für diese Morgenstunde doch erstaunlich munter.

Nun polterte es im Wachraum vor der Zelle, als Nerek Bertenschlag, der Dorfbüttel, eine Holzkiste auf den kleinen Wachtisch stellte. “Und was machen wir jetzt damit?” fragte er die Wachfrau.

“Nimm mal das Tuch ab, damit wir sehen, was da drunter ist”, schlug Hadelin Borkmund vor.

Doratrava hatte eigentlich wach bleiben wollen, bis Merle kam, aber trotz Alanas Anwesenheit war sie dann doch wohl irgendwann eingenickt, hatten die sowohl körperlichen als auch seelischen Strapazen des Tages ihren Tribut gefordert.

Nun richtete sie sich blinzelnd auf und stellte fest, dass es draußen hell war. Alana war weg und Merle offenbar doch nicht mehr gekommen, was ihr gleich den ersten Stich des Morgens versetzte. Sie versuchte sich damit zu trösten, dass ihre Geliebte sicher von etwas Wichtigem abgehalten worden war, vielleicht hatte man ihr aber auch einfach den Zugang verweigert. Sie hatte sich gestern sowieso gewundert, dass man Alana allein zu ihr gelassen hatte, nachdem mindestens Eoban annahm, sie könnte Leute beeinflussen.

Wie auch immer. Doratrava hörte die Büttel im Vorraum rumoren, aber da die Tür keine Öffnungen hatte, konnte sie nicht sehen, was sie da trieben. Während sie gezwungenermaßen ihre Blase in den Eimer entleerte, lauschte sie auf weitere Geräusche.

„Siehst du?“ hörte Doratrava Nereks Stimme. „Wie ich dir gesagt habe!“

„Gut“, entgegnete die Wachfrau, „lass uns reinschauen, was drin ist.“

Doratrava beendete ihr Geschäft stirnrunzelnd und stellte sich an die Tür, sie wurde jetzt doch neugierig, was die da draußen machten. Allerdings verhielt sie sich bis jetzt still, sie hatte schon die Erfahrung gemacht, dass die Büttel kaum darauf reagierten, wenn sie etwas von ihnen wollte.

Nun schien es Doratrava, als öffnete sich die Tür zur Wachstube erneut und eine weitere Person betrat den Raum hinter ihrer Zellentür. Eine junge Frauenstimme, die Doratrava nicht kannte, fing an zu sprechen. “Guten Morgen, Nerek, guten Morgen Hadelin! Vater schickt mich mit dem Frühstück für die Tänzerin.”

“Ah, gut, lass mal schauen, Vea”, vernahm Doratrava die Stimme des Büttels. Es blieb einen Augenblick still, bevor Nerek weiter sprach: “Hast du uns auch ein Frühstück mitgebracht? Vielleicht sollten wir das Mahl für die da erst einmal probieren, nicht, dass es vergiftet ist oder ihr da jemand eine Feile oder einen Dolch einschmuggeln will?”

Doratrava verdrehte die Augen. Die ganze Geschichte zerrte nun schon seit gestern erheblich an ihren Nerven, so dass es mit ihrer Selbstbeherrschung nicht mehr weit her war. Mit dem Fuß stieß sie heftig gegen die Tür, gleichzeitig rief sie: “He, ich kann euch hören!” Das ihr Schwachköpfe verbiss sie sich gerade noch. “Außerdem heiße ich Doratrava und nicht ‘die da’!” Voller Zorn schlug sie nun auch noch mit der Faust auf die Tür, so dass ihr die Knöchel aufplatzen. Der Schmerz brachte sie aber wieder halbwegs zur Besinnung und sie setzte sich wieder auf die Liege.

“Na gut, Vea”, sagte nun der Wachmann, “dann bring Doratrava das Frühstück, bevor sie noch die ganze Zelle zerlegt und uns das vom Lohn abgezogen wird, weil wir nicht aufgepasst haben.” Während er sprach, schloss er die Tür auf und öffnete sie für die Magd Vea. Durch die offene Tür konnte Doratrava einen Blick in den Vorraum werfen. Dort stand eine Holzkiste, etwas kleiner als jene, die Doratrava mit Merle und Rahjel am Vortag am See gefunden hatte und in der der Kopf von Nivards Bruder hergeschickt worden war. Neben der Kiste lag ein orangefarbenes Wachstuch, das scheinbar zuvor über die Kiste gelegt und nun zur Seite geschoben war. An einer Seite der Kiste hing eine kleine Pergamentrolle.

Die etwas rundliche junge Frau mit den langen, blonden Haaren trat in die Zelle, wobei sie ein Tablett mit Doratravas Frühstück hielt. Darauf stand eine Schüssel mit dampfendem Getreidebrei, ein paar Scheiben Brot, ein Schälchen Honig und ein Becher warmer Milch. “Guten Morgen, Doratrava!” grüßte sie freundlich. “Ich bringe Euch Euer Frühstück. Es ist nichts Besonderes, aber ich hoffe, es befriedigt dennoch Euren Hunger und Durst.”

“Guten Morgen, Vea”, grüßte Doratrava, um Freundlichkeit bemüht, zurück. “Ich darf ja schon froh sein, wenn ich ein nettes Wort höre”, konnte sie sich aber dann doch nicht verkneifen, anzuhängen. “Mach dir keine Gedanken, ich habe schon schlechter gegessen.” Die Gauklerin zog einen Mundwinkel schwach nach oben, wurde dann aber wieder ernst, ihr Blick schweifte nach draußen. “He, ihr zwei, was ist das für eine Kiste? An eurer Stelle wäre ich vorsichtig!”, rief sie hinaus.

Nun betrat die Wachfrau Hadelin die Zelle, und schaute Doratrava skeptisch an. “Was soll mit der Kiste sein? Die stand heute früh vor dem Haus. Wisst Ihr etwas darüber? Ist das Eure Kiste?”

Vea blickte fragend zwischen Doratrava und Hadelin hin und her, stellte dann aber das Tablet auf den kleinen Tisch in Doratravas Zelle und stellte sich an die Wand, um einem möglichen Konflikt so weit wie möglich auszuweichen.

Doratrava kniff die Augen zusammen. “Nein, es ist nicht meine Kiste, wobei ich über den Inhalt nichts sagen kann. Vor welchem Haus stand sie? Hier, vor dem Wachhaus?” Die Gauklerin blieb auf der Liege sitzen, die Hände lagen locker auf der Liegefläche, um keinen Anlass zu bieten, dass sich jemand bedroht fühlte. Innerlich spannte sie sich allerdings an, denn unbekannte Kisten in dieser Situation konnten durchaus eine Gefahr bedeuten, der sie im Zweifelsfall zu entkommen gedachte.

“Ja, hier vor dem Wachhaus”, bestätigte Hadelin. “Ist die vielleicht für Euch gedacht? Sollen wir mal reinschauen, was man Euch da schickt?” Die Wachfrau machte Anstalten, sich umzudrehen und aus der Zelle zu treten.

Die Gauklerin runzelte die Stirn, aber da Hadelin bereits im Begriff war, ihren Vorschlag in die Tat umzusetzen, blieb ihr keine Zeit für langwierige Abwägungen. “Gut, schaut rein, aber ich würde euch raten, nichts anzufassen”, rief sie Hadelin zu. “Nehmt einen Dolch oder so. Ach ja, ist da nicht ein Pergament dran? Könnt ihr lesen?”

“Natürlich kann ich lesen”, grummelte Nerek beleidigt.

Hadelin jedoch zögerte bei Doratravas Worten. Zunächst schaute sie nach dem Pergament, wagte jedoch plötzlich nicht mehr, es zu berühren. “Warum sollen wir sie nicht anfassen?”, fragte sie an Doratrava gewandt. “Meint Ihr, die ist auch verflucht?”

Bei dem letzten Wort weiteten sich Veas Augen, doch weniger vor Furcht als mehr aus Neugier. Ohne ihre Position an der Wand aufzugeben, reckte sie ihren Hals lang und länger, um möglichst einen Blick auf diese ominöse Kiste werfen zu können. “Auch verflucht?” murmelte sie vor sich hin.

“Solange wir nicht wissen, woher sie stammt, sollten wir das Schlimmste annehmen”, erwiderte Doratrava ruhig, fast kühl, warf aber Vea einen warnenden Blick zu. “Kann man lesen, was auf dem Pergament steht, ohne es anzufassen?”

„Ich weiß ja nicht, ob Ihr zusammengerollte Pergamente lesen könnt“, fragte Nerek sarkastisch, „ich jedenfalls muss sie erst aufrollen.“ Dann zog er seinen Dolch aus der Scheide und schnitt kurzerhand das Band durch, das die Rolle an der Kiste zusammenhielt. Das Pergament fiel zu Boden und rollte sich etwas auf.

Doratrava zuckte lediglich die Schultern bei Nereks Bemerkung und beobachtete ansonsten aufmerksam, was er da tat. “Und?”, fragte sie, nachdem er die Rolle abgeschnitten hatte.

“Ich kann doch nicht zaubern!” bemerkte der Büttel und versuchte wegen der Warnungen Doratravas, das Paket nicht anzufassen, die Rolle mit den Fußspitzen auseinanderzurollen, was in Anbetracht der schweren Lederstiefel kein leichtes Unterfangen war.

“Und?” fragte nun auch Vea. “Was steht da drauf, Nerek?”

“Wartet mal”, bat er um Geduld. “Aaaaa - nnnnn - d - iiiiiii - eeeeeee - Wwww - öööööö - k - t - iiiiiiiiiii - nnnnnnnnn - Wwwwww - iiiiiiiiiii - t -...”

“Geht es nicht etwas schneller?” beschwerte sich Hadelin.

“Nein, geht es nicht!” keifte der Wachmann. “Mach es doch selber, wenn du besser lesen kannst! Also, nochmal: Aaaaa - nnnnn - d - iiiiiii - eeeeeee - Wwww - öööööö - k - t - iiiiiiiiiii - nnnnnnnnn - …”

Doratrava verdrehte seufzend die Augen. Gut, offenbar war die Kiste an die Vögtin Witta von Dürenwald adressiert und nicht an sie selbst. Was die Sache nicht ungefährlicher machte, zumal sie nicht glaubte, dass ein eventueller Fluch personenbezogen war. Wahrscheinlich würde ihn die erste Person auslösen, die die Kiste auspackte. Gut, noch konnte sich alles als harmlos herausstellen, aber irgendwie zweifelte sie daran.

Während die Büttel sich weiter im Entziffern übten, wandte Doratrava sich an Vea: “Vea, kannst du schauen, ob du … den Geweihten Rahjel finden kannst? Oder Rionn? Oder Nivard von Tannenfels? Oder Tsalinde von Kalterbaum? Oder auch den Herrn Kalman oder den Herrn F… nein, einen der genannten? Wäre das möglich?”

Vea nickte mit dem Kopf. “Sehr wohl die Dame, das mache ich sofort! Ich muss ja eh noch das Frühstück in die Zehntscheuer tragen helfen. Was soll ich seiner Gnaden und den hohen Herrschaften denn genau ausrichten?”

Derweil unterbrach Hadelin den Büttel erneut. “Ja, ‘An die Vögtin Witta von Dürenwald’. Soweit haben wir es verstanden. Und steht da noch mehr?”

“Ich bin nicht so schnell. Das sind schwierige Zeichen, die ich da erkennen muss”, entschuldigte sich Nerek. “Aber du könntest recht haben. Das ist wohl die erste Zeile.”

“Dann mach mal mit der zweiten weiter”, forderte die Wachfrau ihn auf.

Nerek nickte. “Gut, uuuuu - nnnnnn - d - d - eeeeeee - nnnnnn - Aaaaaaaa - nnnnnnn - k - ooooooooo - nnnnnnnn - iiiiiiiiiii - eeeeeeeeee - t - eeeeeeeee - rrrrrrrrrr …”

“Sag ihnen, da steht eine möglicherweise gefährliche Kiste im Haus des Dorfschulzen, von einem unbekannten Absender, der an Witta von Dürenwald …”, begann Doratrava, während sie mit halbem Ohr weiter den mühsamen Entzifferungsversuchen des Büttels lauschte, “... und Gudekar von Weissenquell adressiert ist. Es ist eilig!” Ungeduldig zog sie die Augenbrauen zusammen, aber sie hatte im Gefühl, dass es keinen Sinn hatte, den Büttel anzutreiben.

“Ja, sehr wohl, die Dame!” Vea machte einen Knicks und ging zur Zellentür hinaus, um den Auftrag auszuführen.

Von Nerek hörte man noch die Töne: “G - uuuuuuu - d - eeeeeeeeee - k - aaaaaa - rrrrrrrrrr - ffffffff - oooooo - nnnnnn …”

“Das reicht, Nerek”, unterbrach ihn Hadelin. “Ich denke, wir sollten die Kiste zu den hohen Herrschaften bringen. Seine Wohlgeboren wird wohl wissen, wo sein Sohn ist.”

“Nicht!”, rief Doratrava erschreckt, als sie Hadelin hörte. “Ich habe Vea geschickt, jemanden von den hohen Herrschaften zu holen. So lange solltet ihr die Kiste so wenig wie möglich berühren. Vielleicht ist sie ja ganz harmlos, aber ich will mich nicht darauf verlassen. Und ihr solltet das auch nicht tun!” Wenn die Kiste irgendein Unheil anrichtete, würde Eoban einen Weg finden, das erneut ihr in die Schuhe zu schieben. Das wollte sie unbedingt vermeiden.

Beim Gedanken an Eoban spürte sie jedoch noch etwas anderes, ein ihr eigentlich extrem fremdes Gefühl. Ein Funken von Hass schien in ihrem Inneren aufgeblüht zu sein, über Nacht, während der ganzen wirren Träume, an die sie sich kaum erinnern konnte und die nur einen schalen Geschmack von Tod und Verderben hinterlassen hatten, als sie aufgewacht war. Allerdings … war sie sich nicht sicher, ob der Hass ihr eigener war - und das war noch weit erschreckender. Unwillkürlich verkrampfte sie sich und versuchte, dieses Gefühl und diese Gedanken ganz tief in sich zu begraben.

Die beiden Wachleute schauten Doratrava an. “Seid wann erteilen denn die Gefangenen die Befehle?” fragte Nerek etwas verärgert.

“Lass gut sein”, besänftigte ihn Hadelin. “Wenn Vea unterwegs ist, brauchen wir uns nicht drum kümmern.” Die Frau fing an, tief zu gähnen. “Mir steckt langsam eh die Müdigkeit der Nachtwache in den Gliedern. Komm, lass uns hinsetzen und ein wenig ausruhen, bis seine Wohlgeboren oder sonstwer kommt.”

Nerek kratzte sich am Kopf. “Vielleicht hast du Recht. Warten wir auf den Edlen.” Sein Blick fiel auf das Tablet, das in Doratravas Zelle stand. “Ein Frühstück könnte ich auch vertragen!”

“Aber nicht das!” wies ihn Hadelin zurecht. “Das gehört der Tänzerin. Wer weiß, vielleicht ist es ihr letztes.”

Nerek nickte einsichtig. “Ja, eigentlich schade! Eure Tanzdarbietung vorgestern war wirklich sehr beeindruckend.”  

“Na, das will ich hoffen”, antwortete Doratrava mit bitterem Sarkasmus. “Schließlich könnte es meine letzte gewesen sein.” Sie verzichtete darauf, die Büttel zu fragen, warum sie die Zellentür nicht wieder schlossen, schließlich war sie eine gefährliche Gefangene, und widmete sich stattdessen dem Frühstück. Zu dieser nachtschlafenden Zeit hatte sie eigentlich noch gar keinen Hunger, aber sie wusste ja nicht, was dieser Tag noch bringen würde und ob es danach auch noch einen oder mehrere geben würde, also schlug sie dieses Geschenk nicht aus und begann langsam zu essen, während sie vorsichtshalber die Büttel und die Kiste weiter im Auge behielt und gleichzeitig daran dachte, ob sie wohl bald Merle nochmals zu Gesicht bekommen würde. Vielleicht hatte man ihrer Geliebten ja auch verboten, sie zu besuchen. Kurz wallte ein Impuls in ihr auf, eine kleine, giftige Stimme, die ihr zuflüsterte, dass die offene Tür doch eine Einladung sei und sie diese Zelle schneller verlassen konnte, als die Büttel überhaupt zu schauen in der Lage waren, um ihrerseits Merle einen Besuch abzustatten. Mit einer Gänsehaut unterdrückte sie diese Stimme aber ganz schnell wieder. Sie hatte ja schon oft den Eindruck gehabt, dass in ihrem Kopf eine böser kleiner Kobold lauerte, der sie immer mal wieder zu unvorsichtigen, gefährlichen, eigensüchtigen Dingen überreden wollte, hatte das aber bisher immer für die manchmal verwirrten Gedanken ihres eigenen Kopfes gehalten. Seit gestern war sie sich da nicht mehr so sicher.

Als hätte er Doratravas Gedanken gelesen, ging Nerek zur Zellentür und zog diese halb zu. Doch dann hielt er inne und schaute die Tänzerin an. Sein Blick gefiel Doratrava nicht, denn in ihm lag ein Ausdruck von unangebrachter Begierde, der ihr Angst machte. So verharrte er einen Augenblick, in dem er sein Handeln abzuwägen schien. Erst Hadelins Zuruf „Mach schon! Schließ die Tür und komm her!“ brachten den Mann zur Besinnung und er ließ Doratrava allein in ihrer nun wieder verschlossenen Zelle zurück.

Die Gauklerin entspannte sich wieder. Falls Nerek seine an seinem Gesicht ablesbaren dummen Gedanken in die Tat umgesetzt hätte, hätte sie sich gewehrt - mit allen Mitteln. Nur ob das ihrer Lage zuträglich gewesen wäre, wäre fraglich gewesen. Aber das war nun ja nicht nötig.

Allerdings verlor Doratrava nun auch die Sicht auf die Kiste und konnte nur weiterhin hoffen, dass die beiden Büttel sich beherrschten. Sie kümmerte sich weiter um ihr Frühstück und hoffte, dass Vea ihre Botschaft dringlich genug ausgerichtet hatte.

~ * ~

Irgendwann war nichts mehr übrig vom Frühstück. Doratrava nahm überrascht zur Kenntnis, dass sie selbiges tatsächlich komplett aufgegessen hatte - und dass noch immer niemand wegen der Kiste gekommen war; zumindest hatte sie nichts dergleichen vernommen.

Doratrava erhob sich von ihrer Liege und machte zwei Schritte zur Tür, um dann dagegen zu hämmern. “Heh, was ist denn nun?”, rief sie laut. “Kommt denn niemand wegen der Kiste? Seid ihr noch da?”

Hadelin erschien bald darauf an der Tür und schaute zur Gauklerin hinein. “Ihr seid aber sehr daran interessiert, die Kiste zu öffnen. Soll ich sie Euch bringen?”, fragte sie mit ernstem Blick. Dann lachte sie. “Ich bin sicher, die Herrschaften werden bald kommen.” Dann flüsterte sie neugierig: “Wisst Ihr etwas darüber?” Die Wachfrau hoffte, eine Information zu erhalten, mit der sie sich selbst in ein gutes Licht rücken konnte.

Einerseits war Doratrava erleichtert, dass die Wachleute noch da waren. Sie hätte es durchaus für möglich gehalten, dass die unbedarften Dörfler die Kiste aus Neugier geöffnet und damit irgendein Unheil auf sich herabbeschworen hätten, aber das war wohl zum Glück nicht der Fall.

Andererseits hatte Doratrava aber auch keinen Nerv für Hadelins Scherze, so dass sie eher unwirsch klang, als sie der Wachfrau antwortete: “Nein, ich will die Kiste nicht. Und nein, ich weiß nichts darüber, außer, dass Kisten, die hier aus dem Nichts erscheinen, vermutlich nichts Gutes bedeuten, wenn man bedenkt, was gestern hier los war und was die gestrige Kiste enthielt.”

“Ja, das ist wohl wahr. Die letzte Kiste gestern hat ja ganz schönen Wirbel ausgelöst. Hoffen wir, dass dies etwas weniger… Monströses beinhaltet.” Überzeugt wirkte die Wachfrau nicht.

Kurz hielt Doratrava inne, als sei ihr noch ein Gedanke gekommen, dann fragte sie, ein klein wenig beherrschter: “War die Nacht eigentlich ruhig?”

“Hier im Dorf schon”, erklärte Hadelin. “Zumindest nachdem sich alle beruhigt hatten.” Dann flüsterte sie wieder. “Aber der gelehrte Herr und seine Buhle sind gestern Abend noch geflohen. Vermutlich, weil er die Paktierer herbeigerufen und seine Schwester an die Dämonen verkauft hat. Der hohe Herr Kalman hat noch ein paar tapfere Recken zusammengetrommelt, um die Verräter zu verfolgen. Aber wenn es stimmt, was ich gehört habe, dann hat die junge Dame Mika letztlich die Verfolger in eine Falle gelockt und die Flucht ihres Bruders gedeckt. Ich will der Kleinen ja nichts vorwerfen, aber ich vermute, dass sie unter irgendeinem Bann stand und nicht wusste, was sie tat. Die Mika ist doch sonst so eine liebe und so firungefällig. Wusstet Ihr, dass sie letztes Jahr ein Noviziat bei seiner Gnaden Firumar angetreten hat?”

Die Aussagen der Wachfrau ließen Doratrava die Stirn runzeln. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass Gudekar und Meta verfolgt wurden. Sie hütete sich aber vor voreiligen Schlüssen, was irgendwelche dämonischen Verwicklungen anging, mit entsprechenden Anschuldigungen wurde ja gerade sehr leichtfertig um sich geworfen, wie sie am eigenen Leib verspürte.

Dabei kam ihr der Gedanke, dass Eoban von Glück reden konnte, dass sie nicht über all die bösen Eigenschaften verfügte, welche er ihr andichtete, zum Beispiel das Beeinflussen von jedem, der mit ihr sprach. Sonst stünde die arme Hadelin schon längst unter ihrem Bann. Fast hätte dieser Gedanke ein ironisches Lächeln auf ihr Gesicht gezaubert, aber angesichts ihrer Lage wurde daraus nur ein kurzes Zucken eines Mundwinkels.

“Ich weiß, dass Mika Firunnovizin ist”, antwortete die Gauklerin schließlich auf die Frage, wobei der Gedanke an diesen unsäglichen Firunmar dazu führte, dass sich ihre Nackenhaare sträubten. “Mehr aber auch nicht. Ist sie denn jetzt auch weg?”

“Weiß nicht”, erklärte Hadelin. “Hab sie heute noch nicht gesehen. Vermutlich zieht sie mit dem Geweihten durch die Wälder, wie so oft. Aber andererseits, die anderen Familienmitglieder des Herren sind ja auch noch nicht hier vorbeigekommen, um mir einen guten Morgen zu wünschen”, spottete die Wachfrau.

Doratrava gab ein undefinierbares Geräusch von sich bei dieser wenig gehaltvollen Auskunft, ging aber nicht weiter darauf ein. “Wer hat euch denn das mit Mika erzählt?”, fragte sie stattdessen. Soweit sie wusste und mitbekommen hatte, war heute Morgen nur Vea im Wachhaus gewesen außer ihren beiden Wächtern. Und die hatte nur ihr Frühstück gebracht, aber nicht ausführlich über nächtliche Umtriebe gesprochen.

“Ich habe Ohren am Kopf. Ich habe so einiges gehört heute Nacht, als der Hohe Herr und seine Gefolgsleute zurückkamen. Ich musste ja dank Euch die Nacht durch hier Wache schieben und konnte nicht, wie Ihr, seelenruhig ausschlafen.” Die Verärgerung, dass die Bewachung der Gauklerin ihr die Nachtruhe gestohlen hatte, war Hadelin durchaus anzumerken, auch, wenn sie es zu verbergen versuchte. “Dass Ihr den Radau der Zurückkehrenden nicht gehört habt, verwundert mich doch sehr. Eure Ruhe hätte ich gerne, sollte einst meine Hinrichtung am nächsten Tag anstehen.”

Wenn heute Nacht wirklich so ein Lärm geherrscht haben sollte, wunderte sich Doratrava selbst, dass sie nicht wach geworden war. Allerdings hatte sie lange gebraucht, um überhaupt einzuschlafen, und der gestrige Tag war sehr lang und sehr anstrengend gewesen. Wie auch immer …

Doch die Anspannung, was der heutige Tag bringen würde, zehrte durchaus an ihren Nerven, so dass sie die Wachfrau nun harsch anfuhr: “Lieber schlafen als sich die Nägel abkauen. Außerdem: bedankt euch bei dem Herrn Eoban, der ist schuld, dass ich hier sitze, ohne etwas getan zu haben, und ihr die Arbeit mit mir habt!”

Die Wachfrau verdrehte die Augen. “Ein wirklich penetranter, fast schon fanatischer Kerl ist das, stimmt’s nicht, Nerek?” Der zweite Wachman brummte nur, was Doratrava vermuten ließ, dass dieser nach der langen Nachtwache fast am Einschlafen war. “Wenn es nach mir ginge”, flüsterte Hadelin zu Doratrava, “hätte man lieber ihn einsperren sollen wegen Aufwiegelung oder Ruhestörung oder sowas, statt Euch. So, wie der sich gestern aufgeführt hat.”

Diese Worte ließen Doratravas Ärger auf Hadelin verfliegen und zauberten ein müdes Grinsen auf ihr Gesicht. “Leider geht es nicht nach uns”, antwortete sie, ebenso leise. “Sonst wäre so manches besser.”

“Manches ja, anderes nein”, sinnierte die Wachfrau. “Ich möchte jedenfalls nicht all das entscheiden müssen wie seine Wohlgeboren.”

Auf dem Dorfplatz waren Schritte und Stimmen zu hören, die sich dem Haus des Dorfschulzen näherten. Kurze Zeit später öffnete sich die Tür zur Wachstube.

~ * ~

Im Dorf

Die Lanze des Ritters Rondrard von Storchenflug, oder besser: der Rest davon, hatte sich schon recht früh am Morgen zur Leibesertüchtigung auf dem Dorfplatz getroffen. Nachdem sich alle etwas erfrischt hatten, schickte Rondrard seine Knappen los, um beim Aufbau des Frühstücks zu helfen. Den erschöpften Krieger Hesindiard schickte er zu Bett, was dieser dankend annahm, und die anderen sollten sich um Ausrüstung und die Verstorbenen kümmern. Auf dem Wagen musste Platz geschaffen werden, was dort zuviel wurde, sollte auf die nun freien Pferde verteilt werden. Er selbst machte sich auf den Weg zur Schreinerei. Er brauchte nun Transportsärge.

~ * ~

Erwachen

Langsam wachten die ersten Familienmitglieder und einige der verbliebenen Gäste in der Zehntscheuer auf und eine angespannte Unruhe entwickelte sich. Die Luft in der Zehntscheuer war abgestanden und verbraucht. Die vielen Personen, die hier übernachtet hatten und die Fackeln und Kerzenleuchter hatten mehr frische Luft verbraucht, als durch die Ritzen der zur Sicherheit geschlossenen Fenster dringen konnte.

Die Kunde, dass unter Kalmans Führung einige tapfere Recken und Reckinnen versucht hatten, Gudekar von seiner Flucht aufzuhalten, letztlich jedoch hatten gehen lassen, nachdem er geholfen hatte, einen weiteren Angriff von Pruchs Gefolgsleuten abzuwehren, hatte sich bereits in der Scheune verbreitet.

Da in der Nacht jedoch keine weiteren Schrecknisse bekannt geworden waren, entwickelte sich langsam eine gewisse Art von Normalität. Die ersten Kinder liefen durch die Reihen und spielten Einkriege. Aus dem Gasthaus, in dem schon seit den frühen Morgenstunden die Rahjani aus Albenhus ihren verschlafenen Novizen dazu nötigte, ihr und der Küchenmannschaft zur Hand zu gehen, um das Frühstück zuzubereiten, wurden von emsigen Frühaufstehern Brot, Getreidebrei, ein Kessel Eintopf und vielerlei Leckereien in die Scheune geschafft, die für das gemeinsame Frühstück an dem Tag, an der die große Hochzeitsfeier hätte stattfinden sollen, vorbereitet worden waren. Das Geklapper von Tellern und Bechern, in denen Säfte, Tee, verdünnter Wein und auch der eine oder andere Fruchtlikör aus dem Fundus Ihrer Gnaden Rajalind ausgeschenkt wurde, erfüllte den Raum und weckte langsam auch die letzten Langschläfer.

Die Gesellschaft war längst nicht mehr vollzählig. Einerseits wegen der Vorkommnisse des gestrigen Tages, andererseits waren einige der Gäste beim ersten Anbruch des Tageslichts abgereist - auch aufgrund der Vorkommnisse des gestrigen Tages.

Unheil kündigt sich an

Da öffnete sich die Tür der Scheune und Darian von Sturmfels, der zu den letzten Wachen der Nacht gezählt hatte, trat ein. Ihn begleitete die Magd Vea Bachschenk, die sehr aufgeregt schien. Sie berichtete, dass am Haus des Dorfschulzen eine in ein orangefarbenes Wachstuch gewickelte Kiste gefunden wurde, an der ein zusammengefaltetes Pergament hing. Das Pergament sei mit den Worten

“An die Vögtin Witta von Dürenwald

und den Anconiter Gudekar von Weissenquell”

adressiert. Die Dorfbüttel hätten die Kiste in die kleine Wachstube vor der Gefangenenkammer gebracht. Und Doratrava hielt die Kiste für potentiell gefährlich und hätte sie nun geschickt, einen der Geweihten zu holen. Oder einen Krieger, aber die Namen hatte sie sich nicht merken können. Oder den Hohen Herrn Kalman auf alle Fälle.

Kalman von Weissenquell war sofort hellwach und alarmiert. Er schaute sich um, und suchte nach den Geweihten und jenen Gästen, die in die Jagd nach dem Paktierer Pruch involviert waren.

Rionn war tatsächlich eingenickt. Trübe Gedanken über die Ereignisse der zurückliegenden Stunden hatten ihn geplagt, die Sorge und auch das schwere Gewissen um das Verschwinden des Novizen, der in seiner Obhut war, hatten ihn noch lang wach gehalten. Jetzt schreckte er hoch. Instinktiv spürte er, dass die Gefahr nicht vorbei war. Der Tsageweihte rieb sich die Augen und versuchte, sich zu orientieren. Worüber hatte die Magd gerade mit Kalman gesprochen? Rionn hatte nur ´Kiste´ verstanden. Sofort pochte sein Herz. Mühsam raffte er sich auf und schlurfte müde zu Kalman, Vea und Darian. Er schaute die drei fragend an.

Imelda wurde von Rionns Bewegung neben ihr aus einem tiefen Schlaf gerissen. Die junge Ingrageweihte empfand es generell als schwierig, früh aufzustehen. Doch nach den Erlebnissen der letzten Nacht nahm sie das gerade Gesagte zunächst nur wie in Trance wahr. Müde und ungläubig rieb sie sich die Augen und schreckte dann plötzlich hoch. “Kiste? Gudekar?” Die Geweihte sprang auf, lediglich mit der von Meta erhaltenen Decke bekleidet, zuppelte aus ihrer Tasche, welche ihr zuvor offenbar jemand hingestellt hatte, eine dunkelblaue Tunika heraus, und hob auch ihren Schmiedegürtel auf. Dem Umstand geschuldet, dass sie letzte Nacht wie eine Fackel gebrannt hatte, waren ihr Gesicht und auch ihre wild zerzausten rotblonden Haare von schwarzem Ruß gezeichnet. “Noch eine Kiste?”, fragte sie aufgeregt und eilte zu Darian und den anderen.

Die drei Angroschim hatten sich irgendwann am Abend in einen stillen Winkel der Scheune zurückgezogen und waren dann auch bald eingeschlafen. Nun wurden sie durch den beginnenden Tumult und die Unruhe geweckt.

Borix, der gehofft hatte, dass die Aufregung nur durch das Frühstück verursacht wurde, war ein wenig enttäuscht, als er hörte, dass schon wieder eine geheimnisvolle Kiste gefunden worden war. Hatte er doch von Grimmgasch vom schrecklichen Inhalt der letzten Kiste gehört.

Er richtete sich auf und ging gähnend zu der Gruppe, die sich um die Magd gesammelt hatte.

Grimmgasch folgte ihm langsam.

Nur Murla blieb zurück und kümmerte sich um das Frühstück für die drei.

Schon grüblerisch-gedankenverloren hatte er sich an den Tisch gesetzt. Und hier und da zu einem kurzen Nicken in Richtung des ein oder anderen Gastes im Raum gezwungen, weil er wusste, was von ihm erwartet wurde. Aber innerlich war der Ritter zu Sturmfels noch immer zu sehr mit den gestrigen Geschehnissen beschäftigt.

Müde war er. Erschöpft. Die Anstrengungen, der Stress, die Wache und der mangelnde Schlaf: All das hatte einen Tribut gefordert, den auch er gezwungen war, zu zahlen. Und obwohl ein kampferprobter Ritter, so gebot er längst nicht mehr über die schier unerschöpfliche Energiequelle, aus der er noch mit damals siebzehn oder achtzehn Sommern schöpfen konnte, so viel er wollte.

Als er Imelda hörte, die zu Rionn eilte, wurde auch er auf den Geweihten aufmerksam und hob seinen Kopf mit fragendem Blick. “Euer Gnaden?”, fragte er. ”Ist alles in Ordnung?”

In dem Moment, in dem er die Worte aussprach, wurde ihm klar, wie hohl sie klingen mussten. Nein, nichts war an diesem Morgen in Ordnung.

“Nun, das frage ich dich”, erwiderte der Tsageweihte dem Sturmfelser der gerade herein gekommen war und sich sofort hingesetzt hatte. Offensichtlich war Rionn erstaunt, dass Darian ihn fragte. “Du bist gerade herein gekommen und schienest ziemlich aufgeregt. Was ist denn passiert?” Rionn wurde leicht unsicher: Hatte er sich geirrt oder nur geträumt, dass Darian und Vea mit Kalman über eine Kiste gesprochen hatten?

Kalman ging auf den Tisch zu, an den sich Darian erschöpft gesetzt und zu dem sich auch Rionn gesellt hatte. Vea, Imelda und die beiden Angroschim folgten ihm.

„Eure Gnaden, meine Herren. Scheinbar wurde noch eine weitere unheilige Kiste im Dorf gefunden. Nach den Ereignissen des Vortages würde ich die Geweihtenschaft bitten, einen Blick darauf zu werfen. Auch wenn ich gerne damit lieber bis zur Ankunft des Tempelpaares der Mutter Travia warten würde, scheint mir baldiges Handeln doch angeraten.“

Rionn schluckte. Er spürte eine innere Unruhe aufsteigen, bemühte sich aber, sich zusammenzureißen, um die anderen nicht noch mehr zu beunruhigen. “Eine Kiste?” Stimmte es also doch. Er hatte es nicht geträumt. Hörte das denn niemals auf? Wann hatte der Bäckerpruch denn endlich genug? Was wollte er hier noch erreichen? Er hatte doch bereits alle in Angst und Schrecken gejagt. “Ja”, sagte der Tsageweihte und versuchte möglichst gelassen und zuversichtlich zu wirken. “Dann schauen wir uns das doch mal an.” Er schaute zu Imelda, Grimmgasch und Borix und nickte ihnen zu.

“Wenn ich doch nur den Hals dieses Lumpen zu packen bekäme!” Der Sturmfelser erhob sich ebenfalls und prüfte kurz den Sitz seines Waffengurtes.

“Es wird in jedem Fall besser sein, diese Kiste nicht hier inmitten all der anderen zu prüfen.” Er warf einen Blick in die Halle, schaute in besorgte, müde Gesichter. Menschen, die eine fröhliche Feier erwartet und sich darauf gefreut hatten. Stattdessen bangten sie nun um ihr Leben.

Imelda nickte und rieb sich, sichtlich müde, noch einmal die Augen, wodurch sie den Ruß und Schmutz in ihrem Gesicht weiter verteilte. “Woanders wäre es wohl besser, nicht wahr? Bedauerlicherweise gibt es in Lützeltal keinen geweihten Boden und der provisorische Schrein… naja…” Nachdenklich zuckte die Geweihte mit den Schultern, ging dann kurzentschlossen zu einem Stapel Bettzeug und nahm sich eine weitere Decke. “Ich würde mir diese Kiste gerne mit dem heiligen Licht Ingras anschauen, doch zuvor muss ich mich ankleiden.” Auffordernd trat sie einen weiteren Schritt an Darian heran und hielt ihm die Decke entgegen. “Halt mal kurz… Halte sie bitte ausgebreitet hoch, damit ich mich dahinter umziehen kann”, verlangte sie und lächelte den Ritter bittend an, wobei für den Bruchteil eines Moments jegliche Trauer aus ihren Augen verflogen schien. Doch wurde sie angesichts der bedrohlichen Lage und traurigen Umstände umgehend wieder ernst. Eigentlich wäre heute die Hochzeit des Brautpaares gewesen, ein schönes Fest voller Freude und Tanz. Doch nun hatte es so viele Tote gegeben; nur knapp waren sie letzte Nacht den Machenschaften des Paktierers entkommen und ihre Freundin Meta befand sich auf einem Pfad in die Dunkelheit. Letztendlich standen sie hier alle in einem Kampf um Leben und Tod.

Wie gelang ihr das nur? Mit nur wenigen Blicken und Worten schaffte die Geweihte es, ein Stück des “alten” Darians zurückzugewinnen. Jenes Ritters, den nichts aus der Bahn zu werfen schien, und der meist selbst ein Gefühl von Zuversicht zu geben vermochte. Er schenkte Imelda ein zaghaftes, aber ehrliches Lächeln. Es tat ihm gut, die Geweihte in seiner Nähe zu wissen. Gerade jetzt, wo es in ihm brodelte.

“Gib her”, sagte er sanft und griff nach den Enden des Tuchs, so dass die junge Frau dahinter verborgen war vor allzu neugierigen Blicken.

Blicke, die auch er selbst nur zu gern hätte schweifen lassen. Die Augen von einer schönen Frau abzuwenden … ja, das war eine Prüfung ganz eigener Art. Er erinnerte sich an die Berührungen beim Tanz. Oder als sie ihn fest umschlungen hielt, während sie mit ihm auf Bérrenn geritten war.

Er sog die Luft ein und bemerkte, dass er sich etwas zu viel Zeit gelassen hatte, das Tuch hoch genug zu heben, so dass auch er selbst nichts mehr sehen konnte. Imelda schaute ihn an. Sein Lächeln wirkte nun etwas anders. Kurz und ein wenig … verlegen-gequält. Er blickte einen Moment ertappt zu Boden, eher er Anstalten machte, das Tuch langsam hoch genug zu halten.

“He, nicht die Augen verbrennen”, schalt sie ihn leise, doch ohne hörbare Missbilligung. Ein kurzes schelmisches Lächeln ging über das Antlitz der Geweihten und sie strich sich eine ihrer rotblonden Locken hinters Ohr, als sie mit dem Rücken zu dem Ritter die Decke fallen ließ, die sie sich umgeschlungen hatte, und nun vollständig nackt war. “Sag’ ruhig Bescheid, wenn das Halten des Tuchs dir zu schwer im Arm wird”, forderte sie ihn mit einem leicht belustigten Unterton in der Stimme auf.

Ertappt, rang Darian sich einen kleinen Kommentar ab: “Ein Tuch zu halten, das bekomme ich ein Weilchen hin. Sofern die Umkleide nicht zu lange dauert.”

Denn so völlig unerwidert konnte er ihre kleine - wenn auch berechtigte - Spitze natürlich nicht stehen lassen.

Es sollte nicht lange dauern, bis Imelda ein Unterkleid und die Tunika übergeworfen und ihren ledernen Schmiedegürtel angelegt hatte. Mit einem Finger drückte sie plötzlich die Mitte des zwischen Darians Händen gespannten Tuchs sanft hinunter und schmulte neugierig dahinter hervor: “So, fertig. Wir können los!”

Er nickte kurz - und wurde sich trotz des Blicks in ihre Augen wieder bewusst, in welcher Lage sie waren.

Dann nahm er die beiden Enden, schlug das Tuch einmal um, und warf es dann zurück zu den anderen Decken.

“Dann lass’ uns schauen, was geschehen ist. Und mögen die Zwölfe geben, dass es keine neue Schweinerei dieses Lumpen ist.” Es sollte zuversichtlich klingen. Doch Darian war noch nie gut gewesen im Verstellen.

Abwägend wog Imelda den Kopf hin und her. “Ich fürchte schon…”, murmelte sie eher leise. “Hast du das gestern Abend mit der anderen Kiste mitbekommen, in der sich der Kopf des Herrn Rondrard von Tannenfels befand…” Imelda schluckte sichtlich betroffen, holte einmal tief Luft und brachte den Satz zuende. “Die Leute, die dort Totenwache hielten, die haben durch den dämonischen Einfluss dieses Dings angefangen, sich gegenseitig anzugreifen und umzubringen. Das war… ganz schön heftig.”

Schweigen war die Antwort. Darian blickte mit kalter Miene scheinbar ins Leere und holte nachdenklich tief Luft. “Ja”, sagte er dann schlicht - ehe er nach einem weiteren Moment fortfuhr. “Dieses feige Pack, das sich dieser schwarzen Mächte bedient, es widert mich an.”

Und Imelda spürte, dass da noch mehr war als bloße Abscheu. Es war das Gefühl der Hilflosigkeit, das aus dem hochgewachsenen Mann sprach. Dies war ein Gegner, gegen den er nichts ausrichten zu können schien, ja, den er ja nicht einmal zu Gesicht bekam.

“Ich bitte die donnernde Leuin stets, dass sie mir Kraft gibt, auf dass mein Geist stark bleibt und nimmer …”

Er führte den Satz nicht zuende, sondern sah sie nur an.    

Die junge Hadingerin trat dicht an den Ritter heran und nahm sanft seine beiden Hände. Musternd schaute sie ihn an und sagte mit fast flüsternder Stimme: “Wir sind nicht allein, Darian. Du bist nicht allein. In dir schlägt das Herz der Leuin, daran gibt es keine Zweifel. Und Pruch wird nicht ewig davon kommen.”

Er spürte ihre Hände. Die Wärme, die von ihnen ausging. Und er genoss das Gefühl. Und doch war da für einen Augenblick auch ein wenig Überraschung, die sich in seinem Gesicht abzeichnete, während seine dunkelblauen Augen die ihrigen erkundeten. Eine Überraschung, in die sich eine Art Anerkennung mischte.

War nicht er der Ritter? War es nicht seine Aufgabe, Zuversicht und Kraft auszustrahlen? Hatte er nicht geschworen, all jenen Halt zu geben, die seiner Stärke bedurften?

Und doch stand da nun diese junge Geweihte vor ihm und gab ihm genau das, was ihm selbst in diesem Moment fehlte: diesen Funken der Zuversicht und des Halts.

Sein sanftes Lächeln wirkte … erleichtert.

Und seine Hände griffen etwas fester.

Imelda hielt mit ihren hellblauen Augen dem intensiven Blick Darians stand. Bis sich plötzlich ein vorsichtiges Schmunzeln auf ihrem Antlitz abzeichnete und sie ebenfalls die Hand Darians noch einmal fester drückte. “Nur damit du’s weißt, wenn es darum geht, wer stärker zudrücken kann, so rechne ich mir ganz gute Chancen aus.”

Der Ritter löste den Griff sacht und lächelte kurz auf den charmanten Hinweis Imeldas.

Die junge Geweihte löste sich abrupt von dem Händedruck und räusperte sich kurz. “Gehen wir mit den anderen mit und schauen, was sich in der Kiste befindet, einverstanden?” Sie sah sich nach den anderen um, welche aufbruchbereit schienen. Schnell blickte sie wieder zu Darian und bevor er sich versah, fiel sie ihm um den Hals und drückte ihn. “Wird schon gut gehen! Schön, dass du da bist”, flüsterte sie und löste sich gleich wieder aus der Umarmung.

Das kam abrupt. Unerwartet. Aber es war ihm alles andere als unangenehm. Und sein Blick ließ es sie wissen.

“Lass uns zu den anderen gehen.”

Kalman drehte sich gebührend um, während sich die Geweihte ankleidete, und wartete, bis sie bereit war. “Gut, dann lasst uns aufbrechen, bevor noch irgendjemand anderes auf die dumme Idee kommt, die Kiste zu öffnen.”

Auch Rionn hatte sich weggedreht. Die Zeit die es brauchte, dass Imelda sich anzog, nutzte er dafür, vollständig wach zu werden. Mit einem flüsternd gesprochenen Morgengebet lobte er den neuen Tag, der von Tsa geschenkt wurde, die neue Chance an diesem Morgen den Herausforderungen dieser Welt mit neuer Kraft zu begegnen. Der Tsageweihte bat die Junge Göttin um Beistand für das Neue, das auf sie wartete.

“Wenn wir hier auch keinen geweihten Boden haben, dann sollten wir zumindest die Kiste an einem Ort öffnen, an dem nicht alle versammelt sind.” stimmte Grimmgasch Imeldas Vorschlag zu. “Meister Kalman, wohin könnten wir uns dafür zurückziehen?”

Borix kam sich in der Geweihtenschar ein wenig überflüssig vor. Diese ganze Pruch-Sache war ihm zu wenig gegenständlich. Wenn es etwas geben würde gegen das man mit einer Axt oder Armbrust vorgehen könnte, ja dann wäre der ehemalige Hauptmann sofort dabei, aber diese düsteren Drohungen und Attentate waren ihm ein wenig zuwider. Aber der Vorschlag seines Tempelvorstehers erschien ihm durchaus sinnvoll, hier in der Scheune voller Menschen diese Kiste zu öffnen, wäre sehr ungeschickt.

“Nun, wenn ich die Magd Vea richtig verstanden habe, steht die Kiste zur Zeit in der Wachstube im Haus des Dorfschulzen.” Vea nickte eifrig, um dies zu bestätigen. “Vielleicht wäre dies auch der geeignete Ort, sie zu öffnen. Ansonsten gäbe es den kleinen Schrein der lieblichen Göttin, den die Rahjageweihten zur Feier”, Kalman schluckte sichtlich bei diesen Worten, als er an seine Schwester Gwenn und die geplatzte Hochzeit denken musste, “vorübergehend errichtet haben. Der Ort ist zwar nicht geweiht, aber vielleicht ist dort am ehesten göttliche Nähe zu erwarten.”

Der Tsageweihte hatte sein Gebet abgeschlossen und beteiligte sich nun wieder am Gespräch. “Ich würde ungern besagte Kiste noch irgendwohin transportieren. Ich befürchte, dass die Kiste bereits ihre unheilvolle Wirkung entfalten könnte, wenn wir noch viel mit ihr machen, bevor wir sie untersuchen und wenn notwendig ihren möglichen niederhöllischen Einfluss austreiben.” Rionn merkte, dass die gnadenhafte Kraft, welche die Ewigjunge ihm gewährte, nach den Ereignissen der vergangenen Stunden recht angegriffen war. So war er sich nicht sicher, ob ihm ein weiterer Exorzismus gelingen würde.

“Können wir die Wachstube räumen lassen?” fragte Borix. “Es sollten so wenig Personen wie nötig beim Öffnen dabei sein.”

“Ja, sicher, Borix”, stimmte Kalman ein. “Wir müssten lediglich die beiden Büttel wegschicken, um die Gefangene woanders hinzubringen. Und natürlich die beiden Waldgruns aus ihrem Haus begleiten. Aber Praiogrimm hat wahrscheinlich eh schon einiges zu tun. Perainhulda ist vielleicht schon bei den Borkmunds, um nach Isfried und den Kindern zu sehen.”

“Vielleicht”, wandte der Tsageweihte vorsichtig ein, “vielleicht sollten wir Doratrava nicht fortbringen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie uns mit ihrem Wissen Rat geben könnte…” Es war ein Versuch, nicht alle Trümpfe aus der Hand zu geben. Immerhin hatte die Gauklerin ja mit den anderen die erste Kiste gefunden und zu den anderen gebracht.

Jetzt war es wieder an dem Angroschgeweihten das Wort zu ergreifen.

“Du hast recht, Bruder Rionn”, stimmte Grimmgasch dem Geweihten zu. “Doratrava hat uns schließlich auf weiten Teilen unserer Quest begleitet und wurde auch von der Herzogenmutter geschickt. Sie sollte dabei sein!”

“Genau!”, bestätigte Rionn die Worte des Angroscho.

Als Imelda mit dem Umkleiden fertig war, rief Kalman zum Aufbruch. “Dann lasst uns mal rüber gehen und nachsehen, was dort auf uns wartet, bevor doch noch irgendjemand Mist baut.”

“Ja, bitte”, stimmte Rionn zu. “Lass uns nicht zu lange zögern. Wir müssen schnellstens rüber gehen.”

Die beiden Angroschim schlossen sich wortlos Imelda und Rionn an.

Der Ritter der Herrin von Rodaschquell straffte sich. “Wohlan denn!”, sagte er schlicht und schritt in Kalmans Richtung.

Imelda nickte ebenso entschlossen. “Auf, auf! Den letzten beißen die Hunde!”, erklärte sie im Versuch, ihre eigene Nervosität zu unterdrücken.

Schließlich brach der kleine Trupp auf, noch vor dem Frühstück die Kiste im Haus des Dorfschulzen zu untersuchen.

***

Gespräch unter Damen

Ungewöhnlich schweigsam war an diesem Morgen auch die Zofe der Baronin von Rodaschquell. Sie war allein erschienen - ihre Herrin war nirgends zu sehen. Und auch sie war noch gezeichnet von den Ereignissen, die noch immer in ihr wühlten. Sie zwang sich zu einem verkniffenen Lächeln, als sie zu Tsalinde schritt. “Erlaubt Ihr, dass ich Platz nehme?”, fragte sie freundlich und warf auch einen kurzen Blick auf die junge Familie, der ihr einen Moment lang half, wieder ein wenig Zuversicht zu verspüren.

Freundlich lächelte Tsalinde sie an und deutete auf einen Platz zwischen ihnen auf dem ausgebreiteten Mantel. “Gerne. Möchtet ihr auch einen Schluck warmen Apfelsaft?” Sie deutete auf einen Krug, von dem ein angenehmer Duft nach Apfel und Gewürzen ausgeht.

Bis auf den kleinen Siegmund schien die Familie nur wenig Schlaf gefunden zu haben und sah dementsprechend etwas derangiert aus.

“Nur zu gern, habt vielen Dank.”

Die Zofe nahm Platz und nahm sich den Krug.

Und sprach geradewegs aus, was sie dachte.

“Es ist gut, nach dem, was gestern geschehen ist, zu wissen, dass wir nicht allein sind, sondern einander beistehen.”

Sie warf einen besorgten Blick zu dem Kleinen.

“Wie geht es ihm?”, fragte sie.

All die Ereignisse, all die Furcht, all das Leid. Es war für gestandene Männer und Frauen zu viel. Aber wie mochte all das auf ein Kind wirken?

***

Lager der Weissenquells

Auf einer Ecke in der Nähe des Hinterausgangs hatte die Familie Weissenquell ihr Nachtlager aufgeschlagen. Nur noch Ciala lag mit Merles Tochter Lulu dort und schlief. Madalin war bereits wach und hatte sich eine Tischdecke besorgt, die sie nun mit Rosenmustern bestickte. Eigentlich war das Werk bereits fertig, denn es sollte ein Hochzeitsgeschenk für ihre Tante Gwenn werden, doch nun ergänzte sie zur Ablenkung weitere Blüten. Die Männer der Familie waren bereits aufgestanden.

Nach der Rückkehr von der nächtlichen Suche nach seinem Bruder hatte auch Kalman sich zu seiner Familie gelegt und Ciala in den Arm geschlossen. Als sie davon aufwachte, erzählte er ihr kurz, was alles geschehen war und dass Gudekar die Familie nun endgültig verraten und verlassen hatte. Der gegenseitige Halt, den sich Ciala und Kalman gaben, spendete ihm Trost und vor Erschöpfung schlief er schließlich ein. Die schlechten Gedanken ließen ihn jedoch nicht lange schlafen und er war bereits in den frühen Morgenstunden wieder aufgestanden, um seinen Gedanken nachzugehen.

Selbst Morgan war nicht mehr hier, er hatte die Zehntscheuer schon beim Morgengrauen verlassen.

Merle begann sich, zusammengerollt in einem Knäuel Decken, langsam zu regen, als von irgendwoher die Namen Doratrava und Gudekar zu hören waren und mit den wirren, chaotischen Träumen resonierten, welche sie wohl gehabt hatte, die aber schon wieder aus ihrem Geist verflogen. Leicht verwirrt orientierte sie sich, sie war in der Zehntscheuer, in die sie tief in der Nacht zurückgekehrt und eigentlich nur auf das Lager zwischen ihrer kleinen Tochter und ihrer Schwägerin Ciala gesunken war. ‘Gwenn’, kam es ihr mit einem schmerzhaften Zusammenkrampfen ihres Herzens in den Sinn. ‘Heute wäre ihr Hochzeitstag.’ Aber Gwenn war entführt und in der Gewalt des Pruch. Marno, Brun und Bernhelm… alle tot. Dazu die Frau von Kranickau, der Bruder von Nivard, mehrere Leute aus der Lanze des Herrn von Storchenflug, sie hatte den Überblick verloren. Doratrava wurde angeklagt. Gudekar hatte sie verlassen und war fort. Die Linderung, die der gnädige Schlaf des Herrn Boron ihr für einige Stunden geschenkt hatte, verflog augenblicklich; all’ die entsetzlichen Geschehnisse des gestrigen Tages waren wieder präsent und drückten schwer wie eine Lawine aus Felsgestein auf ihre Seele. Eigentlich wollte sie nur weinen, tagelang weinen, doch wusste sie mit einem Blick auf Lulus blonden Haarschopf, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war. Die junge Frau rappelte sich in eine sitzende Position auf, schob sich eine verschwitzte, wirre Haarsträhne aus der Stirn und blickte sich schlaftrunken um. Kalman redete anscheinend mit Vea und einigen anderen über irgendeine neue, unheilige Kiste; unwillkürlich tauchte das Bild des abgeschlagenen Kopfes von Nivards Bruder vor Merles geistigem Auge auf. Das war ein Anblick, den sie nicht glaubte, noch einmal ertragen zu können und auch zu helfen vermochte sie bei solcherlei Dingen nicht. "Madalin", sprach sie stattdessen ihre Nichte leise flüsternd an. Sie hatte bemerkt, dass die Zwölfjährige auch wach war, wollte aber Ciala und Lulu nicht wecken. "Wie geht es dir, Liebes?"

„Guten Morgen, Tante Merle!“ Madalin überspielte die eigenen Ängste und Sorgen und versuchte, besonders gelöst zu wirken. „Danke, mir geht es gut. Schau! Sind die Blüten gut geworden? Sie hielt Merle die Stickarbeit hin.

Gerührt von der eifrigen, arglosen Munterkeit des Kindes nahm Merle die Decke vorsichtig in die Hand und inspizierte die Stickerei. "Ja, wirklich gut gemacht, Madalin", lobte sie ihre Nichte. "Die Rosen sind sehr sauber gearbeitet. Nimm' vielleicht hier bei den großen Blütenblättern ein dunkleres Garn dazu, damit kannst du die Flächen im versetzten Plattstich schattieren; dann sehen die Blüten noch natürlicher und plastischer aus..." Sie hob den Blick und schaute dem Mädchen fürsorglich in die Augen. "Hast du gut schlafen können, Liebes? Was meinst du, sollen wir mal schauen, ob wir für dich was leckeres zu essen finden?"

Unerwartet ließ Madalin die Tischdecke auf ihren Schoß sinken und schaute Merle traurig an. “Meinst du, ich werde es ihr je schenken können?” Als sie ihrer Nichte in die Augen schaute, sah Merle die Tränen in Madalins Augen.

Merle setzte sich neben Madalin, umarmte sie herzlich und dachte ein paar Wimpernschläge lang über ihre Antwort nach. “Ja, das glaube ich”, sagte sie schließlich, auch wenn ihre Stimme belegt klang und ein leichtes Zittern darin lag. “Ich glaube, dass wir sie zurückbekommen. Kalman und eine Menge anderer tapferer Ritter und Recken werden für Gwenn kämpfen, werden alles dafür tun, sie zu retten. Und auch wenn wir hier nicht viel bewirken können - lass’ uns die Hoffnung und den Glauben nicht verlieren. Lass’ uns mit aller Kraft, die wir haben, zu den Göttern beten, damit sie unsere Gwenn beschützen, wo immer sie jetzt ist”, Merle kämpfte mit den Tränen, rang diese aber nieder und blickte dem Mädchen mit einem ergriffenen, innigen Lächeln in die Augen. “Jede der Blumen, die du für Gwenn stickst, mag ein kleines Gebet sein, und jeder liebevolle Gedanke an sie ein Licht, das die Dunkelheit bekämpft. Lass’ uns damit nicht aufhören, ja?” Wieder legte sie den Arm um ihre junge Nichte und drückte diese eng an sich. “Ich hoffe, nein, ich weiß, dass Gwenn irgendwie spürt, dass sie nicht allein ist.”

Kurz lächelte Madalin, doch schnell wurde sie wieder ernst. “Und was ist mit Onkel Gudekar? Ist er wirklich ein böser Mann geworden?”

“Ach Madalin, wenn ich wüsste, was ‘böse’ bedeutet…” Merle legte traurig das Kinn auf ihre um die Knie geschlungenen Arme. “Ja, er hat sich verändert, er hat mich belogen, er ist nicht mehr der gute, liebevolle Mann, der er früher war. Und er ist fortgegangen und wird wohl niemals zurückkehren; scheint sich freiwillig auf einen Pfad der Dunkelheit zu begeben, weg von den Göttern, weg von seiner Familie…" Merle merkte, dass sie mehr zu sich selbst gesprochen hatte, hob den Kopf und schaute Madalin nachdenklich an. Wahrscheinlich war es falsch, dem Mädchen all dies zu erzählen und es dadurch noch mehr zu beunruhigen, doch wusste sie auch nicht, was sie sonst sagen sollte. Sie seufzte müde. "Trotzdem glaube ich nicht, dass er böse in dem Sinne ist, dass ihm das alles Freude macht. Ich denke, dass er tief in seinem Herzen immer noch nach dem Guten strebt… Aber ich weiß nicht, ob er es jemals schaffen wird, diesen ins Verderben führenden Weg wieder zu verlassen."

Madalin schaute ihre Tante mit großen Augen an. “Womit haben wir das verdient, dass uns die Götter so plötzlich verlassen haben?”

Merle schüttelte entschieden den Kopf. “Sie haben uns nicht verlassen, Madalin, bitte sag so etwas nicht. Auch wenn es schwer ist, dürfen wir nie das Vertrauen in die guten Götter verlieren! Und wenn du in dein Herz lauschst, kannst du spüren, dass sie bei uns sind. Schau’ doch, wie die Menschen hier sich gegenseitig helfen und Trost spenden, wie sie wärmende Decken und das Morgenmahl teilen - Travias Güte und Wärme ist überall um uns herum spürbar. Sie behütet und beschützt uns.” Während sie sprach, war auch Merles Herz ein wenig leichter und hoffnungsvoller geworden, ihr Blick lebendiger und wacher. Noch einmal zog sie Madalin an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. “Doch auch wenn die Gütige Mutter und die Zwölfgötter an unserer Seite sind, müssen wir selbst stark und mutig bleiben. Deshalb geben wir gegenseitig aufeinander Acht, nicht wahr, Liebes?” Sie zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. “Also, wie sieht es mit deinem Appetit auf Frühstück aus?”

Madalin nickte hoffnungsvoll. „Ja, etwas Hunger hätte ich schon.“

Merle nickte, rappelte sich auf und hielt Madalin die Hand hin, um ihr hochzuhelfen. "Gut, dann schauen wir mal, was wir schönes finden." Sie schaute nach Ciala und Lulu, die noch immer friedlich zu schlafen schienen. "Deiner Mutter bringen wir dann gleich etwas zu essen mit, oder was meinst du?"

„Ja, das können wir machen.“ Madalin legte ihr Stickzeug beiseite, stand auf und ging zu den Tischen, wo das Essen aufgebaut wurde.

Madalin war gerade auf dem Weg zu den Tischen und Merle wollte ihr folgen, da hörte sie leise Ciala ihren Namen rufen. Als sie zu ihrer Schwägerin und Lulu sah, merkte sie, dass ihre Tochter begann, sich sehr niedlich im Bett hin und her zu drehen. Noch gefangen zwischen Traum und Wirklichkeit. Ciala allerdings schien schon etwas länger wach zu sein, sie setzte sich seitlich auf und Merle sah, dass sie geweint hatte. „Merle… ich wollte nicht, dass meine Kinder mich so sehen. Ich muss mich schnell wieder in den Griff bekommen, aber das ist so viel Unglück. Deine Tochter hat mir so sehr geholfen. Ich weiß nicht, wer mehr Trost gespendet hat.“ Sie wischte mit einem Stück ihres Gewandes die Spuren der Tränen aus ihrem Gesicht. „Sie wacht auf, ich werde dann mit ihr zu euch an den Tisch kommen, aber ich muss sie erst wickeln und mir Wasser ins Gesicht klatschen. Richtet doch so lange etwas für uns her. Und mein Mann... wo ist er?“

Merle hielt inne, ging neben Ciala in die Knie und umarmte sie für einige lange Augenblick fest und innig. "Ach Ciala, liebe Ciala, es tut mir so leid", wisperte sie der etwas älteren Frau ins Ohr und küsste sie sanft auf die Wange. "Ich bin dir so dankbar, dass du gestern auf Lulu Acht gegeben hast, obwohl es dir selbst nicht gut ging. Es war ein schrecklicher Tag und eine noch schrecklichere Nacht..." Mit der Hand wies Merle zu einer Gruppe, die sich nahe des Scheuneneingangs versammelt hatte und in ein ernsthaftes Gespräch vertieft schien. "Kalman ist da drüben. Ich glaube, es gibt neues Unheil, um das er sich kümmern muss." Sie warf einen liebevollen Blick zu ihrer sich auf dem provisorischen Lager regenden Tochter und schaute Ciala fragend an. "Soll ich sie vielleicht lieber wickeln und du machst dich derweil ein wenig frisch?"

„Er hat mich gestern Nacht noch geweckt und auf den neuesten Stand gebracht. Das war dann einfach zu viel für mich.“ Sie hielt Merles Hände und seufzte. „Lass mich das machen, es lenkt ab. Und ich hab sie sehr lieb gewonnen. Sie gibt mir das Gefühl, das ich hatte, als meine Kinder noch klein waren.—- Neues Unheil? Bei den Göttern. Ich werde ihn da jetzt nicht stören. Ich mache mich nützlich und halte euch mit den Kindern den Rücken frei. Kümmere du dich um das Essen.“ Ciala wirkte wieder viel gefasster. Sie schob die Decken um Lulu zu einem kleinen Nest, so würde sie genug Zeit für eine Katzenwäsche haben.

"Gut, dann schau ich mit Madalin nach dem Frühstück", bestätigte Merle und drückte ihre Schwägerin noch einmal an sich. "Vielleicht können wir nachher ein bisschen reden, über das, was passiert ist… und wie es jetzt weitergeht..." Sie schluckte, ihre Stimme klang rau und belegt, doch versuchte sie sich gegenüber Ciala zu einem gequälten Lächeln zu zwingen. "Danke dir noch mal. Bis gleich." Die junge Frau rückte zum Nachtlager ihrer Tochter, streichelte Lulu sachte übers Haar und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, dann erhob sie sich und eilte, immer noch mit einem sichtbaren Hinken, zu dem Bereich der Zehntscheuer, wo das Morgenmahl vorbereitet wurde.

***

Frühstücksvorbereitung

Friedewald von Weissenquell, der Edle von Lützeltal, war bereits früh wach. Die Ereignisse der Vortages und die Nachrichten, die schließlich sein Sohn in der Nacht gebracht hatte, raubten ihm den Schlaf. Er sorgte sich um seine Tochter Gwenn und seinen Sohn Gudekar. Er fühlte sich hilflos und nutzlos zugleich. So überspielte er seine Unruhe, indem er die Vorbereitungen für das Frühstück überwachte und den Mägden und dem Wirt immer neue Anweisungen gab.

Murla half nach Kräften dabei mit das Frühstück zu bereiten. Sie versuchte dabei immer wieder Ruhe und Zuversicht auszustrahlen.

„Guten Morgen, Großvater“, begrüßte Madalin den Edlen. „Guten Morgen, Meisterin Murla!“

Merle trat ein paar Momente nach ihrer Nichte hinzu und neigte den Kopf in Richtung ihres Schwiegervaters und der Angroschna. "Guten Morgen", grüßte sie ebenfalls in die Runde.

“Guten Morgen, ihr Lieben”, grüßte auch Friedewald lächelnd.

"Benötigt ihr Unterstützung bei den Vorbereitungen des Morgenmahls?"

“Danke, dass Du fragst, mein Kind”, Murla lächelte die junge Frau an. "Nehmt die Teller und das Besteck und deckt die Tische ein. Ich glaube, dass die meisten sich über etwas zu essen freuen würden.”

‘Außerdem lenkt das ab.’

"Das denke ich auch." Merle nickte zustimmend, drückte Madalin einen Stapel Teller in die Hand und nahm sich selbst einen guten Schwung Besteck. Während sie dieses geschwind auf den Tischen platzierte, blickte sie fragend zu Friedewald. "Wie geht es dir, Vater? Hast du denn etwas Ruhe bekommen?"

Madalin nahm den Tellerstapel entgegen und fing wortlos an, auf jeden Platz an den Tafeln einen zu platzieren.

Friedewald packte nun selbst mit an und nahm von einem Tisch, auf dem alles provisorisch abgestellt wurde, was aus dem Dorf gebracht wurde, ein paar Körbchen und verteilte Brote darin, die er dann zu den anderen Tischen brachte. “Danke, mein Liebes. Ja, ich habe mich etwas ausruhen können. Und du, Merle? Hast du etwas geschlafen?”

"Unruhig. Ich hab seltsames Zeug geträumt, glaube ich", antwortete sie wahrheitsgemäß, während sie das Besteck neben den Tellern verteilte. "Dennoch hat der Schlaf gut getan, dem Herrn Boron sei Dank." Mit etwas leiserer Stimme und ernster Miene trat Merle an ihren Schwiegervater heran. "Kalman hat dir schon berichtet, was bei der Waldhütte geschehen ist?"

Friedewald stellte die Brotkörbe ab und drückte Merle fest an sich. Väterlich versuchte er, ihr Trost zu spenden. “Psst, mein Liebes! Ja, er hat es mir erzählt. Ich hätte nie gedacht, dass Gudekar derart die Familie verraten könnte. Es tut mir wirklich leid für dich! Und für Liudbirg. Es tut mir so leid!”

Madalin ging zum anderen Ende des Saals zum Eindecken, als sie sah, wie ihr Großvater Tante Merle zu trösten suchte.

Ein bisschen peinlich berührt von so viel Trost und Zuwendung erwiderte Merle schüchtern die Umarmung des Edlen, löste sich aber wieder schnell daraus. "Danke, Vater Friedewald", erwiderte sie mit leiser Stimme. "Ich versuche, nicht ständig daran zu denken, dass er fort ist. Ich weiß ja, dass Liudbirg mich braucht. Und ich bin so dankbar, dass es euch alle gibt." Ihr unruhiger Blick schweifte über die in der Scheune versammelten Leute, suchte nach Familienmitgliedern und Freunden. "Trotzdem… es tut einfach weh." Nach einem tiefen Atemzug wollte sie sich wieder daran machen, mit schnellen, monotonen Bewegungen das Besteck auf die Tische zu legen.

Friedewald hielt ihre Hand fest, als sie das erste Besteck verteilen wollte. “Komm, setz dich einen Moment. Den Tisch decken können die Mägde.” Der Edle zog seine Schwiegertochter auf eine der Bänke und setzte sich neben sie, ihre Hand festhaltend. “Ich weiß, wie weh es dir tun muss.” Er hielt kurz inne und schüttelte dann den Kopf. “Nein, ich weiß es nicht, doch ich kann es mir denken.” Der Edle dachte an seine Frau zurück, an die Nacht, als er die Nachricht erhielt, dass er sie für immer verloren hatte. Daran, dass er nicht da sein konnte, als sie starb. Die Vorwürfe, die er sich damals machte. Den Schmerz, den er empfand. Doch war das nicht das gleiche. Das Schicksal, die Götter hatten ihm Rotrude genommen. Sollte er gegen den Willen der Götter hadern? Doch bei Merle war es etwas anders. Es war der Erzdämon, der ihr den Mann nahm, obwohl er immer noch greifbar war. Und war es nicht Lolgramoth selbst, dann war es die andere Frau, die Merles Glück zerstört hatte. Und das Schlimmste daran war, dass es wohl Gudekars eigene Entscheidung war, Merle und Lulu im Stich zu lassen. “Eines sollst du wissen, Liebes”, sprach er zu ihr. “Egal, was Gudekar getan hat oder noch tun wird, egal, welches Schicksal ihm vorbestimmt ist, du wirst immer zur Familie gehören, du und Liudbirg werdet immer zum Hause Weissenquell gehören. Du bist und bleibst meine Tochter.”

Merle kämpfte wieder mit den Tränen. “Ähm, ich…”, stammelte sie, tief bewegt von Friedewalds Worten, “ich würde auch verstehen, wenn die Familie es lieber sähe, ich ginge nach Albenhus ins Kloster zurück… Auch wenn ich unsagbar dankbar bin für die Freundlichkeit, mit der das Haus Weissenquell mich hier aufgenommen hat, weiß ich doch, dass ich nie eine adelige Dame werde und auch nicht vorgeben kann, eine zu sein.” Befangen senkte sie den Blick und schluckte die in ihrer Kehle aufsteigende Bitterkeit herunter. “Ach, es wär’ besser, Gudekar wäre nie zum Traviabund mit mir gezwungen worden. Dann hätte er jetzt seine hohe Dame heiraten können und alle wären glücklich und zufrieden.”

“Merle, sowas solltest du nicht sagen!” protestierte Friedewald. “Dich zu heiraten war das Beste, was Gudekar je in seinem Leben getan hat. Du bist eine wundervolle Frau! Und auch meine Enkeltochter wird so wundervoll werden, wie ihre Mutter! Wie sollte ich ohne Luidbirg und dich glücklicher sein? Du bist nun eine von Weissenquell, das wird sich nie wieder ändern. Egal, was Gudekar tut oder nicht tut. Du bist Teil dieser Adelsfamilie! Nachher kommen deine Eltern und ich werde ihnen sagen, wie sehr du für immer Teil von uns sein wirst.”

“Seid ihr schon mit eurer Arbeit fertig, dass ihr hier schon ein Schwätzchen halten könnt?” fragte Murla - nicht ganz ernst - als sie mit einem Stapel Teller an den beiden vorbei ging. “Hopp! Hopp! Dort gibt es hungrige Mäuler zu stopfen!”

Ein gequältes Lächeln kam über Friedewalds Lippen. “Du hast recht, Murla. Ja, komm Merle, helfen wir, das Frühstück zu richten. Über alles andere können wir später in Ruhe reden. Mit Vater Reginbald und Mutter Liudbirg.” Friedewald stand auf und widmete sich wieder den Brotkörben.

Merle nickte Friedewald mit einem dankbaren, wenn auch immer noch skeptischen Blick zu, dann nahm sie umgehend ihre Arbeit wieder auf. "Natürlich, Meisterin Murla, wir beeilen uns!"

Als Friedewald weiter gegangen war, flüsterte ihm Murla zu: “Lass sie alle irgendetwas tun, jage sie hin und her. Je mehr sie alle beschäftigt sind, um so weniger denken sie über die Ereignisse von heute Nacht nach.

Und verzeih mir, dass ich euch unterbrochen habe.”

Friedewald nickte verstehend. „Schon gut. Stimmt schon, es ist besser so. Es wird schlimm genug für sie, wenn die Dreifelds kommen.“ Friedewald schaute kurz über die Schulter, dass Merle ihn gerade nicht hören konnte. Dann flüsterte er zu Murla: „Es gibt da etwas wegen Merle, was ich mit dem Dreifelds besprechen möchte.“

“Soll ich Merle ablenken, wenn sie kommen?” fragte sie nach. “Dann kannst Du mit ihnen reden.”

“Tja, lass sie sie erst einmal begrüßen. Es wird Merle gut tun, ihre Eltern zu sehen. Aber dann muss ich mit ihren Gnaden reden. Über das, was ich mir heute Nacht überlegt habe.”

“Gut”, nickte die Angroschna. “Winke einfach, wenn ich Dir helfen soll.”

Dann wandte sich Murla wieder den Menschen zu, die mit den Vorbereitungen zum Frühstück beschäftigt waren und scheuchte sie ein wenig hin und her.

“Danke, Murla, so machen wir das.” Friedewald kümmerte sich nun um das Brot für die anderen Tische.

Merle hatte inzwischen das Besteck verteilt und begann, Tonbecher für Wasser oder Tee auf die Tische zu stellen. Als sie beim Eindecken ihrer Nichte Madalin in die Quere kam, gab sie ihr einen sanften Hüftstoß. "He, nicht einschlafen bei der Arbeit", neckte sie, lächelte dem Mädchen aber aufmunternd zu. Tatsächlich tat es gut, sich einzig und allein auf die einfache, mechanische Tätigkeit zu konzentrieren. "Weißt du eigentlich, wo deine Brüder stecken? Ich hoffe, sie achten darauf, auch was zu essen."

“Hey!” protestierte Madalin gespielt schockiert. “Wenn mir jetzt Teller deinetwegen runtergefallen wären!” Dann schaute sie sich um. “Nee, ich denke Lukardis ist bei seinen Schwertübungen oder macht irgendetwas für seinen Herrn. Und wo Morgan hin ist… hm, wer versteht schon die Magier?”

'Ich', dachte sie mit einem bitteren Gefühl, als würde ein fester Kloß in ihrer Kehle stecken, 'ich glaubte, dass ich Magier verstehe.' Sie versuchte, den Gedanken zu verdrängen, indem sie weiter die Trinkbecher verteilte, diese vielleicht ein bisschen zu energisch auf die hölzerne Tischplatte knallte, doch wieder sorgsamer vorging, als Madalins Blick ihren traf. Nein, eigentlich war es anders. Sie hatte Gudekar immer zuerst als Mann gesehen, nicht als Magus, hatte seine Kräfte zwar interessant gefunden, doch waren diese nie das gewesen, was sie an ihm liebte oder bewunderte. War das ein Fehler gewesen? Hätte sie ihm mehr das Gefühl geben müssen, mit seiner Magie etwas Besonderes zu sein, besser als andere? War es das, was diese hochnäsige, großkotzige Ritterin ihm jetzt einredete? Oder hatten ihm Ruhm, Macht und Prestige schon immer mehr bedeutet als seine Familie und Gefährten, mehr, als sie hatte wahrhaben wollen? Merle seufzte. Es war doch jetzt egal, vollkommen ohne Bedeutung. Sie musste Gudekar nicht mehr verstehen, nie wieder… “Wenn du die Jungs nachher sehen solltest, sag ihnen, dass sie bei Kräften bleiben müssen”, murmelte sie leise in Madalins Richtung, dann wandte sie sich schnell ab, um weitere Tonbecher herbeizuholen.

“Schau mal, da kommt Lukardis”, rief Madalin dann, als sich die Tür der Zehntscheuer öffnete und ihr Bruder in Begleitung des Knappen Garmwart von Grauningen den Raum betrat. “Guten Morgen, Lukardis!”

"Guten Morgen!" begrüßte Merle ihren Neffen und nickte auch dem anderen Knappen freundlich zu. "Lukardis, wir hatten gerade von dir gesprochen. Weißt du, wo Morgan ist?"

Garmwart nickte und grüßte ebenfalls zu der Familie der Gastgeber, bevor er sich voll und ganz seiner Aufgabe widmete und erst half, das Frühstück hier im Saal vorzubereiten, und dann eine Auswahl davon zur Lanze seines Herren zu bringen.

“Guten Morgen, Tante Merle. Nein, leider nicht. Aber, ich glaube, wenn Onkel Gudekar wirklich weg ist, dann hat ihn das bestimmt hart getroffen. Er findet, dass Magier an sich immer schlecht behandelt werden und ich könnte mir vorstellen, dass er gerade einen Augenblick für sich braucht, um damit klarzukommen. Hoffentlich macht er nichts dummes, wie Gudekar hinterher laufen, oder so.”

Madalin stellte den restlichen Tellerstapel auf den Tisch und lief zu ihrem Bruder, um ihn zu umarmen. “Schön, dass du hier bist! Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist.”

Der Knappe erwiderte die Umarmung. “Ich danke den Göttern, dass sie schützend ihre Hand über mich halten.”

Auch Merle drückte Lukardis kurz an sich. "Ja, gedankt sei den Göttern dafür", seufzte sie leise. "Mögen sie dich und deine Geschwister beschützen." Sie küsste Madalin auf die Wange, unterließ dies jedoch bei dem jungen Knappen. "Und Morgan... ich wünschte, er würde verstehen, dass es nicht darum geht, dass sein Onkel Magier ist. Es ist alles…”, sie hob erschöpft die Schultern, “...kompliziert."

***

„Herrschaft, geht’s aufd Seitn.“ AdelmannXI war aus seligem Schlummer erwacht und suchte hektisch einen Weg aus der Scheune. Doch immer wieder waren da Hindernisse. Es war gestern eindeutig zu viel Bier und Wein gewesen. „Schickts eich, I muss brunzn!“ Seine Frau Ativana beobachtete die Szene amüsiert. Sie hatte es schon geschafft, sich so weit zu waschen, dass sie zwar etwas ramponiert aussah, aber eine ruhige, innere Schönheit ausstrahlte.

***

Gespräch unter Damen 2

Nachdem das Frühstück vollständig vorbereitet und aufgetragen war, ging Merle zu ihrer Schwägerin und nahm dankbar ihre Tochter Luidbirg von ihr in Empfang. Sie stellte fest, dass sich Ciala nicht nur rührend um die Kleine gekümmert, sondern sich anscheinend auch ein bisschen frisch gemacht und gefangen hatte. “Danke, liebe Ciala, ich nehm’ sie dann jetzt wieder”, sagte sie leise, drückte die etwas ältere Frau noch einmal liebevoll an sich und nahm das Kind auf den Arm.

„Schau her, mir geht’s besser und die kleine Lulu ist fesch und sauber. Ich glaub, sie will jetzt zu ihrer Mama und hat Hunger.“ Ciala strich sanft über Merles Rücken. „Du gehörst zu uns, ich könnte es mir ohne dich gar nicht mehr vorstellen.“ Dann flüsterte sie ihr noch etwas zu. „Und Lulu berührt mich auf eine ganz besondere Art. Wenn Tsa uns gnädig sein sollte, wäre ich dankbar. Aber erst muss dieses Unheil hier weg. Lass Gudekar, darüber habe ich auch nachts wach gelegen. Wir sind deine Familie. Und du solltest dich ihm gegenüber nicht so erniedrigen. Wenn er ein Kerl ist, dann wird er seine Fehler bald spüren. Spätestens, wenn dieser Paktierer endlich in die Niederhöllen gefahren ist.“

"Ach Ciala", seufzte Merle und lächelte traurig, "ich hab dich so lieb! Euch alle hier! Dennoch weiß ich nicht, ob ich wirklich hierher passe." Die letzten Worte waren ein kaum hörbares Wispern gewesen; sie schluckte und senkte verlegen den Blick. "Ich war ein Nichts, bevor Gudekar mich geheiratet hat... und jetzt, wo er fort ist, bin ich auch nicht mehr. Älter, müder, verbitterter... aber immer noch ein Nichts."

Ciala runzelte verwundert die Stirn. „Eurer Bund liegt Jahre zurück und immer noch machst du die Sorgen wegen deiner Abstammung? So viele Monde sind verstrichen, du hast ein Kind bekommen und jetzt sag bloß nicht, dass du in der Zeit nicht etwas gereift bist.“ Cialas Tonfall war trotz der strengen Worte liebevoll. „Was haben wir dir denn angetan, dass dein einziger Bezug zur Familie nur aus Gudekar besteht, der seit zwei Jahren meistens weg ist?“

Merle sah Unverständnis und Enttäuschung in Cialas Blick, setzte zu einer Erwiderung an, schloss den Mund aber wieder. Nein, sie konnte es nicht erklären. Konnte nicht sagen, warum sie sich innerlich so leer und freudlos fühlte, so verloren, seltsam distanziert und fehl am Platze, als wäre ihr Herz in einem Eisenkäfig gefangen, der immer enger und enger wurde. Eigentlich stand sie schon seit jener Nacht, als sie über die verfluchte Kette Gudekars Untreue mitfühlen, miterleben musste und dann zusammengebrochen war, seit die Weissenquells sie aus ihrem vertrauten Umfeld in Albenhus nach Lützeltal geholt hatten, irgendwie neben sich, war seitdem nicht mehr die alte. Damals war etwas in ihr zerbrochen, schmerzvoll zerrissen, was auch die liebevolle Zuwendung der Familie und die unendliche Freude über ihre wundervolle kleine Tochter nicht hatten heilen können. Sie vermisste ihr altes, friedliches Leben, die gewohnte Arbeit im Kloster, eine andere, zuversichtlichere, fröhlichere Merle. Doch gab es niemanden, mit dem sie über solch dunkle Gedanken und Gefühle hätte sprechen können. Wenn sie zugab, dass sie sich hier einsam fühlte, tat sie damit unweigerlich Ciala und den anderen weh, die nur das Beste für sie wollten; dann machten sich alle nur überflüssige Sorgen. Nach einem kurzen, tiefen Atemzug schüttelte die junge Frau energisch den Kopf. "Ach nein, ihr habt mir überhaupt nichts angetan; ihr seid unglaublich lieb zu mir! Bitte entschuldige, Ciala! Es ist allein meine Schuld. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist… Das Herz ist mir einfach so schwer." Während sie auf einem Arm Lulu hielt und an sich drückte, legte sie die andere Hand sanft auf den Oberarm ihrer Schwägerin und zwang sich zu einem warmen, herzlichen Lächeln. "Ich bin glücklich, hier zu sein, eine richtige Familie zu haben. Wirklich. Ich bin euch für alles so dankbar."

„Das kriegen wir zusammen schon irgendwie hin. Es war in so kurzer Zeit einfach zu viel.“ Ciala klopfte Merle aufmunternd auf die Schulter. „Lassen wir den Tag erstmal angehen, es findet sich sicher Gelegenheit, mal in Ruhe zu reden. Dann hat man auch mehr Muße.“

Merle nickte und schaute Ciala voller Wärme an, auch wenn aus ihrem Blick Schwermut und Niedergeschlagenheit sprachen. "Gut, dann bis später", sagte sie leise. "Vielen Dank, Ciala!"

***

Mit Lulu auf dem Arm schaute sich Merle nach einem Platz an den Frühstückstafeln um, entschied sich aber dagegen, sich zu Friedewald, Madalin und den anderen Weissenquells zu setzen. Die unermüdlichen Bekundungen, sie würde weiterhin ein Teil der Familie sein, berührten sie zwar in ihrem Inneren, machten sie aber auch traurig, weil ihr eigentlich bewusst war, dass dies eben nicht stimmte. Und dass die anderen es vermutlich ebenso wussten. So wandte sich Merle stattdessen in Richtung der Edlen von Kalterbaum, die sich mit ihrer Familie gerade zum Morgenmahl einfand. Sie musste unwillkürlich lächeln, wärmte der liebevolle, herzliche Umgang dieser netten Leute miteinander doch ihr Herz. “Guten Morgen, Tsalinde”, begrüßte sie ihre neue Freundin, nickte auch Isavena und Lys grüßend zu und lächelte den kleinen Siegmund an. “Ähm, stört es, wenn Lulu und ich hier Platz nehmen?” Plötzlich unsicher biss sie sich leicht verlegen auf die Unterlippe.

~ * ~

Vergessene Tante

Der Morgen war schon längst angebrochen, als Caltesa von Immergrün in der Kammer, die dieser Tage Merle als Schlafstätte gedient hatte, erwachte. Caltesa fühlte sich ausgeruht, das einfache Bett war bequemer, als sie befürchtet hatte. Sie war allein in dem Zimmer. Die Erwartung, dass die Schwiegertochter ihres Neffen zu ihr in das Zimmer gesteckt würde, hatte sich nicht erfüllt.

Kein Rumoren in den Gängen hatte die alternde Baroness geweckt. Kein geschäftiges Treiben auf dem Hof vor dem Fenster. Keine Gespräche zwischen Herr und Magd. Kein Wirtschaften eines Stallburschen. Ruhe, ungewöhnliche Ruhe war es, die sie aus dem Halbschlaf riss.

“Phex sei Dank, für diesen neuen Tag. Schauen wir, ob Dere noch steht.” Flugs stieg sie aus dem Bett und zog sich an. Nachdem Puder, Lidstrich und Lippenrot aufgetragen, die fliederfarbene Perücke ordentlich saß, begab sie sich nach unten, in der Erwartung eines angemessenen Frühstückes.

Doch Caltesa stellte überrascht, dass nicht nur das Gesindehaus, in dem sich Merles Zimmer befand, wie ausgestorben war, sondern auch der Hof und das Herrenhaus schienen verlassen. Lediglich in der Küche glaubte die Baroness ein Wimmern zu hören.

Vorsichtig ging die ältere Dame in die Küche. “Wo ist das Kätzchen, das hier jammert?", sagte sie.

Am Küchentisch saß heulend in sich zusammengesunken die Haushälterin Wiltrud Bächerle. Ihre Tochter Harka saß neben ihr und hielt, ebenfalls verweint, ihre Mutter tröstend im Arm. Keine der beiden schien die Baroness beim Eintreten wahrgenommen zu haben.

“Ach herje. Boron am Morgen bringt Kummer und Sorgen. Mit dem Sturm kam der Rabe, das hatte ich in meinen alten Knochen gespürt. Die Weissenqueller bündeln immer wieder mit ihm”, die letzten Worte hörten sich an, als ob sie diese zu sich selbst sprach.

Erschrocken schauten Mutter und Tochter auf, als die Baroness sprach. Sogleich versuchte sich die rundliche Haushälterin von ihrem Platz zu erheben und zu verbeugen, wobei sie sich mit der Schürze Tränen und Rotz aus dem Gesicht wischte. “Euer Wohlgeboren, Travia zum Gruße!” stotterte sie verlegen vor sich hin. “Ihr seid, ähm, wohlauf?”  

“Ja, das bin ich. Etwas verdünnter Wein und etwas Weißbrot mit Honig würden genügen.” Dann setzte sie sich hin. “Erzählt bitte, was passiert ist. Ich sehe euch an, dass euer Herz mit Traurigkeit erfüllt ist. Was auch immer die Weissenqueller über mich zu sagen haben, ich bin kein Unmensch.” Verständnisvoll blickte sie die Frauen an.

Erneut brach Wiltrud in Tränen aus, als sie ansetzen wollte, zu erzählen, was geschehen war. An ihrer Statt antwortete schließlich Harka, die zwar ebenfalls tränengerötete Augen hatte, aber dennoch einigermaßen ihre Fassung bewahren konnte. “Mein Bruder Marno, er ist tot. Und Meister Bernhelm ebenfalls. Beide sind tot! Ermordet! Von diesem Paktierer.”

Caltesa wusste, von wem sie sprachen. Bis jetzt hatte Phex ihr nicht gewiesen, dem nachzugehen … doch jetzt? Die Baroness wurde nachdenklich. “Ein schrecklicher Verlust. Ihr habt mein Beileid. Wo sind denn die anderen Gäste zu finden?”, fragte sie.

Harka schaute verwundert. “Na die Gäste haben sich doch gestern Abend in der Zehntscheuer versammelt, weil es den Geweihten hier im Herrenhaus zu gefährlich erschien, erst recht, nachdem die Dämonen bei der Totenwache gewütet haben. Wart Ihr denn in der Nacht nicht dort bei den anderen?”

Die Baroness schaute überrascht. “Erinnert ihr euch nicht? Ich wurde im Schlafgemach der jungen Dame Merle von Weissenquell untergebracht. Und ich muss sagen, dass sich kein Dämon zu mir gewagt hat. Doch ich nehme an, dass die Hohe Herrschaft mich mit Absicht vergessen haben, in der Hoffnung, mich in den Fängen des Dämons zu sehen.” Sie seufzte, doch setzte dann ein freundliches Gesicht auf. “Nun ja. Der Plan ging nicht auf … wer auch immer mich vergessen hat. Phex sei dank!”

Harka schüttelte energisch den Kopf. “Euer Wohlgeboren, so etwas würde der gute Herr nie tun. Es war einfach chaotisch gestern Abend. Ich fürchte, man Euch wohl einfach ver…, na, übersehen.” Die Magd richtete derweil pflichtbewusst etwas zu essen und zu trinken für die Baroness, während ihre Mutter noch immer in Tränen zusammengekauert am Tisch sitzen blieb. Harka reichte Caltesa mit einem Knicks einen Becher verdünnten Weines. “Den Göttern sei Dank, wart Ihr nicht im Herrenhaus heut Nacht, denn hier hatte ein leibhaftiger Dämon Besitz von einem Krieger ergriffen und gewütet. Es gab auch hier Tote und Verletzte. Vermutlich hattet Ihr von uns allen die ruhigste Nacht, Euer Wohlgeboren.” Die Geweihte in ihr horchte auf. “Wie ich die hohen Herrschaften hier einschätze, ist das viel zu viel für ihre Kleingeister. Sollen sie mich ruhig unterschätzen, doch ich habe Dere gesehen und arbeite in der hohen Politik des Reiches.” Sie nippte kurz am Wein, dann stand sie auf. “Ich suche die Anderen.” Dann ging sie.

~ * ~

In der Wachstube

Die Magd Vea Bachschenk führte die Geweihten und Adeligen aus der Zehntscheuer hinüber zur Wachstube im Haus des Dorfschulzen. Es wäre nicht nötig gewesen, denn Kalman von Weissenquell, der Sohn des Edlen, ging dem kleinen Trupp voran. Doch Vea war neugierig, was es wohl mit dieser mysteriösen Kiste auf sich hatte, wegen der gleich drei Geweihte, der Angroschpriester Grimmgasch, die Ingra-Geweihte Imelda von Hadingen und der Tsa-Geweihte Rionn, gerufen wurden. Begleitet wurde sie von Meister Borix, dem Ritter Darian von Sturmfels und dem Krieger Nivard von Tannenfels.

Auch die Junkerin Lucilla von Galebfurten folgte der Gruppe zur Wachstube. Sie wollte versuchen, mit der Gefangenen Doratrava zu sprechen.

In der Wachstube wurde die Gemeinschaft vom Dorfbüttel Nerek Bertenschlag begrüßt, während die Wachfrau Hadelin Borkmund in der Tür zu Doratravas Zelle stand.

“Praios zum Gruße, Hoher Herr!” begrüßte Nerek den Edlensohn, “Eure Gnaden, hohe Herrschaften!

“Praios zum Gruße, Nerek!” grüßte Kalman zurück. “Wo ist die Kiste?”

Nerek deutete auf die geschlossene Holzkiste, die auf dem Tisch in der Mitte der Wachstube stand, an dem sich die Wachen in der Nacht die Zeit mit Kartenspielen vertrieben hatten. Neben der Kiste lag ein weggeschobenes Wachstuch, das die Kiste wohl zuvor bedeckt hatte und darauf ein aufgerolltes Pergament. “Das war dabei, Euer Wohlgeboren”, erklärte Nerek. Auf dem Pergament standen mit ordentlicher Handschrift die Zeilen: “An die Vögtin Witta von Dürenwald und den Anconiter Gudekar von Weissenquell”.

“Guten Morgen Hadelin”, grüßte der Tsageweihte zuerst die Wachfrau, ohne der Kiste Beachtung zu schenken. “Hast du schon gefrühstückt? Du und Nerek haben die ganze Nacht gewacht. Sicher ist es in Ordnung, wenn Vea euch beide zur Zehntscheuer begleitet, damit ihr euch ein wenig ausruhen könnt. Nicht wahr, Kalman, wir können die drei doch entbehren? Immerhin sind wir selbst wehrhaft genug.” Mit einem entschiedenen Blick schaute er Kalman an. Es war deutlich, dass Rionn die Zahl der Anwesenden reduzieren wollte. Dann sagte er in die Runde: “Nichts anfassen! Es kann schon allein das Wachstuch oder das Pergament eine Botschaft unseres Freundes enthalten.” Der Sarkasmus war bei dem Wort `Freund´ deutlich herauszuhören. “Lucilla? Möchtest du nach Doratrava schauen?” Dann schaute er zu den beiden Geweihten. “Grimmgasch? Imelda? Kennt ihr die Liturgie der Auraprüfung?”

Grimmgasch schüttelte enttäuscht den Kopf. “Nein, die habe ich noch nicht gelernt. Aber wenn Du sie kannst, dann kann ich Dich bestimmt unterstützen.”

Die Junkerin von Galebfurten nickte nur auf die Frage hin und schritt dann zu der Gauklerin herüber.

“Bedauerlicherweise nicht, aber auch ich könnte dich im Gebet unterstützen, Rionn.” Die junge Geweihte nahm ihre kleine Laterne von ihrem Gürtel, schritt dann vorsichtig näher an den Tisch heran und hielt das heilige Licht prüfend über die Kiste.

Beim Näherkommen zur Kiste fing Imeldas Licht an zu flackern und wurde ein wenig schwächer. Doch anders als am Vortag beim See erlosch das Licht nicht.

Eilig zog Imelda ihre kleine Laterne weg, bevor die Flamme weiter an Kraft verlor. Kritisch beäugte sie die Kiste und trat wieder einen Schritt zurück. “Wir müssen vorsichtig sein.”

“Nun”, konstatierte Rionn, “dann wollen wir hoffen, dass uns die Lebenspendende noch einmal hold ist. Ich habe ihre Gnade schon sehr oft erbeten in den zurückliegenden Stunden. Aber mit gemeinsamen Kräften, im geschwisterlichen Gebet, mag es gelingen…” Der Tsageweihte machte sich daran, Kerzen und andere der Liturgie zuträgliche Gegenstände zusammenzubringen. “Na, wenigstens scheint die Sonne und es dürfte heute morgen kein Problem sein, der Ewigjungen einen Regenbogen abzugewinnen…”, erzählte, während er geschäftig das Ritual vorbereitete.

Nachdem Grimmgasch gesehen hatte, wie sich Imeldas Laterne verdunkelte, löste er auch die seinige von dem Stecken und stellte sie zu den Kerzen, die Rionn auf dem Tisch platziert hatte.

Dann begann er sich zu konzentrieren und Angroschs Stärke und Kraft auf diesen Fleck des Unheiligen zu lenken.

Auch Grimmgaschs Laterne begann leicht zu flackern und das Licht verlor an Intensität, als läge eine schwache dämonische Präsenz auf dieser Kiste. Doch konnte der Angroschgeweihte spüren, dass diese deutlich schwächer war als jene, die am Vorabend für Aufruhr sorgte.

Trotz seiner Geschäftigkeit nahm Rionn das Flackern der Heiligen Lichter der beiden Geweihten doch wahr. Er hielt inne. “Vielleicht können wir uns die Auraprüfung sparen und direkt einen Exorzismus beginnen? Was meint ihr? Imelda? Grimmgasch?”

“Exorzismus!”, rief Imelda entschlossen und nickte bestätigend. “Je eher, desto besser. Und wenn das nicht hilft, dann übergeben wir die Kiste den reinigenden, heiligen Flammen, bis nur noch Asche übrig ist!”

Der junge Angroschpriester nickte nur. “Aber auch hier kann ich nur unterstützen …”

“Gut”, bestätigte der Tsageweihte. “Imelda. du kennst das ja noch von gestern. Da hast du mir ja bereits einmal geholfen bei der anderen Kiste. Grimmgasch, mach einfach mit so wie es deine Intuition es dir eingibt. Dann lasst uns beginnen.” Sofort änderte er die vorbereiteten Ritualgegenstände so, dass er mit den Gebeten zum Exorzismus beginnen konnte. Rionn setzte sich in Sichtweite der Kiste und rief die Gnade und Unterstützung der Ewigjungen wider die Kräfte der Niederhöllen an…

Soweit Grimmgasch Rionn unterstützen konnte, half er ihm.

Borix begann sanft aber bestimmt die beiden Wachleute und die Magd in Richtung Tür zu bewegen. “Das Frühstück wartet auf euch, ihr wollt doch Meisterin Murla nicht verärgern, wenn ihr zu spät kommt!”

“Wir können doch nicht mit den Herrschaften frühstücken”, wandte Nerek ein, und Hadelin blickte fragend zu ihrem Herrn Kalman. “Wir müssen auch die Gefangene bewachen.” Als auch Vea, die besonders neugierig schien, etwas sagen wollte, mischte sich Kalman ein. “Geht nur! Vea, du musst eh deinem Vater beim Herrichten des Mahls helfen. Und Nerek und Hadelin, geht nur, lasst euch von Murla etwas zu essen geben und sucht euch dann eine freie Ecke. Nach dieser Nacht wird niemand etwas dagegen haben, wenn zwei Wachen mehr in der Scheuer sind, und sei es nur zum Frühstücken.”

“Wie Ihr wünscht, Hoher Herr”, gab Hadelin nach und winkte die beiden anderen hinter sich her. “Kommt, gehen wir!”

Nivard stand derweil da und starrte in einer Mischung aus Wut und Erschöpfung auf die Kiste. Ohne sein Zutun hatte seine Hand sich um den Griff seines in der Scheide steckenden Schwertes geschlossen. Er drückte die Faust dabei so fest zu, dass das Weiß seiner Knöchel hervortrat. In ihm wuchs das Gefühl, dass dieser Alptraum nie enden würde. Erst der gestrige Tag. Dann die schier endlose Nacht. Immer kam irgendetwas neues, schlimmes aus den Händen Pruchs hinzu. Welche Dämonische Macht mochte nun wohl dieser Kiste innewohnen? Wessen Leib mochte darin verborgen sein? Er machte sich auf alles gefasst. "Wir müssen darauf achten, ob sich jemand aus unserem Kreis mit einem Mal merkwürdig verhält", warnte er Darian vor.

Der rodaschqueller Ritter nickte stumm. Die Anspannung war ihm deutlich anzumerken. Seine Augen waren zusammengekniffen und strahlten Abscheu und Ekel aus angesichts des Gedankens an den Pruch und das Pack, über das dieser gebot.

Dann führte er selbst ein leises Gebet auf den Lippen. Mehr ein Flüstern.

“Herrin Rondra. Lass’ nicht zu, dass dieses ehrlose Geschmeiß, das sich feige verkriecht und uns mit Daimonenmacht und finsteren Schwarzkünsten zusetzt, davonkommt. Lass sie meinen Stahl schmecken, den ich dir zu Ehren gegen sie führen will. Lass’ mich zur Stelle sein, um jene zu beschützen, die zu schützen ich geschworen habe dir zur Ehr’.”

Die junge Geweihte nahm entschlossen ihre kleine Laterne und stellte diese für das Gebet auf den Tisch vor sich ab. Dann schaute sie flüchtig noch einmal zu Darian, schenkte ihm ein aufmunterndes, wenn auch trauriges Lächeln, setzte sich neben den Tsageweihten und besann sich voll und ganz auf den Tisch mit der Kiste. Sie streckte ihre Arme zu beiden Seiten aus und griff nach den Händen von Meister Grimmgasch und Rionn.

Der Tsageweihte war bereits im rituellen Gebet vertieft, dass er nur instinktiv die Hand zu Imelda reichte, als die Ingrageweihte diese ergreifen wollte. In der anderen Hand hielt er das Heilige Prisma, das bereits das Sonnenlicht des Morgens brach und mit seinem bunten Licht den Raum flutete und die Kiste in ein heiliges Licht tauchte.

Wie ein Schleier legte sich der Regenbogen über die Kiste und es wirkte, als ob die Kiste das göttliche Licht aufsaugte, sich voll sog wie ein Schwamm, den man auf eine Pfütze legte. Immer mehr des bunten Schleiers zog in die Kiste. Und die Laternen der beiden Geweihten des Gottes des Erzes und Feuers glühten wieder auf, leuchteten hell, als wollten sie das Licht der Ewigjungen mit ihrer Kraft unterstützen. Schließlich war die Kiste gesättigt, das Regenbogenlicht umflutete sie nun, umkreiste sie, erst langsam, dann immer schneller und schneller. Die Laternen leuchteten immer heller. Dann stieg das Regenbogenlicht zur Decke und schien diese zu durchbrechen und den Raum zu verlassen. Letztlich erzeugte das Prisma noch einen einzelnen Fächer aus Licht in den Farben des Regenbogens, als das Praioslicht, das durch das Fenster drang, sich auf den Boden des Zimmers brach. Die Flammen in den beiden Laternen loderten nun wieder so, wie die Geweihten sie kannten.

Rionn schloss noch mit einem Dankgebet. Dann wandte er sich an Grimmgasch und Imelda: “Was meint ihr? Das Übel ist gebannt. Sollen wir einen Blick in die Kiste werfen?”

“Wartet! Die Kiste ist an die Vögtin und meinen Bruder adressiert”, wandte Kalman ein. “Sollte ich sie nicht am besten öffnen?” Der Ritter trat vor und stellte sich neben den Tisch mit der Kiste.

“Halte ein!”, mahnte der Tsageweihte. “Noch nicht anfassen! Ich möchte erst noch die Einschätzung von Grimmgasch und Imelda hören. Dann bist du natürlich derjenige, der berechtigt ist, zuerst hinein zu schauen, Kalman.” Dies sagte er mit strengem Ernst, fügte aber mit einem Lächeln wahrheitsgemäß leise hinzu: “Auch wenn meine Neugier sicherlich größer ist als deine."

Andächtig ergriff Imelda wieder ihre kleine Laterne. Es war erstaunlich, wie hell und wild sie brennen konnte, wenn das Wirken der Götter sich in der Flamme widerspiegelte. Mutig nickte sie Rionn zu. “Ich denke, wir sollten einen Blick in die Kiste hineinwerfen.” Als sie sich selbst diese Worte sagen hörte, lief es ihr kalt den Rücken runter, musste sie doch unweigerlich an letzte Nacht denken. Von einem Anflug von Angst gepackt, schritt sie vorsichtig ein wenig zurück und platzierte sich neben Darian.

In Anbetracht der letzten Kiste überlegte Grimmgasch kurz, nickte aber dann auch bestätigend. “Es wird nicht besser, wenn wir länger warten.”

Borix hatte die drei Menschen aus dem Raum geschoben und schloss jetzt die Eingangstür und stellte sich davor.

Nivard trat an Kalmans Seite, bereit, diesen mit dem Schwert zu unterstützen, sollte doch noch gefährliches in der Kiste auf sie warten. Oder ihn zu entwaffnen, sollte er gefährliche Veränderungen erfahren. Langsam zog er das Schwert und hielt es kampfbereit in Händen. “Bereit!”

“Na schön!” Kalman ging direkt auf die Kiste zu, holte tief Luft und legte die Hände auf den Deckel. Vorsichtig öffnete er sie und schaute hinein. Als das erste Licht auf den Inhalt fiel, weiteten sich seine Augen. Er wurde blass und schloss den Deckel sofort mit einem Knall. Dann sank er wortlos auf die Knie.

Ohje, dachte Rionn mit Beklemmungen. Hört das nie auf? Er stand auf und schritt Kalman zur Seite. Tröstend legte er ihm eine Hand auf den Rücken.

"Was... was ist darin?" Nivards Stimme klang belegt. "Was hat der Frevler diesmal geschickt?" ‘Oder wen?’ schickte er in Gedanken hinterher. ‘Wessen Körperteile lagen diesmal in der Kiste? Eigentlich wollte er es gar nicht wissen. Aber er musste.

„Es ist…“ Kalman war verzweifelt und schnappte mehrmals nach Luft, bevor er stotternd vor Aufregung und Zorn und Hoffnungslosigkeit weitersprach. „Es… es ist eine … eine Hand!“

“Gwenn?”, fragte der Tsageweihte besorgt. Auch stieg in ihm Zorn auf. DIeser verfluchte Pruch! Jetzt verstümmelte er seine Geiseln. Aber eine Hand war kein Kopf. Gwenn lebte also noch, hoffte Rionn. Was bedeutete das für den entführten Novizen? Würde der Pruch auch ihn verstümmeln?

„Ich weiß es nicht“, antwortete Kalman. „Ich konnte einfach nicht so genau hinschauen.“

“Mmh.” Rionn seufzte. “Möchtest du, dass wir jemanden holen, der versucht, die Hand zu identifizieren? Oder sollen wir sie einfach bestatten, um hier nicht zusätzlich die Menschen aufzuwühlen, um ihnen weiteres Leid zu ersparen? Imelda und Grimmgasch könnten die Kiste dem Feuer übergeben.”

Langsam gewann Kalman seine Fassung zurück. „Ich glaube, ich möchte Gewissheit. Und ich glaube, es lag ein Pergament in der Kiste.“

Imelda schluckte mühsam und wurde bleich. Die Schmerzen, die ein Mensch durchlitt, wenn man ihm die Hand abschlug, mussten grenzenlos sein. Ob sie selbst bei so einer Greueltat in gnädige Ohnmacht fallen oder sich bis zum Schluss vor Schmerzen die Seele aus dem Leib schreien würde? War es ein schneller, sauberer Hieb mit einem Beil gewesen oder wurde die Hand qualvoll langsam mit einer Säge abgetrennt? Ob die Schnittstelle an der Hand darüber Aufschluss geben würde, mochte sie sich gar nicht vorstellen, obwohl ihr unweigerlich eine Flut alptraumhafter Bilder durch den Kopf schoss. Der Gedanke, dass hier die Hand einer Person lag, die sie kannte, einer Frau, mit der sie sich gestern noch unterhalten hatte, drehte ihr den Magen um und sie spürte, wie sich kalte Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. "Ich glaube, mir wird schlecht", flüsterte sie kläglich zu Darian neben sich.

Das Grollen im Inneren des Sturmfelsers machte sich wieder breit. Nur zu gern hätte er etwas getan. Irgendetwas, das helfen konnte. Irgendetwas, das half, seine Wut auf den Pruch und das ganze Dämonenpack zu mildern. Aber es gab nichts. Es gab niemanden, dem er sich stellen konnte. Jemanden, den er hier und jetzt zur Rechenschaft ziehen konnte für das, was da geschehen war.

“Komm”, sagte er dann, als er des Flüsterns der jungen Geweihten gewahr wurde, und machte Anstalten, Imelda aus der Kammer zu führen. “Komm an die frische Luft.”

Er warf Kalman einen kurzen Blick zu und nickte, als er von dem Pergament hörte. Der Ritter von Weissenquell würde die Sache auch weiter untersuchen. Und er, Darian, würde dann schon erfahren, ob es etwas gab, was er noch tun konnte. Aber hier und jetzt - das wusste er nur zu gut - würden sein Zorn und sein Tatendrang eine ungute Mischung eingehen, die niemandem half.

Draußen angekommen holte Imelda tief Luft. Das flaue Gefühl wollte nur langsam weichen und sie versuchte bewusst, sich die abgeschlagene Hand nicht weiter vor dem geistigen Auge vorzustellen. “Meinst du, man gewöhnt sich an so etwas?” fragte sie leise. “Es gibt sicher Ritter, Krieger oder auch Feldschere, die im Krieg viel gesehen haben… zu viel…” Die junge Geweihte seufzte. “Ich schätze, umso mehr müssen wir uns der schönen Dinge Deres bewusst sein. Das Leben ist doch eigentlich so einzigartig und wundervoll.” Mit einem traurigen Blick ihrer blauen Augen sah sie Darian an.

“Manchmal wünschte ich tatsächlich, ich könnte mich daran gewöhnen”, sagte er nach einer Weile. “Das würde all das sicherlich leichter machen. Erträglicher …”

Er schaute über ihre Schulter hinweg, ließ seinen Blick in die Ferne schweifen.

“Wenn du im Kampf bist, ist es unklug, darüber nachzudenken. Doch gleichzeitig weiß ich, dass ich in jenem Moment, in dem ich mich daran gewöhne, etwas von mir selbst verliere. Und das will ich nicht.”

Er legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter und erwiderte ihren Blick.

“Geht es wieder etwas?”

Er machte einen Schritt zurück in die Stube und griff nach einem Krug und einem Becher, goss etwas ein und reichte ihr draußen den Becher.

“Komm, nimm einen Schluck Wasser.”

“Ich danke dir. Kühles Wasser ist genau das Richtige”, murmelte Imelda zaghaft. So langsam hatte die Hadingerin ein wenig Farbe zurückgewonnen und nippte vorsichtig an dem Becher. “Mir geht es schon besser; ich glaube, ich wäre bereit, wieder hinein zu gehen. Geht es den anderen denn gut?” Besorgt zog sie die Stirn kraus. “Eigentlich sollte in der Kiste ja keine böse Macht mehr lauern, die die Leute aufeinander losgehen lässt.”

“Wer weiß schon, welches üble Werk der Lump vorbereitet hat …”

Ein verächtliches, trotziges Schnauben entfuhr Darian.

“Es wird sicher nichts freundliches darin zu finden sein. Und ehrlich gesagt wäre mir wohl, wenn diejenigen, die sich … mit diesen Dingen auskennen … oder die in der Lage sind, diese Übel einzudämmen, das ansehen. Aber ich bin da, um einzugreifen, falls wieder jemand den Verstand oder die Nerven verliert. Und mögen die Zwölfe geben, dass das nicht notwendig ist.”

Er drehte sich in Richtung der Tür, schaute Imelda noch einmal an, um sich zu vergewissern, dass sie mitkam und es ihr den Umständen entsprechend auch wirklich gut ging, und ging dann hinein.

Die Geweihte ergriff, während sie in der einen Hand den leeren Becher hielt, mit ihrer anderen die Hand Darians. “Ich bin mir recht sicher, dass kein unheiliges Übel mehr von der Kiste ausgehen sollte. Doch dein Schutz, Darian, ist für mich in dieser Situation mindestens genauso viel wert wie der Schutz, welchen uns die Götter gewähren. Komm’, schauen wir, wie die Lage ausschaut.”

Der Ritter nickte nur einmal. Langsam.

“Also möchtest du selbst die Kiste untersuchen, Kalman”, nahm der Tsageweihte die Aussage des Weissenquellers wieder auf. “Keine Angst, ich bin bei dir”, forderte Rionn ihn auf. Ein wenig war auch seine Neugier zu spüren.

"Ich bleibe auch dabei", erbot sich Nivard, jetzt tatsächlich nur noch flüsternd. Zum einen, um Kalman Beistand zu leisten, wusste er doch zu gut, wie es sich anfühlte, Teile eines Familienmitglieds geschickt zu bekommen. Zum anderen hatte er selbst erlebt, was die Geschenke Pruchs noch anzurichten vermochten - auch wenn die Geweihten sich dieser Kiste bereits angenommen hatten, war dennoch Vorsicht geboten. Außerdem hoffte ein kleiner Teil in ihm noch, dass die Hand vielleicht doch einem Mann gehört hatte, am besten die Rondrards war, nach dem Tode abgetrennt - mehr als einmal leiden und sterben hatte er schließlich nicht können. Doch Nivard wusste, dass dem nicht so sein würde. Und dafür hasste er Pruch. Mit jeder Begegnung, mit jeder der Untaten des Frevlers, die er miterleben musste, wurde sein Hass stärker.

“Also, gut, auf ein Neues!” Wieder atmete er tief ein. Doch dieses Mal war Kalman darauf vorbereitet, was er sehen würde. Er klappte den Deckel der Kiste hoch. In ihr lag, halb verdeckt von einem zusammengefalteten, blutdurchtränkten Pergament, die bereits genannte Hand. Kalman entnahm das Pergament und hielt es so, dass einer der anderen es ihm abnehmen konnte. Nun sah der Edlensohn die ganze Hand, die bleiche, blutleere Hand. Es war die gepflegte Hand einer Frau. An einem Finger steckte noch immer ein silberner Ring mit einer ziselierten Rose, deren Blüte aus einem rubinroten Stein gebildet wurde und vom Handrücken weg zeigte. Kalman erkannte diesen Ring als jenen, den Gwenn zur Verlobung von Rhodan Herrenfels geschenkt bekommen hatte. Die Hand war mit einem sauberen, glatten Schnitt knapp unter dem Handgelenk abgetrennt. Ein Schnitt, wie ihn nur ein sehr scharfes Schwert oder eine Axt ausführen kann. Oder etwas anderes Unheiliges. Kalman schloss die Augen und atmete schwer aus.


Ein kalter Schauer lief Nivard über den Rücken, und sein Magen wollte krampfen, als sein Blick die Hand berührte: eine schöne Frauenhand, und doch ein Bildnis des Grauens. Wer so etwas tun konnte und sich daran weidete, war kein Mensch mehr. Pruch hatte sich außerhalb jeder Menschlichkeit, ja außerhalb der Schöpfung gestellt. Alleine, um dem Anblick und dem sich immer schneller drehenden Wirbel des Hasses in seinem Inneren zu entgehen, griff Nivard nach dem Pergament. Er atmete noch einmal tief durch, dann entfaltete er es langsam und vorsichtig, so vor sich haltend, dass auch Rionn mit hineinblicken konnte.

Es wirkte, als sei der große Blutfleck entstanden, als Gwenns Hand gerade, als sie etwas schrieb, abgetrennt wurde.

Nivard hatte zunächst Schwierigkeiten, den blutverschmierten Text zu entziffern - er musste das Pergament kurz vor seine Augen halten. Als er es gelesen hatte, ließ er es sinken. Einen Moment lang schloss er die Augen und begann zu murmeln: “Er wird dafür sterben. Er wird dafür zahlen. In die Niederhöllen wird er fahren dafür!”

Grimmig nickte Grimmgasch zustimmend.

Dann straffte der Krieger sich und berichtete in leisen, langsamen Worten: “Der Brief… er ist von Eurer Schwester. Sie…”, ihm stockte die Stimme. “Sie ist eine sehr tapfere Frau! Und sie scheint… noch am Leben.” Nivard atmete tief durch. “Er hat sie gezwungen, Euren Bruder und Ihre Hochgeboren von Dürenwald aufzufordern, aufzugeben, als Preis für ihr Leben. Sie aber schrieb… sie sollten weitermachen… wir sollen weitermachen!”

Als Nivard das Pergament sinken ließ, griff der Tsageweihte danach. Auch ihm war es schwer gefallen, es aus dem Abstand heraus zu entziffern. So hielt er es nun nahe an sein Gesicht, während Nivard sprach.

Kalman schaute Nivard mit weit aufgerissenen Augen an. “Und dafür hat er ihr die Hand abgeschlagen? Weil sie nicht geschrieben hat, was er wollte? Ich werde ihn jagen! Ich werde ihn eigenhändig töten! Und wenn es mich selbst das Leben kostet. Er wird dafür büßen, was er Gwenn angetan hat. Ja, soll er in die Niederhöllen fahren!” Kalman und Nivard waren sich in diesem Punkt absolut einig.

Nivard nickte langsam. Mit jeder dessen Freveltaten wuchs die Schar derer, die Pruch stellen und bestrafen wollten. Irgendwann würden sie ihn erwischen und zur Strecke bringen. Der Tannenfelser wollte sich nur nicht ausmalen, wie hoch der Preis dafür am Ende sein würde, wieviele ihrer Liebsten noch mit Leib oder Leben dafür bezahlen mussten. Doch in diesem Krieg gab es kein Zurück mehr. Der Frevler musste aufgehalten werden.

Vorsichtig berührte er Kalman am Arm. "Wisst, dass Ihr nicht alleine seid! Weder jetzt, noch auf der Suche nach… ihm."

Kalman lächelte gequält. “Danke, ich danke Euch für Euren Beistand.” Der Ritter überlegte einen Moment, bevor er weitersprach. “Mein Bruder war Teil Eurer Gemeinschaft, bis er… Euch verraten…? Nun, verlassen hat. Ich werde seine Stelle einnehmen, wenn mir das Vertrauen entgegengebracht wird.”

Rionn musste nun erst wieder die Fassung zurück gewinnen. In ihm kämpften sowohl Resignation ob der brutalen Übermacht des Paktierers als auch ein abgründiger Zorn wider die üblen, niederhöllischen Mächte und ihre Verbündeten. Im Hintergrund rauschten Erinnerungsfetzen aus einem früheren Leben durch sein Bewusstsein; vieles, was er in den Schwarzen Landen und an dessen Rändern erlebt hatte; Bilder die aufstiegen, die im Tsageweihten durch die Geschehnisse hier in Lützeltal geweckt wurden; in manchem schien das Handeln des Pruchs dem der Borbaradianer auf grausame Weise ebenbürtig zu sein.

Als Rionn wieder einigermaßen klar denken konnte, erwiderte er dem Weissenqueller knapp und mit dünner Stimme: “Ja, wir nehmen dein Angebot gerne an, Kalman. Ich denke, da kann ich für die anderen mit sprechen…” Dann versagte seine Stimme und der Tsageweihte schwieg.

"Wenigstens für mich tust Du das, Rionn!" bekräftigte Nivard die Worte des Gefährten, mit ebenso leiser Stimme. "Willkommen in unserer Gemeinschaft. Zusammen werden wir kämpfen, zusammen werden wir leiden, und zusammen werden wir den Paktierer zur Strecke bringen. Am Ende..."

“Am Ende werden wir siegen!” ergänzte Grimmgasch. “WIR haben die Götter auf unserer Seite und der Weltenschöpfer wird es nicht zulassen, dass so ein Individium wie der Pruch am Ende siegen wird.”

‘Aber es wird sicher noch ein schwerer Weg …’ dachte Grimmgasch noch traurig.

Aus der Zelle im Nebenraum, in den sich Lucilla von Galebfurten zu der Gefangenen Doratrava zurückgezogen hatte, kam Lucillas Ruf: “Bringt uns einen Krug Wasser und zwei Becher bitte.”

Kalman, der für eine kurze Ablenkung dankbar war, schloss die Kiste, nahm selbst den Wasserkrug und zwei Becher und brachte diese in den Nachbarraum. Kurze Zeit später kam er zurück. Dann öffnete er die Kiste erneut, um der Hand Gwenns Ring abzunehmen. „Da der Herr Herrenfels heute bereits in der Frühe abgereist ist, werde ich ihren Ring verwahren, bis wir Gwenn gefunden haben. Ihre Hand soll zusammen mit den anderen Opfern auf unserem Grund Sumus Leib übergeben werden. Es fühlt sich besser an, einen Teil von ihr hier zu wissen, als sie zu verbrennen. Vielleicht wird Boron so ihre Seele aufnehmen, sollte…“ Dem Ritter versagte die Stimme.

"Ich glaube, er wird sie fürs erste am Leben lassen." Nivard wusste nicht, ob diese Aussicht tatsächlich so tröstlich war, wie er zunächst gehofft hatte. "Ich kann mir vorstellen, dass er weiter versuchen wird, Gudekar oder auch die Vögtin mit ihr zu erpressen." Sicher war er sich allerdings nicht. Wer vermochte schon einen wahnsinnigen Dämonenpaktierer einzuschätzen.

“Wir sollten uns weiter darauf konzentrieren, dass wir das Herz wieder zusammenfügen”, bemerkte Grimmgasch, “denn damit haben wir ein machtvolles Artefakt in der Hand, hinter dem alle Völker der Nordmarken stehen.”

Borix nickte. Sein Tempelvorsteher hatte ihm und Murla nur in wenigen Andeutungen von diesem Herz der Nordmarken erzählt, um die Bergwacht nicht auch noch in den weiteren Kreis der Ermittler und somit der potenziellen Opfer des Pruchs zu machen. Und wenn Grimmgasch sich nun auf die Suche nach dem Artefakt machen würde, würde er mit Murla zurück in die Bergwacht gehen und diese schützen.

Mit einem leeren Wasserbecher in der einen Hand und Darians Rechter in der anderen, wagte sich die Ingrageweihte erneut in die Kammer des Grauens. Ganz bewusst versuchte sie jedoch, nicht näher an die Kiste auf dem Tisch heranzutreten. “Und…”, fragte sie zaghaft und schluckte, “...wisst ihr schon, wessen Hand sich dort… oder habt ihr das beigelegte Pergament gelesen?”

“Frag Meister Kalman”, antwortete Borix leise und mit unglücklicher Miene.

Angespannt lag die Aufmerksamkeit der jungen Hadingerin auf Kalman, befürchtete sie nun das Schlimmste.

Dunkler wurde das Gesicht des Ritters aus Rodaschquell, als er auf die abgetrennte Hand blickte. “Was für eine neue Schandtat hat dieser Dreckskerl nun wieder ….”, zischte er.

Es war gemeinhin bekannt, dass der Sturmfelser ein ungestümer, impulsiver Mann war. Mochten die Jahre das Feuer der Jugend, das nur allzu oft mit unbesonnener Hitze loderte, ein wenig eingedämmt haben, so war es dennoch nicht erloschen.

“Wenn wir doch endlich einen Anhaltspunkt hätten!”, rief er zornig. “Wenn es doch irgendeine Spur gäbe, der wir nachgehen könnten! Dieses Tappen im Dunkeln …”

Er schüttelte energisch den Kopf, und Zornesfalten hatten sich tief in seine Stirn gegraben.

Besorgt musterte Imelda den Sturmfelser Ritter. Sie selbst fühlte sich machtlos und wünschte sich, irgendwie helfen zu können.

Kalman seufzte derweil nach Imeldas Frage. Das unaussprechliche aussprechen zu müssen, fiel ihm schwer, doch machte es die Wahrheit fassbarer. “Es ist Gwenns Hand. Er hat sie ihr abgeschlagen, weil sie…” Er brachte es nicht weiter über die Lippen.

“Weil sie was…?”, fragte Imelda ungeduldig nach und ging dem Weissenqueller einen Schritt entgegen. “Kalman! Weil sie was?”

“Weil sie Mut hatte”, antwortete der Ritter voller Bitterkeit, “weil sie nicht getan hat, was er verlangt hat. Weil sie uns sagen wollte, dass wir IHN jagen sollen, dass wir IHN zur Strecke bringen müssen, dass wir uns nicht davon abbringen lassen dürfen, selbst wenn dies ihren Tod bedeutet.”

“Und das werden wir!”, schaltete sich Rionn ein. Ein für einen Tsageweihten merkwürdiger Zorn kam in seiner Stimme zum Ausdruck. “Wir werden diesen Bäckergesellen zur Strecke bringen. Und wir werden Gwenn befreien! Lebendig! Und auch Eoin…” Doch dann versagte seine Stimme.

Imelda konnte den Zorn der Anwesenden gut verstehen. Sie alle hatten Grund, zornig und traurig zu sein. Ohne ein Wort zu sagen, biss sich die junge Geweihte auf die Unterlippe. Es war eine tiefe Trauer und Fassungslosigkeit, die über sie gekommen war. Was sollte sie nur tun? Jene, die den Pruch jagten, wussten besser als sie, wie gut die Chancen standen, die Geiseln lebend zu befreien. Doch hatte sie das Gefühl, dass Hoffnung genau das war, was alle gebrauchen könnten. “Eins nach dem anderen… Wo wir bei dem Thema ‘Retten’ sind. Herr Kalman!”, sprach sie diesen mit lauter und gut hörbarer Stimme an, sodass vermutlich auch im Nachbarzimmer die durchdringende Stimme der jungen Geweihten zu vernehmen war. “Was ist denn mit der Gauklerin Doratrava? Sie ist doch auch Teil der Ermittler gegen diesen Mörder. Es heißt, sie würde von Euch festgehalten werden?”

“Das ist richtig”, bestätigte Kalman, “sie sitzt momentan in der Zelle.” Er deutete auf die Tür zum Nachbarraum. “Es stehen Anschuldigungen der Paktiererei eines angesehenen Ritters gegen sie im Raum, die geklärt werden müssen. Über ihr Schicksal werden wir später beraten, nachdem das Tempelpaar aus Albenhus eingetroffen ist und wir weiteres dämonisches Wirken hier ausschließen können. Mein Vater wird die Verhandlung führen.”

“Gut!”, entgegnete Imelda mit recht lauter Stimme. “Dann wird sich ja schon bald herausstellen, dass die Künstlerin unschuldig ist. Ich bin nämlich mit ihr in den letzten Monden lange gemeinsam gereist und weiß, dass sie ein gutes Herz hat.” Imelda trat einen Schritt in Richtung der Tür, auf welche Kalman gedeutet hatte. “DORATRAVA!”, rief sie dann spontan aus Leibesseele. “HALTE AUS! WIR HOLEN DICH SCHON SEHR BALD DA RAUS!”

“Euer Gnaden!”, wies Kalman die Ingrageweihte zurecht. “Mein Vater wird alle Argumente hören und dann die richtige Entscheidung treffen. Versprecht der Gauklerin nichts, zu dem Ihr nicht bereit seid, es zu erfüllen!”

“Und dennoch wird es so sein”, mischte sich Rionn ein, “dass wir alles tun werden, Doratrava zu helfen. Es gibt gute Gründe dafür.” Dann hob auch er seine Stimme und rief: “HALTE AUS, DORATRAVA! WIR HABEN DICH NICHT VERGESSEN!”

Doratrava hat nichts von dem Gespräch, das draußen stattfand, mitbekommen, aber die lauten, an sie gerichteten Rufe waren nicht zu überhören und die Stimmen leicht zu identifizieren. Ein wenig musste sie schmunzeln, wenn auch wehmütig, aber sie freute sich, dass es Freunde gab, die zu ihr standen und nicht gleich beim ersten Anschein eines Zweifels das Weite suchten. Allerdings verzichtete sie darauf, zurückzuschreien, da sie sich auf die Worte der Rechtsgelehrten konzentrieren musste, welche zusammen mit Alana von Altenberg noch in ihrer Zelle weilte.

Der Sturmfelser wirkte nachdenklich. Allein der Gedanke an einen Hauch von Dämonischem, der hier am Werke sein mochte, war Darian zutiefst zuwider. “So ganz grundlos wird sie ja wohl vermutlich nicht hier sitzen, oder? Die Vorwürfe sind eine ernste Sache, gutes Herz hin oder her. Wenn sie unschuldig ist, muss sie natürlich freigesetzt werden. Und ich stimme Herrn Kalman zu, dass der Herr dieses Guts die Angelegenheit anhören und dann entscheiden muss.”

Der Tsageweihte nickte den Anwesenden zu. “Aber jetzt lassen wir Doratrava erst einmal mit Lucilla reden. Wir sollten uns nun darum kümmern, die weiteren Auswirkungen des Angriffs des Pruchs einzudämmen. Müsste jetzt nicht bald das Tempelpaar ankommen?”

“Ja, sie sollten so langsam eintreffen.” Imelda war froh, dass sie ihrer Freundin, der Gauklerin vielleicht ein Lebenszeichen hatte geben können, damit diese die Hoffnung nicht aufgab. Insgeheim konnte sie selbst nur dafür beten, dass an den Anschuldigungen wirklich nichts dran war. Doch waren in den letzten Stunden so viele seltsame Dinge geschehen, dass sie gar nichts mehr wunderte. “Was meint ihr, wollen wir mal nachschauen, wo das Tempelpaar bleibt?” Sie trat an den schmucken Ritter heran, strich sich eine ihrer rotblonden Locken hinters Ohr und lächelte ihn charmant an. “Würde der Herr Ritter so freundlich sein und mir die Ehre erweisen, mich nach draußen zu begleiten?”

Der wiederum zögerte etwas. Waren sie nicht gerade erst eingetroffen? Aber andererseits: Was gab es hier noch für ihn zu tun? “Der Beistand der Zwölfe ist sicherlich genau das, was wir brauchen. Dann schauen wir halt nach dem Tempelpaar.”

Eine Spur von Ungeduld mischte sich in die Stimme Darians. Dieses hin und her Stiefeln machte ihn mürbe. Zeigte ihm einmal mehr, dass er in diesem Augenblick nichts wirklich sinnvolles tun konnte.

Entschlossen nickte Imelda dem Ritter zu, dessen Ungeduld sie spürte. Umso mehr versuchte sie ihre eigene Hilflosigkeit und Frustration hinunterzuschlucken. "Wir können momentan wohl nicht viel mehr tun, als unsere Kräfte zu sammeln und für diejenigen da zu sein, die unserer Hilfe bedürfen." Dann knuffte sie dem Sturmfelser recht hart in den Oberarm. "Und ja, der Beistand der Götter ist bei allem, was geschehen ist, genau das, was alle hier brauchen!" Die junge Hadingerin wog den Kopf schief, während sie mit den Fingern eine Haarsträhne nach vorne zog und diese betrachtete. Ihr Haar war durch den Ruß annähernd schwarz, so wie fast jeder Pore Imeldas. "Und ein entspannendes heißes Bad wäre auch gut. Ich sehe ja aus, als wäre ich gerade durch den Schornstein gekrochen."

Und erneut fragte er sich, wie sie das nur machte. Natürlich gefiel es ihm, dieses Kokettieren. Die kurzen Berührungen. Die kleinen Gesten. Er kannte es von so manchem Turnier, so manchem Fest bei Hofe. Aber hier war es mehr als das. Ehrlicher. Offener. Und … einnehmender. So schnell sich die dunklen Wolken um sein Gemüt legten, so schnell gelang es ihr, sie wieder beiseite zu scheuchen.

“Ein guter Gedanke. Sollte sich die Zeit finden in all dem Chaos, würde mir das sicher ebenfalls gut tun.”

Er wandte sich zu Gehen. Drehte sich jedoch noch einmal um.

“Wobei … den Ruß finde ich gar nicht so schlimm. Er steht einer Schmiedin.”

Ein Lächeln. Kurz. Ehrlich.

“Ach…”, winkte Imelda das Kompliment ab und schmunzelte errötend. Nur zu gerne würde sie den Ritter zu einem gemeinsamen Bad einladen, doch war dies wohl nicht der richtige Ort und nicht die richtige Zeit dafür. Sie hatte vielleicht nur eine Stunde Zeit, um zur Schmiede zu laufen, sich kurz zu waschen, umzukleiden und die Haare machen, um dann noch rechtzeitig beim Frühstück zu sein. Verträumt sah sie Darian einige Herzschläge hinterher, bis sie sich selbst auf den Weg machte.

~ * ~

In der Zelle

Als die ganze Mannschaft die Wachstube stürmte, hatte Doratrava die Beine angezogen und die Arme um die Knie geschlungen, auf denen nun ihr Kinn lag während sie mit ausdruckslosem Gesicht und abwartend dem Tumult zusah. Irgendwie fühlte sie nun, da offenbar etwas passierte, zumindest was die Kiste anging … nichts. Sie fühlte eine bislang ungekannte innere Taubheit, und fast schien es ihr, als sei sie nur eine Zuschauerin, die ihren eigenen Körper von außen betrachtete und die das alles nichts anging.

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, trat die noch junge Adlige in einer schlichten, blauen Tunika, einer schwarzen Hose und hohen, braunen Stulpenstiefeln aus Wildleder auf Doratrava zu. Dass sie von Stand war erkannte man in erster Linie an der Qualität der von ihr getragenen Stoffe und an der kunstvollen Hochsteckfrisur, deren bloße Fülle - sie musste wahrlich lange Haare besitzen, von einem Haarnetz gebändigt wurde, in das Perlen eingearbeitet waren.

“Ich bin Lucilla von Galebfurten, Rechtsgelehrte und ordentliche Richterin in Galebquell”, sprach die Erbvögtin mit glockenheller Stimme. “Ungeachtet der Tatsache, dass ich an eurer Festsetzung beteiligt gewesen bin, würde mich gerne mit Euch darüber unterhalten, was geschehen ist, so Ihr bereit seid mit mir zu sprechen. Ich bin kein Praiot und weder Dogmen, noch Vorurteilen verhaftet, dies kann ich Euch versichern. Ich muss aber sagen, dass es mir aufgrund der Vorwürfe und anhand des Leumunds der Personen, die diese vorbrachten, richtig erschien, euch festzusetzen. Jetzt aber muss euch auch die Chance eingeräumt werden, zu allem Stellung zu beziehen.”

Die Adlige lächelte erneut und es war aufrichtig. “Also, ich bin gewillt Euch zuzuhören, wenn Ihr mir im Gegenzug aus eurer Perspektive erklärt, was vorgefallen ist und was man Euch zur Last legt. Was meint Ihr?”

Skeptisch musterte Doratrava die Rechtsgelehrte von oben bis unten, während sie überlegte, wie sie auf deren Ansinnen eingehen sollte. Nach einigen Augenblicken des Zögerns erwiderte sie: “Seid Ihr dann die Einzige, die mit mir spricht? Will sonst niemand hören … ach egal. Wo soll ich anfangen? Oder wollt Ihr Fragen stellen?” Doratravas Tonfall war indifferent, als sei ihr dieses Gespräch nicht wirklich wichtig.

“Fangt am besten bei Eurer Ankunft in Lützeltal an”, antwortete Lucilla, trat einen Schritt beiseite und lehnte sich mit der Schulter an die Wand. Die Hände verschränkte sie auf dem Rücken.

“Erst einmal möchte ich mir einen Eindruck des Gesamtbildes machen. Bisher kenne ich nur lose Bruchstücke, die sich in meinem Kopf nur schwerlich zusammenfügen. Hierzu wäre es am besten, Eure Geschichte zu hören.”

Doratrava runzelte die Stirn. War das nicht Zeitverschwendung? Wäre es nicht besser, Lucilla zu fragen, was sie schon wusste, und nur die Lücken zu füllen? Andererseits gab es ja nichts, was sie sonst mit ihrer Zeit anfangen könnte, zudem wusste sie nicht, wie verzerrt manche der Ereignisse bei der Rechtsgelehrten angekommen waren, so dass es vielleicht schon besser war, dieser ihre Sicht der Dinge darzulegen.

Also holte die Gauklerin tief Luft, um dann zu beginnen: “Ich bin am 11. Travia hier angekommen, auf Einladung des Bräutigams, Rhodan von Herrenfels. Kann sein, dass Gudekar von Weissenquell mich empfohlen hat, denn letzterer hat mich schon anderweitig gesehen, auf der Schweinsfolder Hochzeit zum Beispiel. Am 12. Travia bin ich dann aufgetreten, da fand ja das Volksfest als Einleitung der Feierlichkeiten zur Hochzeit statt, und ich denke, meine Vorführungen haben nicht enttäuscht. Nicht zuletzt die Braut, die ich da zum ersten Mal sah und gesprochen habe, zeigte sich sehr angetan. Ich hatte bis dahin meine Sachen in einem Zelt auf dem Zeltplatz untergebracht, aber der Herr Herrenfels war darüber fast schon erzürnt, hatte er doch eine Unterkunft im Jagdschlösschen für mich bereiten lassen, aber das hatte man mir wohl versäumt zu sagen. Auf jeden Fall bin ich nach meinen nachmittäglichen Aufführungen dorthin umgezogen. Dabei traf ich einige Bekannte, die ich teils erst im Zuge der Ermittlungen im Umfeld des Bäckerpruchs, an denen ich ebenfalls teilgenommen habe, kennengelernt hatte, wie die Dame Tsalinde vom Kalterbaum, manche aber auch schon lange vorher, wie Baronin Liana oder Nivard von Tannenfels."

Doratrava hielt inne, um Luft zu holen und um zu sehen, ob Lucilla in irgendeiner Weise auf ihre Worte reagierte.

Die junge Adlige lächelte. “Auch ich habe einer jener Aufführungen beigewohnt und durfte mich an Euren Künsten erfreuen”, sagte Lucilla und konnte die Begeisterung in ihrer Stimme nicht zur Gänze verbergen. Schnell jedoch wechselte sie wieder zu einem sachlichen Ton: “Aber bitte, so fahrt doch fort. Ich habe das Gefühl, Eure Geschichte wird recht umfangreich werden.”

"Am Abend hatte ich dann nochmal einen großen Auftritt", fuhr Doratrava fort. "Auch dieser war ein großer Erfolg, wie ich an den Reaktionen des Publikums sehen konnte, und ich war glücklich deswegen. Später habe ich dann noch mit den Brautleuten getanzt, und auch diese waren da noch glücklich." Sie seufzte schwer.

"Später habe ich dann an der Nachtwanderung teilgenommen. Eigentlich war ich schon ganz schön müde, ich hatte mich ja den Tag über schon genug verausgabt. Aber ich war auch neugierig, außerdem bin ich ein Nachtmensch ... oder eine Nachtelfe oder was auch immer, sucht es Euch aus." Die Gauklerin grinste kurz selbstironisch, bevor sie ihre Erzählung fortsetzte. "Also bin ich mitgegangen bei der Nachtwanderung, wo wir ja den für die Familie hier namensgebenden See aufsuchten. Und ich habe es nicht bereut. Ich habe dabei die Rahja-Akoluthin Vinja kennengelernt, aber vor allem Merle Dreifelder, die Frau von Gudekar, zu der ich mich fast augenblicklich hingezogen fühlte, als wären unserer beider Seelen Instrumente, deren Klang sich harmonisch ineinander fügte." Wenn Doratrava alles erzählen wollte, was zur aktuellen Situation geführt hatte, dann würde sie ihre Zuneigung zu Merle nicht verschweigen können, also konnte sie gleich damit anfangen, davon zu berichten. "Die beiden Damen wollten, dass ich ihnen ein paar Kunststücke zeige und sogar, dass ich ihnen etwas beibrachte. Ich bin ihren Wünschen gerne gefolgt, wenn man jemandem in einer halben Stunde natürlich nicht viel lehren kann. Aber das hatte zur Folge, dass ich mich immer besser mit Merle verstand. Gudekar hat uns und unser fröhliches, harmloses Treiben gesehen, aber er machte einen desinteressierten Eindruck, obwohl sich seine Frau offensichtlich gut amüsierte. Er kam nicht einmal zu uns, sondern blieb die ganze Zeit bei seiner vorgeblichen Leibwächterin, Meta Croy."

Wieder machte Doratrava einen sinnende Pause, bevor sie den Faden wieder aufnahm. "Ich habe zwischendurch der Geweihten Imelda von Hadingen noch versucht, ein paar Tanzschritte beizubringen. Merle hat zugeschaut, später haben beide mich dann genötigt, etwas zu singen, was nicht gerade meine Stärke ist. Nun, ich kann das jetzt nicht richtig erklären, aber auch das verstärkte das Band zwischen mir und Merle noch mehr. - Später haben wir dann sogar ein weißes Reh gesehen, was auch immer das bedeuten mag, und am See angekommen hat jemand von hier die Familienlegende der Weissenquells erzählt. Dort habe ich mich spontan dazu entschlossen, in dem eiskalten Wasser zu baden - und Merle ist mir gefolgt. Ich weiß nicht, ob es am Wasser lag ... ich habe davon getrunken, und das hat ganz seltsame Gedanken und Gefühle in mir ausgelöst. Da habe ich Merle unter Wasser geküsst, und sie war nicht unglücklich darüber."

Wieder hielt Doratrava gedankenverloren inne und spielte mit einer Haarsträhne, den Blick in unendliche Fernen gerichtet. "Aber bevor etwas passieren konnte, hat mich Merle an den Traviaschwur erinnert, den sie Gudekar geleistet hatte wie auch er ihr - was ihn nicht davon abgehalten hat, mit Meta einen Rahjabund einzugehen, gar zum zweiten Mal und ausgerechnet am Vortag der Hochzeit seiner Schwester, unter der Nase seiner Frau." Die leise Stimme der Gauklerin klang eher traurig als zornig bei diesen Worten, und wieder schaute sie in die Ferne.

"Später habe ich dann erfahren, dass mich und Merle noch mehr verbindet: beide sind wir als Säuglinge zu Traviageweihten gekommen und wurden von diesen aufgezogen, beide kennen wir unsere wirklichen Eltern nicht und was sie dazu veranlasst haben mag, uns wegzugeben."

"Irgendwann sind wir in der Jagdhütte angekommen, da haben wir, also ich, Merle und die anderen, die dort nächtigten, außerdem Gwenn und eine Magd, deren Namen ich vergessen habe, uns aufgewärmt, gesprochen und Tee getrunken. Wir sind dann auf die Jagd am morgigen Tag zu sprechen gekommen und dass ich in Nilsitz sogar Jagdkönigin geworden war, zusammen unter anderem mit Nivard von Tannenfels, den ich just auf jener Jagd überhaupt erst kennengelernt hatte und der mir seither ein guter Freund war. Nivard hat dann der neugierigen Bande auch erzählt, wie es sich zugetragen hatte, dass wir zu Jagdkönigen wurden. Irgendwie habe ich den Herrn Nivard dann im Scherz herausgefordert: wenn er es schaffe, mich morgen früh zu wecken, dann würde ich auch hier an der Jagd teilnehmen. Ihr müsst wissen, dass es mir für gewöhnlich schwer fällt, mich vor der zehnten Stunde aus dem Bett zu quälen, insofern war die Herausforderung nicht klein. Doch Nivard wollte sich dieser stellen.

Später gab es dann noch einen Vorfall mit der Baronin von Rodaschquell, die sich auch noch zu uns gesellte. Sie hatte wohl irgendwas im Tee, das ihre ... das sie durcheinanderbrachte und sie ein wenig ... sagen wir, seltsam reagieren ließ." Doratrava machte eine kurze Pause und überlegte, ob sie das näher ausführen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Hier ging es um ihre Geschichte, die kleine Unpässlichkeit Lianas tat hier nichts zur Sache.

"Weil wenig Platz war und, soweit ich mich erinnere, Liana von Rodaschquell gar nicht in der Jagdhütte hätte übernachten sollen, kam es dann dazu, dass Merle bei mir in meinem Zimmer schlief. Passiert ist nichts, weil Merle sich immer noch an ihre kaputte Ehe mit Gudekar klammerte, aber am nächsten Morgen kam tatsächlich der Herr Nivard, um mich zu wecken. Der Arme hat fast den Schock seines Lebens bekommen, als er mich und Merle da so liegen sah, denn das Bett war viel zu eng für zwei Personen und ich schlafe immer nackt, wenn ich ein Bett habe. Irgendwie haben die beiden mich dann aber wachbekommen und ich bin mit Nivard losgezogen, zum Treffpunkt der Jagdgesellschaft. Sozusagen mitten in der Nacht für meine Verhältnisse und bei rechtem Sauwetter, wie ich hinzufügen muss."

Nun gab Doratrava ihre zusammengekauerte Haltung auf und erhob sich, um sich zu strecken. Eigentlich sehnte sie sich danach, ein paar Übungen zu machen, aber hier war kaum Platz, und außerdem sollte sie ja weitererzählen. Ihr entfuhr ein weiterer Seufzer, dann zogen sich ihre Brauen zusammen, als sie an die nächste Episode dachte. "Die Jagd", setzte sie wieder an. "Die keine war. Zumindest nicht für mich. Und, wohl auch durch meine Schuld, nicht für Nivard. Ich will da jetzt nicht jede Kleinigkeit ausbreiten, für das, was später passiert ist, spielt das vermutlich keine Rolle. Aber in Kürze: der Geweihte Firumar, der die Jagd leitete, empfing mich mehr als ungnädig. Eigentlich ging es ja darum, Wildschweine zu jagen, welche das Land der Weissenquells über Gebühr schädigten, und da hätte ich gerne meinen Beitrag geleistet, ganz unabhängig von der kleinen Wette mit Nivard. Aber diesem Firumar war das alles egal. Er gab mir zu verstehen, dass ich da nichts zu suchen hätte. Erst ließ er uns alle nach einer Predigt das Gesicht mit Erde zeichnen, aber mich und Nivard kanzelte er anschließend ab und demütigte uns, indem er uns befahl, die Zeichnungen wieder abzuwaschen. Er ritt die ganze Zeit nur darauf herum, dass ich mit Nivard wegen des Weckens gewettet hatte. Alle - ernstgemeinten! - Beteuerungen meinerseits und auch des Herrn Nivard, dass die Jagd selbst für uns kein Spiel sei, wischte er beiseite und behauptete, es sei Firuns Wille, dass ich die Jagd nur begleiten, aber nicht daran teilnehmen dürfte und Nivard auf mich aufpassen musste. Einen Widerspruch ließ er nicht zu, denn 'Firuns Wille' dürfe nicht angezweifelt werden. Ich zweifele nicht an der Macht der Götter, aber ich erlaube mir durchaus Zweifel an ihren derischen Vertretern!" Doratrava hatte sich zunehmend in Rage geredet, die Erinnerung an die Szene mit dem Firungeweihten hatte die Wunde, welche seine Verachtung und Selbstgefälligkeit geschlagen hatte, wieder aufgerissen.

Bei der durch Doratrava geäußerten Kritik an dem Geweihten des Weißen Mannes, bei dem geäußerten Zweifel ‘an den derischen Vertretern’, zuckten die Mundwinkel der Galebfurtenerin und die Gauklerin hatte das Gefühl, dass ihr Gegenüber hätte schmunzeln müssen, hätte sie ihr Antlitz nicht derart gut unter Kontrolle. Ein Kommentar erfolgte nicht. Lucilla wusste es besser: Wenn ein Angeklagter, und Doratrava musste als ein solcher gelten, im Redefluss war, sollte man ihn nicht unterbrechen, bis er mit seiner Geschichte vollständig geendet hatte… auch wenn es langwierig war und auch viel ‘unwichtiges’ geäußert wurde.

Doratrava biss die Zähne zusammen, um sich zu beruhigen, mit beschränktem Erfolg, denn es wurde ja nicht besser. "Wir durften uns einer der Jagdgruppen anschließen, und als wir dann im Wald unterwegs waren, gab mir Nivard zu verstehen, dass ich nichts falsch gemacht hätte und auch er die Reaktion des Geweihten für überzogen hielt, was aber nichts daran änderte, dass wir seinen Anweisungen Folge leisten mussten." Wieder schwieg die Gauklerin für einen kurzen Moment und atmete tief durch. "Dann sprach Nivard mich auf mein Verhalten Merle gegenüber an. Erst von ihm erfuhr ich, dass es sehr schlecht um die Ehe zwischen ihr und Gudekar stand, vorher hatte ich das nicht gewusst und mir auch nicht wirklich Gedanken darüber gemacht. Aber Nivard blieb vage, berief sich auf gegebene Versprechen, deutete aber an, dass Merle auf der Hochzeit Schlimmes widerfahren und Gudekar in sein Unglück rennen würde. Da ich Merle mittlerweile mehr als lieb gewonnen hatte, machte ich mir natürlich große Sorgen, was meinem bereits von dem Firungeweihten erschütterten seelischen Gleichgewicht nicht zuträglich war. Als Nivard mich allen Ernstes bat, ob ich nicht dafür sorgen könne, dass Merle in Gudekars Augen wieder attraktiv und begehrenswert sei, ist mir dann rausgerutscht, dass ich mich in Merle verliebt habe." Warum erzählte sie das alles? War das wirklich wichtig für Lucilla? Aber nun, da sich zum ersten Mal jemand Zeit nahm, um ihr wirklich zuzuhören, sprudelte alles einfach aus ihr heraus, auch wenn sie nicht wusste, was die Rechtsgelehrte wohl mit den Informationen machen würde und ob sie überhaupt einen offiziellen Auftrag hatte oder nur neugierig war. Es war nun ein wenig spät, danach zu fragen, also erzählte Doratrava einfach weiter.

"Dann passierte die Sache mit Mika. Wegen des ganzen Regens war der Untergrund im Wald nass und rutschig. Sogar ich bin einmal ausgerutscht, obwohl ich mich sonst auch auf einem Seil sicher bewegen kann, und Mika, Gudekars kleine Schwester, die sich als Firunnovizin im Wald auskennen sollte, hat es richtig hingelegt. Dabei ist die Laterne zersplittert, die sie trug, und sie hat sich eine Hand ganz bös aufgeschnitten. Obwohl sie das selbst nicht wahrhaben wollte, konnte sie mit so einer Verletzung, die Nivard zwar versorgte, so gut es ging, nicht weiter an der Jagd teilnehmen. Es bedurfte aber einiges an gutem Zureden, sie davon zu überzeugen, ins Dorf zurückzukehren. Da ich sowieso nichts tun durfte bei der Jagd, bot ich mich an, Mika ins Dorf zu begleiten, was Friedewald gerne annahm."

Doratrava hatte begonnen, in der kleinen Zelle auf und ab zu gehen, wobei sie immer wieder unbewusst ein paar schnelle, kleine Tanzschritte einflocht, ohne dass das ihren Erzählfluss gestört hätte. "Doch Mika erwies sich als stur und bockig. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass sie unbedingt Firumar von ihrem Missgeschick berichten musste, damit der dann entschied, was sie weiter tun sollte. Und davon ließ sie sich nicht abbringen, auch nicht mit dem Hinweis, dass sie dann Stunden für die Versorgung ihrer Hand verlieren würde, die eigentlich Gudekar auf magischem Weg vornehmen sollte. Wenn ihre Hand nicht mehr in Ordnung käme, dann wäre das halt Firuns Wille, behauptete sie steif und fest. So ein Blödsinn!" Doratrava schnaubte erbost. "Wenn ich also Mika direkt ins Dorf hätte bringen wollen, so wäre das nur mit Gewalt gegangen, und das wollte ich weder mir noch ihr antun. Sie einfach allein Firumar suchen lassen, konnte ich auch nicht, da die anderen sich auf mich verließen. Also blieb mir nichts, als ihr zu folgen, wenn auch zähneknirschend. Dass Mika dann auf dem Weg versuchte, Firumars Verhalten mir gegenüber zu rechtfertigen, machte die Sache nicht besser. Aber wir rauften uns mit der Zeit irgendwann zusammen, und am Ende erfuhr ich sogar von der Liebschaft zwischen Meta und Gudekar und dass diese schon seit zwei Jahren besteht, seit der Hochzeit in Schweinsfold. Das ist Mika so herausgerutscht, und sie bat mich inständig, es niemandem zu verraten, vor allem nicht, dass ich es von ihr weiß. Aber mittlerweile weiß das ja jeder, da kommt es darauf nicht mehr an. Auf jeden Fall wusste Merle davon zu jenem Zeitpunkt noch nichts, doch Mika sagte mir, Gudekar hätte versprochen, ihr nach der Hochzeit zu sagen, dass er mit Meta fort wollte." Bei dieser Gelegenheit hatte Doratava auch erfahren, dass Gudekar auf der Schweinsfolder Hochzeit Tsalinde geschwängert hatte, aber das tat nun wirklich nichts zur Sache, also ließ sie dieses Detail aus.

"Schließlich fanden wir zwar zunächst nicht den Firungeweihten, aber seinen Hund, also konnte sein Besitzer nicht mehr weit sein. Aber gleichzeitig gerieten wir auch in eine Rotte Wildschweine hinein und trafen mit den anderen Jägern zusammen. Da ich nichts tun durfte, brachte ich mich auf einen Baum in Sicherheit, die verletzte Mika wurde von Firumar geschützt, der jetzt ebenfalls auftauchte. Zur Jagd selbst gibt es nicht viel zu sagen, da ich daran wie gesagt nicht teilgenommen habe. Als diese vorüber war, ein paar Wildschweine waren tot, ein paar vertrieben, rückte Mika wieder in den Fokus. Ihr Lehrmeister wusste nun Bescheid, und wir mussten nun endlich ins Dorf. Die Baroness Ardare von Kaldenberg schloss sich uns an, warum auch immer, und das, obwohl Mika auch ihr ziemlich frech und abweisend, was die Versorgung ihrer Hand anging, entgegentrat. Ich kenne Ardare schon ein wenig länger und weiß, dass sie das normalerweise nicht verträgt. Aber gegenüber Mika war sie erstaunlich nachsichtig."

So langsam nahm Doratravas Stimme eine krächzende Qualität an, sie war es nicht gewohnt, so lange am Stück zu sprechen. "Kann ich etwas zu trinken haben?", fragte sie Lucilla daher.

“Natürlich”, entgegnete die Adlige und wies die Wachleute, die sie noch vor der Zelle vermutete, an: “Bringt uns einen Krug Wasser und zwei Becher bitte.” Lucilla hatte nicht mitbekommen, dass die Wachleute fortgeschickt wurden.

Nachdem Lucilla merkte, dass ihrer Bitte nicht sofort Folge geleistet wurde, wiederholte sie ihre Bitte, diesmal etwas nachdrücklicher. Danach wandte sie sich wieder an die Schaustellerin. “Ihr macht das gut, Ihr scheint ein wirklich gutes Gedächtnis zu haben. Wenn es Eurer Sache dienlich ist - dies entscheiden wir später, werde ich Eure Worte niederschreiben. Könnt ihr lesen?”

Doratrava nickte. “Ich bin nicht sehr geübt darin, aber ja.”

“Gut. Wenn wir am Ende übereinkommen, werdet ihr meinen Bericht lesen und als Stellungnahme für euch sprechen lassen können. Allein das dürfte eure Position verbessern.”

Schließlich kam Kalman von Weissenquell selbst mit einem irdenen Krug und zwei Holzbechern zurück, die er füllte und dann der Adligen gab. Lucilla reichte einen an Doratrava weiter und tat infolgedessen selbst einen großen Schluck, um sich dann, den Becher in beiden Händen vor der Brust haltend, wieder mit einer Schulter an die Zellwand zu lehnen.

Kalman blieb noch einen Moment in der Tür stehen, um sich zu vergewissern, dass hier alles in Ordnung war und die Dame von Galebfurten nicht in Gefahr war. Als er merkte, dass diese jedoch ungestört mit Doratrava reden wollte, verließ er die Zelle wieder.

Die Gauklerin nahm den Becher entgegen und trank ihn umgehend halb leer, wobei sie sich allerdings Zeit ließ. Aber schließlich setzte Doratrava ihren Bericht fort: "Wir schlugen uns also zu dritt unter Mikas Führung durch den Wald zum Dorf zurück. Es regnete noch immer ohne Unterlass und der Wind wurde immer stärker. Arda und Mika haben sich auf dem Weg ganz schön gestritten, aber irgendwie haben wir uns alle zusammengerauft, und als wir das Dorf erreichten, waren wir schon fast so etwas wie Freundinnen." Und hatten teilweise recht tiefsinnige Gespräche geführt, die niemanden sonst etwas angingen. Sogar Arda hatte sich geöffnet, was sie vor diesem Tag nicht für möglich gehalten hätte.

"Auf dem Höhepunkt des Sturmes erreichten wir das Dorf. Wir bekamen schnell mit, dass es Verletzte gab, konnten aber nicht helfen, da wir immer noch die Aufgabe hatten, Mika sicher in Gudekars Hände zu überführen. Das stellte sich aber als ein ziemlich langwieriges Unterfangen heraus. Wegen der Verletzten war Gudekar sehr beschäftigt, und Mika nahm ihre Verletzung nicht ernst, und so gab es noch einige Verwirrungen, bis ich mich der Aufgabe, auf Mika aufzupassen, entledigen konnte." Doratrava schloss kurz die Augen, um innerlich zu seufzen, als sie an die Eskapaden von Mika zurückdachte.

"Danach hatte ich endlich die Muße, mich selbst ein wenig auszuruhen und mir etwas Trockenes anzuziehen. Die Frau von Kalterbaum, mit der ich ebenfalls im Zuge der Pruch-Ermittlungen schon zusammengetroffen war, war so freundlich, uns in den Hof einzuladen, der ihr als Unterkunft diente. Ach ja, 'uns' meint mich und Merle, die sich inzwischen ebenfalls zu uns gesellt hatte. Und Tsalinde von Kalterbaum lieh mir auch etwas von ihrer Kleidung, denn meine eigenen Sachen waren ja im Jagdschlösschen, eine halbe Wegstunde vom Dorf entfernt - bei gutem Wetter. Doch Ruhe sollte mir keine vergönnt sein. Denn Merle hatte uns mit Absicht aufgesucht, um uns etwas Schlimmes zu sagen. Erst berichtete sie uns davon, dass Gwenn sie darüber in Kenntnis gesetzt hätte, dass Gudekar sie schon seit zwei Götterläufen mit Meta betrüge. Und dann hätte sie da noch einen Brief für Gudekar, der schon vor zwei Tagen angekommen sei. Da Gudekar aber bei Meta übernachtete, hatte der Bote ihn nicht angetroffen und Merle hatte ihn an sich genommen. Und mittlerweile hätte sie selbst den Brief geöffnet. Der Brief war von Radulf von Grundelsee, er berichtete darin, dass er nicht zur Hochzeit komme, weil der Pruch seine Verlobte umgebracht habe." Doratrava knirschte mit den Zähnen, nicht nur beim Gedanken an den Brief, sondern auch, weil der Pruch es offenbar schaffte, so viel Zwietracht zwischen allen hier zu säen, dass niemand mehr einen klaren Gedanken fassen konnte. Und selbst, wenn er das nicht durch aktive dämonische Aktivitäten tat, waren Leute wie Eoban bereit, alle Vernunft über Bord zu werfen und ganz in seinem Sinne zu handeln, zum Beispiel, indem sie eine sinnfreie Hexenjagd auf sie veranstalteten. Allerdings war sich Doratrava nicht sicher, ob Eoban nicht doch unter einem dämonischen Bann stand, so fanatisch, wie er hinter ihr her war und damit jegliche sinnvolle Aktivität gegen den Pruch hintertrieb, indem er Kapazitäten band. Wie jetzt Lucilla, die ihr hier so lange zuhörte.

Die Gauklerin seufzte, dann fuhr sie fort: "Merle hatte nun Angst, nicht zuletzt um Gwenn, und fragte sich, was wir nun tun sollten. Wir haben dann lang und breit diskutiert, wen wir ins Vertrauen ziehen sollten und wen nicht, wobei ich mich da zurückhielt, es war nicht meine Entscheidung. Dabei drohte Merle in Hoffnungslosigkeit zu versinken, das brach mir schier das Herz, und auch, weil wir ebenso lange oder sogar länger über Gudekars Untaten bezüglich Merle sprachen."

Wieder eine Pause. Doratrava setzte sich wieder auf die Liege, fasste mit den Händen über den Kopf nach den Gitterstäben, um sich festzuhalten, dann schwang sie die Beine nach oben, mehrfach, ohne sichtliche Anstrengung, bis sie sich schließlich wieder fallen ließ. "Unser Gespräch wurde unterbrochen, weil die Jagdgesellschaft zurückkam - mit einem Toten. Ich könnte jetzt zynisch sein und behaupten, hätte der Firungeweihte nicht ein paar der Jäger aus dem 'Spiel' genommen, wäre das nicht passiert. Aber ich bin ja nicht zynisch." Doratrava warf Lucilla einen brennenden Blick zu.

"Wir wollten wissen, was los war, und sind nach draußen gestürmt, dabei habe ich gleich wieder die geliehenen Kleider eingesaut." Wieder warf Doratrava Lucilla einen Blick zu, eher abschätzend diesmal. "Seid Ihr eigentlich nur in der Rechtskunde bewandert oder ... was genau versucht Ihr von mir zu erfahren?" Ja, Doratrava war sich bewusst, genau diese Gedanken vor einiger Zeit schon gehabt zu haben, und sie hatte sie verdrängt, einfach weitergemacht. Aber dennoch ... jetzt ... wollte sie es genau wissen. "Ich ... erzähle manche Dinge aus einem Grund, müsst Ihr wissen. Und manche lasse ich weg, weil wir sonst morgen noch hier sitzen ... wenn man mich nicht vorher hinrichtet." Sie grinste schief, aber es lag keine Fröhlichkeit in ihrer Miene. "Das mit den Kleidern zum Beispiel ... wird nachher noch wichtig werden. Sofern ihr die Zusammenhänge wirklich verstehen wollt. Und mir nicht auch noch einen Strick drehen wollt." Wieder schaute Doratrava Lucilla mit einem brennenden, bohrenden Blick an, ihre Augen, die bislang in einem satten Violett geleuchtet hatten, starrten Lucilla plötzlich rubinrot entgegen.

Die Adlige nickte. “Nun gut. Ihr sollt wissen, was mich motiviert. Ihr seid offen zu mir, ich will dem in nichts nachstehen”, sprach Lucilla und begann nun ihrerseits einige Male auf und ab zu laufen in der Zelle, um sich die Beine zu vertreten.

"Zunächst einmal, ich habe Euch nicht erst hier, also in Lützeltal zum ersten Mal gesehen, sondern auch zu anderen Gelegenheiten. Mehr noch aber wurden mir Informationen zugetragen, dass ihr mit einigen Personen von Stand bekannt seid. Was an sich schon bemerkenswert ist. Hinzu kommt Euer… scheinbar unmenschliches Talent.”

Lucilla machte eine Pause, während Doratrava die Augenbrauen zusammenzog, und legte sich die nächsten Worte zurecht, bevor sie fortfuhr: “Die Dinge, die man Euch nun vorwirft in Verbindung mit dem bereits erwähnten Umstand Eurer Bekanntheit, machen mich neugierig… sehr neugierig. Ich will wissen, was hinter dem Ganzen steckt.”

Lucilla blieb in der Mitte der Kammer stehen, blickte Doratrava offen an und spitzte die Lippen. “Nehmen wir an. Nehmen wir nur einmal an, es versucht jemand Schuld auf eine Gemeine - auf euch abzuladen, um einen Sündenbock zu küren.

Dies ist ein einfacher Weg, Dinge fälschlich zu erklären und damit lästige Fragen zu beenden und gegebenenfalls auch weitere Nachforschungen in dieser Sache beizulegen. Dies würde ich einen Missbrauch von Macht nennen.

Gibt es hierzu ein Motiv? Habt Ihr die Missgunst einer bedeutenden Person auf euch gezogen, oder gar Feinde gemacht?”

Wiederum ließ Lucilla eine Pause entstehen, um ihre Worte wirken zu lassen. Dann versuchte sie einen Übergang zu formulieren, um Doratrava zu überzeugen, dass sie die rechte Person war, um ihr die ganze Wahrheit zu berichten.

“Es waren, nein, es sind viele ‘wichtige’ Personen zugegen und es sind einige für mich immer noch undurchsichtige Dinge passiert, die eines objektiven Blicks bedürfen, um sie korrekt einzuordnen.

Ich bin Rechtsgelehrte - nicht mehr und nicht weniger und ich weiß, wie dies zu geschehen hat, deswegen spreche ich mit Euch, ohne jedwede Vorurteile.”

“Hm”, machte Doratrava, nachdem Lucilla offenbar geendet hatte mit ihren Ausführungen, dann seufzte sie. “Tut mir leid, wenn ich abweisend klingen sollte, aber ich habe heute, nicht zum ersten Mal, aber dafür umso nachhaltiger, die Erfahrung gemacht, dass gewisse ‘Leute von Stand’ sich ihre eigene Wahrheit zusammenzimmern, wenn nicht Schlimmeres. Ihr wärt die Erste, die mir vorbehaltlos zuhört, die sich überhaupt die Zeit nimmt, mich von Anfang bis Ende anzuhören. Ich finde es schon … traurig genug, dass ich mich auf diese Weise rechtfertigen muss, wenn ich auch nicht abstreiten kann, dass gewisse Umstände gegen mich sprechen - aber bei weitem nicht in dem Ausmaß, wie mir vorgeworfen wird, zumindest ist das meine bescheidene Meinung.”

Doratrava musterte die Rechtsgelehrte nochmals eindringlich, bevor sie weitersprach: “Ihr habt jetzt nichts davon gesagt, dass Ihr in jemandes Auftrag handelt, das ist jetzt also keine offizielle Beweisaufnahme oder wie man das nennt, nicht wahr? Aber ich will … und muss Euch glauben, dass Ihr Euch für mich einsetzt, wenn Ihr die ganze Geschichte gehört habt.”

“Ich spreche hier nur für mich”, stellte die Galebfurtenerin klar. “Und ich mache keine Versprechungen. Ich höre mir Eure Geschichte bis zum Ende an und entscheide dann, ob und wie ich Euch helfen kann, wenn Ihr dies denn wollt. Ich verspreche nur, dass ich ohne Vorurteile bewerten werde, was Ihr mir erzählt.”

Doratrava seufzte erneut, dann nahm sie ihren Bericht wieder auf: "Wie auch immer ... draußen trafen wir wieder auch Nivard und zogen ihn ins Vertrauen, was den Inhalt des Briefs anging. Ihn und Friedewald baten wir, das heißt, Merle war es eigentlich, die sehr inständig bat, dass sie mit uns in den Hof kamen, wo wir vorher schon gesprochen hatten, was sie dann auch taten. Dabei hieß es dann, es wären Leute verschwunden, was Friedewald zu diesem Zeitpunkt noch nicht ernst nahm, wusste er doch von Gwenns geplanter Brautentführung. Warum die das trotz des Wetters durchgezogen hatten, ist mir jetzt noch schleierhaft. - Auf jeden Fall berichtete Merle jetzt nochmals von dem Brief und gab ihn Friedewald und auch Nivard zum Lesen, was bei beiden natürlich schwere Bestürzung auslöste. Das hatte nun eine lange Diskussion zur Folge, wie es um die Sicherheit der Hochzeit hier stand, wenn der Pruch doch offenbar mehr oder weniger systematisch Angehörige von Ermittlern attackierte, da hier ja einige dieser Ermittler anwesend waren, mich eingeschlossen. Merle steigerte sich dabei in immer größere Verzweiflung hinein, was mein eigenes Gemüt natürlich ebenfalls erheblich belastete. Ich versuchte, vor allem ihr Mut zu machen, indem ich darauf hinwies, dass wir Pruch in die Karten spielten, wenn wir uns vor Angst in irgendwelche Löcher verkrochen und alle Feiern absagten, drang damit aber kaum durch bei ihr. Der Edle war dagegen zwar ebenfalls sehr besorgt, aber nicht so panisch wie Merle und wollte da noch an der Hochzeitsfeier festhalten. Aber er war der Meinung, wir sollten einen Rat aus allen Ermittlern einberufen, zusammen mit weiteren Leuten, die nach unserem Dafürhalten eingeweiht werden sollten, um die Situation zu besprechen und Vorsichtsmaßnahmen zu treffen."

Doratrava machte eine Pause, um Luft zu holen und einen Schluck zu trinken, bevor sie weitersprach. "Es wurde dann eine Weile diskutiert, wie mit Gudekar zu verfahren sei, ob er denn trotz seiner nicht sehr traviagefälligen Umtriebe zu der Besprechung dazukommen sollte oder nicht, ob sogar Meta auch hinzugezogen werden sollte, zumal sie ja immerhin eine Kämpferin ist. Schließlich entschied Friedewald, dass Gudekar teilnehmen sollte, zumal er zu diesem Zeitpunkt ja noch gar nicht über das ganze Ausmaß der Verfehlungen seines Sohnes im Bilde war und sich ein wenig über unser Misstrauen wunderte.

Dann gab es noch einiges Hin und Her wegen Merle. Diese wollte eigentlich zu ihrer Tochter Lulu und war zuerst der Meinung, bei dem Rat nicht gebraucht zu werden, aber Friedewald wollte sie nach dem Brief des Herrn von Grundelsee auch nicht unbewacht wissen. Ich erklärte mich bereit, bei ihr zu bleiben, aber das war Friedewald wohl zu wenig, weil ich keine ausgebildete Kämpferin war, daher müsste auch Nivard sie bewachen. Wenn sie dann aber nicht am Rat teilgenommen hätte, hätten wir auch gefehlt. Also einigte man sich darauf, dass Merle zwar Lulu besuchen sollte und dabei auch ihre Schwägerin Ciala von der Gefahrenlage unterrichten sollte, dann aber mit uns zusammen an der Versammlung teilnehmen würde. Hier verlässt mich mein gutes Gedächtnis leider ein wenig, da man sich dreimal umentschied oder so. Aber im Ergebnis stimmt, was ich sage. In diesem Zuge erschien dann auch die Brautentführung in einem anderen, nicht mehr ganz so heiterem Licht, und Friedewald begann sich Sorgen deswegen zu machen.

Auf dem Weg zu Ciala, wo sich Lulu gerade aufhielt, erfuhr ich dann von Merle, dass sie heute gestern auch noch in die Rahjazeremonie von Gudekar und Meta hineingeplatzt war, die der Geweihte Rahjel in einem provisorischen Rahjaschrein in der Brauerei, glaube ich, abhielt. Merle behauptete zwar, das sei fast so etwas wie ein glücklicher Zufall gewesen, hatte sie doch unter Vermittlung des Geweihten mit Gudekar vereinbart, sich gestern irgendwann später noch einmal auszusprechen, möglicherweise mit Meta und Gwenn zusammen, aber ich war da schon skeptisch, ob das eine gute Idee war und ob der Anblick von Gudekar und Meta in rahjanischer Extase nicht doch zuviel für Merle gewesen war. Nicht zuletzt kamen dann auch beim Herrn von Tannenfels schon wieder Gedanken auf, ob Gudekar womöglich unter erzdämonischem Einfluss stehe. Ich glaubte das nicht wirklich, ich glaube das auch jetzt nicht, aber die Umstände seiner Aktionen und das allgemeine Umfeld könnten einen solchen Schluss durchaus nahelegen - viel mehr noch, als mir so etwas anzulasten. Ich will aber nicht mit dem Finger auf Gudekar zeigen, da ich seine Seite der Geschichte nicht kenne.”

An dieser Stelle nickte die Adlige Doratrava anerkennend zu. Offenkundig gefiel der Erbvögtin die differenzierte Betrachtungsweise, die auch einschloss möglicherweise falsch zu liegen, weil man nur einen Blickwinkel kannte.

“Wie auch immer”, fuhr Doratrava fort, “wir gingen also zu Ciala, unterrichteten sie über die Lage, Merle verabschiedete sich von Lulu, wir sorgten dafür, dass sie und auch Cialas Tochter bewacht wurden, dann gingen wir zurück."

Doratrava bemerkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, nun, da die ganze Geschichte ihrem Höhepunkt zustrebte, zumindest was ihre eigene Beteiligung betraf. "Wir begaben uns in den großen Saal des Herrenhauses", setzte die Gauklerin wieder an, "denn dort sollte die Besprechung stattfinden. Wir waren zuerst da, aber nach und nach füllte sich der Saal, wobei ich mich wunderte, wer da alles zu den 'Eingeweihten' zählte ... allerdings hatten meine lieben Mitermittler von Anfang an versäumt, mich immer in alle EInzelheiten einzuweihen, vielleicht, weil ich die Einzige bin, die weder geweiht noch von Stand ist. Zudem gab es verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Aufgaben, und ich kannte nicht alle der Beteiligten. Egal. Gudekar war auch da, aber er nahm von Merle zunächst keine Notiz, wenigstens hatte er Meta nicht mitgebracht. Nur Friedewald ließ auf sich warten, so dass wir nicht anfangen konnten. Ich kann mich erinnern, da noch einen Scherz in Richtung Merle gemacht zu haben über die herablassende Art, wie Eoban mich bisher behandelt hatte. Hätte ich gewusst, was kommen sollte ..."

Doratrava presste die Lippen zusammen und brauchte einen Moment, um sich wieder zu fangen. "Während wir warteten, begann natürlich das Getuschel, uns nehme ich da gar nicht aus. Aber da kam Rionn auf uns zu und wollte dringend mit mir über Gudekar sprechen. Nachdem ich ihm signalisierte, dass er das auch vor Nivard, Tsalinde und Merle tun konnte, platzte er damit heraus, dass er eine Seelenprüfung für Gudekar für angebracht hielt, nicht nur wegen der Sache mit Meta, sondern auch wegen der Geschichte in Schneidgrasweiler. Dort hatten sich die Ermittler, zu denen ich gehöre, vor einiger Zeit getroffen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Gudekar hatte dort das Brot nicht gut vertragen, auf das ein Speisesegen gesprochen worden war, außerdem hatte es dort einen Anschlag des Pruch mit einem verfluchten Kästchen gegeben, der nur Tsalinde getroffen hatte, obwohl Gudekar vorher das Kästchen untersucht hatte. Dies waren genug Indizien für den Tsageweihten, um an Gudekars seelischer Unbeflecktheit zu zweifeln. Nun, wir waren ja selbst schon zu der Erkenntnis gekommen, dass wir Gudekar eine Seelenprüfung nahelegen wollten, insofern rannte der Geweihte offene Türen ein. Doch Rionn war noch nicht fertig, er hatte bereits selbst mit Gudekar wegen der Seelenprüfung gesprochen, und dieser hatte abgelehnt. Zudem äußerte er den Verdacht, es könnte Gudekar sein, der den Pruch über alle unsere Schritte informiere.

Merle und Nivard kamen zu dem Schluss, dass sie noch vor Beginn der Versammlung mit Gudekar sprechen wollten, um ihn ihrerseits von der Notwendigkeit einer Seelenprüfung zu überzeugen. Rionn wollte sie dabei nicht begleiten, denn er hatte ja bereits mit Gudekar gesprochen, und für mich und Tsalinde gab es keinen guten Grund, das zu tun, ich für meinen Teil wollte Gudekar nicht durch die Anwesenheit zu vieler Personen unter zusätzlichen Druck setzen. Sie wollten eigentlich noch Eoban dabeihaben, aber der signalisierte Ablehnung.

Rionn ging dann doch mit, um Eoban zu überzeugen, sich ihnen anzuschließen, und die Gruppe verzog sich in den nebenan liegenden Salon, damit das Gespräch zunächst vertraulich blieb. Allerdings folgte Tsalinde ihnen jetzt doch, so dass ich von unserer ganzen Gruppe allein zurückblieb, wenn man von den anderen Geladenen wie Liana von Rodaschquell oder Ardare von Kaldenberg und noch ein paar anderen absah. Meine Entscheidung, nicht mitzugehen, damit nicht zu viele Leute Gudekar bedrängten, war damit eigentlich hinfällig, doch wollte ich ihnen jetzt nicht auch noch hinterher rennen, zumal ich mir sonst wieder Anfeindungen von Eoban hätte anhören dürfen, so wie er mich die ganze Zeit schon wieder angeschaut hatte.

Aber ich kann mich noch genau daran erinnern, dass es mir vorkam, als säße ich auf einem Fass Hylailer Feuer, dessen Lunte bereits brannte. Und ich sollte Recht behalten.

Ich stellte mich neben die Tür zum Salon, damit niemand auf den Gedanken kam, der Gruppe zu folgen, und bald darauf betrat Friedewald den Raum, wie schon befürchtet, denn nun konnte er erst recht nicht anfangen mit dem eigentlichen Anliegen. Ich klärte ihn auf, dass ein Teil der Geladenen noch etwas sehr Dringendes mit Gudekar zu besprechen hatte. Dabei fiel ihm auf, in welchem Zustand ich war, nass und schlammig, und er bot mir an, dass eine Magd mir helfen könne, mich frischzumachen. Ich war ein wenig hin und her gerissen wegen der Befürchtungen, die ich bezüglich der Gruppe um Gudekar hatte, aber schließlich folgte ich seinem Vorschlag." Hier stockte der Vortrag Doratravas, und sie holte zitternd Luft, die sie zischend wieder ausstieß.

"Wie es der Zufall wollte, lag der Waschraum, in den mich die Magd führte, direkt über dem Salon, in dem das Gespräch mit Gudekar stattfand. Während ich mich also säuberte, hörte ich Rionn von seiner eigenen Seelenprüfung berichten. Nach und nach schafften sie es dann wohl, Gudekar weichzuklopfen, aber dann platzte Friedewald in das Gespräch, weil er ungeduldig wurde. Aber sie konnten ihn zunächst vertrösten und sprachen dann weiter. Danach ging es unten leiser zu, da konnte ich nicht viel verstehen." Außer, dass Gudekar mit Merle sprach. Sie hatte nur wenig klar verstehen können, aber das "Liebster" aus Merles Mund hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt, und die Gedanken, die daraufhin in ihr hochgekommen waren, über den Pruch, der seine vielen Frauen hörig machte, wie auch ein Wort von Gudekar zu genügen schien, um auch Merle wieder der Hörigkeit ihm gegenüber anheimfallen zu lassen. Nichts, was sie jetzt vor Lucilla ausbreiten wollte.

"Ich hörte dann, dass Merle mit Gudekar sprach. Viele Worte konnte ich nicht verstehen, aber Gudekar beteuerte, kein Paktierer zu sein, und Merle schien jedes seiner Worte hoffnungsvoll aufzusaugen, schien wieder einmal zu hoffen, zu ihm durchdringen zu können, ihn zurückzugewinnen. Und dieser behauptete sogar, Merle zu vermissen, beschwor sie, ihm zu vertrauen." Doratrava fiel ein, dass dieser nur bruchstückhaft von ihr gehörte Austausch zwischen Merle und Gudekar sie an ihre eigenen, immer sehr heftigen, aber viel zu kurzen Liebschaften erinnert hatte und die sehnsuchtsvollen Überlegungen, was wohl gewesen wäre, hätten diese länger als wenige Tage gehalten. Die Gauklerin musste an sich halten, dass ihre Stimme klar blieb und sich keine Tränen in ihren Augen sammelten, was ihr zunehmend schwer fiel im Wissen, wohin ihre Geschichte führen würde, und im Gedanken an die heißen Tränen, die sie dort oben in der Kammer über dem Kaminzimmer vergossen hatte in Vorahnung, auf welch grausame Weise Merles Gefühle nur kurze Zeit später zerschmettert werden würden.

"Ich ... war einen Augenblick oder auch zwei mit mir selbst beschäftigt", fuhr Doratrava dann mit belegter, rauher Stimme fort, "und hörte die nächsten Worte nicht. Erst als eine Tür schlug, wurde ich wieder aufmerksam. Ich hörte, dass es um die Durchführung der Seelenprüfung für Gudekar ging. Dieser hatte zugestimmt, wollte sich aber nicht von Rionn prüfen lassen, sondern von Vater Reginbald aus Albenhus, dem Ziehvater von Merle. Allerdings stellte er sofort darauf die Forderung, dass nicht er allein geprüft werde. Das brachte die Stimmung da unten gleich wieder zum Kippen. Merle warf ihm vor, eine Seelenprüfung müsse freiwillig erfolgen, er könne also nicht mit der Zustimmung zu seiner diejenige von anderen Personen erzwingen. Ich vergaß meine eigenen Seelenqualen für den Moment und versuchte, jedes Wort zu verstehen, denn das schien nun wichtig zu werden und einem Höhepunkt zuzustreben. Gudekar jedenfalls begann nun mit Wortspielen, stellte die Freiwilligkeit der Seelenprüfung nicht in Abrede, gab aber seiner Überzeugung Ausdruck, dass doch auch sicher andere aus unserer Gemeinschaft dann ebenfalls freiwillig zu einer solchen Prüfung bereit seien. Dann forderte er allen Ernstes Eoban auf, diejenigen zu benennen, die sich gemeinsam mit ihm einer solchen Prüfung stellen sollten. Ausgerechnet Eoban ..."

Zum wiederholten Mal seufzte Doratrava, denn nun nahte jener Ausbruch ihrer Gefühle, welcher nicht zuletzt dafür verantwortlich war, dass sie hier in dieser Zelle saß und sich rechtfertigen musste. "Merle erkannte, was Gudekar für ein Spiel trieb, und sagte es ihm auch ins Gesicht, sagte ihm, dass es nichts anderes als Erpressung sei, sollte er seine Zustimmung zu einer Seelenprüfung von der Zustimmung gewisser anderer Personen abhängig machen. Da ich selbst aufgrund aller gestrigen Geschehnisse, des Schlafmangels, des Hungers und der vielfältigen emotionalen Zerreißproben, welche der Tag schon gebracht hatte, nicht in der besten seelischen Verfassung war, überkam mich Wut über Gudekars Spiel, das er in meinen Augen trieb, und mir entfuhr ein zorniger Aufschrei, den man sicher unten im Kaminzimmer gehört hatte. Mir rauschte das Blut in den Ohren, und erst ein spöttischer Ruf von Gudekar machte mir klar, dass ich wirklich gehört worden war. Dann hörte ich, wie sich sogar Nivard über mich lustig machte, wofür ich in diesem Augenblick nicht wirklich in Stimmung gewesen war."

Doratrava machte eine neuerliche Pause. So ausführlich hatte sie das alles gar nicht erzählen wollen, aber hier gingen die Emotionen mit ihr durch, zumal die Situation der Auslöser für alles Folgende, was sie betraf, war. "Eoban gab dann eine seiner unheilvoll-drohenden Ermahnungen von sich, wonach jeder und jede von uns sich prüfen sollte, wie er oder sie zu Travia stand, und ich wusste genau, auf wen diese Ermahnung ... Drohung gemünzt war. Dann beschwor Merle Gudekar, die Freiwilligkeit der Seelenprüfung auch bei anderen zu achten.

Ich hatte so eine Ahnung, dass ich mich langsam anziehen sollte, und klingelte nach der Magd, während die Diskussion unten weiterging. Gudekar bekräftigte nochmals, er wolle nach der Hochzeit mit dem Tempelpaar aus Albenhus dorthin zurückreisen, um sich dort der Seelenprüfung zu unterziehen. Allerdings legte er jedem nahe, es ihm gleich zu tun, denn wer es nicht täte, zeige damit seine eigene Einstellung. Also doch wieder Erpressung. In diesem Moment wurde mir Gudekar, den ich vor dieser Hochzeit in guter und bisher wenigstens in halbwegs neutraler Erinnerung gehabt habe, zunehmend unsympathisch. Was die Situation allerdings nicht wirklich richtig beschreibt. Meine Nerven waren zu diesem Zeitpunkt schon nahezu durchgesägt, und man, oder in diesem Fall Gudekar, hatte die Säge auch noch nicht abgesetzt.

Merle brachte Gudekar mit ihrer nächsten Frage deutlich in Verlegenheit. Sie schloss messerscharf aus seiner Aussage, dass er ja dann direkt nach der Hochzeit nicht gleich mit Meta fort konnte, wie er es beabsichtigt hatte, sondern dann zuerst nach Albenhus musste. Gudekar hatte sich da wohl etwas in seinen taktischen Spielchen verheddert, denn er antwortete nicht gleich. Er antwortete auch nicht nach längerer Zeit.

Dann wurde ich abgelenkt, weil die Wiltrud mit neuen Kleidern kam. Ich habe mich dann zwangsweise mit dieser unterhalten und mich dabei angezogen, und plötzlich habe ich durch den Kamin Merle die wüstesten Beschimpfungen schreien hören, die ich seit langer Zeit gehört habe, und ich höre viele Beschimpfungen auf meinen Reisen. Ich konnte nicht alles verstehen, aber es ging gegen Gudekar und Merle war am Zusammenbrechen, da hat mein Verstand ausgesetzt. Ich musste da runter, koste es was es wolle, so schnell wie möglich. Merle brauchte jetzt jemanden, bevor sie den Verstand verlor, und ich wollte, ich musste dieser Jemand sein!"

Doratrava spürte, wie das Heraufbeschwören der vergangenen Ereignisse vor ihrem inneren Auge sie auch ihre Emotionen von gestern erneut durchleben ließ, wenn auch in abgeschwächter Form. Aber das ließ nun dennoch die Tränen in ihre Augen schießen, denn gestern waren ihre Gefühle in einer Weise durcheinandergeraten, wie sie es kaum jemals erlebt hatte. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte leise, es dauerte ein bisschen, bis sie sich wieder so weit beruhigt hatte, dass sie weitererzählen konnte. "Ab dann werden meine Erinnerungen ein wenig ... nebelhaft", musste die Gauklerin zugeben. "Was dann passiert ist, habe ich schon erzählt, gestern, als ein paar der hier im Dorf Anwesenden nochmal hierher kamen, um mich zu befragen. Vorher hatte Eoban das ja nicht zugelassen. Aber der Reihe nach." Mit sichtlicher Mühe fokussierte Doratrava sich und versuchte, so ruhig zu bleiben, wie es ging. Ihrer Tränen schämte sie sich nicht, und vermutlich würden noch mehr kommen, daher verzichtete sie darauf, sich das Gesicht abzuwischen.

"Ich weiß noch, dass ich aus dem Waschraum raus bin, die Treppe hinunter, durch den Saal, ins Kaminzimmer. Dort saß Merle auf dem Boden, verzweifelt, total aufgelöst. In diesem Moment habe ich nur sie wahrgenommen, alle anderen Personen waren nur unbedeutende Schatten am Rande meines Gesichtsfeldes. Ich stürzte auf Merle zu, um sie in die Arme zu schließen, dabei rempelte ich auch jemanden an, ich erfuhr später, dass es Rionn gewesen war. Ich wollte Merle beschützen, ihr Geborgenheit geben. Alle redeten auf sie ein, bedrängten sie, so kam es mir jedenfalls vor. Ich wünschte nichts mehr, als allein mit ihr zu sein, um sie zu trösten. Ich glaube mich erinnern zu können, dass ich alle aus dem Raum schicken wollte, aber Nivard war hartnäckig und blieb. Dann ... zerbrach die Welt. Ich hörte ein Klirren wie von tausend berstenden Glasscheiben, die Umgebung verschwand, und als ich wieder etwas sehen konnte, saß ich mit Merle zusammen auf einer Wiese, und es war dichter Nebel um uns herum. Und wir waren nicht allein: Rahjel war auch bei uns, wie auch immer das passiert war. Nivard dagegen war zurückgeblieben, wenn er auch bewusstlos geworden ist, wie ich später erfuhr. Das tat mir auch entsetzlich leid, denn ich wollte ihm nichts Böses, er ist doch mein Freund."

Doratravas Blick schweifte in die Ferne, als sie an die folgenden Ereignisse dachte, wieder rann eine Träne ihre Wange hinunter. "Dort, wo wir nun waren, waren wir zwar der Meute im Kaminzimmer entkommen, aber der Ort, wo auch immer er liegen mochte, war nicht sicher. Es gab dort eine körperlose Präsenz, die uns Böses wollte, die uns schlimme Dinge einflüsterte, die wollte, dass wir uns gegenseitig wehtun. Wir mussten da wieder weg, so viel war mir schnell klar, nur wusste ich ja nicht, wie wir überhaupt dorthin gekommen waren." Die Gauklerin machte eine sinnende Pause. "Um es kurz zu machen: mir fiel ein Weg ein, und mit Merle zusammen und Rahjels Hilfe gelang es mir, uns von dort wieder wegzubringen. Wieder ertönte dieses klirrende Geräusch von berstendem Glas, doch das Böse jenes Ortes wollte zumindest mich nicht einfach so gehen lassen. Wir trugen alle ein paar Verletzungen davon, als seien wir wirklich durch eine Glasscheibe oder etwas ähnliches gesprungen, aber ich spürte zusätzlich, wie sich etwas wie eine Dornenranke um mein Bein wickelte, die gewaltsam von mir gerissen wurde, als wir zurück ins Lützeltal kamen.

Wir kamen am See im Wald, dort, wohin der Nachspaziergang geführt hatte, wieder zu uns. Mein eines Bein war völlig zerfetzt und blutig, auch sonst hatten wir alle mehr oder weniger viele Schnittwunden, wie ich schon erwähnt habe. Aber wir hatten es geschafft, wir waren jenem Ort und der Präsenz entkommen, Merle, Rahjel und ich, wenn es auch speziell mir da nicht gut ging, zumal ich Merle hatte beschützen wollen, statt sie zusätzlich in Gefahr zu bringen. Bevor Ihr fragt: ich habe keine Ahnung, wie ich das gemacht habe und wie ich das wiederholen könnte, sollte ich je den Wunsch danach verspüren, was ich mir nicht wirklich vorstellen kann." Wenn man davon absah ... sie schob diese Gedanken beiseite, sonst würde sie den Fokus verlieren.

"Auf jeden Fall hat Merle mein Bein versorgt, so gut sie konnte, auch Rahjel hat einen Heilsegen auf mich gesprochen, dann haben wir uns umgesehen und die Vorräte entdeckt, die dort noch von der Waldwanderung auf einem Wagen lagerten. Ich war völlig nackt halb im See gelegen, als ich wieder zu mir gekommen war, daher war ich dankbar für eine Decke. Danach dauerte es nicht lange, da entdeckten wir in der Nähe erst eine Tote und dann diesen Schergen des Pruchs. Die Tote war die Wachfrau oder Söldnerin, die Gwenn zu ihrem Schutz dabeihatte, und dieser Scherge lag im Sterben. Das hinderte ihn nicht daran, uns zu verhöhnen. Er warnte uns, weiter 'herumzuschnüffeln' und sein Herr würde uns sowieso alle kriegen. Und dann deutete er auf eine Kiste neben sich und behauptete, das sei ein Geschenk für den Herrn Nivard von Tannenfels. Mir war schon klar, dass das nichts Gutes bedeuten konnte, andererseits hatte ich das Gefühl, dieses 'Geschenk' Nivard nicht einfach unterschlagen zu können, also nahmen wir die Kiste an uns, nachdem der Kerl seinen letzten röchelnden Atemzug getan hatte - was er seinen Schreien nach qualvoll tat, nachdem Rahjel sein heiliges Tuch über ihn geworfen hatte.

Ich konnte da nicht laufen wegen meines verletzten Beines, also habe ich mich auf den Wagen hieven lassen, zusammen mit der Kiste. Wir fanden auch herrenlose Pferde, die Merle und Rahjel vor den Wagen spannten, dann machten wir uns auf in Richtung Dorf. Falls übrigens mein Bericht hier etwas wirr klingt, mag das daran liegen, dass mein Bein mir niederhöllische Schmerzen bereitete und ich daher Schwierigkeiten hatte, mich auf meine Umgebung zu konzentrieren. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, glaube ich, die tote Wächterin und den Schergen des Pruch haben wir erst auf dem Weg mit dem Wagen zurück ins Dorf gefunden, nicht schon vorher. Ach ja, seine Hasstiraden enthielten übrigens auch die Bestätigung, dass der Pruch Gwenn entführt hatte. Und dass er sehr gut über uns alle Bescheid zu wissen schien, also nicht nur über mich und Merle, sondern auch zum Beispiel über Gudekar und Meta. Gerade Gudekar verhöhnte er besonders ausgiebig, bevor er starb.

Wir setzten unseren Weg ins Dorf dann fort, doch noch bevor wir es erreichten, trafen wir auf eine Gruppe Leute bestehend aus Liana von Rodaschquell, Gudekar und Eoban von Albenholz. Reiter von dort unter der Führung von Kalman von Weissenquell."

Doratrava schloss die Augen, als sie an die folgenden Szenen dachte. Es zog ihr die Kehle zusammen, gleichzeitig hätte sie schreien mögen vor Wut und Hilflosigkeit, war ihr doch vor Augen geführt worden, wie wenig man manchmal über das eigene Leben bestimmen konnte. In den letzten Jahren war sie vielen Gefahren gegenübergestanden, und nicht nur einmal war es ihr Leben gewesen, das in der Waagschale lag, doch immer war sie Herrin ihrer Entscheidungen gewesen und selten allein. Doch jetzt ... konnte sie nicht einfach fortgehen und das alles hier hinter sich lassen. Und allein fühlte sie sich auch wie selten zuvor, ungeachtet der vielen Personen im Nachbarraum und Lucilla hier in der Zelle. Wo waren ihre Freunde und Freundinnen oder diejenigen, die sie dafür gehalten hatte? Hatte sie vorhin nicht Nivards Stimme gehört? Warum hatte er nicht einmal zu ihr hereingeschaut? Wo war Liana, von der sie sich gestern die meiste Unterstützung erhofft und die wenigste erhalten hatte? Wo war Tsalinde, die sich gestern noch so sehr für sie eingesetzt hatte? Und ... wo war Merle, für die sie das alles auf sich genommen hatte? Ungefragt zwar und mit einem unerwarteten, gefährlichen Ausgang, aber ohne dass in ihr die tiefe Zuneigung zu der von Gudekar verstoßenen jungen Frau erwacht wäre, wäre das alles nicht passiert.

Die Gauklerin holte erneut zitternd Luft und setzte ihren Bericht fort: "Kaum waren ein paar Worte gewechselt worden, da trat Eoban von Albenholz auf mich zu und bedrohte mich mit seinem Schwert. Zu diesem Zeitpunkt lag ich noch immer verletzt auf dem Wagen und konnte mich sowieso kaum rühren. Er verlangte, ich müsse sofort in Gewahrsam genommen werden, da ich verdächtigt würde, jemanden angegriffen, einen Geweihten entführt und noch weitere Taten gegen 'die Gemeinschaft' verübt zu haben, außerdem bestünde die Gefahr, ich sei mit dem Pruch im Bunde. Die Anschuldigungen kamen für mich aus dem Nichts, zumal Eoban doch sicher bereits mit Kalman gesprochen hatte. Da fällt mir ein, Kalman hatten wir doch vorher beim See schon gesehen, und wart Ihr da nicht auch dabei? Ich erinnere mich jetzt wieder, wir sind ganz in der Nähe des Pruch-Schergen mit der Kiste aufeinandergetroffen. Der Herr Herrenfels wollte die Kiste unbedingt haben, aber Rahjel hat sie ihm verweigert und ihm versprochen, darauf aufzupassen, damit kein Unheil davon ausginge. Merle hat Kalman und euch anderen berichtet, was wir am See und in der Nähe gefunden haben, zum Beispiel die tote Wachfrau, und dass Gwenn entführt worden war, wie wir von dem toten Schergen wussten. Tut mir wirklich leid, wenn das alles nun ein wenig verworren herüberkommt, aber ich war wirklich in keinem guten Zustand, weder körperlich noch seelisch."

Doratrava leerte ihren Becher, während sie den Kopf zur Seite legte, als würde sie für Lucilla unhörbaren Stimmen lauschen, doch dann fasste sie sich wieder und fuhr fort. "Kalman hat dann erstmal die meisten Leute auf die Suche nach Gwenn geschickt, weil er nicht glauben wollte, dass der Pruch sie schon fortgebracht hatte, dann wollte er von uns wissen, woher wir plötzlich kamen. Merle zögerte zunächst mit der Antwort, weil auch ihr klar war, dass das alles kein gutes Licht vor allem auf mich warf, und ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte. Da hat Rahjel erstmal Kalman zur Seite genommen und uns ein wenig Zeit verschafft. Mir war da schon klar, dass Eoban alles, was passiert war, schlechtmöglichst und zu meinen Ungunsten auslegen würde, und so kam es dann ja auch.

Rahjel redete ernst, aber leise auf Kalman ein, aber da sie ein paar Schritte fortgegangen waren, konnten Merle und ich nicht verstehen, was gesprochen wurde. Wir konnten allerdings durchaus sehen, dass Kalman Rahjel entsetzt anstarrte nach dessen Ausführungen. Merle hatte nun Angst um mich und unterbrach deren Gespräch, allerdings konnte ich nur wenig verstehen, da sie immer noch ein paar Schritte weg von mir waren und nicht sehr laut sprachen. Bis Merle plötzlich etwas von 'Fesseln und knebeln' rief. Ich ... hörte das zwar und erschrak entsprechend, hatte aber gleichzeitig oder vielleicht auch deswegen eine Art ... Schwächeanfall und bekam daher wieder einiges des Folgenden nicht mit. Ich ... habe dann wohl sogar für einige Augenblicke das Bewusstsein verloren, denn ich fand mich plötzlich auf allen Vieren auf dem Boden wieder. Meine Sinne klärten sich ein wenig, wenn auch die Schmerzen in meinem Bein alles zu überlagern suchten. Aber ich bekam mit, dass Rahjel mich wohl für gefährlich hielt und Merle mich vehement verteidigt hatte, wofür ich ihr unendlich dankbar war. Ich erschrak dann erneut, als Kalman auf mich zukam, aber er wollte von mir nur wissen, ob ich mit dem Wirken des Pruch vertraut sei und ob ich einen Hinweis hätte, wo Gwenn sein könnte. Dazu konnte ich allerdings nur Vermutungen äußern. Da er sie nicht gleich getötet hatte, würde das nicht unbedingt in seiner Absicht liegen, erklärte ich Kalman. Sie sei auch keine Geweihte wie Vater Winrich, den der Pruch auf der Schweinsfolder Hochzeit entführt hatte, also würde er wohl auch kein finsteres Ritual mit ihr durchführen wollen. Ich vermutete, er wolle mit der Tat einfach Angst und Schrecken unter seine Verfolger bringen. Das ist ihm ja auch gelungen. Dann wollte Kalman wissen, wie der Pruch Gwenn wohl entführt habe. Auch, wenn er das nicht hören wollte, tat ich meine Vermutung kund, er könne Gwenn genauso wie damals Vater Winrich in den Limbus gerissen haben, oder einer seiner Dämonen hätte das getan haben können. Merle ist dann eingefallen, dass der Scherge mit der Kiste besonders frohlockte, weil der Pruch nun die rechte Hand der Vögtin habe. Sie vermutete, Pruch wolle vielleicht speziell die Vögtin oder gar die Gräfin erpressen. Nun, mehr konnten wir Kalman nicht sagen, und er setzte dann dennoch erstmal die Suche fort. Merle ließ es sich nicht nehmen, dabei zu sein. Das konnte ich ihr nicht verübeln, aber es stimmte mich trotzdem traurig, sie ziehen zu lassen.

Merle half mir noch auf den Wagen, bevor sie ging, dann war ich mit Rahjel allein. Dieser äußerte die Befürchtung, dass 'Leute' mir an den Kragen gehen wollen würden, und er versicherte mir, mich zu beschützen. Ich konfrontierte ihn dann damit, dass er mich für gefährlich hielt. Er blieb auch dabei, hätte ich ihn und Merle doch an einen gefährlichen Ort gezaubert, wenn auch unbewusst, wie ich betonte, und es sei nicht sicher, dass das wieder passiere, in seinen Augen zumindest. Er versprach erneut, mich zu schützen, legte mir aber nahe, mich in die Obhut der Rahjakirche zu begeben. Und mit Rionn wollte er auch sprechen, in der Überzeugung, dass auch er an meiner Seite stehen würde.

Wir trafen dann später wieder mit den Brautsuchern zusammen, diese hatten Spuren gefunden, die zeigten, dass man Gwenn zum See verschleppt hatte, wo sie verschwunden war. Ich vermutete erneut ein Limbustor, darauf wies auch ein Pergament hin, welches man bei dem toten Schergen gefunden hatte. Da ich gefragt wurde, machte ich Kalman und den anderen klar, dass man meines Wissens nach jemanden durch ein Limbustor sehr weit weg befördern konnte, was natürlich niemandem gefiel. Dennoch bestand Kalman darauf, den See nochmals gründlich abzusuchen, aber natürlich fanden sie Gwenn nicht. Aber es gab wohl Hinweise auf unheiliges Wirken, da ich aber die ganze Zeit auf dem Wagen lag, habe ich das nicht so genau mitbekommen. Aber Kalman fragte mich dann, ich war zu diesem Zeitpunkt als 'Expertin' gut genug", eine gewisse Bitterkeit schlich sich in Doratravas Stimme, "ob ich es für möglich hielte, dass das Limbustor über dem See geöffnet worden sein könnte. Das hielt ich für denkbar, vielleicht ging es da besonders leicht, da dem See ja gewisse übernatürliche Eigenschaften zugesprochen werden. Kalman wollte auch wissen, ob man das Tor erneut öffnen konnte, um so Gwenn zu verfolgen, doch dazu konnte ich nichts sagen, so gut kenne ich mich doch nicht aus. Kalman wollte jetzt schnell ins Dorf reiten, ist dann mit den Reitern erstmal wieder ins Dorf geritten, um dort Bescheid zu sagen und Vorsichtsmaßnahmen gegen den Pruch zu treffen. Außerdem schickte er Imelda und Rahjel, die Familien der Toten zu benachrichtigen, denn außer der toten Wächterin von Gwenn hatte der Pruch noch weitere Opfer gefordert, ich weiß aber nicht mehr, wer das genau war, da wir diese auch nicht gefunden hatten. Und Merle führte dann den Karren, auf dem ich saß, weiter in Richtung Dorf. Ja, und dann dauerte es gar nicht lange, bis uns plötzlich eine kleine Gruppe bestehend aus Gudekar, Liana und Kalman wieder entgegenkam, unter anderem eben mit Eoban von Albenholz begegnete, der die besagten Anschuldigungen gegen mich erhob, kaum dass er mich sah, mit dem Schwert in der Hand, obwohl ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Nun, aber das müsstet Ihr selbst wissen, Ihr standet ja daneben. Tja, und den Rest kennt Ihr!”

Doratrava ließ sich gegen die Wand der Zelle zurücksinken und seufzte einmal mehr, dann richtete sie sich aber doch nochmals auf. “Ich möchte doch noch etwas zu Eobans Anschuldigungen sagen. Ich hätte jemanden angegriffen, behauptet er. Damit meint er sicher Nivard, der bewusstlos geworden ist, als wir aus dem Kaminzimmer … verschwanden. Das war nicht meine Absicht und es wurde sicher nicht wissentlich von mir herbeigeführt. Und Nivard hat bisher keine Anklage gegen mich erhoben.

Ich hätte einen Geweihten angegriffen, behauptet Eoban. Ich weiß inzwischen, dass ich Rionn zur Seite drängte, als ich mich im Kaminzimmer auf Merle stürzte, um sie zu beschützen. Da habe ich Rionn gar nicht bewusst wahrgenommen, ein gezielter Angriff war das auf keinen Fall. Und auch Rionn hat keine Anklage gegen mich erhoben.

Ich hätte einen Geweihten entführt: Rahjel stand hinter mir, als das im Kaminzimmer geschehen ist, ich habe ihn gar nicht gesehen. Aber er hat wohl im Augenblick des Geschehens sein heiliges Tuch der Rahja über mich geworfen, dadurch ist er offensichtlich ohne mein Zutun mitgerissen worden. Und: auch er hat keine Anklage gegen mich erhoben.

Ich glaube, dann hat Eoban später noch behauptet, ich hätte die Gruppe belauscht. Er spielte damit auf die Gespräche im Kaminzimmer an, die ich unfreiwillig mithören konnte durch den Kamin, als ich mich in der Waschkammer darüber säuberte. Dazu kann ich nur sagen, ich hätte unten vor Beginn des Gesprächs nur sagen müssen, dass ich teilnehme, statt mich saubermachen zu gehen, dann wäre ich von Anfang an dabei gewesen, das hätte mir niemand verweigert als Teil der Gruppe, als Teil der Ermittler. Eoban hat komplett vergessen oder verdrängt, dass auch ich von Ihrer Hoheit Grimberta vom Großen Fluss beauftragt worden bin!”

Doratravas letzte Worte waren immer heftiger geworden, mit jeder Silbe sprühte daraus der Ärger über Eobans Verhalten, aber nun schien sie endgültig fertig zu sein, sie ließ sich erneut gegen die Wand zurückfallen.

Nach einer Weile, die die Adlige nach Doratravas Ausführungen hatte verstreichen lassen, um über das gehörte nachzudenken, setzte sie betont sachlich zu sprechen an: “Ungeachtet der vielen Details, der wir uns annehmen und aufarbeiten müssen - ich habe Fragen”, stellte Lucilla gegenüber Doratrava klar. “Will ich ehrlich sein.

Das was Ihr mir berichtet habt, ist in Teilen eine sehr, sagen wir, abenteuerliche Geschichte, aber ich werde versuchen zu extrahieren, was betreffend der Anschuldigungen gegenüber Eurer Person davon relevant ist - ungeachtet der ‘ungewöhnlichen’ Geschehnisse.

Der Rest, vor allem die Kausa Pruch bildet hier nur die Rahmenhandlung und ist somit für mich zunächst nicht relevant in Bezug auf Euch. Das heißt aber nicht, dass man nicht versuchen wird, Euch erneut mit ihm in Verbindung zu bringen. Damit werdet ihr rechnen müssen.”

Doratrava schnaubte nur bei diesen Worten, sie erwartete nichts anderes.

Lucilla spitzte die Lippen und legte den Kopf leicht schräg, bevor sie wiederum begann auf und ab zu gehen. Währenddessen fuhr sie fort: “Ich würde Eurer Erzählung und meiner Menschenkenntnis nach annehmen, dass Ihr keine üblen Absichten hattet und es keinen Vorsatz gab, irgendjemanden weh zu tun. Das denke ich, können wir entsprechend festhalten - dies muss die Strategie Eurer Verteidigung sein, darauf müssen wir abzielen: Wen auch immer - das wird sich zeigen, davon überzeugen, dass Ihr niemandem schaden wolltet. Soweit so gut.”

Aber Eoban glaubte das nicht und würde es weiterhin nicht glauben, davon war Doratrava überzeugt.

“Dieser… sagen wir ungewollt und dann doch wieder gewollte Ortswechsel - wie auch immer es geschehen sein mag, die damit einhergehende Verletzung einer Person jedoch ist ein Problem. Keine noch so gute Absicht wird dies verdecken.

Ebenso der Vorwurf der Entführung eines Geweihten wiegt schwer. In diesem Zusammenhang muss ich euch sagen, dass nicht die betroffenen Personen Anklage erheben müssen - dies kann jedermann tun.”

Zu beiden Punkten hätte Doratrava etwas sagen können, aber sie wollte den Redefluss der Rechtsgelehrten nicht unterbrechen. Zumindest noch nicht.

Lucilla blieb stehen und blickte Doratrava ernst an.

“Ihr müsst verstehen, egal wer sich eurer Sache annimmt, diesem… Ortswechsel wird nachgegangen werden. Ein solch bezeugtes ‘übernatürliches Wirken’, welches noch dazu jemanden in Mitleidenschaft gezogen hat, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Das muss aufgeklärt werden. Dies ist auch in eurem Interesse, denn nur so werdet ihr den Verdacht der Paktiererei nachhaltig entkräftigen können. Daran gibt es nichts zu rütteln.”

Es fiel der Gauklerin zunehmend schwer, die Ruhe zu bewahren. Was hatte ein ‘Ortswechsel’ mit Paktiererei zu tun? Waren alle teleportierenden Magier demnach Paktierer? Dem Rechtsverständnis der Gelehrten konnte Doratrava nicht folgen, aber das war noch nie ihre Stärke gewesen.

“Alles was ihr tun könnt ist, zu versuchen die Ermittlung zu dieser Sache in die richtige Bahn zu lenken - aktiv. Offen gesprochen meine ich damit: Ihr müsst versuchen zu beeinflussen, wer sich eurer annimmt, die Praioten, oder vielleicht jemand, den ihr kennt und der eure guten Absichten entsprechend gewichtet in seiner Analyse.”

Die Praioten sicher nicht.

Die Galebfurtenerin ließ eine Pause entstehen, damit die Gauklerin die Bedeutung der Worte sacken lassen konnte. Eindringlich sprach sie weiter: “Doratrava, ihr habt Kontakte. Ihr solltet sie nutzen. Leumund ist von Bedeutung. Findet einen Bürgen, denn egal welche Art von Madas Gabe in euch steckt - sie wird offengelegt werden müssen. Einzig wie sie und ihr Wirken bewertet werden wird, steht noch nicht fest. Ein Fürsprecher von Rang und Namen kann hier die Waage zu euren Gunsten ausschlagen lassen und kleinere Entscheidungen beeinflussen, die den Ausschlag geben können. Einen anderen Weg sehe ich nicht, wollt ihr eine Freie bleiben.

Im günstigen Fall könnte erwirkt werden, dass ihr euch einer magischen Befragung unter Anwesenheit eines Leumundes und eines bezeugenden Geweihten unterziehen müsst. Ich denke im letzteren Fall an einen Rahjani, einen Tsa- oder Perainediener. Zudem könnte ein Geweihter der Allweisen eure Begabung untersuchen und entsprechend bewerten. Dies würde am Ende vielleicht einer Art Dispens gleichkommen.

Dies wäre der Weg, den ich an eurer Stelle anstreben würde.”

Lucilla nickte, wie um ihre Worte zu bekräftigen. Dann fügte sie voller Tatendrang an: “Steht schon fest, wer Anklage erheben wird, und welche konkreten Punkte man gegen euch vorbringen wird? Ich würde das gern unter vier Augen mit dem Kläger besprechen wollen.”

Doratrava machte gerade den Mund auf, um ihre Sicht der Dinge darzulegen, da kam Alana herein und sie schloss den Mund wieder.

Die Ritterin Alana, die von ihrem Bruder, dem Rahjageweihten Rahjel, gebeten wurde, ein Auge auf Doratrava zu haben, war kurz ausgetreten. Als sie wieder zum Wachhaus kam, war dieses gut gefüllt mit Leuten. ´Ohje, Rahja stehe uns bei´, dachte sie bei sich. Sie befürchtete, dass Doratrava nun in ernsten Schwierigkeiten war. Selbstsicher betrat sie die Wachstube und ging zur Zelle. “Alles in Ordnung hier?”, fragte sie laut.

Lucilla, die sich ganz und gar auf die Schaustellerin konzentriert hatte, drehte überrascht ihren Kopf und sah die Ritterin aufgrund der Störung zunächst verdutzt an, dann jedoch wanderten ihre Augenbrauen in Verärgerung nach oben.

“Ich würde gern ‘allein’ mit der Inhaftierten sprechen”, stellte die Junkerin klar.

"Verzeiht, Euer Wohlgeboren”, sagte Alana höflich und schenkte Doratrava einen aufmunternden Blick. “Es ist so, dass ich vom Lehrer der Leidenschaft, seiner Gnaden Rahjel von Altenberg, gebeten wurde, persönlich der Inhaftierten zur Seite zu stehen. Seine Gnaden hat sie unter den Schutz der Rahjakirche gestellt und steht dafür ein, sie an den Eisensteiner Rahjatempel zum Gastgeber der Leidenschaft, Rahjan Bader, zu überantworten. Zum geistigen und körperlichen Schutz aller und ihrer eigenen Person. Wenn Ihr wollt, kann ich den Geweihten dazu holen.”

Ein höfliches Lächeln zeigte sich auf den Lippen der jungen Adligen. Sie nickte verstehend. Dies war eine gute Erklärung für die Unterbrechung, die Lucilla dennoch nicht zusagte.

Nun zeigte auch Doratravas Gesicht die Andeutung eines müden Lächelns. An Lucilla gewandt sagte sie: “Da seht Ihr es, wie von Euch vermutet stehe ich nicht ganz allein da.” Alana nickte sie dankbar zu. “Ich habe allerdings von derlei Rechts… äh …zeug keine Ahnung, weiß also nicht, wer wann wie irgendeine Anklage erheben wird und wie der Schutz der Rahjakirche da hineinspielt. Welcher Dinge ich beschuldigt werde, zumindest von Eoban von Albenholz, habe ich ja schon aufgezählt.”

Nun zog die Gauklerin die Augenbrauen zusammen und fuhr dann fort: “Aber das mit dem ‘Ortswechsel’ und der Paktiererei müsst Ihr mir erklären. Ich kenne Magier, die teleportieren, ich kenne sogar eine Magierin, die wohl regelmäßig den Limbus als Reisemedium benutzt: Circe ter Greven. Ist sie eine Paktiererin? Was hat das damit zu tun?

Und überhaupt: Ich habe den ‘Ortswechsel’ nicht willentlich herbeigeführt, ich wünschte mir zu diesem Zeitpunkt lediglich, wenn auch ganz stark, dass Merle in Sicherheit sein möge. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass ich es war, die uns an jenen Ort versetzt hat. Und falls doch: ich werde für eine Halbelfe gehalten. Da ich meine Eltern nicht kenne, kann ich dazu nicht viel mehr sagen. Aber dass Halbelfen einen Teil der magischen Gaben des elfischen Elternteils geerbt haben, ist allgemein bekannt. Ich habe schon öfters davon gehört, dass solche Kinder, zumal ohne entsprechende Ausbildung, unwillkürlich Dinge zustandebringen, die man als magisch ansieht. Ist deshalb jedes solche Kind ein Paktierer?

Dann noch das mit der ‘Entführung’ des Geweihten: Mal ganz abgesehen davon, dass die besagte Person, eben Rahjel von Altenberg, selbst keine Anklage erhebt und mich sogar unter den Schutz der Rahjakirche stellt, wäre der Vorwurf, von wem auch immer erbracht, ihn entführt zu haben so ähnlich, als hätte sich jemand auf dem Weg zu einem Markt heimlich in das Stroh auf dem Wagen eines Bauern gewühlt und würde diesen am Zielort dann der Entführung beschuldigen. In meinen Augen als einfache Gauklerin ist das einfach nur lächerlich. Aber klar, die Adligen haben die Macht, damit haben die Adligen das Recht.”

Die letzten Worte klangen sehr bitter. Doratrava ließ einige Augenblicke verstreichen, dann richtete sie nochmals das Wort an Lucilla: “Ich danke Euch dafür, mir zugehört zu haben, aber wenn Ihr mich unterstützen wollt, wenn es zum Prozess kommt, müssen wir vielleicht nochmals über die Einzelheiten der Verteidigungsstrategie reden. Wobei ich schwer hoffe, dass ich noch mehr Fürsprecher haben werde als vielleicht Euch und Rahjel von Altenberg. Zum Beispiel Merle von Weissenquell. Tsalinde von Kalterbaum. Nivard von Tannenfels. Liana von Rodaschquell. Grimmgasch. Rhodan Herrenfels. Rionn.”

Alana wartete ab, die Junkerin war ihr noch eine Antwort schuldig … oder auch nicht.

Lucilla überlegte kurz, wie sie auf Doratravas Rede antworten sollte. “Seht es so”, begann sie schließlich zögerlich. “Ihr kommt an den Hof eines Adligen und wollt eure Kunst zeigen - davon und dafür lebt ihr. Meint ihr wirklich ernsthaft, eine Adliger holt und duldet euch an seinen Hof, wenn er nicht weiß, welche Art Magie in euch steckt? Ich würde es nicht tun. Ich könnte es nicht, schon des Rufs wegen - kaum jemand will mit sowas in Verbindung gebracht werden. Weniger noch geht sowas aus Sicherheitsbedenken heraus. Nein.

‘Für etwas zu gelten’ wird euch da nicht weiterhelfen. Ihr seid in eine grauenhafte Geschichte verwickelt. Viele Menschen sind auf schreckliche Art und Weise, götterlästerlich zu Tode gekommen. Ihr müsst euch davon klar und ohne Zweifel abgrenzen, sonst werdet ihr ewig damit in Verbindung gebracht. Euer guter Ruf als Schaustellerin würde dann nichts mehr gelten.

Circe ter Greven ist eine akademisch ausgebildete Gildenmagierin mit Siegel, welches sie sanktioniert. Seid nicht töricht und zieht Parallelen, wo keine sind.

Nein, die Parallele ist eine andere: Pruch kann den Ort wechseln… ihr könnt es scheinbar auch. Ganz einfach. Ihr werdet in einem Atemzug genannt werden in den Erzählungen des einfachen Volkes. Die Geschichte verbreitet sich doch durch das Gesinde rasend schnell. Seht dieser Wahrheit ins Gesicht.”

Die Adlige zuckte die Schultern. “Ich habe euch die Strategie dargelegt, die ich wählen würde. Die Frage der Schuld können wir über Motivation und gute Absichten relativieren, so dass es eine Ermessensfrage ist, wie ein Richter urteilt. Da sehe ich die Chancen nicht schlecht. Darüber hinaus: Ich spreche mich aber gerne mit einem Kleriker ab, wenn ihr dies möchtet.” Lucilla warf einen Seitenblick auf die Ritterin, bevor ihr Blick wieder zu Doratrava huschte. “Aber”, sie lachte kurz glockenhell auf, “der wird an dieser einfachen Wahrheit auch nichts ändern können. Kein Mensch urteilt positiv - zu euren Gunsten, nur weil jemand ‘für etwas gehalten wird’- nein, das lädt eher noch zu Spekulationen ein. Vor allem aber urteilt kein Richter anhand von einfachen Annahmen. Nein. Eure Magie muss nachgewiesen nicht dämonischer Herkunft sein, dann könnt ihr in aller Augen entlastet werden.”

Skeptisch blickte Doratrava die Rechtsgelehrte an. Sie war sich unsicher, ob sie dieser oder zumindest ihrer Einschätzung der Sachlage vertrauen sollte, allerdings war sie hier auf einem Feld, auf dem sie sich überhaupt nicht auskannte und daher darauf angewiesen war, dass ihr jemand half. Bisher hatte sich niemand dafür angeboten - bis auf Lucilla und eben Rahjel. Kurz entschlossen wandte sich Doratrava an Alana: “Kannst du Rahjel bitte holen? Ich würde gerne seine Einschätzung hören.” Lucilla warf sie einen entschuldigenden Blick zu. “Ich hoffe nicht, dass zwei Leute drei Meinungen haben, aber dennoch würde ich gerne noch eine andere Sicht hören.”

Alana nickte und schaute zur Junkerin. “Es dauert nicht lange.”

Die Galebfurtenerin machte infolge dieser Worte kein sonderlich begeistertes Gesicht, gab jedoch auch keine Widerrede von sich und wartete schlicht ab.

***

Viel Schlaf hatte Rahjel nicht bekommen, seitdem Lares abgereist war. Nun stand seine Schwester vor seinem Schlafplatz und rüttelte an ihm. “Oh Liebholde, Ruhe ist uns noch nicht gegönnt”, murmelte er vor sich hin. “Doratrava braucht dich jetzt”, sagte sie knapp. Mühsam stand er auf und folgte ihr. Nur kurze Zeit später erschien der Geweihte mit seiner Zwillingsschwester bei der Junkerin und der Gauklerin. “Rahja und ihren elf göttlichen Geschwistern zum Gruße. Preisen wir sie, dass wir diesen Morgen unbeschadet erblicken durften”, sagte er zur Begrüßung und schenkte der Junkerin eine Umarmung, die diese etwas steif und mit einem schüchternen Lächeln erwiderte. “Ich nehme an, es geht um die Anschuldigungen, die gegen Doratrava erhoben wurden.” Er machte eine Pause, um den beiden die Möglichkeit zu geben zu sprechen.

“Diese Annahme ist zutreffend”, bestätigte die Erbvögtin mit um Sachlichkeit bemühter Stimme.

“Hallo Rahjel”, begrüßte Doratrava den Geweihten mit müder Stimme und dem Hauch eines Lächelns. “Lucilla von Galebfurten will mir vielleicht helfen, mich zu verteidigen, sagt sie”, überfiel die Gauklerin Rahjel sogleich mit ihrem Anliegen. “Allerdings sagt sie auch, dass dazu zwingend ‘meine Magie ergründet’ werden müsste, um auszuschließen, dass sie dämonisch sei. Und sie hat gesagt, man könne mich trotzdem der Entführung eines Geweihten anklagen, auch wenn der Betreffende, also du, selbst gar keine Anklage erhebt. Was sagst du dazu? Ich bin mir übrigens noch immer sicher, dich nicht ‘entführt’ zu haben!”

Der Geweihte nickte und drückte nun auch die Gauklerin zur Begrüßung, die das wie Lucilla etwas steif über sich ergehen ließ. “Euer Wohlgeboren, ich kann bestätigen, dass Doratrava mich nicht entführt hat. Allerdings etwas ´anderes´. Es scheint mit ihr verbunden zu sein und genau deshalb sollte Doratrava so schnell wie möglich in den Rahjatempel zu Eisenstein. Hochwürden Rahjan Bader wäre der richtige Mann, um ihr zu helfen.” Dann griff er an seine Hüften und löste dort sein Tuch der Rahja und legte es um der Gauklerin Schultern. “Wäre Doratrava ´dämonisch´ beeinflusst, könnte sie das geweihte Tuch nicht um ihre Schultern tragen.” Nun wartete er ab.

Doratrava bewegte sich ein wenig unbehaglich unter dem Tuch, da sie sich als Versuchsobjekt nicht sonderlich wohl fühlte. Ansonsten passierte allerdings - nichts. Nach einigen Augenblicken sah die Gauklerin erst Rahjel und dann Lucilla unsicher an. “Und nun?”

Lucilla verdrehte kurz die Augen und seufzte.

“So wie ich es verstanden habe, wird hier in Lützeltal Anklage erhoben werden und dann könnt Ihr sie nicht einfach wegbringen. So einfach ist es eben nicht.

Wenn Ihr aber dafür sorgen könnt, dass die Anklage nicht erhoben wird und der Edle sie auf freien Fuß setzt, bitte.”

“Hier steht eindeutig weltliches gegen kirchliches. Bevor Doratrava sich einer Anklage stellen kann, muss ihre Seele dazu bereit und die Beherrschung gebrochen sein. Im Namen der Rahja und ihrer elf göttlichen Geschwister bringe ich sie zum Tempel in Eisenstein. Danach kann sie sich dem Weltlichen stellen. Doch erst muss ihre Seele geprüft werden. Wird sie hier und jetzt angeklagt, besteht für uns und sie Lebensgefahr”, sagte er ruhig und nahm sein Tuch wieder an sich.

Nicht zum ersten Mal hörte Doratrava die drastische Einschätzung des Geweihten, und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob das gut für sie ausgehen konnte … vor allem dieses “Brechen der Beherrschung” machte ihr Sorgen, aber damit würde sie sich wohl herumschlagen müssen, wenn es soweit war. Vorher stellte sich eher die Frage, ob nun Lucilla oder Rahjel recht hatte - also ob es hier nun eine Verhandlung geben würde oder nicht. Die Ungewissheit machte sie noch verrückt, zumal sie untätig in dieser Zelle sitzen musste. Gespannt wartete sie auf Lucillas Reaktion.

Die Galebfurtenerin wirkte irritiert ob der vernommenen Worte, als sie ihrerseits zu einer Erwiderung auf die Rede des Geweihten ansetzte.

“Auf wessen Aussage basiert diese… Einschätzung? Und von wem soll Doratrava beherrscht sein?”

Kurz sah es so aus, als würde die junge Adlige es bei diesen beiden Fragen belassen, doch dann ergänzte sie betont langsam und mit gesenkter Stimme: “Überlegt euch die Antwort und die möglichen Konsequenzen von leichthin geäußerten Vermutungen. Ich werde nicht zögern, entsprechende Stellen ungeachtet der Folgen zu informieren."

Nun sah Doratrava Rahjel fast schon flehentlich an, da ihr der Tonfall und auch der Inhalt von Lucillas Aussage nicht gefiel. Hoffentlich erzählte der Geweihte keinen Unsinn, zusammengereimt aus dem, was ihm an jenem Ort widerfahren war. Was das genau war oder sein könnte, wusste Doratrava allerdings nicht, da sie sich Rahjels Anwesenheit nicht zu jeder Zeit bewusst gewesen war.

Der Blick der Gauklerin sowie der unwirsche Ton Lucillas entgingen Rahjel nicht. Kurz ärgerte er sich über seine ehrlichen Worte … zu ehrlich für die Ohren der Junkerin. Die Schlaflosigkeit hatte ihn unvorsichtig werden lassen. Es war schon schlimm genug, dass er nicht verhindern konnte, dass man Doratrava eingesperrt und Anschuldigung erhoben hatte. Rahjel musste sich konzentrieren.

“Dass Doratrava durch unachtsames Handeln einer Person, die die Lage nicht klar erkennen und verstehen kann, in weitere Gefahr gebracht wird, sollte verhindert werden. Und genau darum bin ich hier und stelle sie unter den Schutz der Liebholden Göttin Rahja. Und ich möchte ganz ehrlich mit Euch sein, Wohlgeboren von Galebfurten. Was Euren Worten zu entnehmen ist, veranlasst mich zu denken, dass Ihr genau solch eine Person sein könntet, die ungeachtet der körperlichen wie seelischen Unversehrtheit Doratravas handelt. Rein aus Unverständnis und fehlender Weitsicht. Mir ist aber auch klar, in welcher Situation wir uns befinden und was um uns herum alles geschehen ist. Somit sollten wir vielleicht noch einmal von vorne beginnen und versuchen es noch mal.” Kurz ließ er seine Worte wirken. “Niemand ist zu ernstem Schaden gekommen durch das Wirken Doratravas, das sie selbst nicht willentlich hervorgerufen hat. Die Einschätzung stammt von mir. Ich selbst war von dem kurzen Verschwinden betroffen und war stets an ihrer Seite sowie die junge Dame Merle von Weissenquell. Ich bin ein erfahrener Diener der Liebholden Göttin, der sich um das Seelenheil der Menschen kümmert. Wenn Ihr es noch nicht wisst, ich gehöre dem Vierschwesternorden an. Was ich auch Euch sagen möchte, ist, dass die Obhut Doratravas in einem Tempel der Göttin Priorität hat. Ist sie im Augenschein der Göttin außer Gefahr, so kann sie sich weltlichen Anklagen stellen. Sollten diese noch bestehen. Nicht vorher.” Ernst, aber mit sanftem Blick, schaute der schöne Mann Lucilla an. Auch Alana war nun gespannt.

Einige Momente vergingen, dann räusperte sich Lucilla und ein zweifelnder Gesichtsausdruck zierte ihr schmales Gesicht.

“Meine zweite Antwort habt ihr nicht beantwortet”, stellte sie nüchtern klar. “Wer beherrscht Doratrava?”, wiederholte sie ihre Frage mit ein wenig mehr Schärfe in der Stimme und sprach dann wieder sachlich weiter: “Für mich unterliegt Doratrava ganz klar weltlicher Gesetzgebung. Ich sehe keinen Grund, warum sie in die Obhut eurer Kirche überlassen werden sollte. Ich bitte euch, mir dies zu begründen.”

“Als allererstes kommt das Seelenheil aller Menschen. Rahja gewährt denjenigen Schutz und Heilung, die es benötigen. Und eure Frage habe ich beantwortet. Um genau herauszufinden, was die Ursache des fremden Einflusses ist, muss sie unbedingt nach Eisenstein. Dort werden wir es herausfinden und die fremde Fessel lösen. Erläutert mir doch bitte, welche weltlichen Gesetze sie gebrochen haben soll?” fragte er.

Doratrava hörte schweigend zu, Rahjel hatte ihren stummen Hilferuf zumindest registriert, wie sie aus seinen Worten entnahm. Dennoch wollte die kalte Hand der Sorge und Ungewissheit, welche sich um ihr Herz gelegt hatte, nicht weichen.

“Sie hat Magie gewirkt und dabei jemanden mitsamt ihrer Person räumlich versetzt - ein starkes Stück, wenn ihr mich fragt. Und in diesem Zusammenhang hat jemand das Bewusstsein verloren”, entgegnete Lucilla trocken und vollkommen ungerührt.

“Sie ist keine sanktionierte Magierin. Ihre Begabung ist wahrscheinlich intuitiver Natur. Aber es könnte eine Gefahr aus eben dieser Gabe entstehen. Auf jeden Fall aber zeigt sie wahrscheinlich zufällige Parallelen mit den Machenschaften des Paktierers Pruch - dies macht die Sache so brisant.

Doratrava sollte daher klassifiziert werden. Dann wird klar werden, dass sie nichts mit ihm gemein hat. Wenn dies geschehen und ihre Aussage zu Papier gebracht ist, hat sie meiner Meinung nach gute Chancen, die ganze Sache unbeschadet zu überstehen.

Dass ihr Seelenheil bedroht ist, habe ich dem Gespräch mit ihr nicht entnommen und sie hat mir die ganze Geschichte erzählt. Sie ist verärgert über die Situation, die sie zur Gänze nicht versteht - auch warum sie eingesperrt wurde, vielleicht ist sie auch in einem gewissen Ausnahmezustand, ja, aber darüber hinaus sehe ich in ihr keine Gefahr für ihre Mitmenschen. Sie unterliegt keinen negativen Einflüssen, noch hat sie böswillige Absichten.”

Abermals räusperte sich die junge Adlige. “Dies ist meine Einschätzung. Wie kommt ihr zu dem Schluss, dass sie unter einem fremden Einfluss steht?

Ach”, hakte sie dann noch einmal nach, obwohl es schon so ausgesehen hatte, dass sie ihre Entgegnung beendet hatte. “Nach allem was ich weiß, werden ‘fremde Einflüsse’ durch Magie oder gar einen Exorzisten beendet. Sind dies Mittel, die dem Vierschwesternorden in Eisenstein zur Verfügung stehen?”

Rahjel schaute kurz zu Doratrava. “Es tut mir leid, dass wir so über dich reden, als ob du nicht hier wärst. Wenn du etwas beifügen möchtest, soll deine Stimme gehört werden.”

Doratrava warf Rahjel einen fast schon resignierten Blick zu und zuckte die Schultern. Anders als beim Tanzen fühlte sie keinen sicheren Boden unter den Füßen, konnte die Situation nicht richtig einschätzen, war hilflos der Willkür anderer ausgeliefert. Was sollte sie schon sagen?

Dann richtete Rahjel wieder seinen Blick auf Lucilla. “Ich war einer derjenigen, die räumlich versetzt wurden. Und was ich und Merle erlebt haben, deutet auf einen Einfluss hin, der nicht von Doratrava ausgeht. Doch sehe ich hier keine Zusammenhänge zu dem Treiben des Pruchs. Jedweder dämonischer Einfluss fehlt hier in dieser Sache.” Dann lächelte er. “Ich glaube, wir beide wollen dasselbe für sie. Ich hoffe, wir können in dieser Sache zusammenarbeiten, Junkerin. Als Zwölfgöttergläubige könnt Ihr sicherlich verstehen, dass ich als Geweihter die seelsorgerischen Pflichten sehr ernst nehme und die Seele des Opfers, in dem Falle Doratravas, zuerst gereinigt werden sollte. Im Tempel zu Eisenstein haben wir mit dem Gastgeber der Leidenschaft jemand, der fremde Einflüsse von Magie bannen, sogar im Notfall einen Exorzismus vornehmen kann. Abgesehen davon, dass das alles auf heiligem Boden geschieht. Wenn Ihr meinen Worten Vertrauen schenkt, könnten wir den Edlen von Lützeltal überzeugen, sie so schnell wie möglich dorthin zu bringen. Meine Schwester, die Ritterin Alana, und ich werden dafür sorgen, dass sie dort ankommt.”

Wieder sann die Galebfurtenerin über die Worte des Geweihten nach, bevor sie ihm antwortete. Es waren immer noch Fragen unbeantwortet. Konkret war Rahjel nicht geworden. Nein, er hatte wiederholt ausweichend geantwortet. Lucilla beließ es an dieser Stelle doch dabei und erkannte für sich, dass er ihr nicht entsprechend antworten wollte oder konnte. Dies ließ Schlüsse zu, die die Junkerin in ihrer Haltung bekräftigten.

“Ja, ich denke, ihr habt in dem Punkt recht, dass wir beide dasselbe für Doratrava wollen - sie aus dieser misslichen Lage zu befreien.” Lucilla nickte und zuckte dann mit den Schultern. “Mehr Parallelen erkenne ich jedoch nicht. Ich sehe diesen Fall nicht als Angelegenheit der Kirchen. Sie ist keine Geweihte und ich wüsste nicht, wie ihr argumentativ begründen könntet, die Vorgänge so darzustellen, dass es in ‘eure’ Zuständigkeit fällt.

Nein, wenn der Edle sie euch mit dieser Faktenlage überlässt, wird er seine Autorität damit selbst untergraben. Und ich werde nicht in eurem Sinne sprechen, da ich nicht überzeugt bin.

Für mich steht die Frage im Vordergrund, was Doratrava ist? Wird das nicht festgestellt und ihre Unbedenklichkeit bewiesen, ist es meine Pflicht, meinen Lehnsherren nahezulegen, dafür zu sorgen, dass sie Galebquell nicht betritt. Und ich denke dies wird sich in Gratenfels schnell herumsprechen.” ‘Und dafür werde ich sorgen’, dachte Lucilla, sprach es aber nicht aus, weil es zu offensichtlich war.

“Doratrava möchte sicher weiterhin als Schaustellerin durch die Lande ziehen und ihre Kunst präsentieren. Dies wird nach dieser Sache nur möglich sein, wenn bekannt wird, welcher Art die Quelle ihrer Magie ist und dafür reichen keine Annahmen oder Vermutungen. Nein.

Am Ende wird aber der Edle entscheiden, was zu tun ist, welcher Weg eingeschlagen werden soll. Er ist der Gerichtsherr. Vielleicht sollten wir lieber gleich mit ihm sprechen. Wir werden zu keiner Einigung kommen”, schloss die Galebfurtenerin aus.

"Was ich bin, ist eine Gauklerin, Tänzerin und Akrobatin, die nichts anderes im Sinn hatte, als anderen Menschen zu helfen, obwohl sie das nicht hätte müssen", murmelte Doratrava nun, da Lucilla fertig war mit ihrer Ansprache. "Ich wollte und will niemandem etwas Böses - zumindest, solange auch mir niemand etwas Böses will. Magie ... ist wie ein Werkzeug, ein Hammer zum Beispiel. Mit einem Hammer kann ich Nägel einschlagen oder Köpfe, egal, aus welchem Metall er geformt ist. Würde man einen Handwerker dafür anklagen, einen Hammer zu besitzen? Müsste ein Handwerker, wenn er in ein Dorf kommt, erst darlegen, aus welchem Material sein Hammer gefertigt ist? Würde man einen Handwerker anklagen, wenn der Hammer aus dem 'falschen' Metall wäre? Ich verstehe Euch nicht ..." Die Gauklerin schaute zu Boden, sie schien nicht wirklich eine Antwort zu erwarten.

“Ich bin enttäuscht, dass ihr nicht erkennen könnt, dass das hier eine Angelegenheit der Geweihten der Zwölfe ist. Ich rate euch, bei nächster Gelegenheit mit einem Geweihten zu sprechen.” Dies sagte er jetzt wieder in einem neutralen Ton. “Das letzte Wort ist ja noch nicht gesprochen. Rahja wird an deiner Seite sein, das habe ich dir versprochen, Doratrava. Schauen wir, dass wenigstens der Edle Weitsicht besitzt. Alana, bleibst du bitte weiter bei ihr?” Ohne abzuwarten, verließ er die Zelle.

Die Mundwinkel der Galebfurtenerin wanderten langsam nach oben, als sie dem Geweihten nachsah, wie dieser einen ‘Abgang machte’.

“Ist er jetzt beleidigt, nur weil er mich nicht argumentativ überzeugen konnte?”, fragte sie mehr sich selbst, als die verbliebenen Anwesenden. Weiterhin amüsiert schüttelte Lucilla den Kopf und wandte sie dann wieder Doratrava zu.

“Zuerst einmal, Magie ist im rechtlichen Sinne kein einfaches Werkzeug. Ihr wisst, wie der Götterfürst zu Madas Gabe steht, nehme ich an? Wenn ja, dann solltet ihr diese kindlichen Vergleiche unterlassen. Sie werden euch am Ende nur negativ ausgelegt.”

Nun schaute Doratrava doch wieder auf und der Rechtsgelehrten ins Gesicht. Diese mochte ihr ja helfen wollen, aber warum musste sie so unverschämt arrogant sein? Vom wirklichen Leben wusste sie wahrscheinlich gar nichts. Doratrava hingegen war nun schon zweimal einem leibhaftigen Dämon gegenüber gestanden, sie hatte mit eigener Hand gegen Untote und Namenlosenanhänger gekämpft, von 'gewöhnlichem' Gesindel ganz zu schweigen. Sie hatte vielen hohen Herrschaften schon geholfen, nur leider waren diese nicht anwesend. Und sogar von der Praioskirche hatte sie ein Schreiben erhalten, das ihr bestätigte, dieser einen großen Dienst erwiesen zu haben, aber das lag mit vielen ihrer anderen Besitztümer im Rahjatempel in Eisenstein. Und da stellte Lucilla sich vor sie hin und bezichtigte sie 'kindischer Vergleiche'. Dennoch hielt Doratrava den Mund, da es keinen Sinn gehabt hätte, der Gelehrten den Kopf zurechtzurücken. Vermutlich hätte sie einen entsprechenden Ausbruch Doratravas ebensowenig verstanden wie diese den ganzen rechtsverdreherischen Unsinn, nachdem sie beurteilt werden sollte.

Die Adlige indes schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust.

“Wie steht ihr zu seiner Gnaden?”, Lucilla nickte beiläufig in Richtung des Zellenausganges. “Vertraut ihr ihm und seinem Urteil? Wollt ihr mit ihm nach Eisenstein gehen, oder würdet ihr meinen Weg bevorzugen? Bitte wägt eure Antwort gut ab und trefft eine Entscheidung. Ich werde mich nicht noch einmal ungewollt gegen den Vertreter einer Kirche stellen, auch wenn ich denke, dass er Unrecht hat.”

Doratrava sah zur Zellentür, durch die Rahjel verschwunden war, dann zu Alana, dann zurück zu Lucilla. "Nun, ich kenne Rahjel nicht wirklich gut", begann sie zögernd, "aber ich vertraue ihm, dass er mir helfen will. Allerdings weiß ich nicht, was er gesehen oder erlebt haben will, das ihn glauben lässt, ich wäre besessen oder beherrscht oder sowas. Aber Rahjan Bader, dem Hochgeweihten des Tempels in Eisenstein, vertraue ich vollständig und ohne Vorbehalte. Wenn jemand mich untersucht, soll er es tun, da stimme ich mit Rahjel überein. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, darf er mich nicht einfach mitnehmen, es sei denn, der Edle von Lützeltal stimmt dem zu?"

“So ist es”, bestätigte Lucilla. “Nichts wird ohne ihn geschehen. Ich schlage vor, ich spreche mit ihm. Danach sehen wir weiter. Gibt es noch etwas, was ihr mir in diesem Zusammenhang sagen möchtet, bevor ich gehe?”

Doratrava öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut: “Sagt dem Edlen, dass ich niemanden verletzen wollte. Sagt ihm, ich wollte lediglich, dass seine Schwiegertochter in Sicherheit ist. Er darf gern selbst mit mir sprechen. Und er soll Merle und vor allem Tsalinde von Kalterbaum zu Wort kommen lassen. Auch wenn Eoban von Albenholz am lautesten geschrien hat, so hat ihr Wort doch mindestens so viel Gewicht wie seines. Immerhin ist sie eine Edle und Eoban nur Ritter, und dennoch führte er sich in unserer Gruppe auf, als hätte allein er das Sagen.” Doratrava merkte, wie schon wieder die Wut in ihr hochstieg, und schüttelte den Kopf. “Aber lassen wir das. Sagt ihm einfach das, was ich Euch gerade gesagt habe.”

Lucilla nickte. “Das werde ich tun”, sprach sie und wandte sich ab, um zu gehen.

“Die Zwölfe mit Euch, Euer Wohlgeboren”, sagte Alana und öffnete ihr die Tür.

~ * ~

Travias Gesandter aus Albenhus

Für diesen Vormittag hatte sich die Ankunft des Albenhuser Tempelpaares Liudbirg und Reginbald Dreifeld angekündigt, die eigentlich die Hochzeitszeremonie für Gwenn von Weissenquell und Rhodan Herrenfels durchführen sollten. Doch dann kam alles anders, Gwenn wurde am Tag zuvor vom Paktierer Jast-Brin von Pruch und seinen Schergen entführt und Rhodan war bereits am frühen Morgen abgereist, um seine Beziehungen spielen zu lassen, damit vielleicht Hinweise auf Gwenns Verbleib aufgedeckt werden konnten.

Im Dorf hatten sich inzwischen Gerüchte verbreitet, dass beim Haus des Dorfvorstehers eine weitere mysteriöse Kiste, adressiert an die Vögtin Witta von Dürenwald und den Anconiter Gudekar von Weissenquell, Bruder der Braut, gefunden worden war. Nachdem am Vortag bereits eine unheilige Kiste gefunden wurde, war man deswegen sehr besorgt, und umso mehr hoffte man auf die baldige Ankunft der beiden Traviageweihten.

Insbesondere Merle Dreifelder von Weissenquell fieberte ihrer Ankunft entgegen, wollte sie doch ihren Eltern – eigentlich waren es ihre Zieh- und Adoptiveltern, denn Merle war als Waisenkind im Traviatempel aufgewachsen – über den offenen Treuebruch ihres Ehemanns Gudekar mit der Ritterin Meta Croy in Kenntnis setzen. Gudekar und Meta hatten Lützeltal in der letzten Nacht nach langem Hin-und-Her endgültig verlassen.

Doch auch andere wollten dringend mit den Dreifelds sprechen. Und man hoffte, dass nach all den Schrecken, die die Lolgramoth-Paktierer am Vortag über das Dorf gebracht hatten, ein Friedenssegen der Geweihten Ruhe in die Gemeinschaft bringen würde.

Die Nachricht, dass ein Reiter in der orange-farbenen Tracht der Traviageweihten und ein weiterer in der Rüstung eines Rondrianers, von Süden her in das Dorf kamen, verbreitete sich dementsprechend schnell. Doch es war eben nur ein Traviageweihter, nicht das Paar. Und es war ein viel jüngerer Geweihter als Reginbald Dreifeld es war.

Als die zwei Götterdiener den Dorfplatz erreichten, kam sogleich der Edle Friedewald von Weisenquell aus der Zehntscheuer gelaufen, gefolgt von einigen Familienmitgliedern und Freunden.

Bei beiden Geweihten sah man sofort, wem sie ihr Leben und Werken gewidmet hatten: Der große schlanke Diener der Herdfeuerherrin mit dem schwarzen Haar trug der morgendlichen kühlen Luft wegen einen orangefarbenen Mantel, der mit einer Fibel in Form zweier Gänse im Paarflug verschlossen war, auf dem Kopf einen Strohhut und um den Hals war ein leichter Schal, ebenfalls aus gelblich-rötlichen Mischfarben geschlungen. Seine Begleiterin trug einen roten Reitermantel, welchen sie auf der rechten Seite über die Schulter nach hinten geschlagen hatte, um ihr Pferd besser lenken zu können, so dass ihr Kettenhemd und der weiße Wappenrock, auf dem eine stolze aufrecht gehende rote Löwin schritt, sie untrüglich als Dienerin der Sturmherrin kennzeichneten. Das braune Haar der Geweihten der Rondra bändigte eine rote wattierte Bundhaube, ihre Hände steckten in ledernen Handschuhen, an den Füßen trug sie hohe Stiefel und Beinlinge. Wer noch immer an ihrer Gesinnung zweifelte, brauchte nur einen Blick auf den am Gürtel festgeschnallten Rondrakamm werfen.

Der Traviageweihte führte ein Packpferd mit sich. Mehrere größere Bündel hingen links und rechts über dem Rücken des Tieres, eines davon war ein Mehlsack.

Nachdem er sein Pferd durchpariert hatte, stieg der Mann ab und sah sich mit aufmerksamem Blick um. Seine Begleiterin tat es ihm gleich. Beider Augenmerk fiel auf das „Empfangskommitee“, welches ihnen nun entgegenkam.

Eine von ihnen erkannte den Mann sofort: es war Merle, die in das Gesicht ihres Bruders sah, anstatt in das ihrer Adoptiv-Eltern.

“Travia mit Euch, Euer Gnaden”, grüßte Friedewald, wie es sich gehörte, obwohl ihm seine Verwunderung anzumerken war, nicht das Tempelpaar hier zu sehen. “Wir hatten das Tempelpaar heute erwartet. Was ist geschehen, dass sie nicht mit Euch angereist sind? Sie kommen doch noch?”

Als in der Zehntscheuer die Nachricht die Runde machte, die Travia-Geweihten würden endlich eintreffen, hatte es Merle nicht mehr drinnen gehalten. Sie ließ Lulu, die ins Spiel mit ihrem kleinen Bruder Siegmund vertieft schien, in der Obhut von Tsalindes Familie, versuchte sich das Kleid irgendwie glattzustreichen - vergeblicherweise, denn sie hatte darin nicht nur geschlafen, sondern auch auf dem feuchten Waldboden gelegen und einige Brandtreffer davongetragen - und stürmte, so schnell es ihr verknackster Knöchel erlaubte, mit wild pochendem Herzen nach draußen. Nachdem sie so lange darauf hingefiebert hatte, endlich ihren Eltern in die Arme zu fallen, bei ihnen Trost, Zuspruch und Unterstützung zu finden, konnte sie vor Aufregung kaum atmen. Was sollte sie zuerst erzählen, womit sollte sie anfangen? Es war so viel passiert… Abrupt hielt die junge Frau inne, als sie nicht ihre Zieheltern, sondern ihren Bruder sah; mit angsterfüllter Miene eilte sie an Friedewalds Seite. “Travian! Sag, was ist mit Mutter Liudbirg und Vater Reginbald? Es geht ihnen doch gut?!” Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren schrill und panisch.

„Die Zwölfe mit euch, die gütige Mutter voran, ich bin Bruder Travian Dreifelder. Das ist Schwertschwester Arika Löwenauge von Albenhus, die mich dankenderweise hierher begleitet“, grüßte der Traviageweihte mit ruhiger Stimme zurück. Warum es notwendig war, dass ein Traviageweihter von einer Rondrageweihten begleitet wurde, erwähnte der Mann nicht. Auch verbarg er etwaige Sorgen, die ihn selbst quälten, hinter einer Maske aus Fürsorglichkeit und Wohlwollen für diejenigen, denen sein Werk hier, in Lützeltal, galt.

Auf die Vorstellung ihres Begleiters nickte die Rondrageweihte den Anwesenden stumm zu, ließ jedoch ihm und denen, die nicht ihn, sondern das Tempelpaar von Albenhus für den heutigen Morgen erwartet hatten, Raum, diese Neuigkeit in sich aufzunehmen. Nicht jeder verkraftete die Enttäuschung gleich gut und schnell.

Bruder Travian indessen breitete die Arme aus, um seine Schwester Merle darin einzuschließen und sie für den Moment an sich zu drücken. Von ihm ging eine Ruhe aus, die sich sofort um Merle legte. Travians Arme waren in diesen Momenten der Sorge und Angst wie ein warmer, weicher, schutzbringender Mantel für ihre Seele.

Merle fiel Travian in die Arme und presste ihn an sich, umklammerte ihn wie eine Ertrinkende, war er doch nicht nur ihr Bruder - zumindest im Herzen, wenn auch nicht des Blutes nach - sondern auch ein Vertreter der Traviakirche, deren Schutz, Wärme und Frieden sie in den letzten zwei Tagen so verzweifelt vermisst und herbeigesehnt hatte.

Travian küsste Merles Schopf in einer sehr vertrauten Geste. Alle Kinder des Tempelpaares waren sich nahe, auch, wenn sie nicht alle zur selben Zeit miteinander aufgewachsen waren, so verband sie zwar nicht das Blut, aber doch ein starkes Band, was ein jeder mit sich trug: denn so unterschiedlich sie auch sein mochten und so unterschiedlich auch die Umstände waren, unter denen sie in ihr Leben gestartet waren, als Adoptivkinder des Tempelpaares Dreifeld und somit als Mitglieder der sogenannten ‚Dreifelder Schar’ gehörten alle einer großen herzlichen Familie an. Aufmerksam nahm der Priester in Travian das Beben des Herzens seiner jüngeren Schwester wahr, doch kommentierte er es erst einmal nicht, sondern strich ihr aufmunternd über Schultern und Rücken, ehe er sie wieder freigab.

Der ältere Ritter Jartgar von Immergrün stellte sich aufrecht neben Friedewald und Merle und begrüßte ebenfalls den Traviageweihten. Dass dieser in Begleitung einer Rondrageweihten da war, schien auf weitere schlechte Nachrichten zu weisen.

Auch Ativana kam nun mit AdelmannXI an der Hand zu der Gesellschaft, sie stellten sich aber weit hinten auf. Ihr Mann hatte es geschafft, sich standesgemäß herzurichten und reckte stolz die Brust vor. Seine Frau flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf er nickte und ernst die Augenbrauen hochzog. Ativana ließ den Blick über die Menge schweifen, er blieb bei Kalman und seiner etwas biederen Frau hängen.

Rondrard kam gerade aus der Schreinerei. Seine Geldkatze war nun um einige Silbertaler leichter und es würde noch zwei Tage dauern, bis die Särge fertig waren. Mit Verwunderung nahm er den einzelnen Travia-Geweihten wahr. Sollte nicht ein Paar kommen? Neugierig trat er näher.

Der Geweihte der Travia grüßte auch nacheinander alle anderen, die sich um ihn und seine Begleitung versammelten, mit einem Nicken. So tat es auch seine Schwester in Rondra, wenngleich diese sich weiterhin im Hintergrund hielt und die Szenerie nur mit ihrer Präsenz schmückte, doch noch nicht mit eigenen Worten.

„Ich bedaure, dass Vater und Mutter nicht kommen können,“ erklärte sich der Geweihte der Gänsegöttin. „Dafür haben sie stattdessen mich geschickt, um das heutige Jubelpaar zu weihen. Es, hm, kam etwas dazwischen“, das feine Zögern mit einem sanften Lächeln kaschierend. Er sah sich neugierig um. „Wo ist denn das baldige Brautpaar? Treffe ich es am Backhaus? Das ist schön. Ich habe Mehl aus dem Tempel dabei. Wenn nicht, seid so gut und ruft die beiden zusammen, damit wir das Travienbrot backen können, wie es Brauch ist.”

In Friedewalds Hals bildete sich ein großer Kloß, als der Geweihte nach dem Brautpaar fragte. Er brachte keinen Ton aus seiner Kehle vor Kummer und Sorge, und so war nicht er es, der auf Travians Frage antwortete.

Merle, ohnehin ein Bild des Elends in ihrem zerknitterten, schmutzigen Kleid und sichtlich rotgeweinten Augen, wurde noch bleicher und schüttelte zaghaft den Kopf. "Das Brautpaar...", sie merkte, wie ihre sowieso bereits zitternde Stimme versagte, schluckte mühsam und schaute hilfesuchend zum Edlen, im Blick die verzweifelte Bitte, dass er das Unfassbare in Worte fassen möge.

„Ja, das Brautpaar,“ wiederholte der Geweihte aufmunternd. In Travian Dreifelders Gesicht formte sich jedoch im nächsten Moment der Ausdruck von Verwirrung, als seine Schwester hilfesuchend in eine andere Richtung blickte.

***

Währenddessen war auch in der Wachstube, in der Kalman von Weissenquell zusammen mit dem Tsageweihten Rionn, der Ingra-Geweihten Imelda von Hadingen, dem Angrosch-Geweihten Grimmgasch, dem Ritter Darian von Sturmfels, dem Krieger Nivard von Tannenfels sowie dem Bergvogt Borix die Kiste untersucht und geöffnet hatte, die Ankunft der beiden Geweihten vernommen worden. Der Büttel Nerek Bertenschlag und die Wachfrau Hadelin Borkmund kamen nach ihrem Frühstück zurück in die Wachstube und berichteten von den beiden Neuankömmlingen. Kalman übergab den geschlossenen Kasten, der die abgetrennte rechte Hand von Gwenn enthielt, an Nerek mit dem Auftrag, diese ebenfalls ins Herrenhaus zu bringen und bei den anderen Toten aufzubahren, er sollte aber keinesfalls hineinschauen und auch niemand anderem dies erlauben. Hadelin, die mit Nerek die ganze Nacht durch die gefangene Doratrava bewacht hatte, wurde nun zum Schlafen nach Hause geschickt. Kalman selbst wollte sich gleich um die Bewachung der Angeklagten kümmern, sobald er der Vögtin Witta und seinem Vater von dem grausigen Fund erzählt hätte. Und so lange waren Lucilla von Galebfurten und Rahjel von Altenberg bei Doratrava.

So verließen Kalman, Rionn, Imelda, Darian und Nivard das Haus des Dorfschulzen und kamen auch auf den Dorfplatz, gefolgt von Grimmgasch und Borix.

Da sich nun fast alle auf dem Dorfplatz versammelt hatten, konnte Borix Murla, die ebenfalls aus der Scheune geeilt war, berichten, was sie in der Kiste gefunden hatten. Murla konnte mit aller Mühe gerade noch einen Entsetzensschrei verkneifen und hakte sich blass bei ihrem Mann unter.

Grimmgasch kam mit verhärteter Miene aus der Wachstube und stand stumm in der Gruppe der Wartenden und schaute den neu angekommenen Geweihten entgegen.

‘Endlich! Ein Diener der gütigen Mutter! Doch warum kam dieser hier, und nur in Begleitung einer Geweihten der Leuin, aber nicht das Albenhuser Tempelpaar?’ Alarmiert schob sich Nivard näher an den Ort des Geschehens.

Eigentlich wollte Rionn erst auch noch bei Doratrava herein schauen. Als sie die Wachstube verlassen hatten, war Rahjel zu ihr in die Zelle gegangen. Nun schienen dem Tsageweihten mit der ihm unbekannten Junkerin und dem Rahjageweihten zwei vernünftige Menschen bei Doratrava zu sein, die sich vermutlich und hoffentlich angemessen um sie kümmern konnten. Ehrlich gesagt, war Rionns Neugier größer gewesen, die Neuankömmlinge zu sehen. Auch er hatte das Tempelpaar erwartet und ebenfalls in ihrer Ankunft Hoffnung gesetzt, dass es helfen würde, den schrecklichen Ereignissen hier in Lützeltal ein Ende zu bereiten. Doch nun nahm auch Rionn wahr, dass ein anderes Paar eingetroffen war. Wer mochte das sein? Warum kam das Tempelpaar nicht, wie erwartet? Rionns Neugier und Unruhe steigerten sich.

Auch Ciala hatte unter anderem vom Eintreffen der Geweihten gehört. Etwas hinter den anderen eilte sie zu der Gruppe und sah sich nach ihrem Mann um, zu dem sie sich stellen wollte.

Kalman sah seine Frau aus der Zehntscheuer kommen und ging auf sie zu. Auch er wunderte sich, dass Travian statt des Tempelpaares hier erschien, doch nach den Schrecknissen der letzten Stunden versetzte es ihn weniger in Sorge als manch anderen. Er war froh, überhaupt einen Geweihten der Guten Mutter hier zu sehen. “Guten Morgen, Ciala”, sprach er mit ruhiger, zu ruhiger Stimme, während er sie in den Arm nahm und fest an sich drückte. Ciala kannte ihren Mann gut genug, um zu erkennen, dass für ihn der Morgen nicht gut war.

„Guten Morgen, Schatz. Ich hab schon Gerüchte vernommen, dass der Schrecken nicht nachlässt, aber ich weiß nichts Genaues. Ich bin froh, dass es dir gut geht.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Was ist hier los? Ist das die Vorhut? Wo bleibt das Tempelpaar?“

“Ciala”, flüsterte Kalman ihr zu, dass möglichst niemand weiteres seine Worte hörte. “Es ist etwas furchtbares geschehen. Gwenn… Sie haben… Sie haben ihr die Hand abgeschlagen!” Sofort legte er seiner Frau die Hände auf die Oberarme, damit er sie festhalten konnte, sollte sie einen Zusammenbruch nach dieser Nachricht bekommen.

Seine Frau blieb standhaft, aber er spürte, wie ihre Arme zitterten und Ciala erbleichte. „Bei den Göttern… schrecklich… Warum so schnell? Er hat sie doch eben erst...“ Ihre Stimme stockte und sie atmete schnell und angestrengt. „Die… die Rechte oder die Linke… warum nicht erst eine Warnung, eine einfache Warnung…?“ Kalman spürte, wie Cialas Zittern zunahm und sie sich bemühte, gefasst zu bleiben, obwohl sie zunehmend nach Luft rang.

Kalman zog Ciala fest an sich heran und drückte sie ganz doll. „Ich denke, es ist seine Warnung an uns. Immerhin, es ist nur ihre Hand und nicht…“ Er sprach den Satz nicht zu Ende. „Ich weiß, sie ist tapfer. Sie wird sich von ihm nicht brechen lassen. Sie sollte uns selbst eine Warnung schreiben, aber sie hat nicht geschrieben, was er wollte…“

„Ihre Schreibhand? Rechts? Was können wir schon tun?“ Sie zitterte weiter und versuchte, sich etwas von ihm zu lösen. „Es ist so stickig… ich, ich bekomme keine Luft, ich muss durchatmen.“ Hektisch und schnell atmete sie bleich weiter. Ihre Hand zitterte, als sie zu Kalman sprach. „Sie war..., ist auch meine Schwägerin. Nein. Ich bleibe an deiner Seite, ich werde nicht weiter immer auf Lulu aufpassen, untätig. Ich muss... ich muss stark sein, aber ich brauche frische Luft, hier ist es zu eng. Nimm mich diesmal mit, wenn ihr versucht, sie zu retten. Sie war immer da. Und was soll das? Warum nicht das Tempelpaar, sondern der Junge?“ Sie fasste sich an den Hals und zitterte weiterhin. „Komm, sprich mit ihm, ich begleite dich. Der Herr muss Sicherheit ausstrahlen. Du wirst eines Tages der Beschützer des Dorfes sein…“ Sie stockte und schnappte hektisch nach Luft.

“Ja, Ciala, danke, es tut gut, dich an meiner Seite zu haben.” Ein verzweifeltes Lächeln kam über Kalmans Lippen, zu mehr war er nicht in der Lage. Dann wandte er sich der Gruppe um die beiden neu eingetroffenen Geweihten zu, seine Frau mit ineinander verschränkten Fingern an der Hand mit sich führend.

Baroness Caltesa von Immergrün, die nun ein Bild der Geschehnisse hatte, ließ es sich nicht nehmen, ebenfalls zum Dorfplatz zu kommen. Ihr Gesichtsausdruck war besorgt und immer wieder schüttelte sie den Kopf und murmelte Worte vor sich hin, die wie Beschwerden klangen, doch verstand niemand ein Wort. Etwas wackelig auf den Beinen schien sie, doch hielt sie sich wacker an ihrem Gehstock fest.

Als Kalman seine Großtante erblickte, ließ er Ciala aus seinem Arm und kam auf die Baroness zu. Überrascht sprach er sie an. “Praios zum Gruße! Wo wart Ihr?”, fragte er besorgt. “Wir hatten Euch am gestrigen Abend gesucht, doch Euer Zimmer im Herrenhaus war verlassen, und auch im Gasthaus wart Ihr nicht angekommen. Wir haben uns schon gesorgt, was mit Euch geschehen sei”, versuchte der Ritter es mit einer Notlüge. Dass man die Tante seines Vaters im ganzen Ärger über die Angriffe des Pruch, das Verschwinden von Gwenn und des Tsa-Novizen sowie der Flucht seines Bruders schlicht und einfach vergessen hatte, wollte er nicht zugeben.

Ciala setzte erfolgreich eine besorgte, ernste Miene auf. „Den Göttern sei Dank.“

Caltesa lachte amüsiert. “Gesucht? Lügen war nie deine Stärke, Kalman. Jeder hat ja gesehen, wie ich fast auf Golgaris Schwingen aus dem Zimmer geschleift und umgebettet wurde. Den Göttern sei Dank, dass Boron mit mir Nachsicht hatte. Immerhin war die gute Merle bereit, mir Obdach in der Zeit des Schreckens zu gewähren. Die Gute ist hier fehl am Platze, ganz wie ich. Und nun schau nicht so begriffsstutzig und besorge deiner Tante einen Stuhl. Oder möchtest du deinem Ruf weiter schaden, indem du alte adlige Frauen in den Dreck fallen lässt?" Sie rümpfte die Nase und zitterte noch ein wenig mehr.

“Liebe Tante, wenn du dich hier fehl am Platze fühlst, dann bitte ich dich, geh in die Zehntscheuer und nimm dort Platz. Dort kannst du auch in Ruhe frühstücken. Es sind wirklich schlimme Dinge geschehen. Gwenn wurde entführt und ihr wurde… etwas angetan. Ich habe, nein, wir alle haben gerade ganz andere Sorgen, als dir einen Stuhl zu besorgen.” Kalman taten seine Worte sofort leid, doch es tat auch gut, nach all den schlimmen Nachrichten dem eigenen Unmut Luft zu machen. Und sei es einfach nur gegen eine schrullige alte Tante.

“Ich bin genau richtig hier, du Stümper. Du hast wohl vergessen, wer ich bin. Ich habe mehr von Dere und Schrecken gesehen, als sich dein Kleingeist vorstellen kann. Und ich sehe, wie es für dich hier läuft.“ Erbost drehte sie sich um und suchte nach etwas zu sitzen.

~ * ~

Auf dem Dorfplatz hatte sich um die beiden eben erst in Lützeltal angekommenen Reiter - einen Traviageweihten und eine Rondrageweihte - eine kleine Traube Menschen gebildet. Merle stand nahe des fremden Traviageweihten und blickte hilfesuchend zu ihrem Schwiegervater, während im Hintergrund die Dienerin der Sturmherrin ihren Rondrakamm schulterte und von irgendetwas alarmiert an den Traviageweihten und die um ihn Herumstehenden herantrat.

Merle war sichtlich verzweifelt und nahe den Tränen. Sprachlos und wie gelähmt stand die junge Frau da, wusste sie doch nicht, wie sie Travian vermitteln sollte, dass es heute keine fröhliche Hochzeitsfeier geben würde, dass Gwenn und der junge Novize in den Fängen des Paktierers waren, die grauenhaften, unheiligen Ereignisse, die vielen Toten... Nein, Friedewald musste sprechen, sie brachte es nicht über die Lippen.

Doch es war Rondrard, der sich nach vorn begab, denn auch Friedewald brachte die schreckliche Nachricht noch immer nicht über die Lippen. "Mit Verlaub, Euer Gnaden, das Dorf wurde gestern, und auch die Nacht hindurch, vom Paktierer Pruch und seinen Handlangern heimgesucht. Es gibt Tote und Vermisste. Die Braut zählt zu den Letzteren. Wir hatten gehofft, die Ankunft des Geweihten-Paares würde diese Schrecknisse beenden können."

Merle schenkte dem Ritter einen dankbaren Seitenblick dafür, dass er es über sich gebracht hatte, Travian über die bittere Wahrheit in Kenntnis zu setzen, wartete aber weiterhin darauf, dass ihr Schwiegervater das Wort ergreifen würde.

„Ihr sprecht von diesem unheiligen Erzfrevler?“ kam es von Schwertschwester Arika mit harter Stimme und man konnte sehen, wie sich ihr Körper versteifte.

Auch Bruder Travian entglitt das Gesicht und er wurde für den Moment ganz blass. “Dieser welcher hat auch hier gewütet?“ fragte er fassungslos.

Nun, da es ausgesprochen war, gelang es auch Friedewald, seine Fassung wiederzuerlangen. “Ja, Travia hat unser Tal verlassen. Ein Traviabund wurde durch die Anhänger des Rastlosen vereitelt, ein anderer wurde gebrochen. Wo Freundschaft und Gemeinschaft in Travia gefälliger Gastfreundschaft gefeiert werden sollten, herrschen Misstrauen und Verrat. Und nun versagt uns die Gute Mutter auch noch den Segen Eures Elternpaares.” Friedewald senkte sein Haupt, um seinen verzweifelten Blick nicht auf Travian oder jemand anderen richten zu müssen.

„Warum sollte die Gute Mutter das tun?“ Überrascht von dieser doch sehr alarmierenden Aussage klang die verwunderte Frage des Geweihten der Travia wohl etwas barscher, als beabsichtigt. „Düsteres Werk eines Dieners des Gegenspielers unserer Guten Mutter mag eure Seelen zugänglich gemacht haben für falsche Gedanken des Zauderns, für Ängste und Unsicherheit“, die Stimme des Mannes hatte sich leicht erhoben, „doch ist dies etwas, um was ich mich umgehend kümmern werde, denn dafür bin ich hier und die Herrin ist mit mir! - Aber zuvorderst sagt: Wo befindet sich das Backhaus? Und ist ein anderer Diener der Zwölfe anwesend? Ruft ihn oder sie dorthin, wir müssen sprechen! Dringend!“

Je mehr Rionn, der mit etwas Abstand zu den beiden neu angekommenen Geweihten in der diese umringenden Menschenmenge stand, den Worten lauschte, desto unruhiger und neugieriger wurde er. Was war geschehen? Warum kam dieser Traviageweihte in der Bedeckung einer Schwester der Sturmherrin hierher?

Bevor jemand auf die Entrüstung des Geweihten antworten konnte, trat Kalman nach vorne und überbrachte die nächste schlechte Nachricht. “Verzeiht euer Gnaden, doch dies ist bedauerlicherweise nicht die einzige schlechte Nachricht, die wir für euch haben. Ja, Gwenn, die Braut, wurde entführt, doch gibt es noch Hoffnung, dass sie lebt, wenn auch nur eine geringe. Denn der Paktierer hat uns eine Botschaft geschickt, eine Warnung, ihm nicht weiter nachzustellen, wenn wir Gwenn lebendig wiedersehen wollen. Eine Botschaft in Form ihrer rechten Hand.”

“Was?!” Merle drehte sich mit unverhohlenem Entsetzen zu ihrem Schwager und starrte ihn an. “Was sagst du da, Kalman? Er hat… ihre… Hand…?” stammelte sie, schwer atmend und mit weit aufgerissenen Augen; sie begann sichtlich zu zittern. “Sie… sie muss entsetzliche Schmerzen leiden… bestimmt wurde die Wunde danach nicht richtig versorgt…” Ihre schwache, bebende Stimme erstarb; Merle schloss kurz die Augen, wie um die blutigen Bilder auszublenden, die unweigerlich vor ihrem geistigen Auge erschienen. Als Anconiterschwester war sie bei Amputationen dabei gewesen, wenn etwa einem Krieger ein von Wundbrand befallenes Körperteil abgenommen werden musste. Doch einer gesunden Frau einfach so die Hand abzutrennen, aus purer Grausamkeit, aus Freude am Zufügen von Leid und Schmerz… “Hoffnung nennst du das?” Sie würgte und presste sich die Handfläche vor den Mund, um die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken.

Ja, Hoffnung, dachte Kalman, ohne dies auszusprechen, denn es war nicht ihr Kopf. “Er will uns wohl erpressen. Ihr Leben dafür, dass wir ihn nicht weiter jagen. Wenn er sie sterben lässt, hat er seinen Pfand verloren.”

Friedewalds Augen weiteten sich bei Kalmans Worten und er fing an zu schwanken. “Ihre… ihre Hand”, stammelte er kraftlos.

Wie furchtbar grässlich. Gwenn, ihrer Gwenn hatte man die Hand abgetrennt. Das wollte nicht in Cialas Kopf, wenn sie sich den Gedanken hingab, würde sie weinend, nutzlos als erbärmliches Bündel kauern. Stumm rannen Tränen über ihr bleiches Gesicht. Später, alleine mit ihrem Gatten, würde sie sich gehen lassen.

“Wir werden sie finden, bei Rondra!”, sagte der Ritter Jartgar, der nun neben Friedewald stand und ihm seine Hand auf die Schulter legte.

„Bleibet treu einander und die Mutter ist bei euch auch in der Not! Habet Vertrauen, so wird euch der Hoffnung genügend zuteil“, rezitierte Bruder Travian mit fester, gefasster Stimme, jedoch wissend, dass sein Sinnspruch nicht in allen Gehör finden würde. Diese Gemeinschaft war zutiefst verunsichert in Angst versetzt worden und die Schäden groß, dazu musste er kein besonders guter Menschenkenner sein. Er wechselte einen Blick mit der Rondrageweihten, die er zu seinem eigenen Schutz an seiner Seite wusste. Noch hatte hier in Lützeltal niemand Ahnung davon, warum diese Begleitung notwendig erschien, und er fand, dass dieses Dorf mit seinen Familien bereits zu viele Bürden zu tragen hatte. Er wollte den Menschen hier vorerst keine neue aufhalsen, indem er ihnen die nächste schlechte Nachricht zukommen ließ. Zu wankelmütig und verloren schienen sie ihm. Travian musste sich sammeln. Nachdenken. Abwägen. Worte zurechtlegen. Sich vor allem aber auch mit seiner Schwester in Rondras Geiste beraten - allerdings nicht hier in aller Öffentlichkeit.

„Das Backhaus befindet sich hier wo?“ fragte er daher noch einmal etwas nachdrücklicher in die Runde und wartete darauf, dass jemand sich bereit erklärte, sie hinzuführen.

Merle hatte Travians Worte kaum bewusst wahrgenommen, zu sehr stand sie nach Kalmans bestürzender Nachricht unter Schock.

Da trat von den anderen unbemerkt Mika aus dem Hintergrund an die beiden Geweihten heran und kniete sich mit dem rechten Bein vor sie. “Bruder Travian! Euer Gnaden! Wenn es Euch recht ist, würde ich Euch sogleich in das Backhaus führen, wir stehen ja fast schon davor. Ach so, falls Ihr Euch nicht mehr an mich erinnert: Ich bin Mika von Weissenquell, die Schülerin seiner Gnaden Firumar von Albenholz, den ich ebenfalls in baldiger Zeit hier erwarte, wenn der Weiße Jäger keinen anderen Pfad für ihn vorgesehen hat.”

„Eine Novizin des Grimmigen, sagst du, bist du? So führ uns hin, Kind.“ Travian schenkte dem Mädchen ein warmes Lächeln und deutete ihr an, dass sie ihr folgen würden.

***

Währenddessen hatte sich auch die alte Baroness nach vorne gewagt und stand nun neben Merle. “Meine kleine Merle. Stark müssen wir jetzt sein und bleiben. Hoffnung ist nicht das richtige Wort, doch Kalman hat recht damit, dass sie zumindest am Leben ist … und gerettet werden kann.” Überraschend kräftig legte Caltesa ihren Arm um Merle und gab ihr Stütze.

Merle nahm den Trost der alten Frau dankbar an und schloss für einige Moment still die Augen, dann schüttelte sie heftig den Kopf. “Ach, es ist und bleibt meine Schuld!”, brach es mit einem verzweifelten Schluchzer aus ihr heraus. Sie warf einen kurzen, entmutigten Blick zu ihrem Bruder, dessen Anwesenheit tatsächlich gut tat, der die Toten aber nicht wieder lebendig machen konnte. “Dieser unselige Brief! Wir wollten ihn doch zusammen öffnen! Wenn ich gleich damit zu Gwenn geeilt wäre, dann hätte sie die Brautentführung abgesagt. Absagen müssen! Dann wäre sie jetzt noch hier und unversehrt!” Merles Wangen waren tränennass, auch wenn sie an den letzten zwei Tagen schon so oft geweint hatte, dass sie fast glaubte, keine Tränen mehr zu haben; ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen, ohne dass sie den Schmerz richtig wahrnahm. “Heute wäre ihr Hochzeitstag gewesen! Das ist einfach nicht gerecht! Sie wollte doch nur ein schönes, fröhliches Traviafest feiern! Sie wollte doch nur glücklich sein!”

“Deine Schuld ist das nicht. Bei den Vorkommnissen der letzten Zeit hätten andere besser auf solche möglichen Ereignisse vorbereitet sein können. Die Vorzeichen gab es. Man konnte sogar darüber lesen.” Ihr Blick wanderte kurz zu Friedewald und Kalman. Ihren Zorn hielt sie zurück. Das Kind war bereits in den Brunnen gefallen. “Doch nun sollten sich die Leute darum kümmern, die dazu fähig sind. Vielleicht bringst du den guten Bruder der Travia zu den anderen? Tröstende Worte seinerseits könnten vielen helfen.” Sie hatte scheinbar nicht bemerkt, dass sich Mika inzwischen der beiden neuangekommenen Geweihten angenommen hatte und gerade aufgebrochen war, diese ins Backhaus zu führen.

Die drei Lützeltaler quittierten Caltesas Bemerkung mit bösen Blicken, hielten sich mit einer Erwiderung jedoch zurück.

“Tröstende Worte…” murmelte Merle, die unterschwellig registrierte, dass Travian mit seiner Begleiterin und Mika fortging. Eigentlich hatte sie doch mit ihm sprechen wollen und kurz kam ihr der Gedanke, ihn jetzt aufzuhalten, doch fühlte sie sich wie paralysiert von der Nachricht, die Kalman eben überbracht hatte. Die Bilder in ihrem Kopf, die Vorstellung von Gwenns geschundenem, verstümmelten Körper, dem vielen, vielen Blut lähmten sie so sehr, dass sie ihrem Bruder nur wort- und hilflos hinterher blicken konnte. Abrupt wandte sie sich ihrem Schwager Kalman zu, krallte sich mit den Fingern in seine Schultern, als versuchte sie, ihn zu schütteln. “Kalman! Ihr müsst Gwenn retten!” flehte sie ihn an, wie von Sinnen schluchzend, während sie hektische Blicke zu Jartgar, Nivard und den anderen Kämpfern warf. “Ihr müsst sie da unbedingt rausholen! Gwenn hat dieses Leid nicht verdient! Bitte, Kalman, bitte finde sie, bring sie nach Hause! Versprich mir, dass du sie zurückholst! KALMAN, VERSPRICH ES MIR, BITTE!”

“Ach Merle, du kannst doch von ihm nichts fordern, das er vielleicht nicht einhalten kann …”, sagte Caltesa mit ernsten Blick auf Kalman.

“Mutter, ich bitte dich!”, mischte sich Jartgar ein und zeigte diesmal einen verärgerten Blick.

“Schon gut …”, sagte sie stiller. “Merle, alle hier wollen nichts mehr, als das Leben der Entführten zu retten. Nicht nur Kalman, auch wir können versprechen, alles zu tun, was nötig ist. Rondra hört uns in diesem Moment zu. Bei unser aller Ehre”, sagte der ältere Ritter Jartgar und stellte sich neben Kalman.

Kalman blickte kurz dankbar zu seinem Schwertvater, bevor er Merle antwortete. “Natürlich werde ich Gwenn suchen. Ich werde sie finden. Vorher werde ich nicht ruhen. Ich werde mich denen anschließen, die den Paktierer jagen und sein böses Werk verhindern wollen, und die von meinem Bruder, von Gudekar im Stich gelassen wurden. Ich werde die Lücke schließen, die Gudekar aufgerissen hat. Und sollten die Befürchtungen stimmen, und sich der Hund dem Feind angeschlossen hat, werde ich auch ihn jagen und zur Strecke bringen.”

Die Ankündigung seines Sohnes erschreckte Friedewald. Gudekar war noch immer sein Sohn und er wollte, nein, er konnte nicht wahrhaben, dass sein Junge sich dem Dämonenpaktierer angeschlossen haben sollte. Und dennoch war er nicht in der Lage, Kalman zu widersprechen, denn dass dieser auf die Suche nach Gwenn ging, war auch im Sinne des Edlen. Verzweifelt blickte er sich nach Travian um, vielleicht konnte der Geweihte der gütigen Mutter ihm Antworten geben, wo er sich nicht einmal seiner Fragen im Klaren war. Doch Friedewald sah, dass Mika den Geweihten und seine Begleiterin bereits zum Backhaus brachte. Vermutlich, dachte der Edle, war es besser, ihn zunächst nicht zu stören. Seine Fragen konnten, nein, mussten warten, wenn sich Travian zunächst mit den anderen Geweihten absprechen wollte.

"Auch ich werde mich den Verfolgern des Frevlers anschließen. Allerdings erst, nachdem ich die Toten in Heimaterde begraben habe. Und natürlich muss ich um Freistellung bitten", erklärte Rondrard.

Merle, die sich zumindest äußerlich ein wenig beruhigt hatte, schaute die Ritter Kalman, Jartgar und Rondrard mit großen, tränennassen Augen an, in denen neben Angst und Verzweiflung nun auch tiefe Dankbarkeit stand. ‘Oh Gwenn’, dachte sie, ‘kluge, tapfere, mutige Gwenn… halte durch, bleibe stark, bis Kalman und die anderen dich da rausholen. Wir denken an dich, wir vermissen dich. Deine Familie ist bei dir!’ Merle stellte sich vor, dass Gwenn, wo immer sie jetzt war, wie sehr sie auch litt, diese Gedanken irgendwie empfangen, irgendwie spüren konnte. Wenn sie ihr nur Trost spenden, ihre Schmerzen ein bisschen lindern könnte… Verzweifelt versuchte die junge Frau zu beten, zu Travia und Peraine, zu Rondra und zum Götterfürsten selbst, war dies doch das einzige, was sie für Gwenn zu tun vermochte. ‘Gwenn, die Götter mögen dich behüten und beschützen, mögen dir Kraft geben, das durchzustehen… Liebes, du bist nicht allein!’’ Wieder rollten salzige Tränen über Merles Wangen und tropften von ihrem Kinn auf den Boden, doch schwor sie sich mit geballten Fäusten, Gwenn niemals, niemals aufzugeben.

In der Gruppe der Umstehenden entdeckte sie Ciala, in deren Gesicht das Entsetzen über die grauenhaften Neuigkeiten deutlich geschrieben stand. Wie automatisch ging Merle zu ihrer Schwägerin, um diese wortlos in die Arme zu nehmen.

„Ach Merle, meine Kleine, das ist alles so viel… und für dich ist es noch mehr.“ Ciala nahm Merle in den Arm und gönnte sich einen tiefen Schluchzer und die Tränen. „Es ist so unfassbar. Ich werde hier bleiben, bis die anderen zurück sind. Merle, bitte bleib noch etwas bei uns. Es ist in so kurzer Zeit so viel zerbrochen..“

“Was meinst du, Ciala, hierbleiben?”, fragte Merle, immer noch in Tränen aufgelöst. Sie blickte sich auf dem Dorfplatz um, wo sich, nachdem die Geweihten sich zurückgezogen hatten, auch die Schaulustigen langsam zerstreuten. “Liebes, sollten wir nicht ins Haus zurück?”

Ciala sah noch etwas abwesend in die Ferne, bis Merles Worte sie erreichten. „Wie? Ach so. Stimmt, hier können wir nichts machen, gehen wir.“

Nach einer langen, engen Umarmung löste sich Merle sanft von ihrer Schwägerin. "Ich bin mal schnell zum Gutshof rüber, mich umziehen und ein paar Sachen holen", brachte sie mit belegter, verheulter Stimme heraus. "Lulu müsste bei Tsalindes Familie und ihrem kleinen Bruder erstmal wohlbehalten sein. Aber ich bin so schnell wie möglich zurück, ja?"

„Was immer du willst, aber für mich bist du Familie, mehr, als es Gudekar ist. Lass uns zusammenhalten.“ Sie wischte die Tränen von der Wange. “Vielleicht fällt uns etwas ein, das die Männer vergessen haben. Oder etwas, was uns Hoffnung gibt. Es zerreißt mir das Herz.“

"Mir auch, Ciala, mir auch", murmelte Merle, die sich nicht vorzustellen vermochte, welche Hoffnung es für Gwenn noch geben konnte. Dennoch nickte sie bestätigend. "Aber wir geben sie nicht auf, nicht wahr? Wir geben Gwenn nicht auf." Auch Merle wischte sich über die Wange, strich ihr Kleid glatt und versuchte, tief einzuatmen, obwohl Schmerz und Verzweiflung ihr die Kehle zuschnürten.

„Natürlich geben wir unsere Gwenn nicht auf.“ Sehr entschlossen stemmte Ciala die Hände in die Hüfte und blickte grimmig. Es war besser, Zorn zu spüren als diese lähmende Trauer. „Ich werde im Haus sein. Komm doch nach, irgendwo muss eine Schwachstelle sein. Warum gerade Gwenn? Gudekar ist, äh war… na er ist nicht familiär. Und so sehr ich ihm saftig eine Watschn verpassen würde, bin ich mir sicher, dass du ihm mehr bedeutest als Gwenn. Darüber muss ich nachdenken.“

"Wenn jemand Gwenn retten kann, dann ist es dein Kalman!" bekräftigte Merle voller Überzeugung. "Er ist ein wahrer Held und Ritter." Als sie an ihren eigenen Mann dachte, seufzte sie leise. "Ach, ich weiß nicht... Gudekar hat seine Schwestern immer über alles geliebt. Und früher war er so ein sanfter, liebevoller, zärtlicher Mann...", mit zusammengepressten Lippen strich sie sich die Tränen aus dem Gesicht, "erst nach dieser Hochzeit in Schweinsfold wurde er plötzlich ganz hartherzig und kalt. Deshalb glaube ich immer noch, dass sich irgendein... Schatten auf seine Seele gelegt hat. Und dass es vielleicht Hoffnung gibt, dass er irgendwann wieder", sie verzog das Gesicht zu einem kaum sichtbaren, wehmütigen Lächeln, "dass er, na ja, wieder... normal wird. Denkst du nicht auch?"

~ * ~

Rat der Geweihten im Backhaus

Anwesende:

  • Travian - Traviageweihter
  • Arika - Rondrageweihte
  • Imelda - Ingrageweihte
  • Rahjel - Rahjageweihter
  • Rajalind - Rahjageweihte
  • Rionn - Tsageweihter
  • Grimmgasch - Angroschgeweihter
  • Mika - Novizin des Firun

Es war recht warm im Backhaus, da das Feuer unter dem Ofen die Nacht über groß und heiß loderte, damit jetzt, als es nur noch sanft glomm, die Steine alle die passende Temperatur hatten, um Brot und sonstiges Gebäck darin in der richtigen Hitze und auch der richtigen Zeit gar zu bekommen. So strahlten die Backsteine, aus denen Ofen und Haus gebaut waren, eine alle umgebende Wärme ab - fast wie die Umarmung einer Mutter.

Trotz des Verlustes seines geliebten Sohnes – oder gerade deswegen – hatte Ulfried Runkler, der Bäckermeister, die ganze Nacht über in der Backstube gestanden, den Ofen geheizt und den Vorteig geknetet, alles ordentlich sauber gemacht und aufgeräumt, so als ob das Tempelpaar zusammen mit dem Brautpaar am Morgen kommen würde, um das Hochzeitsbrot zu backen. Einen Teil des Teiges hatte er dann allein als Vorbereitung des Frühstücks verbacken, doch es war noch genügend Vorteig übrig, damit nun die Traviageweihten geweihtes Brot zur Stärkung der Gemeinschaft würden backen können. Der nächste Schlag für ihn war, als Mika von Weissenquell nicht das Tempelpaar aus Albenhus sondern lediglich einen einzelnen Traviageweihten, noch dazu in Begleitung einer Rondrageweihten in das Haus führte. Kurz wurde ihm erläutert, was Travian Dreifelder als nächstes hier in seinem Backhaus vorhatte, und dann wurde er fortgeschickt, nach oben zu seiner trauernden Familie, seiner Frau, seiner Schwiegertochter und seinen Enkeln, die tags zuvor ihren Sohn, Ehegatten und Vater verloren hatten. Auch Ulfried, der nach der Nacht voller ruheloser Arbeit vor Erschöpfung fast umfiel, sollte sich nun zur wohlverdienten Ruhe legen, in Gesellschaft seiner Familie. Dort legte er sich wortlos in sein Bett und fiel fast augenblicklich in einen tiefen Schlaf voll düsterer Träume.

Es waren am Ende mehr Brüder und Schwester zu Travian ins Backhaus gekommen, als er jemals gedacht hätte und er erkannte mit Wohlwollen und tiefem Respekt die vielen Verbindungen des Hauses Weissenquell an, dass es in der Lage war, so viele verschiedene Götterdiener zu dieser einen Hochzeit laden zu können. Jeden einzeln mit einigen persönlichen Worten zu begrüßen war dem Priester der Travia ein ernstes Anliegen gewesen, ebenfalls wie dass er mit jedem, der das Backhaus betrat, ein kleines Stück Brot und Wasser aus einem alten, schon mehrfach geflickten Tonkrug teilte.

Nun, als sich alle im Backhaus versammelt hatten, sah Bruder Travian mit sorgenvollem Blick in die Runde seiner Brüder und Schwestern.

„Ich kam hierher mit dem Gedanken, einen Traviabund zweier Herzen zu segnen, über die mir berichtet wurde, dass sie sich in großer Liebe gefunden haben. Doch ich musste erfahren, dass hier erst jüngst durch unheiliges Frevlerwerk diese zwei Herzen getrennt wurden, und dass Leid und Schmerz in diese Gemeinschaft kamen, ebenso wie Unfrieden und Angst. Aber um zu verstehen, was wirklich vorgefallen ist, hoffe ich auf eure Erklärungen. Also, bitte, erzählt mir, meine lieben Brüder und Schwestern, was ist hier geschehen? Und ich werde hiernach erzählen, warum ich es bin, der heute vor euch steht und nicht meine Eltern, das Tempelpaar aus Albenhus und warum ich in Bedeckung von Schwester Arika reise.“

Nach einigen Momenten des betretenen Schweigens erhob die junge Geweihte des Feuergottes das Wort. Sie fühlte noch immer eine Spur Beklommenheit in ihrer Kehle, hatten sie doch eben erst die abgeschlagene Hand der Braut in einer Kiste vorgefunden, ein unterschwelliges Übelkeitsgefühl, das sich durch die köstlichen, verlockenden Düfte frischen Brots um sie herum eher noch verstärkte. Auch machte das Wissen, dass der junge Bäcker Brun gestern ermordet worden war und seine Familie hier in diesem Haus um ihn trauerte, die Zusammenkunft für Imelda nicht leichter. Dennoch, der gerade eingetroffene Traviageweihte musste über die Geschehnisse in Lützeltal in Kenntnis gesetzt werden. “Ich, ähm, ich könnte kurz wiedergeben, was passiert ist, oder es zumindest versuchen… Wenn ich etwas wichtiges auslasse oder nicht richtig zusammen kriege, sollen meine Schwestern und Brüder im Glauben”, Imelda ließ ihren Blick ernst über die Gesichter der anderen Geweihten in der Runde schweifen, “mich gerne unterbrechen und Dinge ergänzen…”

Aufmunternd nickte Travian ihr zu.

Die rotblonde Hadingerin holte einmal tief Luft, dann begann sie langsam zu erzählen: “Also, gestern um die Mittagszeit gab es hier einen schlimmen Sturm, der sehr plötzlich kam, ungewöhnlich plötzlich. Aber manchmal ist es im Herbst eben so, da hat sich niemand viel dabei gedacht. Dann kehrte die Jagdgesellschaft zurück, sie hatten einen Toten zu beklagen, einen Jagdunfall, das hat die Stimmung schon sehr gedrückt, und während einer Andacht auf dem Dorfplatz ist uns aufgefallen, dass Gwenn, also die Braut, vermisst wurde, zusammen mit ein paar anderen Leuten aus dem Dorf. Aber es hat sich schnell herausgestellt, dass das eine geplante Brautentführung war, ein eigentlich lustiger Brauch in dieser Gegend”, ein trauriges Lächeln stahl sich auf das Antlitz der Ingra-Geweihten, “...und zusammen mit dem Bräutigam ist eine kleine Gruppe, wo ich auch dabei war, den Hinweisen gefolgt. Im Wald haben wir schließlich einige von Gwenns Begleitern gefunden, tot, offenbar in einen Hinterhalt geraten. Oben am See waren noch zwei Tote, die Dame von Kranickau, Gwenns Leibwächterin, und ein Scherge des Paktierers, der ein Pergament mit dem ganzen miesen Plan in der Tasche hatte. Im See haben wir eine unheilige Spur oder… Präsenz entdeckt; meine Laterne ist kurz ausgegangen…”

„Eine unheilige Präsenz? Welcher Art genau?“ warf die Rondrageweihte harsch mit energischer Stimme dazwischen. Ihr Tonfall war durchaus lauernd, kritisch.

„Bitte, Schwester Arika, lass sie doch erst einmal aussprechen!“ bat der Traviageweihte höflich, eine Hand in Richtung der Rondrianerin erhoben. „Diese Fragen klären wir gleich. Schwester Imelda, bitte, fahr fort!“ bat der Traviageweihte die Hadingerin mit einem warmen Lächeln.

Imelda schluckte, als sie sich an diesen Schreckensmoment erinnerte, wo ihr heiliges Licht scheinbar vollständig erloschen war. “Offenbar ist Gwenn da durch eine Art Portal von dem Paktierer in den Limbus entführt worden. Der tote Scherge hatte eine Kiste bei sich, in der befand sich der Kopf des armen Rondrard von Tannenfels”, sie verzog das Gesicht schmerzerfüllt, als sie an den sympathischen jungen Mann dachte, “außerdem lag darauf, wie wir erst später merkten, ein übler dämonischer Fluch, der die Leute immer mehr durchdrehen und sogar aufeinander losgehen ließ. Es gab noch mehr Tote. Und der Novize von Rionn, der ist auch durch so ein Portal entführt worden, direkt am Rande des Dorfes. Eine kleine Gruppe ist später noch mal aufgebrochen, um den Magus Gudekar, also den Bruder von Gwenn”, die junge Geweihte schaute fragend in Travians Gesicht, ob ihm der Name etwas sagte, doch fiel ihr ein, dass Travian ja ein Adoptivbruder von Merle war. Travian indes lächelte sie immer noch an. “Um Gudekar davon zu überzeugen, nicht feige zu fliehen, sondern sich einer Seelenprüfung zu stellen, denn er hatte einige bedenkliche Dinge getan und gesagt.“

„Der Magus des Anconius-Ordens?“ Travians Ausdruck änderte sich zu großem Erstaunen. Gleichzeitig machte er deutlich, dass er sehr wohl wusste, wer Gudekar von Weissenquell war. Doch der Priester der Herdfeuerherrin zügelte seine eigene Neugierde und machte eine Geste in Richtung Imelda, dass sie weitersprechen solle. Aber er sah nun noch etwas nachdenklicher drein. Immerhin nahm kein Geweihter der Zwölfe das Wort ‚Seelenprüfung‘ leichtfertig in den Mund.

„Dort im Wald, bei einer kleinen Schutzhütte, wurden wir erneut von den Schergen des Paktierers angegriffen, und den Göttern sei gedankt, dass wir alle wieder lebend rausgekommen sind. Gudekar, der uns letztendlich geholfen hatte, haben wir schweren Herzens ziehen lassen und sind des Nächtens ins Dorf zurückgekehrt, wo alle zur Sicherheit gemeinsam in der Zehntscheuer übernachtet haben. Heute früh wurde vor dem Haus des Dorfschulzen schließlich die unselige Kiste mit Gwenns Hand gefunden.” Die Geweihte atmete tief durch und blickte in die Runde. “Habe ich etwas wichtiges vergessen? Oder habt Ihr hierzu Fragen, Euer Gnaden Travian?”

Als Imelda begann, von Gudekar zu berichten, ging Mika, die sich bis dahin im Hintergrund hielt, verärgert an einen der Backtische, schüttete eine Schaufel Mehl, Wasser und etwas Salz in eine Schüssel, gab eine Kugel des Vorteigs hinzu, und fing an, den Teig unsanft zu kneten. Doch als Imelda dann von Gwenns Hand berichtete, ließ Mika die Schüssel erschrocken auf den Tisch knallen und stellte sich mit großen, verschreckten Augen vor ihre Freundin. Mit ihren Hände, vermatscht voll klebrigen Teigs, ergriff sie Imeldas Schulter. Ungläubig, als traute sie ihren Ohren nicht, fragte sie kreidebleich im Gesicht: „Was habt ihr gefunden?“

Imelda, ebenso bleich und mit tränenglänzenden Augen, schien Mikas klebrige Teighände an ihrer dunkelblauen Tunika gar nicht zu bemerken. Sie sah ihre Freundin nur eindringlich an und begann dann leise, fast tonlos weiterzusprechen: "Bei der Kiste war ein Pergament dabei, adressiert an Gudekar und die gräfliche Vögtin. Gwenn sollte offenbar die Ermittler auffordern, mit der Jagd auf den Paktierer aufzuhören. Aber sie hat stattdessen geschrieben, dass ihr eigenes Leben nichts zählt, dass sie weitermachen sollen… Da hat er…" Die junge Geweihte schien unfähig weiterzusprechen, sie schluckte mühsam und senkte den Blick.

“Warum? Warum kann er das tun?” Tränen liefen über Mikas Gesicht. “Warum hält ihn denn niemand auf?” Mika fing an, Imelda, die sie noch immer an den Oberarmen festhielt, zu schütteln. “Wann hat das endlich ein Ende?”

„Mika!“ Travian trat von der Seite an Mika heran und legte ganz behutsam seine Hände auf die der Firunnovizin. „Ich weiß, dass dein junges Herz in Aufruhr ist und dass du viele Fragen hast. Aber Verzweiflung hilft niemandem.“ Seine Stimme klang warm und wie die eines großen Bruders, der über mehr Weisheit und Weitsicht verfügte. „Doch wenn du weinen willst, dann komm in meine Arme. Ich werde dich halten.“

Mika ließ Imelda sogleich los und schmiss sich förmlich in Travians Arme. Ein Gefühlsausbruch voller Tränen brach nun wie ein Damm nach starkem Regen aus ihr heraus, ein Ausbruch, wie sie ihn nicht mehr gezeigt hatte, seit…, vermutlich noch nie gezeigt hatte. Zumindest nicht mehr, seit sie von Seiner Gnaden Firumar aufgenommen wurde.

Der Mann in der orangefarbenen Robe hielt die junge Frau einfach nur umarmt und streichelte ihr sanft übers Haar.

Nebendran räusperte sich die Rondrageweihte. „Können wir jetzt über das unheilige Wirken sprechen oder gibt es den Erzählungen von Schwester Imelda vorher noch etwas hinzuzufügen?“ fragte sie mit harter Stimme, aus der die Ungeduld sprach. Ihr aufmerksamer Blick glitt dabei über ein jedes der versammelten Gesichter.

Der Tsageweihte hatte Mika beobachtet und sah ihren Schmerz. Er konnte zutiefst nachfühlen, wie es ihr erging. Leib und Leben von engen Familienangehörigen waren nicht nur bedroht, sondern sie hatten bereits schlimmen Schaden genommen. All die Verzweiflung, all die Not und Ohnmacht, die aufstiegen, wenn Paktierer und Dämonenbündler solch schlimmes Übel über die Bevölkerung brachten - Rionn selbst hatte es nur viel zu oft bereits erleben müssen… Jedenfalls hatte er in seinem Herzen eine Ahnung davon, denn die Erinnerungsfetzen, die immer wieder seinen Geist durchqueren, erzählten von vielen solcher Ereignisse. Es war ihm fast klar, dass auch in seinem eigenen Umfeld Familienangehörige gelitten und gestorben waren, weil die Herrscher der Schwarzen Lande in den zurückliegenden Götterläufen immer wieder unsägliches Leid über die Menschen gebracht hatten.

So schaute er mitfühlend zu Mika, Travian und Imelda. Als Arika noch einmal nachhakte, räusperte Rionn sich und ergänzte Imeldas Bericht mit belegter Stimme. “Wir haben die beiden Kisten untersucht. Und wir haben jeweils die Zwölfgötter gebeten, einen Exorzismus auf diese unheiligen Gefäße zu wirken. Die Gnade wurde uns jeweils zuteil. An der ersten Kiste, in welcher der Kopf von Nivards Bruder lag, war eine mächtige niederhöllische Macht gebunden. Wir konnten sehen, wie sie entfuhr und von den Zwölfen in die siebte Sphäre verbannt wurde. Es war überwältigend, den Umfang der entweichenden dämonischen Macht zu beobachten. Das hat mich nachhaltig erschreckt. Und ich habe schon vieles gesehen…” Zumindest ahnte Rionn, dass er in seinen mutmaßlich vier Dutzend Götterläufen vieles Erschreckendes gesehen hatte. “Auch aufgrund dessen, was diese Kiste bei der anwesenden Totenwache bewirkt hatte, musste ich annehmen, dass der unheimliche Einfluss weit über das Herrenhaus hinaus wirkte. Als ich hörte, was in der Zehntscheuer geschah, sah ich meine Befürchtung bestätigt. Ich denke aber, dass die Wirkung, der Einfluss heute morgen nicht mehr präsent sein dürfte unter uns. Jedenfalls hoffe ich das sehr. Die Götter mögen es fügen.”  

“Ja, die Götter mögen es fügen.” Die junge Ingrageweihte nickte zustimmend auf Rionns Worte. Sie wirkte immer noch etwas nervös, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, begegnete Arikas Blick aber mit fester Entschlossenheit. “Die unheilige Präsenz, die ich zuvor meinte, die war an dem See, bei der Quelle des Lützelbachs. Angeblich ist das ein Ort, wo Hesindes Kraft besonders stark zu spüren ist”, sie blickte nach Bestätigung suchend zu Mika, welche sich aber noch nicht wieder gefasst zu haben schien. “Am Ufer haben wir Spuren von Gwenns Pferd gefunden - ihre Stute hat ein besonderes Hufeisen vom gräflichen Hof - und solche, die darauf hindeuteten, dass sie abgestiegen ist, oder runtergerissen wurde, und dann von jemandem in Richtung See gezerrt. Ihr besticktes Taschentuch haben wir nahe des Ufers im Wasser treibend gefunden - da haben wir uns Sorgen gemacht, sie könnte ertränkt worden sein. Auch wenn auf dem Pergament des toten Söldners sowas wie ‘Mit G.v.W. durchs Tor’ stand und eine seltsame Zauberglyphe darauf gezeichnet war. Aber um sicher zu gehen, sind Merle und ich bis zur Hüfte reingewatet und haben die Stelle abgesucht; da hat meine Laterne zu flackern begonnen und das heilige Licht meines Gottes ist immer schwächer geworden. Mir wurde eiskalt - ich meine, das Wasser dieses Sees ist im Traviamond ohnehin sehr, sehr kalt”, Imelda nickte dramatisch, um ihre eigenen Worte zu bekräftigen, “doch ich meine ungewöhnlich kalt, als wäre diese Stelle ein von den Göttern verlassener Ort... Dann ist die Laterne plötzlich ganz erloschen, das macht sie normalerweise nie - das darf sie nicht! - ich bin in Panik geraten und ohnmächtig geworden, aber Merle hat mich aus dem Wasser gezogen und als ich zu mir kam, hatte auch mein heiliges Licht wieder zu brennen begonnen.” Liebevoll blickte die Geweihte zu der kleinen Laterne hinunter, die an ihrem Schmiedegürtel hing. “Wir waren uns dann sicher, dass der Paktierer dort am See ein unheiliges Sphärentor in den Limbus geöffnet hat, um Gwenn zu entführen. So ähnlich, wie es vor zwei Götterläufen mit Vater Winrich in Schweinsfold geschah. Und gestern Nacht wohl auch mit Rionns Novizen, direkt am Waldrand vor dem Dorf, nahe der Brücke. Dort haben wir ein kleines Lederetui mit Eoinbaistes Initialen gefunden. Und auch da hat meine Laterne ganz heftig geflackert - und Rahjel, Rionn und ich haben eine dunkle, dämonische… Präsenz gefühlt, die jedoch schon wieder im Abklingen war.” Imelda schaute Rionn und Rahjel fragend an, ob sie dem noch etwas hinzufügen wollten.

Als Imelda über das Verschwinden von Eoinbaiste, dem Novizen, berichtete, spürte Rionn einen Stich in seinem Herzen. Er senkte betroffen den Kopf. Ja, dieses Lederetui hatte der junge Rechklamm selbst gefertigt für ein Werkzeug, das er vom Kobold Luch Halbschuh höchstpersönlich geschenkt bekommen hatte. Es war dem Jungen sehr wichtig gewesen. Er hätte es niemals einfach liegenlassen. Was mochte nun mit dem Jungen sein? Wie mochte es ihm gehen? Hoffentlich war er noch am Leben.

Der Blick der Rondrageweihten hatte sich seither stetig verdunkelt. „Ich fasse einmal zusammen,“ begann die Dienerin der Sturmherrin recht selbstbeherrscht, aber die Art, wie ihre behandschuhte Rechte das Parier ihrer Weihewaffe knetete, sprach eine ganz eigene Sprache. „Es gibt hier verschiedene Orte unheiliger Art, und es gibt zwei Kisten, die jeweils eine unheilige dämonische Präsenz enthielten, nebst abgeschlagenen Körperteilen. Bevor ich zu der Frage komme, ob und wenn ja wie diese unheiligen Orte bislang gesichert wurden,“ dabei sah sie vor allem diejenigen mit rondrianischer Strenge an, die bislang mit gesprochen hatten, also Rionn und Imelda, „muss ich wissen, was während der erwähnten Totenwache geschah und wer hier vor Ort den Exorzismus beherrscht.“

“Nun”, antwortete der Tsageweihte, nachdem er seinen Kopf wieder erhoben hatte und Arika ansah, “Imelda und Grimmgasch haben mir bei der Liturgie des Exorzismus geholfen. Ich bin dazu ausgebildet…” Letzteres behauptete Rionn in der Annahme, dass seine Erinnerungssplitter, die immer wieder in ihm aufstiegen, darauf hindeuteten. Außerdem hatte er seine Fähigkeiten in der zurückliegenden Zeit, beispielsweise im Albenhuser Efferdtempel, unter Beweis stellen können. “Die Kempen der Totenwache sind aufeinander losgegangen. Nivard ist eingeschritten und hat das Gefecht beendet.”

„Dieser Nivard - wer auch immer er ist - war sehr tapfer. Er verdient meinen Respekt,“ erklärte die Rondrageweihte nüchtern. „Das heißt, dass der Dämon einer der Kisten sogleich gebannt wurde. Was war mit dem anderen? Ihr sagtet etwas von Unwirren in der Zehntscheuer? Was mich außerdem interessiert: es wurde ein Zettel mit einer Zauberglyphe darauf erwähnt.“ Schwertschwester Arika wandte den Kopf zu Imelda, die davon in ihrem Bericht von den Ereignissen am See gesprochen hatte. „Ich hoffe, dieser Zettel wurde bereits dem Feuer übergeben.“ Ihre Aussage klang wie eine Frage, deren Beantwortung mit Nein man sich fast nicht traute.

“Ähm…”, Imelda wirkte nun doch etwas eingeschüchtert von der anklägerischen Art der Rondrageweihten. Sie schüttelte bedauernd den Kopf. "Ich fürchte nicht. Der hohe Herr Kalman hat das Pergament eingesteckt. Er wollte es später Gudekar zur Prüfung geben, aber dazu ist es ja nicht mehr, ähm, gekommen. Und später hat er den Zettel dann der Baroness von Kaldenberg gezeigt, die hatte das Zeichen als die Glyphe von... ähm, vom Widersacher der Gütigen Mutter erkannt. Aber ich glaube, der Sohn des Edlen trägt das Pergament noch bei sich."

Inzwischen hatte sich Mika wieder etwas gefangen und löste sich aus Travians Umarmung. Trotzig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. „Aber wenn Kalman dieses Pergament gestern noch bei sich trug, könnte es dann nicht sein, dass diese Glyphe die Paktierer im Wald angelockt hat, die uns dort überfallen haben? Ist Kalman dann aber nicht immer noch in Gefahr?“

Die Ingra-Geweihte wog nachdenklich den Kopf hin und her. "Ich glaube, die Paktierer gestern Nacht kamen wegen Gudekar. Dieser fremde Magus hat ganz gezielt versucht, ihn auf seine Seite zu ziehen… Und vergiss nicht, dein hochgelehrter Bruder hatte viele Monde lang ein Pergament des Pruchs in seiner Manteltasche mit sich rumgetragen."

“Und hatte das auch eine Glyphe darauf?” fragte Mika immer noch trotzig.

Genervt verdrehte Imelda die Augen, ging auf Mika zu und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. “Süße, ich weiß doch, wie sehr dich das belastet, uns alle. Und nein, keine Glyphe, nicht dass ich wüsste.” Imelda schüttelte langsam den Kopf. “Da stand wohl nur drauf, in der Handschrift des Pruchs: 'Was glaubst du, verbindet uns?' Doch wurde dieses Pergament tatsächlich bereits den Flammen von Travias Herdfeuer übergeben.” Mit einem um Bestätigung bittenden Blick schaute sie zu Rahjel und Rionn.

“Das kann alles oder nichts bedeuten”, wehrte Mika immer noch ab und ging wieder zum Tisch zurück, um sich weiter dem Brotteig zu widmen.

Rionn erwiderte den Blick Imeldas, zuckte mit den Schultern und machte ein Handzeichen, dass es sinnvoller war, Mika erst einmal in Ruhe zu lassen.

Travian war wohl zum gleichen Schluss wie der Tsageweihte gekommen, denn er ließ das Mädchen gewähren und beobachtete die Arbeitsweise nur Mikas hin und wieder mit einem aufmerksamen Auge, während das Gespräch sich fortsetzte.

Dem Traviageweihten fiel dabei auf, dass Mika den Teig jedoch lediglich mit der rechten Hand knetete, während ihre Linke die Schüssel allein mit Daumen und Zeigefinger festzuhalten versuchte.

Imelda seufzte erschöpft. "Aber ja, das Pergament mit der unheiligen Glyphe muss so schnell wie möglich verbrannt werden. Es tut mir leid, dass ich gestern nicht schon daran gedacht habe."

“Nun, dann sollten wir es so schnell wie möglich nachholen”, stimmte ihr der Angroscho zu. “Wir sollten es unseren heiligen Flammen übergeben!”

Entschlossen nickte Imelda dem Angroschgeweihten zu. “Das ist ein ganz hervorragender Vorschlag!” Fragend schaute sie in die Runde. “Weiß jemand, wo der hohe Herr Kalman sich gerade aufhält?”

„Hervorragend?“ Die Rondrageweihte grunzte kopfschüttelnd. „Es ist eine Schande, dass dies nicht schon viel früher getan wurde! Ich sehe hier so viele Diener der Zwölfe, doch mich wundert, wie leichtsinnig hier vorgegangen wird. Ein einfacher Mann trägt eine unheilige Zauberglyphe mit sich herum und es kam niemand von euch in den Sinn, ihm diese abzunehmen?“

Oh, dachte Rionn, diese Rondrageweihte machte sich ja direkt beliebt. Sie kam hier her, wusste von nichts. Dass die anwesenden Geweihten seit Tag und Nacht gegen die Mächte der Unterwelt fochten, kam ihr nicht in den Sinn. Dass dabei Fehler geschahen, ja, das war ärgerlich. Aber diese Rondrageweihte wurde den Menschen hier nicht gerecht.

„Mein Bruder ist kein einfacher Mann“, murmelte Mika vor sich hin, „er ist ein Ritter!“

Die harte Stimme Arikas wandelte sich in ein Donnergrollen. „Bei Rondra, der Sturmleuin! Ich möchte jetzt auf der Stelle wissen, wie ihr die Orte, an denen die Düsternis wirkte, gesichert habt, wo dieser Mann ist, den ihr Gudekar nennt, da ihr ihn ja beschuldigt, eine Nachricht des Erzfrevlers bei sich getragen zu haben, und ich will wissen, was während der Totenwache passiert ist. Sind noch andere Seltsamkeiten geschehen? Denkt nach! Das scheint mir unerfreulicherweise eine ganze Menge gewesen zu sein. Ich bin zu helfen bereit, doch möchte ich erst alles erfahren. Und wenn ich alles sage, meine ich auch ALLES!“ Dabei stellte sie ihren Rondrakamm vor sich ab. Eine sehr eindrückliche Geste.

Nun wandte sich Mika wieder von dem Teig ab und stellte sich vor die Rondrageweihte. „Wenn Ihr erlaubt, Euer Gnaden, der Mann, denn wir Gudekar nennen, ist ebenfalls mein Bruder und im Prinzip Bruder Travians Schwager. Er ist Mitglied der Weißen Gilde und Angehöriger des Anconiterordens in Albenhus. Er ist ein guter Mann und hat sein Lebtag versucht, ganz uneigennützig den Menschen, die Hilfe benötigen, zu helfen. Er hat Lützeltal in der Nacht verlassen.“

Auch Imelda baute sich vor Arika auf und schaute dieser fest in die Augen. Sie war es selbst gewohnt, laut und durchdringend zu sprechen und so antwortete sie der Rondrageweihten mit klarer, aber beherrschter Stimme: “Gut, ich versuche einmal alles der Reihe nach zu erklären; vielleicht werdet Ihr dann erkennen, dass wir in keiner Weise ‘leichtsinnig’ vorgegangen sind, sondern in Anbetracht der extremen Umstände unser Möglichstes getan haben. Bei der Totenwache, wo man die Kiste mit dem… Kopf von Rondrard hingebracht hatte, ist einer der Krieger aus der Lanze des hohen Herrn von Storchenflug plötzlich auf seine Kameradin losgegangen und hat diese erschlagen; der Herr von Tannenfels konnte ihn aufhalten, wobei der Angreifer aber selbst den Tod fand. Danach hat Rionn mit Hilfe von Rahjels heiligem Tuch einen Exorzismus auf die Kiste durchgeführt, ich habe ihn dabei unterstützt und wir konnten eine sehr mächtige dämonische Präsenz austreiben. Die andere Kiste, die mit der, ähm… Hand, die haben wir heute früh gleich als erstes gereinigt. Da hatten wir aber nur eine wesentlich schwächere Präsenz festgestellt. An den beiden Stellen, wo anscheinend ein Tor in den Limbus geöffnet wurde, war die ‘Spur’ bereits merklich am Verlöschen - ich glaube, dort wird die Düsternis inzwischen nicht mehr wirken. Aber vielleicht wäre es sinnvoll, dies noch einmal zu überprüfen. Es war uns gestern Nacht nicht mehr möglich. Und zu Gudekar”, sanft legt die junge Geweihte ihrer Freundin Mika die Hand auf die Schulter, “er hat sich tatsächlich… seltsam verhalten”, sie runzelte die Stirn, weil sie selbst merkte, dass dies nicht das passende Wort war, “und wir haben verzweifelt versucht, ihn aufzuhalten, doch ist er letztendlich mit seiner… Geliebten seines Weges gezogen. Habt Ihr weitere Fragen, Euer Gnaden Arika?”

Rionn bekam zunehmend Zweifel, ob dieser Jüngling Travian und diese Dame großer Worte wirklich hilfreich waren und ihnen bei der Befriedung des Lützeltals eine adäquate Unterstützung sein würden. Skeptisch musterte er die Rondrageweihte und verschränkte die Arme vor der Brust. Auf seiner Queste von Albernia nach Albenhus - auf der Jagd nach dem Paktierer und Frevler Travian von Punin - hatte er eine sehr vernünftige Rondrageweihte kennengelernt. Ja, auf Leudara Aldieri von Rhodenstein konnte man bauen. Und irgendwie hatte Rionn in seinen Erinnerungssplittern auch einen Ardaritenritter vor Augen, den er nicht zuordnen konnte, dessen Namen er vergessen hatte. Er tauchte in den aufsteigenden Fetzen und Bildern oft mit einem jungen, ernst dreinschauenden Knappen auf. Mit diesem Ritter der Göttin verband Rionn ebenfalls positive Gefühle. Aber davon war Arika noch weit entfernt.

„Meine lieben Schwestern und Brüder, ich verstehe die Aufregung,“ meldete sich nun wieder Travian zu Wort, seine Stimme sanft und verständnisvoll. „Doch es ist gänzlich der verkehrte Weg, wenn wir uns in Streit entzweien. Für mich ist es nicht wichtig, wann was geschehen ist. Es ist geschehen.“ Dabei sah er zu Arika und Imelda hin, die voreinander standen wie zwei Felsen, um die die Brandung toste. „Wir müssen nun entscheiden, wie wir diesem Dorf, diesen Menschen hier am besten helfen können.“ Dabei ging er auf die beiden Frauen zu. „Es liegt allein an uns, festen Glauben,“ er legte Imelda einen Hand auf die Schulter, dann Arika, „und Sicherheit zu vermitteln. Vor allem, da wir an den Geschehnissen nichts mehr ändern können.“ Seufzend entfernte er seine Hände mit einem Streicheln beider Schultern und breitete mit dem Blick auf die Gruppe gerichtet seine Arme aus. „Gibt es denn jetzt noch etwas, von dem ihr uns erzählen wollt.“ Der Geweihte der Travia sagte bewusst nicht ‚müsst‘, um etwaigen Aggressionen gleich die Luft zu nehmen. Hier lagen die Nerven wirklich blank.

Der Rahjageweihte Rahjel von Altenberg wartete auf den richtigen Moment, um ein weiteres Problem anzusprechen. Der schöne Mittdreißiger erhob die Hand zum Sprechen. “Ja. Geschwister im Glauben, inmitten all der schrecklichen Ereignisse kam es zu einem weiteren Vorfall, der unserem Rat bedarf. Einige von Euch haben sicherlich mitbekommen, dass die Gauklerin Doratrava schwarzmagischer Praktiken angeklagt und vom Edlen Lützeltals festgenommen wurde. Bei einer hitzigen Diskussion wurden Merle von Weissenquell und ich magisch an einen anderen Ort gebracht und die Gauklerin war dafür verantwortlich.” Kurz darauf machte er eine Pause. “Ich erkläre gerne im Einzelnen, was uns geschehen ist. Doch ich bin auch hier, um euch um Unterstützung zu bitten. Der Adel möchte sie anklagen und dabei kann viel Schreckliches passieren für die Halbelfe. Bei Rahja schwöre ich, dass sie keine bösen Absichten hatte, auch wenn ihr Handeln von einer fremden Kraft beeinflusst wurde. Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass dieses Ereignis nichts mit dem verräterischen Pruch zu tun hat. Es wäre mir ein Anliegen, die Gauklerin in einen Tempel der Zwölfe bringen zu lassen, damit ihre Seele geprüft, gereinigt und die fremde Fessel gelöst werden kann. Sie selbst hat zugestimmt, dass sie freiwillig folgen würde, wenn ich sie in den Rahjatempel in Eisenstein zum Gastgeber der Leidenschaft Rahjan Bader bringe. Erst mit reiner Seele kann sie sich weltlichen Anklagen stellen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist sie weiterhin eine Gefahr für sich und andere. Doch muss der Edle vom Lützeltal überzeugt werden, dass das eine Angelegenheit der zwölfgöttlichen Geweihtenschaft ist.” Nun ließ er seine Worte wirken und wartete ab.

Rionn selbst war ein Koboldfreund und ein Feenfreund. Sowohl Kobolde als auch Feen waren der Göttin Tsa sehr gefällige Wesen, ja sie waren heilig. Im Tsageweihten hatte sich in den zurückliegenden Stunden die Vermutung in seinem Herzen breit gemacht, dass Doratravas Handeln und das ihr eigene Wesen möglicherweise etwas mit diesem Heiligen zu tun hatten. Dabei kannte er sie schon eine Weile, aber erst hier in Lützeltal wurde ihm dies bewusst. Doch er konnte das nicht beweisen. Jedenfalls nicht so, wie es die übliche aventurische Rechtsprechung verlangte. Rionn seufzte. Würden seine Geschwister im Glauben ihn ernstnehmen, wenn er seine Vermutung aussprach? Er musste es versuchen.

“Ich habe Grund dafür anzunehmen”, sprach der Tsageweihte deshalb vorsichtig, “dass in Doratrava etwas gegenwärtig ist, was der Ewigjungen heilig ist. Ich möchte mich deshalb nachdrücklich dafür aussprechen, sie unter den Schutz der Kirchen zu stellen. Ich halte es für eine sinnvolle und gute Idee, sie zum Rahjatempel nach Eisenstein zu bringen. Nur dort kann angemessen mit dem umgegangen werden, was ich als heilig bezeichne. Wir müssen verhindern, dass den Göttern gefrevelt wird, wenn Doratrava der öffentlichen Gerichtsbarkeit unterworfen wird. Es ist mir sehr ernst!”

Grimmgasch nickte bestätigend zu Rionns Aussage. Doratrava war schließlich ein Teil ihrer Gemeinschaft und war durch die Herzogenmutter ausgewählt worden.

„Es wäre gut, wenn Bruder Rahjel die Einzelheiten dazu offenlegt, so, wie er es angekündigt hat.“ brummte die Rondrianerin. „Zwischen einer innewohnenden Heiligkeit - verzeiht Bruder Rionn, aber das hört sich mir persönlich merkwürdig an, da wir hier ja nicht von einer Yppolita von Kurkum sprechen, sondern von einer halbelfischen Gauklerin! - und der Anklage schwarzmagischer Praktiken herrscht doch ein alveransweiter Unterschied. Meint ihr nicht auch? Und ob ein Haus der Rahja hierfür das Richtige ist, wage ich zu bezweifeln - wohl mir der Name Rahjan Bader schon untergekommen ist.“

“Meint Ihr nicht, Euer Gnaden”, meldete sich nun der Angroschgeweihte zu Wort, der den Vorwürfen der Rondrageweihten nur zugehört hatte, “dass Ihr Euch durch Euer Gepolter ein wenig zu sehr erregt? Ihr wart bei den letzten Ereignissen nicht dabei und meint jetzt uns allen sagen zu wollen, was richtig und was falsch ist!”

Der Tsageweihte, der erneut die Arme vor der Brust verschränkt hatte und skeptisch schaute, nickte beipflichtend, als Grimmgasch sprach.

„Ihr Lieben!“ war es nun die junge Rahjageweihte Rajalind, die sich zu Wort meldete, nachdem sie bislang stumm zugehört und sich nur ihren Teil gedacht hatte. Sie war sehr müde, weil sie im Gasthaus schon seit den frühen Morgenstunden dabei half, das Frühstück für die Gäste aufzubereiten, und den Schlafmangel sah man ihr an. „Wir tun uns doch alle keinen Gefallen, wenn wir gegeneinander stehen. Ich glaube, Schwester Arika geht es darum, ein möglichst genaues Bild von unserer Lage zu bekommen. Nehmt es ihr doch nicht übel, dass sie Fragen stellt, die sich vielleicht etwas kritisch anhören. Ich kann sie verstehen. Seit gestern Abend sind doch so viele verwirrende und beängstigende Sachen passiert, die keiner versteht….“ Die Rajageweihte, deren Blumenkränzchen welk auf ihren etwas zerzausten Haaren lag und deren rotes Kleid auch irgendwelche Flecken aufwies, seufzte tief. „Vielleicht sind wir, die wir hier vor Ort waren, blind für manche Zusammenhänge, könnte doch sein.“ Anschließend gähnte sie hinter vorgehaltener Hand.

Der Traviageweihte nickte. „Möglicherweise ist nun auch der Zeitpunkt gekommen, dass wir unsererseits EUCH jene Erklärung einlösen, die wir euch schulden.“ Sich seiner Sache wohl nicht ganz sicher, sah er vorsichtig zu seiner Reisegefährtin hin.

„Darüber entscheide nicht ich, da meine Zuständigkeiten andere sind.“ antwortete diese.

„Ja, ja, ich weiß…. Ich entscheide das… Muss… das entscheiden.“ Travian wirkte für einen Moment unsicher und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, bevor er die Schultern straffte und in die fragenden Gesichter blickte, deren Erwartung fast zum Greifen war.

„Auch in Albenhus sind Dinge geschehen, die meine Eltern davon abhalten, hierher zu reisen. Ob jene Geschehnisse nicht minder schlimm als jene hier oder umgekehrt zu werten sind, ist für mich schwer zu beantworten und mag im Auge des Betrachters liegen. Doch beanspruchen sie die ungeteilte Aufmerksamkeit von Mutter Liudbirg und Vater Reginbald.“ Travian sprach mit unsicherer Stimme, Arika nickte ihm jedoch aufmunternd und bestätigend zu.

Innerlich zuckte Rionn zusammen und fragte sich sorgenvoll und durchaus auch neugierig, was in Albenhus vergleichbar schlimmes geschehen sein mochte. Die Ausmaße und Dimensionen des unheilvollen Wirkens des Lolgramoth-Paktierers schienen immer mehr sich mit dem messen zu können, was sich in den Schwarzen Landen ereignet hatte. Doch der Tsageweihte nahm sich zusammen und antwortete Travian in ruhigem Tonfall: “Dann danke ich dir sehr, dass du dich trotz der Geschehnisse in Albenhus aufgemacht hast zu uns nach Lützeltal. Bist du wegen des Traviabundes hier oder hattet ihr bereits Kunde von dem, was hier passiert ist? Und was genau ist in Albenhus geschehen?”

“Von den Ereignissen hier haben wir tatsächlich erst nach unserer Ankunft erfahren”, erklärte Arika. “Vielleicht hätte man früher die zuständige Obrigkeit in Albenhus in Kenntnis setzen sollen?”

“Aber wie sollte man dies denn tun, Schwester?” besänftigte Travian. “Wenn das Üble doch erst gestern am Nachmittag zugeschlagen hat, wie hätte die Nachricht uns dann früher erreichen sollen? Da waren wir doch bereits unterwegs. Und die gräfliche Vögtin ist ja wohl bereits am Abend hier eingetroffen.“ Erneut fuhr sich der Traviageweihte mit beiden Händen durch das Gesicht, als müsse er eine unsichtbare Verschmutzung von sich waschen. Er war es nicht gewohnt, eine solch bedeutsame Versammlung von Schwestern und Brüdern im Glauben zu leiten und wichtige, schlimme Botschaften vor vielen Würdenträgern zu verkünden. “Nein, ich bin hierher gekommen, um den Bund zwischen den Liebenden Gwenn und Rhodan zu schließen. Denn auch in der schwersten Stunde ist es ein Fels, der uns Halt gibt, wenn zwei Liebende sich vor der Göttin ewige Liebe schwören und den untrennbaren Bund eingehen.”

Abwartend und auch neugierig stand Grimmgasch in der Gruppe und wartete darauf, dass Travian endlich zum Kern seiner Ankündigung vorstoßen würde.

Schließlich fasste sich Travian ein Herz. Er stützte sich mit den Handflächen auf die Lehne eines Stuhls und beugte sich leicht vor. “In Albenhus…, nun, die Brüder und Schwestern der Gemeinschaft des Herren Phex haben Hinweise und Spuren auf einen Unterschlupf des Paktiereres in Albenhus ausfindig gemacht und man ist diesen nachgegangen.”

Arika trat an die Seite des Traviajüngers und drückte seine Schulter. “Der Hort des Götterverfluchten wurde gestürmt”, ergänzte sie Travians Worte.

‘Die Phexdiener aus Albenhus…’, dachte Grimmgasch, ‘die haben sich ja als sehr hilfreich herausgestellt.’

“Aber das ist doch - bisher - eine gute Nachricht, oder?”

“Ja, eine gute Nachricht”, stimmte Travian ein, doch sein Gesicht zeigte, deutlich, dass dies wohl nur die halbe Geschichte war. Arika schaute ihn ernst an, als wolle sie ihn ermahnen, auch den Rest zu offenbaren, doch drängte sie den Traviadiener nicht.

Imelda sah weiterhin gespannt den Travia-Geweihten an, welcher herumdruckste und sich offensichtlich schwertat, mit den unangenehmen Nachrichten herauszurücken. “Was habt Ihr denn noch zu berichten, Bruder Travian?”, fragte sie daher vorsichtig nach.

Travian blickte besorgt zu der Ingrageweihten. “Hier ist so viel geschehen, es gab bereits so viel Aufregung. Da die Ereignisse in Albenhus keine weiteren Auswirkungen auf das hiesige Geschehen haben, außer dass Mutter und Vater Dreifeld nicht anwesend sein können, denke ich, es wäre wirklich nicht hilfreich, das Volk hier durch weitere schlechte Nachrichten zu beunruhigen. Es ist scheinbar in Lützeltal schon genug Schlimmes geschehen.”

Der Tsageweihte kniff die Augen zusammen. Warum druckste der junge Traviageweihte so herum? Es war gar nicht ausgeschlossen, dass das Aufdecken des Unterschlupf des Pruchs in Albenhus Auswirkungen auf die Ereignisse in Lützeltal hatte. Vielleicht hatte man ihn dort so verärgert, dass er sich hier bitter rächte, ein Exempel statuierte und seine Macht demonstrierte.

Nun platzte Mika der Kragen. Sie ging vom Tisch mit dem Brotteig weg und stellte sich dicht vor Travian auf, die Fäuste auf die Hüfte gestemmt. “Mensch, Bruder Travian, wir sind aber nicht das Volk! Du hast uns hier zusammen gerufen, um uns zu sagen, was Liudbirg und Reginbald aufgehalten hat. Nun weihe uns bitte endlich ein. Glaubst du nicht, wir alle könnten mit der Nachricht, was auch immer du uns zu sagen hast, umgehen? Gut, ich bin nur eine Novizin, aber die Brüder und Schwestern hier sind alle erfahrene Geweihte der zwölfgöttlichen Geschwister.” Unsicher blickte Mika zu Grimmgasch, da sie sich nicht sicher war, ob dieser ihrer Auslegung zustimmen würde, dass Angrosch nur der zwergische Name der Entität war, die bei den meisten Nordmärkern Ingerimm genannt wurde. Das Gleiche galt auch für Ingra, und so blickte die Firun-Novizin auch zu Imelda. “Also, nun leg uns offen, was du uns zu sagen hast!”

Aber der Angroschpriester zuckte nicht einmal zusammen, denn schließlich war er in Senalosch geweiht worden. Und der Tempel vereint sowohl den Ingerimm- als auch den Angroschglauben in einem Haus. Somit sah er sich auch für die Menschen und ihren Gott mitverantwortlich.

Arika nickte Travian zustimmend zu, als dieser hilfesuchend zu ihr schaute. So holte der Traviageweihte erneut tief Luft. “Nun gut. Also, das Versteck des Paktierers… Ihr müsst wissen, der heutige Traviatempel in Albenhus wurde auf den Grundmauern eines Jahrhunderte alten Tempels errichtet. Und es hat sich gezeigt, dass der Paktierer leider ausgerechnet in den Katakomben, in den Resten jenes alten Tempels, unterhalb der heutigen Traviatempels seinen Unterschlupf errichtet und damit unseren Tempel geschändet hat.”

Ungläubig und stumm schüttelte Rahjel seinen Kopf. Sein Anliegen war gänzlich in den Hintergrund gefallen. Die Nachricht war zu schrecklich. Doch waren hier vor Ort die Gefahren noch nicht gebannt. Er würde kurz abwarten, um dann wieder auf seine Bitte hinzuweisen.

Innerlich erschrak Rionn erneut. Doch er bemühte sich, es wenig nach außen zu zeigen, um nicht noch mehr zur Beunruhigung beizutragen. Das wäre dann nämlich im Sinne des Widersachers der Gütigen Mutter. Jetzt galt es, Ruhe zu bewahren. Das war schon eine ungeheuerliche Nachricht, die Travian überbrachte, dachte der Tsageweihte. “Aber jetzt ist das aufgedeckt und das Übel kann beseitigt werden. Es ist schlimmer, wenn wir davon nicht wissen und der Paktierer sein übles Spiel mit uns spielen kann”, versuchte Rionn es mit einem beruhigenden Kommentar.

Travian nickte einsichtig, doch war es Arika, die zuerst das Wort ergriff. “Darum sind wir ja auch hier zusammengekommen, um Euch das zu berichten.” Die Rondrageweihte blickte ernst in die Runde. “Leider ist der Frevler jedoch rechtzeitig vor unserem Eintreffen in seinem Versteck verschwunden. Er war durch den Limbus entkommen, wie bereits so oft davor, und anscheinend auch gestern hier. Es scheint sogar so, als sei er direkt nach der Stürmung seines Verstecks hierher gereist. Doch muss er sehr hastig aufgeschreckt sein. Sein Lager war nur sehr unsauber geräumt. So fanden wir zum Beispiel jene Druckerpresse, mit der er seine lästerlichen und aufwieglerischen Pamphlete zur Verbreitung hergestellt hatte.”

Travian schaute besorgt. “Schwestern und Brüder, ich bitte Euch, haltet Stillschweigen über diese Ereignisse. Wir möchten nicht, ich möchte nicht, dass schlimme Nachrichten noch mehr Unruhe in das Dorf bringen. Dies wäre auch im Sinne von Mutter und Vater Dreifeld. Ich werde lediglich den Edlen kurz darüber in Kenntnis setzen, warum die beiden zum jetzigen Zeitpunkt weder die Stadt Albenhus noch ihren Tempel verlassen können, solange dieser als entweiht angesehen werden muss.” Er machte eine lange Pause und atmete tief durch. “Ich bitte auch, meiner Schwester Merle zunächst nichts davon zu berichten, denn ich weiß nicht, ob sie eine weitere schlimme Nachricht zur Zeit verkraftet.” Dabei ging sein Blick besonders zu Mika.

Diese nickte stumm und setzte sich dann bedrückt auf einen Schemel.

“Diese Nachricht wird nicht durch meinen Mund außerhalb dieser Gruppe zu hören sein”, bestätigte Grimmgasch. ‘Wie eine Laus im Pelz hat er sich dort ein Versteck gesucht, wo man sich am wenigsten kratzen wird …’, dachte er noch bei sich. ‘Wo mag er nun hin sein?’

Auch Rionn nickte bestätigend.

“Ich weiß nicht…”, kaute Imelda auf ihrer Unterlippe. “Sollten wir Merle nicht gleich reinen Wein einschenken? Früher oder später muss sie es erfahren. Wie lange wollt ihr es denn geheim halten? Es geht immerhin um ihre Eltern. Und es ist, denke ich, auch nicht im Sinne des Herrn Praios, so wichtige Dinge im Verborgenen zu lassen.”

“Da möchte ich Euch nicht widersprechen, Schwester Imelda”, stimmt Travian zu. “Es geht auch nicht darum, ihr etwas auf Dauer zu verheimlichen. Doch es geht darum, weitere Panik hier in Lützeltal zu vermeiden. Ich bitte euch, ich kenne meine Schwester besser als ihr. Lasst mich den richtigen Zeitpunkt abpassen, Merle und auch dem Edlen zu sagen, was in Albenhus geschehen ist. Es geht Vater und Mutter ja soweit gut, und die schlechte Nachricht hier zu verbreiten hilft niemandem.”

Der Tsageweihte schaute bei Travians Worten zu Imelda. Dann nickte er ihr zustimmend zu. “Wir wollen Merle erst noch mehr zur Ruhe kommen lassen. Wenn hier alle Menschen sicher sind und einigermaßen die Ereignisse verwunden haben, den ersten Schock, dann können wir all das noch einmal vorsichtig nacharbeiten. Aber jetzt ist es keine hilfreiche Information für Merle. Aber vielleicht können wir ihr sagen, dass es ihren Eltern gut geht?!”

Travian nickte lediglich.

“Würdet Ihr, Bruder Travian, Euch dann darum kümmern und mit Merle sprechen? Sie macht sich sicherlich Sorgen.” Die Hadingerin hielt es für keine gute Idee, das Geschehene noch länger vor dem Waisenkind geheim zu halten, wollte sich jedoch nicht weiter einmischen.

“Ja, das wird wohl das Beste sein.” Travian war noch immer nicht völlig davon überzeugt, dass es richtig war, Merle zu viel von den Geschehnissen in Albenhus zu erzählen.

Der Rahjageweihte hob nun die Hand, um wieder auf sich aufmerksam zu machen. “Schwestern und Brüder. Wir können nicht untätig bleiben, denn es gibt für uns hier noch einiges zu tun.

Abgesehen von der Betreuung der Gläubigen hier, braucht die junge Seele der Gauklerin unsere Hilfe. Und damit meinte ich uns als Diener der Zwölfe, um eine Seele zu retten. Sie wird sich dem Richtspruch des Edlen stellen müssen und es steht zu befürchten, dass man sie der Inquisition übergeben möchte oder sogar dem reinigenden Feuer. Ich bin davon überzeugt, dass sie im Tempel der Liebholden am sichersten ist, um ihre Seele zu reinigen. Der Gastgeber der Leidenschaft Rahjan Bader ist ein Experte auf diesem Gebiet der Seelenheilkunst.” Er machte eine kurze Pause. “Es scheint, dass starke Emotionen etwas in der Halbelfe erweckt, das für Andere und für sie selbst gefährlich ist. Die Göttin gab mir einen Hinweis darauf und so wurde ich mit Merle in eine ‘andere’ Welt entführt. Sie wollte, dass ich an der Seite von Merle und Doratrava weile. Mit der Kraft der Göttin und starkem Glauben konnte ich diese Beherrschung kurzzeitig brechen … und so sind wir wieder zurückgekehrt.”

Travian schaute erschüttert zu dem Rahjageweihten. “Bruder Rahjel”, fragte Travian mit besorgter Stimme, “was genau denkt Ihr, das in der Gauklerin erweckt wurde und nun ihre Seele bedroht?”

Auch an Arikas Gesichtszügen war zu erkennen, dass sie bei Rahjels Worten aufs Äußerste alarmiert reagierte. “Ist es ein Dämon, der von ihr Besitz ergriffen hat?”, fragte sie mit strenger Stimme. “Dann sind jedoch wahrlich die Praioten dafür zuständig, Ihre Seele zu reinigen.”

“Verzeiht, Schwester Arika, aber Ihr seid schon wieder zu schnell mit Euren Urteilen. Ich kann ausschließen, dass sie von einem Dämon beherrscht wird. Ich habe viele Jahre an Erfahrung gesammelt und den Unterschied kann ich erkennen. Rahja ist nicht nur Wein, Weib und Gesang, Schwester Arika, sondern auch die Löserin von fremden Fesseln. Ich als Geweihter hatte auch mein heiliges Tuch dabei. Jeder Dämon hätte darauf reagiert. Was genau das ‘Wesen’ ist, kann ich nicht definieren … es war eher etwas ‘feeisches’.” Sein Blick wanderte zu Bruder Rionn. “Die Diener des Praios sind da nicht die richtigen … , sondern der Liebholden Rahja oder der ewig jungen Tsa. Die Geweihten, die auch vor Ort sind.”

“Ich möchte das bekräftigen”, unterstützte Rionn Rahjels Vorstoß. “Es ist kein Anzeichen von einer niederhöllischen Besessenheit, es ist kein Dämon. Vertraut auf mein Wissen als Exorzist!” Das sagte der Tsageweihte mit fester Stimme und großer Souveränität. Er strahlte quasi aus, welche lange Erfahrung er hatte. In diesem Moment flatterte ein Schmetterling und setzte sich auf sein regenbogenfarbenes - zugegebenermaßen durch die letzten Stunden ziemlich verdrecktes - Gewand auf seine Schulter. Tatsächlich wusste Rionn nicht, warum er das alles so sicher wusste. Seine Erinnerungssplitter, die wild und ungeordnet verschiedentlich in ihm aufstiegen, ließen ihn nur erahnen, dass er einst in oder am Rande der Schwarzen Lande wider die Ausgeburten der Niederhöllen gerungen hatte. Wahrscheinlich war er einst Teil des Dreischwesternordens gewesen, vermutete der Tsageweihte, dessen Erinnerungsvermögen aus ihm unbekannten Grund ausgelöscht worden war. Doch die Begegnungen und Gespräche mit Luch Halbschuh, dem Kobold aus dem `Aal Bösch´ in Eisenstein, wo auch der Tsa-Tempel war, sowie die Präsenz in jenem Wald, welche die Menschen mit der Märchengestalt Aislin `Traumgesicht´ verbanden, hatten Rionn erkennen lassen, dass er eine enge Affinität zu Kobolden und Feen hatte. So spürte er jetzt, dass Rahjel Recht hatte. “Es ist etwas Heiliges”, raunte der Geweihte. “Nichts dämonisches. Sondern von der Ewigjungen geheiligt.” Der Schmetterling, der sich auf seiner Schulter niedergelassen hatte, schlug mit seinen Flügeln, als ob er die Worte bestätigen wollte, blieb aber sitzen. Dann hob Rionn erneut die Stimme. “Ich stimme dir zu, Rahjel, dass Rahjan Bader der Richtige ist, der das Geheimnis der Tänzerin erforschen sollte.” Mit einem Blick zur Rondrageweihten fügte er noch leise hinzu: “Keineswegs die Inquisition der Praioskirche.”    

“Nun”, entgegnete Arika, “wenn es einen Richtspruch des Edlen geben wird, so wird er anhand des Geschehenen darüber entscheiden, welches Schicksal ihr widerfahren wird.”

Hier mischte sich Travian ein. “Ist es denn bereits geklärt, dass es dem Edlen in dieser Angelegenheit dem Codex entsprechend zusteht, in diesem Falle Recht zu sprechen?“

Als die Diskussion nun in die Rechtsfragen der Kurzlebigen abzudriften schien, überlegte sich Grimmgasch, was Rionn wohl mit seinen Worten gemeint hatte, wenn es so wäre, dann hätte doch ein möglicher Urteilsspruch des Edlen keine Bewandtnis - zumindest wäre es bei den Angroschim dann ein Fall für die Priesterschaft.

“Ich bin mir sicher”, erwiderte der Tsageweihte mit zunehmender Ausstrahlung, während der Schmetterling immer aufgeregter flatterte, “dass wir den Edlen überzeugen werden, wenn wir uns einig sind, dass dies eine Angelegenheit der Kirchen ist.”

Rahjel nickte. “Nicht jeder muss mich in der Sache unterstützen, doch jede Hilfe ist willkommen. Soweit ich weiß, kann der Edle im weltlichen Sinne urteilen, doch ihre Seele ist unsere Angelegenheit. Also wer mich unterstützen mag, hebe die Hand.”

Arika verschränkte die Arme demonstrativ vor der Brust und schüttelte den Kopf. Auch Travian machte keine Anstalten, die Hand zu heben. Stattdessen entgegnete der Travia-Geweihte: “Es tut mir leid, Bruder, doch dies ist alles ist eine Angelegenheit vor Mutter Travia und dem Herren Praios. Dies ist keine Anliegen, das von der Rahjakirche geklärt werden kann.”

“Und da irrt ihr euch, Liebster. Alles, das um das Wohl, Seele und Herz der Gläubigen geht… ist unser ALLER Angelegenheit!” Sein Blick wanderte zu jedem der Geweihten.

Rionn hob auf Rahjels Aufforderung hin die Hand. “Ich stimme dir voll zu Rahjel. Auch sehe ich hier keine besondere Zuständigkeit der Travia- oder Praioskirche. Zumal ich hier doch das besagte Heilige im Namen der Ewigjungen reklamierte.” Erneut flatterte der Schmetterling bei diesen Worten wild mit den Flügeln, flog aber nicht weg. “Doch dies mag Rahjan Bader dann genauer hervorbringen. Sollte sich nach seiner Untersuchung eine Zuständigkeit einer bestimmten Kirche herausstellen, füge ich mich dem Urteil des Eisensteiner Tempelvorstehers…”   

„Das ist eine Angelegenheit, die ihr mit Vater klären müsst“, erklärte Mika, die sich aus dieser Entscheidung heraushalten wollte.

Die Ingrageweihte hatte von Dämonen und anderem dunklen Gezücht nur wenig Ahnung. Von was die Tänzerin möglicherweise besessen sein sollte, konnte sie nicht beurteilen. Unschlüssig hob sie lediglich die Schultern. “Warten wir doch erstmal, wie das Urteil des Edlen aussieht. Sollten wir im Rahmen der Verhandlung zu weiteren Erkenntnissen gelangen, können wir immer noch intervenieren.” Mit einem optimistischen Lächeln blickte sie in die Runde. “Und wer weiß, vielleicht wird Doratrava ja ganz schnell freigesprochen.”

“Gut. Wer diese Angelegenheit genauso ernst nimmt wie ich, kommt dann nach dem Frühstück mit mir zum Edlen”, sagte Rahjel zufrieden.

Schließlich wandte sich Travian wieder an die Gemeinschaft. „So, meine Brüder und Schwestern, ich denke, es wird Zeit, dass wir uns um das Wohl der Menschen hier in diesem Tal kümmern, ihre Gemeinschaft stärken und für ihr Seelenheil beten. Ich werde nun mit Hilfe von Meister Ulfried das Brot backen, das eigentlich von Gwenn und Rhodan zu ihrem Bund hätte gebacken werden sollen. Vater und Mutter Dreifeld haben mir dazu gesegnetes Mehl mitgegeben. Euch anderen bitte ich, verlasst dazu nun die Backstube und bereitet alles für das gemeinsame Traviamahl vor. Veranlasst bitte, dass das gesamte Dorf und alle Gäste zusammengerufen werden. Und bitte bereitet auch ihr einen Segen für das Volk vor. Hier sind derart viele schreckliche Dinge geschehen, dass es mehr als den Segen der Guten Mutter bedarf. Es ist schade, dass nicht Vertreter aller Zwölfe hier sind. Dies würde uns mehr Kraft verleihen, das Dunkle zu vertreiben.“ Der Traviabruder zuckte enttäuscht mit den Schultern. „Aber dennoch bin ich froh, dass wir so zahlreich hier sind. Nun geht, wir sehen uns in einem guten Stundenglas wieder.“ Arika machte keine Anstalten, die Backstube zu verlassen und erklärte: „Ich bleibe derweil hier und achte auf Euch, Bruder Travian.“

„Nein, Schwester“, widersprach Travian sogleich. „Dafür gibt es keinen Grund. Bitte verlasse auch du die Stube. Lediglich dich, Mika, möchte ich bitten, zu bleiben und mir zur Hand zu gehen.“ Sein Blick auf Mika ließ keinen Zweifel zu, dass er hier keinerlei Widerspruch duldete.

Mika, die gerade dabei war, die Backstube zu verlassen, schaute den Geweihten überrascht an, nickte dann jedoch und ging wieder zurück zu dem Tisch, an dem sie bereits den Teig geknetet hatte.

“Ich bleibe ebenfalls, Bruder Travian”, erklärte Rajalind.

Der Traviageweihte nickte zustimmend, da er wusste, dass Rajalind ihm durch ihre Liebe zu Bruder Vieskar gut zur Hand gehen konnte. „Und falls jemand von euch auf… Ach nein“, winkte Travian seine eigenen Gedanken ab und schüttelte den Kopf. „Es ist wohl besser, wenn ich erst später mit ihr rede.“ Doch dann erinnerte er sich an die Worte von Rionn und Imelda. “Oder wartet, doch, wenn ihr auf Merle trefft, schickt sie zu bitte mir.”

Wie aufgefordert, verließ Grimmgasch die Backstube, um zu schauen, ob jemand seine Hilfe benötigte.

“Ich werde bei den Adligen nachfragen, ob sie uns in der Sache Doratrava unterstützen werden”, sagte Rahjel und schaute alle an, die ihn in der Sache unterstützen würden. Er selbst wusste schon, wen er als erstes suchen würde. Dann ging auch er.

“Ich schließe mich an”, erwiderte Rionn auf Rahjels Aussage und schloss sich ihm an.

Imelda wunderte sich zwar darüber, weshalb Bruder Travian Mika dabehalten wollte, doch würde sie später beim Traviamahl ihre Freundin hierzu befragen. Die junge Hadingerin wollte stattdessen die Zeit nutzen, um sich schnell zu waschen und umzukleiden. Außerdem würde sie nach Meister Limrog schauen, welchen sie seit dem Sturm nicht gesprochen hatte. Der Helm, den er ihr da geschenkt hatte, war letztendlich der Grund, dass sie den Armbrustschuss aus nächster Nähe und damit die letzte Nacht überlebt hatte. “Ich bin kurz bei der Schmiede und komme gleich wieder zurück!”, rief sie und spurtete hinaus.

~ * ~

An der Schmiede

Imelda von Hadingen verließ die Versammlung der Geweihten mit der Schmiede als Ziel, in der sie eigentlich ihr Quartier bezogen hatte. Sie hatte sich schon in der Nacht und Morgen gewundert, dass Limrog nicht in der Scheune bei den anderen Gästen war. Allerdings war dieser ja ein einfacher Bewohner von Lützeltal und nur Familie Weissenquell und ihre adeligen Gäste waren über Nacht in der Zehntscheuer zusammen gekommen.

Schon vom Dorfplatz her hörte Imelda die regelmäßigen Hammerschläge, die das Eisen auf Limrogs Amboss formten.

Die vertrauten Klänge des Schmiedehammers hatten eine beruhigende Wirkung auf die junge Geweihte. “Ich bin wieder da!”, rief Imelda mit kräftiger Stimme, welche das laute Hämmern gut übertönen konnte, als sie in die Schmiede hineintrat. “Meister Limrog?!”

Der Angroscho hielt mit seiner Arbeit inne, als er Imeldas vertraute Stimme hörte und blickte zu ihr. “Ah, es geht Euch gut! Das ist gut zu sehen. Ich fürchtete, der Wald hätte Euch verschluckt.” Daraufhin setzte er zum nächsten Schlag auf den Rohling an.  

“Das hätte er auch beinahe!”, rief Imelda. “Bei dem Unterfangen, den gelehrten Herrn von Weissenquell an seiner Flucht zu hindern, sind wir nämlich auf böse Schurken gestoßen.” Die junge Hadingerin kratzte sich am Hinterkopf. “Ähm, seid Ihr überhaupt im Bilde, was letzte Nacht geschehen ist, Meister Limrog?”

„Nur bedingt“, grummelte Limrog. „Aber ich bin ja nur der Dorfschmied. Das einfache Volk muss ja nicht über alles in Kenntnis gesetzt werden, was die Herrschaften so zu ihrem Vergnügen treiben.“ Unablässig schlug der Zwerg auf das glühende Metallstück an seiner Zange.

Alarmiert sah sie Limrog an. “Na, es gab einige wirklich üble Dinge, die geschehen sind!”, rief die junge Geweihte und übertönte mit ihrer aufgebrachten Stimme das Hämmern des Angroscho. “Viele Leute sind letzte Nacht ums Leben gekommen… oder Schlimmeres!”

“Ja, ja, von den Toten habe ich gehört.” Limrog dachte an die Zusammenkunft in der Bäckerei zurück. Es hatte ihn hart getroffen, dass er nicht in vollem Umfang über die Vorfälle informiert worden war. “Aber das sind wohl Dinge, die das einfache Volk nicht wissen sollte”, äußerte er mit beleidigtem Tonfall. “Es ist nur gut, dass Euch nichts passiert ist. Ich habe mir fast Sorgen gemacht.”

Imelda biss sich auf die Unterlippe und musterte den Angroscho. "Tatsächlich hat Euer Helm mein Leben gerettet. Schaut mal her!", rief sie und präsentierte den Tellerhelm, wobei sie den linken Zeigefinger durch das Loch hindurch steckte. "Hier ist der Bolzen rein und hier…", sie deutete auf das zweite Loch, "...hier ist er wieder raus. Habe nur eine winzige Schrammen abbekommen." Die Schmiedin deutete auf ihr schmutziges, verrußtes Haar, wo jedoch sonst nichts Ungewöhnliches zu erkennen war.

“Hm”, gab Limrog mürrisch von sich. “Das ist schade um den Helm.” Er atmete tief ein, dann ergänzte er: “Aber besser der Helm als Euer Kopf. Das wäre wirklich schade gewesen. um Euer hübsches Gesicht. Gebt mir den Helm, ich mache Euch bei Gelegenheit einen neuen. Ihr scheint ihn ja wirklich zu gebrauchen.” Der Schmied schaute nach Imeldas Wunde. “Hat sich das schon jemand angeschaut? Der Anconiter vielleicht?”

“Pffftt... dieser Anconiter? Bloß nicht! Der ist eh über alle Berge geflohen!”, rief Imelda und winkte ab. “Rionn, der Tsageweihte, hat einen Segen gewirkt und es fühlt sich nicht mehr schlimm an.” Prüfend tastete sie die Stelle ab. “Vermutlich ist es nur noch etwas getrocknetes Blut in meinem Haar, vermute ich?”

„Gut!“ Limrog nickte. „Diesen Anconiter mit seinem Drachenwerk mochte ich eh nie. Sohn Friedewalds hin oder her. Drachenwerk ist nie gut. Genau wie bei Friedewalds Enkel. Der wäre seinem Onkel besser gleich gefolgt.“ Der Zwerg blickte noch einmal zu Imeldas Kopf. „Das getrocknete Blut wächst sich mit der Zeit aus dem Haar raus. Macht Euch da keine Sorgen. Oder soll ich die Stelle gleich herausschneiden?“

“Ach, nicht nötig!” Geistesabwesend versuchte Imelda an dem Schorf in ihrem Haar herumzupulen. “Ich glaube, ich wasche das gleich mal ein wenig raus. Habt Ihr zufällig eine Waschschüssel, Meister Limrog?”

Limrog deutete zu einem kleinen Schrank in der hinteren Ecke der Schmiede. „Dort drin ist eine Schüssel und etwas Seife und frische Handtücher. Reicht Euch das Wasser dort in der Kanne oder soll ich zum Bach gehen und noch einen Eimer frisches Wasser holen? Das Wasser dort in dem Bottich solltet ihr nicht nehmen, damit habe ich das Schmiedegut gekühlt. Das ist nicht sauber.”

Imelda strahlte über beide Ohren. “Ach, das ist ja lieb von Euch, Meister Limrog! Aber macht Euch keine Mühe; das Wasser im Bottich reicht mir vollkommen für eine Katzenwäsche. Ich versuche nur den gröbsten Schmutz abzuwaschen, damit man mich wiedererkennt.”

Limrog verdrehte die Augen. „Nicht das im Bottich, hab ich gesagt! Das ist wirklich nicht gut!“ Der Angroscho ging zu dem Teil des Ofens, der ihm als Herd diente und trug einen großen Topf zu Imelda. „Nehmt lieber das. Das ist zwar gesalzen, aber das wird Euch nicht schaden. Damit wollte ich gestern Rüben locken, aber dann kam alles anders.“ Der Schmied schaute ernst zu Imelda. „Hat er Euch das angetan?“

“Er?”, fragte Imelda spontan. “Wer, er? Meint Ihr den gelehrten Herrn Gudekar oder den Pruch?” Die Geweihte legte fragend den Kopf schief. “Und spielt Ihr mit ‘angetan’ auf den Kampf im Wald gestern an, mein Haar oder allgemein den Umstand, dass ich ausschaue, als hätte ich ein Bad in Holzkohle genommen?”

Limrog schaute Imelda an und zuckte mit den Schultern. „Sagt Ihr es mir! Macht das einen Unterschied? Wer sich mit Brodrom einlässt, wird früher oder später immer zum Dorkkasch.“

Unsicher biss sich Imelda auf die Unterlippe. “Also, das mit dem Haar waren irgendwelche Schergen, die kamen vermutlich vom Pruch, denke ich zumindest. Da war so ein finsterer Magier, der hat gewaltige Feuerbälle geschleudert. Sooo groß…” Die Geweihte hielt die Hände so weit auseinander, wie sie konnte. “Alle sind in Deckung gegangen, ich auch… aber dann habe ich zu Ingra gebetet und den Schutz des Feuergottes erhalten. Dann bin ich aus meiner Deckung rausgestürmt.” Imelda bekam vom Erzählen Durst und ging zu dem Fässchen Zwergenbier. “Wollt Ihr auch eins, bevor ich weiter erzähle?”

„Immer! Verdammtes Drachenwerk! Verstehe nicht, wie Angrosch zulassen kann, dass das heilige Feuer derart missbraucht werden kann.“ Der Schmied ging zu Imelda und legte seine Hand auf ihren Unterarm. „Gut, dass das Alte Väterchen Euch beschützt hat.“

Imelda nickte entschieden. “Das stimmt! Doch plötzlich hatte dieser andere Unhold ein Schwert in der Hand und wollte auf mich einhacken. Erst in letzter Sekunde konnte ich seinem Streich ausweichen!” Beim Erzählen versuchte die Geweihte, die ausweichende Bewegung durch Zurücklehnen ihres Oberkörpers pantomimisch nachzuahmen. “Und dann habe ich ihm mein heiliges Licht um die Ohren gehauen und er ist in Flammen aufgegangen! Aber danach hat ein anderer Bösewicht plötzlich einen Schuss mit einer Armbrust auf mich abgegeben und… den Göttern sei Dank hat Euer Helm mein Leben gerettet!”

Für einen winzigen Augenblick hatte Imelda den Eindruck, als würde ein strahlendes Lächeln Limrogs Gesicht erhellen, bevor er mit wieder ernster Miene antwortete: „Schön, dann war es nicht so schlimm, dass ich die alte Suppenschüssel all die Jahre aufgehoben habe, bis Ihr gekommen seid. Schade, dass Ihr nun keinen mehr habt, der Helm hat Euch gestanden.“ Dann schaute er die Geweihte an und sprach mit sanfter Stimme: „Ich habe mir wirklich Sorgen um euch gemacht.“

Die Hadingerin biss sich verstohlen auf die Unterlippe und sah den Angroscho ernsthaft an. “Danke, Meister Limrog. Ich mir auch”, flüsterte sie, räusperte sich und begann sich zu fragen, ob der Zwerg gerade dabei war, sich in sie zu verschauen. Mit einem sanften Schmunzeln fuhr sie fort: “Ich freue mich auch, noch am Leben zu sein. Es gibt ja noch so viel, was ich entdecken möchte und meinem Bruder habe ich versprochen, ihm auch noch als alte Schreckschraube auf den Senkel zu gehen. Also kann ich jetzt noch nicht sterben, versteht Ihr?”

„Verstehe“, nickte Limrog. „Dieses Versprechen solltet Ihr wirklich nicht brechen. Das wäre wirklich bedauerlich.“ Der Angroscho ging zu der Feuerstelle, die ihm nicht nur als Esse, sondern auch als Herd diente, je nachdem, welche Aufgaben gerade anstanden. „Hab ich Euch schon gefragt, ob Ihr schon gefrühstückt habt? Ihr solltet auf Euren Entdeckungsreisen einen Beschützer mit Euch führen. Aventurien kann ein gefährliches Fleckchen sein.“

“Ihr meint einen besseren Beschützer als Hilbertio?!” Imelda lachte, auch wenn der Angroscho vielleicht gar nicht unrecht hatte. Die Nahtoderfahrung der letzten Nacht steckte der jungen Frau noch immer in den Knochen. “Ich würde, wenn es keine Umstände macht, noch ein paar Tage hier bleiben. Es gibt so viel Hilfe, die im Dorf geleistet werden muss. Und ich möchte noch ein wenig mehr Zeit mit meiner Freundin Mika verbringen und der Familie von Weissenquell Trost spenden, soweit das möglich ist. Alle waren so lieb in den letzten Tagen, bis… na ja…”

„Ihr seid hier so lange willkommen, wie es Euch hier gefällt.“ Limrog verbeugte sich kurz vor der Hadingerin.

Die Geweihte wog den Kopf schief. “Ach, mir fällt ein, ich muss gleich los und beim Frühstück helfen. In der Zehntscheune! Ich muss mich beeilen. Katzenwäsche und dann los! Kommt Ihr mit, Meister Limrog? Also zum Frühstück?”

Der Schmied nickte. „Ich komme gleich nach, Imelda. Geht schon einmal vor.“

“Dann kommt nicht zu spät! Nach der letzten Nacht haben die meisten bestimmt einen Bärenhunger!” Mit diesen Worten eilte die Hadingerin in ihr Gemach.

***

Von Rechts wegen

Nachdem Lucilla von Galebfurten die Befragung Doratravas beendet hatte, entschied sie, den Edlen Friedewald von Weissenquell aufzusuchen, der vermutlich die Verhandlung über Doratravas Schicksal leiten würde. Falls sich Lucilla entschied, Doratravas Verteidigung zu übernehmen, gäbe es noch verschiedene Fragen zu klären.

Friedewald entschied sich nach der Ankunft der beiden Geweihten aus Albenhus, sich in seine Schreibkammer im Herrenhaus zurückzuziehen. Zum einen musste er über die vielen schrecklichen Nachrichten der letzten Tage nachdenken und die Konsequenzen abwägen. Die Entführung und Verstümmelung seiner Tochter, der geplatzte Traviabund, der Tod seines engsten Vertrauten und Ratgebers Bernhelm und weiterer seiner treuen Untergebenen, der Ehebruch seines Sohnes und dessen Flucht mit dessen Geliebter, die Ereignisse in Albenhus und in Liepenstein, die Wirren des dämonischen Fluchs am Vorabend, all das hatte Spuren an Friedewald hinterlassen. Eine weitere schlechte Nachricht wäre wohl zuviel des Schlechten für ihn gewesen. Die Vorbereitung auf die Verhandlung über das Schicksal der Gauklerin wäre deshalb eine gute Ablenkung für ihn gewesen. So schwer die Vorwürfe gegen die Tänzerin, die Eoban von Albenholz gegen sie vorgebracht hatte, und so leidenschaftlich die Unschuldsbekundungen so vieler anderer, nicht zuletzt seiner Schwiegertochter Merle, auch waren, gerade im Hintergrund des dämonischen Wirkens hier in seinem Tal wollte Friedewald bei der Verhandlung keinen Fehler begehen und die richtige Entscheidung treffen. Deshalb wollte er Rat in den wenigen Büchern der Rechtskunde suchen, die sich in seiner Stube befanden.

Lucilla hatte beobachtet, wie Friedewald den Weg zum Herrenhaus einschlug und war ihm gefolgt, hatte es jedoch unterlassen, ihn in der Öffentlichkeit anzusprechen. Was es zu besprechen gab, war nicht für alle Ohren gedacht und so wartete sie, bis der Edle das Gebäude betreten hatte und wählte dann ebenfalls diesen Weg.

Im Haus fragte sie eine Bedienstete und ließ sich von dieser zum Arbeitszimmer Friedwalds führen, an dessen Tür sie sanft, aber nicht zaghaft klopfte.

„Herein!“ rief Friedewald aus seinem Zimmer. Als Lucilla eintrat, sah sie den Edlen zunächst nicht. Er hatte seinen Sessel zum Fenster gedreht und starrte hinaus über die Streuobstwiesen, die hinter dem Herrenhaus begannen. „Ohne zu schauen oder zu fragen, wer den Raum betrat, fragte der Weissenqueller: „Warum haben die Zwölfe uns verlassen? Was haben wir den Göttern getan, dass sie uns derart strafen?“

Lucilla, die die Tür leise hinter sich geschlossen hatte, trat leichten Schrittes an den Schreibtisch und verschränkte die Hände auf dem Rücken.

“Ich kann verstehen, dass ihr betroffen seid, Eure Wohlgeboren”, setzte sie in ruhigen Ton zu sprechen an. Die Adlige wählte ihre Worte sanft aber dennoch bestimmt.

“Es ist jedoch nicht die rechte Zeit zu zweifeln. Die Menschen bedürfen Führung, eurer Führung, Wohlgeboren. Ihr habt die Verantwortung euch dem geschehenen Unrecht und den Lästerlichkeiten wider den ZWÖLFEN entgegenzustellen. So ihr dies tut, werdet ihr in mir eine bereitwillige Helferin finden, das heißt, wenn ihr meinen Rat annehmen wollt.”

Friedewald erhob sich aus seinem Sessel, als er die Stimme der jungen Frau vernahm und drehte sich zu ihr. Er stützte sich mit den Handknöcheln auf seinen Schreibtisch und musterte sie eindringlich. “Mich dem entgegenzustellen? Scheinbar kann dieser Paktierer hier in meinem Land ein und ausgehen und schalten und walten, wie er will. Er kann meine engsten Vertrauten ermorden, meine Kinder entführen und verführen, sie verstümmeln, alles direkt unter meinen Augen. Und ich bin die ganze Zeit blind. Ich habe versagt. Versagt auf ganzer Linie!” Der Edle atmete tief ein. “Ihr seid Lucilla von Galebfurten, wenn ich mich recht entsinne? Ihr wollt mir helfen? Wer seid Ihr, dass Ihr mir helfen könnt? Wo steht Ihr?”

“Ganz recht, die bin ich, Wohlgeboren und ich stehe auf der Seite der Ordnung, so wie sie den Göttern gefällig ist”, entgegnete Lucilla nun entschiedener und mit energischer Stimme. “Sagt mir, wie ich euch helfen kann”, forderte sie ihn auf.

“Ich kam, um mit euch über Doratrava - die inhaftierte Schaustellerin zu sprechen. Ich würde gern wissen, ob schon jemand Anklage bei euch, gegen sie erhoben hat und wenn ja, wie die Anklagepunkte lauten?”

Friedewald hob eine Augenbraue, als Lucilla die Gauklerin erwähnte. Der Edle erinnerte sich nun wieder, weshalb er eigentlich hierher gekommen war und nahm Haltung an. Er ging um den Schreibtisch und schob einen zweiten Sessel auf Lucillas Seite an den Tisch. “Setzt Euch, bitte! Möchtet Ihr etwas trinken?”

Die junge Adlige lächelte. “Gern”, sprach Lucilla und nahm formvollendet Platz.

Friedewald schenkte zwei Pokale mit verdünntem Wein ein und reichte Lucilla einen davon. Schließlich ging der Weissenueller wieder zu seinem Platz und drehte auch seinen Sessel so, dass er Lucilla gegenüber saß. “Über die Tänzerin wollt Ihr reden? Nun, wie ich hörte, wart Ihr gestern selbst anwesend. Der Hohe Herr Eoban von Albenholz, Ritter von Stand und Gemahl der Edlen von Klingbach, hat die Anklage erhoben. Aufgrund der Nachrichten über die Ereignisse in Liepenstein hielt Herr Eoban es aber für unabdingbar, Lützeltal heut in der Frühe zu verlassen, um seiner Baronin beizustehen.” Dass Eoban nach den Ereignissen des Vortags auch seine eigene Familie in Sicherheit bringen wollte, weg aus Lützeltal, behielt der Edle diplomatisch für sich. “Mein Sohn Kalman wird an seiner statt die Anklage führen.”

“Wie lautet die Anklage?”, fragte Lucilla ernst.

“Hm, es sind wohl einige Punkte, wenn man die Vorwürfe einzeln aufzählt. Am schwerwiegendsten dürften wohl die Entführung und der körperliche Angriff auf meinen Neffen und meine Schwiegertochter sein. Ein Angriff auf meinen Neffen hat dabei besonderes Gewicht, denn er ist ein Geweihter der lieblichen Göttin. In diesem Zusammenhang wurde auch der Vorwurf geäußert, Doratrava könnte sich der Verbündigung mit einem Paktierer oder zumindest der Unterstützung desjenigen schuldig gemacht haben.” Friedewald schaute mit ernster Besorgnis zu Lucilla. Er versuchte aus ihrem Gesicht zu lesen, ob sie diese Anschuldigungen unterstützte oder gar für lächerlich hielt. “Praiogrimm, unser Dorfschulze ist dabei, alle Punkte exakt aufzuführen.”

“Bitte lasst mir sie niedergeschrieben zukommen”, bat die Adlige.

“Was Doratrava betrifft: ich habe mit ihr gesprochen. Sie schilderte mir ausführlich, was geschehen ist und nach meiner Einschätzung ist sie eher harmlos. Sie hatte zu keinem Zeitpunkt bösen Absichten. Meine Menschenkenntnis zeigte mir keinen Funken Niedertracht in ihr.”

“Die Menschenkenntnis allein kann täuschen”, warf Friedewald ein, der sich fragte, wie er all die Jahre und bis zuletzt seinen eigenen Sohn derart falsch einschätzen konnte.

“Natürlich Wohlgeboren. Ich halte mich nicht für unfehlbar. Ich gebe nur meine subjektive Einschätzung wieder.

Ich werde ihre Aussage zu Papier bringen und von ihr gegenzeichnen lassen. Sie kann lesen. Hinzukommen wird eine persönliche Einschätzung ihrer Person und eine Empfehlung.

Für mich ist die wichtigste Frage WAS Doratrava ist, welchen Ursprung ihre Magie besitzt.

Sie scheint von Mada eine große Begabung erhalten zu haben. Wenn wir diese prüfen und klassifizieren lassen- und sie intuitiver Natur und nicht ‘befleckt’ ist, so wird ihre Aussage darstellen können, dass sie gute Absichten hatte, als sie ihre Zauber wirkte.”

“Gut, es freut mich, wenn die Tänzerin in Euch eine Fürsprecherin hat. So, wie ich es vernommen habe, will auch Ihre Wohlgeboren von Kalterbaum sich der Verteidigung von Doratrava annehmen. Ich werde jedoch alle Meinungen und Aussagen anhören, um mir ein Bild der Situation machen zu können. Gerade unter dem Schatten der Ereignisse des letzten Tages wäre es fatal, einem Verdacht auf Dämonenpaktiererei nicht mit vollem Eifer zu folgen. Doch sollte es Zweifel an Eobans Anschuldigungen geben, so werde ich den Zwölfen danken, dass ihre Seele nicht gefährdet ist.” Friedewald verstand jedoch nicht vollends, welche Frage sich Lucilla bezüglich der Natur von Doratravas Magie stellte. Eine Weile überlegte er, ob sie direkt jetzt danach fragen sollte, oder ob dies nicht besser in der späteren Befragung zu klären sei. Schließlich wollte er bis zur Urteilsfindung neutral bleiben und der jungen Rechtsgelehrten nicht vorab eine Hilfestellung geben. Andererseits, vielleicht ergaben sich hieraus weitere Fragen, deren spätere Klärung zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde. “Sagt, es ist nur allzu offensichtlich, dass in der Tänzerin elfisches Blut fließt. Stellt Ihr in Frage, dass dies die Quelle ihres magischen Wirkens ist?”

“In der Tat. Ich stelle dies in Frage”, bestätigte Lucilla mit einiger Überzeugung in der Stimme. “Offensichtlich ist nicht bewiesen! Ich würde sie aufgrund einer solchen ‘Annahme’ und der damit verbundenen Ungewissheit nicht an meinen Hof einladen. Mehr noch, ich würde und werde jedem Lehnsherren in Gratenfels abraten, dies zu tun.

Zusammengefasst heißt dies für diesen Punkt: Egal, was am Ende euer Richtspruch ist - ich werde tätig werden, sollte ihre Magie nicht entsprechend fachkundig eingeordnet werden.”

Die Adlige zuckte mit den Schultern. “Ich würde mich selbst schuldig machen, wenn ich dies unterließe und sich diese ‘Annahme’ als falsch erweist. Ich denke diese Haltung ist leicht nachvollziehbar.

Und deswegen wäre diese Klassifizierung auch der Dreh- und Angelpunkt meiner persönlichen Empfehlung.”

Friedewald schluckte. Auch, wenn diese ehrgeizige junge Dame es so darstellte, als wolle sie Doratrava nur helfen, konnte man ihre letzten Worte als weitere Anklage auffassen. Eine Anklage, die zwar in eine andere Richtung wies, als die von Eoban und Kalman, aber dies machte es nicht leichter, die richtige Entscheidung zu finden. “Gut”, gab Friedewald von sich, “Ihr werdet Gelegenheit bekommen, mich davon zu überzeugen, dass in Doratrava eine Magie innewohnt, die mehr ist als eine elfische, aber nicht von dämonischer Natur. Dann werde ich entscheiden, ob es notwendig sein wird, die Gauklerin zu einer Prüfung durch welche Institution auch immer zu übergeben. Ihr erhaltet ebenso, wie alle anderen, die Gelegenheit, Euer Ansinnen vorzubringen.” Der Edle hob seinen Pokal und trank ein paar tiefe Schlucke.

“Nein nein”, Lucilla lachte glockenhell auf. “Ihr missversteht mich.

Ich werde mitnichten versuchen euch davon zu überzeugen, dass Doratravas Magie nicht elfischer Natur ist, weil NICHT bewiesen ist, dass sie elfisch ist. Ihr geht von einer Tatsache aus. Ihr müsst beweisen, dass sie elfisch ist, wenn ihr dies so formuliert. Spitze Ohren alleine sind vielleicht ein Merkmal, mehr nicht. Es gibt Elfen, die einer Gilde angehören, und unter den Anhängern des Bethaniers gab es auch Elfen. Bitte, dies ist wichtig: keine Annahmen. Die bringen uns nicht weiter und verleiten uns zu Fehlern.

Ich werde versuchen euch darzulegen, dass Doratravas Motive gute waren und sie keinerlei böswilligen Absichten hatte. Wenn ihr dieser Verteidigung folgen würdet, dann würde eine Klassifizierung ihrer Magie sie entlasten - es wäre eine Art Untermauerung. Mehr noch, wenn ihre Magie, so wie ich annehme, intuitiver Natur und nicht befleckt ist, so stellt sie keine unmittelbare Gefahr für irgendjemanden dar und Doratrava könnte ihrer Arbeit weiter nachgehen. Sie wäre rehabilitiert.”

“Ich verstehe”, sagte Friedewald, aber er war sich nicht sicher, ob er das tat. In allen Rechtsfragen, die der Edle bisher zu klären hatte, ging es stets um die Frage, ob ein Beschuldigter tatsächlich Schuld hatte oder nicht. Es gab schwarz oder weiß. Konnten keine eindeutigen Belege für eine Unschuld oder Schuld erbracht werden, so entschied er zumeist nach seinem Bauchgefühl und nach der Reputation der Kläger und Beklagten. Und bisher war er damit stets gut gefahren. Bis vor ein paar Minuten ging es für Friedewald auch hier um die Frage, ob Doratrava dem Paktierer zugearbeitet hat, mit ihm im Bunde stand, oder nicht. Sollte sie der Inquisition zur Austreibung übergeben oder freigelassen werden? Doch nun brachte Lucilla eine neue Sichtweise, eine neue Frage ins Spiel. Dies entsprach nicht den Regeln. Zumindest nicht den Regeln, die Friedewald kannte. Warum nur hatte die Vögtin es abgelehnt, sich dieser Sache anzunehmen? Warum überließ sie ihm diese Bürde, ein Urteil zu fällen? “Ich verstehe. Gut, wir werden die Stimmen der anderen anhören. Sollte Eure Meinung geteilt werden, … Sagt, was genau erwartet Ihr von mir zu tun?”

“Nun”, sagte Lucilla gedehnt, um sich ein wenig Zeit zu verschaffen, sich die nächsten Worte zurechtzulegen zu können.

“Folgt ihr am Ende meiner Empfehlung, so würdet ihr feststellen, dass Doratrava keine Niedertracht antrieb und sie niemanden etwas zu Leide tun wollte. Ihr würdet einzig die Frage ihrer Magie geklärt haben wollen- um die Zweifel, die sich daraus ergeben fachkundig auszuräumen.

Wir könnten sie nach Elenvina an die Akademie überführen und dort von einem sanktionierten Magiekundigen untersuchen lassen, am Besten mit einem Geweihten der Allweisen zur Unterstützung, welcher alles entsprechend bezeugen und beurkunden könnte.

Eine derartige Feststellung wäre meiner Meinung auch im Sinne der Angeklagten, denn es wäre sowas wie ein Dispens.” Lucilla lächelte. “Es wäre der praktische Ansatz.”

Friedewald nickte. “Ich werde Eure Worte bei meiner Entscheidung gewiss berücksichtigen. Doch gilt es zunächst alle Stimmen zu hören.” Noch immer verstand er nicht, warum eine weitere Untersuchung in den Augen der jungen Rechtsgelehrten notwendig sein sollte, falls Doratravas Unschuld außer Zweifel stand. Aber dies wollte er nicht an dieser Stelle diskutieren. Friedewald ahnte, dass dies später in der Versammlung noch zur Genüge diskutiert werden würde. “Ich danke Euch für Euren Rat, Euer Wohlgeboren. Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?”

“Ja, eines noch”, entgegnete Lucilla, und trank ihren Kelch leer, bevor sie sich erhob. “Doratrava bat mich, euch etwas zu sagen: Sie wollte niemanden verletzen. Im Gegenteil, sie wollte eure Schwiegertochter in Sicherheit bringen. Und sie würde gern mit euch selbst sprechen.

Versteht ihr? Sie scheut sich nicht davor mit ihrem Richter zu sprechen. Sie ist mit sich und dem was sie getan hat, im Reinen.

Weiterhin bittet sie darum, dass auch Merle und Tsalinde von Kalterbaum bei der Anhörung zu Wort kommen. Und ich sehe dies auch als bedeutsam an, um die Chance zu erhalten, Euch von Doratravas Glaubwürdigkeit überzeugen zu können.”

“Selbstverständlich werden alle an dieser Causa Beteiligten von Stand gehört, die etwas zu sagen haben.” Friedewald wirkte leicht empört, dass Lucilla annehmen konnte, er würde nicht alle Aussagen zu Wort kommen lassen. “Ich habe im Übrigen nie angenommen, dass die Gauklerin in böser Absicht gehandelt hat. Ich selbst war ja anwesend, als es zu dem Vorfall kam. Dennoch muss ich die Vorwürfe meines Sohnes und vor allem seines Freundes ernst nehmen, wie ich auch Euer Ansinnen ernst nehme. Aber haltet Ihr es wirklich für ratsam, dass ich als Richter selbst mit der Delinquentin rede, ohne in den Verdacht zu geraten, nicht objektiv zu urteilen?”

“Wenn ihr meint, dass man euch das Ansinnen, euch auch persönlich mit der Angeklagten auseinanderzusetzen, negativ auslegen könnte, so geht nicht allein. Ein guter Leumund, der bezeugt, dass ihr euch ‘nur’ den Blickwinkel der Angeklagten angehört habt, bevor die Anklage zu Wort kommt…” Lucilla ließ den Satz unbeendet und zuckte abermals mit den zarten Schultern. “Am Ende aber seid ihr es, der entscheidet. Wenn ihr es für sinnvoll und angebracht haltet, euch das anzuhören, was Doratrava euch persönlich sagen möchte, dann solltet ihr es tun - ungeachtet der Meinung anderer. Dies ist euer Land und es ist euer Recht.”

“Ich danke Euch für Eure Einschätzung, Euer Wohlgeboren. Ich habe verstanden, dass Euer Ansinnen das Beste für die Gauklerin ist. Das sei Euch hoch angerechnet, ungeachtet davon, wie meine Entscheidung am Ende ausfallen wird.” Friedewald blickte Lucilla tief in die Augen. Wenn dieses Gespräch etwas bewirkt hatte, stellte Lucilla fest, dann, dass der Edle von Lützeltal seine Lethargie abgelegt und die Beherrschung und Autorität wiedergewonnen hatte.

Eben jenes registrierte die Galebfurtenerin mit einem anerkennenden, respektvollen Nicken. “Die Zwölfe mit Euch Wohlgeboren, PRAios voran.”

„Die Zwölfe mit Euch, in Travias Namen!“ verabschiedete der Edle seinen Gast.

Als Lucilla den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, schleuderte Friedewald seinen Weinpokal, der vor ihn auf dem Tisch stand, mit einer schwungvollen Ausholbewegung seines linken Arms vom Tisch, wobei sich der Rotwein über Tisch und Fußboden verteilte. Warum musste diese ehrgeizige junge Frau die Angelegenheit nur komplizierter machen, als sie eh schon war?

Friedewald hatte jedoch den Entschluss gefasst, als Nächstes selbst mit der Delinquentin zu reden, bevor noch mehr Leute versuchten, seine Entscheidung nach ihrem Willen zu beeinflussen.

~*~

Sich ein eigenes Bild zu machen

Nach dem Gespräch mit Lucilla von Galebfurten fühlte sich der Edle Friedewald von Weissenquell soweit wieder geistig gestärkt, dass er die Verhandlung über das Schicksal der gefangengenommenen Gauklerin in Angriff nehmen wollte. Zumindest in diesem Fall wollte er für einen göttergefälligen Ausgang sorgen, hatte er doch bisher kläglich darin versagt, die Menschen in seinem Land vor den Angriffen des Paktierers zu schützen. Hatte die Junkerin auch viele Zweifel in dem Edlen gesät, wie und worüber zu entscheiden er hätte, so gab es aber eine Sache, in der sie ihn tatsächlich bestärkt hatte: nämlich in der Gewissheit, die Gauklerin vor der Verhandlung selbst zu befragen, ohne dass sich gleich die eine oder der andere selbsternannte Rechtsgelehrte bei jeder Frage einmischen würde. Allerdings, und auch dies war eine Folge der Unterhaltung mit der Galebfurtnerin, wollte Friedewald nicht ohne Zeugen in das Gespräch gehen. Nicht, weil er Angst vor der zierlichen Tänzerin oder ihrer Magie hatte, nein, sondern, da er um seine eigene Reputation besorgt war. Zu leicht mochte es sein, dass ihm der eine oder die andere Befangenheit vorwerfen würde, wenn er ohne Leumund in die Zelle ging. Und so wählte Friedewald drei Begleiter aus, denen er einerseits größtmögliche Rechtschaffenheit zutraute, die andererseits gegensätzliche Erwartungen an Friedewalds Urteil setzten: Auf der einen Seite wählte Friedewald Rondrard Storchenflug als Begleitung, den er als Unterstützer der Forderungen von Eoban und Kalman wahrgenommen hatte. Demgegenüber bat er auch Nivard von Tannenfels, der Befragung beizuwohnen, hatte Friedewald ihn doch bereits während der Jagd als einen Freund der Tänzerin kennengelernt und war dieser auch am Abend zuvor vehement für die Freilassung der Tänzerin eingetreten. Beide dieser Männer hatten selbst Verluste durch den Paktierer erlitten. Auch dies war ein Grund, warum Friedewald ausgerechnet diese beiden erwählte.

Als dritten und letzten Begleiter entschied sich Friedewald, auch Borix zu bitten, ihn zu begleiten. Borix stand bisher außerhalb des gesamten Geschehens um die Jagd nach dem Paktierer, so wie Friedewald selbst. Und es tat gut, einen alten Freund an seiner Seite zu wissen. Ein weiterer Aspekt, der für Friedewald eine Rolle spielte, war, dass Borix als Angehöriger der Angroschim eine andere Sichtweise auf Madas Gaben hatte, als die meisten Menschen der Flusslande. Und schließlich ging es hier auch um die Frage, welche Art von Magie Doratrava innewohnte.

Gemeinsam betraten die vier Männer die Zelle, in der die Gauklerin einsaß. Zunächst bat er Alena von Altenberg eindringlich, den Raum zu verlassen und draußen aufzupassen, dass niemand die Unterredung stören würde. Während Friedewald für sich und Borix zwei Stühle mit in die Zelle nahm, um sich neben Doratrava zu setzen, hatte er die beiden anderen Begleiter angewiesen, die Tür von innen zu bewachen und sich zunächst weitestgehend aus dem Gespräch herauszuhalten.

Borix kannte die Gauklerin nur flüchtig, er war ihr bei einigen Gelegenheiten begegnet, hatte aber noch nicht viele Worte mit ihr gewechselt. Von Grimmgasch hatte er bislang nichts Schlechtes über sie erfahren. Daher war er gespannt, ihr jetzt gegenüberzutreten und zu hören, was sie zu sagen hatte.

Er würde genau zuhören und dann Friedewald seine Meinung übermitteln.

Nivard dagegen hoffte inständig, dass Doratrava keine Anzeichen einer Besessenheit oder sei es auch nur dämonischer Berührung durch Pruch zeigte, ja noch lieber, dass sie stichhaltig würde beweisen können, dass dem nicht so war. Er war sich selbst sicher, dass Doratrava das ihr Vorgeworfene niemals aus freien Stücken getan hätte - wäre sie tatsächlich vom Bösen berührt worden, wäre sie daran gänzlich unschuldig. Allerdings würde sie dann nicht einfach so und voll rehabilitiert die Freiheit wieder bekommen können. Doch genau das hoffte er für sie.

Friedewald betrachtete die Gauklerin eine Weile, bevor er zu sprechen begann. “Guten Morgen, Doratrava. Ich hoffe es geht Euch gut und Ihr wurdet unter dem Dach meines Dorfschulzen gut behandelt?”

Nach der anstrengenden Befragung durch Lucilla hatte Doratrava sich gerade wieder auf die Liege gelegt und die Augen geschlossen, als sie neuerlich Besuch in ihrer Zelle erhielt. Leise seufzend öffnete sie die Augen, unter denen dunkle Ringe, die sich auf ihrer blassen Haut besonders deutlich abhoben, von deutlich zu wenig Schlaf kündeten, wieder und richtete sich auf, um die Neuankömmlinge zu betrachten. Der Anblick von Nivard zauberte ein schwaches Lächeln auf ihr Gesicht und sie nickte ihm zu, dann auch dem Edlen und Rondrard von Storchenflug, obwohl sich ihr Gesicht bei seinem Anblick wieder verfinsterte, hatte er doch Eoban bei seinen Anschuldigungen deutlich unterstützt.

Dann blickte sie Friedewald ernst und erwartungsvoll, aber auch nervös an, bevor sie antwortete: "Man hat mich wohl den Umständen entsprechend gut behandelt, ja. Ansonsten geht es mir wie einem Vogel in einem viel zu engen Käfig."

“Aber aus einem Käfig kann man wieder freigelassen werden …”, bemerkte der Angroscho.

“Das wäre mein Wunsch”, murmelte Doratrava kaum hörbar.

"Das wäre unser aller Wunsch!" ergänzte Nivard, ebenfalls leise. Denn es würde bedeuten, dass die Unschuld Doratravas bewiesen wäre.

Rondrard hob eine Augenbraue. 'Wäre es das?', dachte er skeptisch.

“Gut!”, bemerkte Friedewald auf Doratravas erste Antwort, musste auf die letzte Bemerkung der Tänzerin und auf Borix’ Antwort hin jedoch kurz schmunzeln, brachte seine Gesichtszüge dann aber schnell wieder unter Kontrolle. Nach einigen Augenblicken des Schweigens fragte Friedewald schließlich: „Wisst Ihr, warum Ihr hier eingesperrt seid? Ich meine, habt Ihr verstanden, was Euch vorgeworfen wird?“ Friedewalds Augen fixierten das Gesicht der Gauklerin, denn er wollte jede ihrer Regungen sehen.

Doratrava runzelte die Stirn. "Ich habe verstanden, dass Eoban von Albenholz völlig überzogene Beschuldigungen gegen mich ausgesprochen hat, weil er offenbar einen mir nicht nachvollziehbaren Groll gegen mich hegt - oder weil er selbst unter dem Einfluss des Pruchs steht. Würde doch gut ins Bild passen." Sie warf Rondrard einen finsteren Blick zu. "Außerdem scheine ich verdächtig zu sein, selbst mit dem Paktierer zusammenzuarbeiten, nur weil ich 'den Ort gewechselt' habe und er das auch kann. Wie vermutlich hunderte Magier ebenfalls. Allerdings habe ich niemanden entführt, wie der Pruch, und auch Rahjel und Merle wieder zurückgebracht. Ich wollte nur Merle schützen, sonst nichts. Dabei ... bin ich wohl über das Ziel hinausgeschossen, ohne erklären zu können, wie es dazu kam. Das tut mir leid, auch, dass Nivard dabei etwas abbekommen hat." Sie warf diesem einen entschuldigenden Blick zu. "Aber ich wollte und will niemandem etwas Böses. Nichtmal Eoban von Albenholz."

“Schon gut!” beschwichtige Nivard leise, wenigstens was den Schaden an seiner Person anging. Sein Entsetzen am gestrigen Abend war weniger dem eigenen Schmerz oder gar der Ohnmacht geschuldet, sondern der Furcht, dass Pruch dahinter stecken könnte und er dann alle drei Verschwundenen in der Gewalt gehabt hätte.

Die ganze Zeit über hatte sich Doratrava um einen gefassten Ausdruck bemüht und darum, sich nicht in Rage zu reden, was ihr zumindest halbwegs gelungen war. Aber allen Ärger und alle Verbitterung hatte sie nicht aus ihrer Stimme heraushalten können.

“Dieser Ortswechsel, den wir erlebt haben, scheint von besonderem Interesse zu sein. Vermutlich habt Ihr schon mehrfach davon erzählt. Doch ich bitte Euch, mir dies noch einmal persönlich zu erläutern. Ihr werdet es vermutlich später bei der Verhandlung noch einmal erzählen müssen, doch möchte ich Eure Geschichte hören, ohne dass andere sich dabei einmischen. Erzählt mir bitte, wie Ihr aus meinem Haus entschwinden konntet, wie Ihr meine Schwiegertochter und meinen Neffen mitnehmen konntet, und was dort, wo Ihr hingegangen seid, vorgefallen ist.”

Doratrava seufzte und konnte gerade noch verhindern, die Augen zu verdrehen. "Gerade ist die Frau von Galebfurten 'raus, die wollte das auch alles ganz genau wissen. Aber schön, wie Ihr wollt", erwiderte die Gauklerin resigniert. "Also, es war im Kaminzimmer. Ich war gerade in dem Raum darüber, um mich neu einzukleiden, da hörte ich Merle schrecklich schreien. Da hat bei mir der Verstand ausgesetzt, ich bin hinunter gestürmt und in das Kaminzimmer hinein. Alle sind um Merle herumgestanden und haben auf sie eingeredet, sie sah ganz verzweifelt aus. Ohne nachzudenken habe ich mich durch die Menge gedrängt und Merle umarmt und mir gewünscht, sie möge in Sicherheit sein, weit weg von hier. Und plötzlich ... zerbrach die Welt, es klang, als würden tausend Spiegel bersten, und momentan verlor ich jeglichen Bezug zur Realität. Als ich wieder zu mir kam, saß ich mit Merle zusammen auf einer nebligen Wiese, und wir waren tatsächlich allein. Aber bald stellte sich heraus, dass dem doch nicht so war. Erstens tauchte plötzlich Rahjel aus dem Nebel auf, und dann war da noch irgendein Wesen, das wir nicht sehen konnten, das uns aber schlimme Dinge einflüsterte, schlechte Gedanken, das uns dazu bringen wollte, Neid, Missgunst und Hass zu fühlen und uns gegenseitig weh zu tun. Mir war schnell klar, dass wir hier eben nicht in Sicherheit waren, mal ganz zu schweigen davon, wo 'hier' überhaupt war und wie wir hierher gekommen waren. Ja, ich habe ein paar Fähigkeiten, welche normale Menschen als 'Zauberei' bezeichnen würden: ich kann sehr schnell laufen, wenn ich will, weit und hoch springen und sehr glatte Wände erklettern. Aber sonst nichts. Ich wusste nicht, dass ich Leute versetzen kann, schon gar nicht an so einen Ort. Wie auch immer, wir mussten aber dringend da wieder weg, denn mit dem körperlosen Wesen war nicht zu spaßen, das fühlte ich. Und da kam mir die Idee ..." Doratrava stockte kurz, um den Edlen anzusehen und auch Nivard einen flüchtigen Blick zuzuwerfen, bevor sie weitersprach: "Also, das Wesen schien sich von schlechten Gedanken und Emotionen zu ernähren, dann waren schöne Gedanken und Gefühle vielleicht Gift für es. Mit Rahjels tatkräftiger Mithilfe schafften Merle und ich es, solche guten und schönen Gefühle gegenseitig in uns ... zu erzeugen." Bis hierhin hatte Friedewald teils aufmerksam, teils erschrocken, zugehört, doch nun weiteten sich seine Augen durchaus besorgt. Aber er kommentierte den Bericht nicht, denn er wollte, dass Doratrava unbeeinflusst weiter redete. Wieder stockte die Gauklerin kurz, unsicher, wie Friedewald diese Eröffnung deuten und aufnehmen würde, aber dann sprach sie schnell weiter: "Offensichtlich hatte mein Plan Erfolg, denn wieder zerbrach die Welt mit infernalischem Klirren, allerdings wollte das Wesen sich wohl nicht so einfach geschlagen geben und versuchte, mich oder uns alle zurückzuhalten. Ich fühlte etwas wie einen stachelbewehrten Tentakel, der sich vehement um mein eines Bein schlang, doch dann wurden wir gewaltsam fortgerissen, was meinem Bein nicht gut bekam. Wir verloren das Bewusstsein, aber als ich wieder zu mir kam, lag ich halb im See, dem aus Eurer Familienlegende, und Merle und Rahjel waren auch nicht weit. Den Rest müsste Euch Euer Sohn Kalman erzählen können. Oder Merle. Habt Ihr mit Merle überhaupt schon über diese Sache gesprochen?" Beim Gedanken an ihre Geliebte liefen vielfältige Emotionen über Doratravas Gesicht, aber so schnell, dass keine richtig zu fassen war. Wo war Merle? Warum hatte sie nicht nach ihr gesehen? Hatte man es ihr verboten?

“Hm”, gab Friedewald von sich und kratzte sich am Kopf. “Euer Bericht wirft bei mir noch so manche weitere Frage auf. Das soll nicht heißen, dass ich Euch nicht glaube. Doch manches muss wohl noch genauer geklärt werden, um zu klären, was an den Vorwürfen gegen Euch dran ist - oder auch nicht.” Friedewald hielt seine Hand vor den Mund, schaute an die Ecke und schien nachzudenken. “Ich mag meine Fragen einmal gesammelt formulieren. Dann beantwortet Ihr, was Ihr könnt.” In Gedanken ging er den Bericht von Doratrava noch einmal durch. Nun ärgerte sich der Edle, dass er versäumt hatte Praiogrimm dazuzurufen, um das Gespräch zu protokollieren. Doch nun war es zu spät dafür und Friedewald wollte das Verhör nicht noch einmal unterbrechen. “Also, zunächst einmal stelle ich mir die Frage, warum hat Euch ausgerechnet der Wutausbruch meiner Tochter derart aufgewühlt, dass Ihr das Bedürfnis hattet, sie in Sicherheit zu bringen?” Friedewald war selbst bei der Versammlung anwesend und hatte Merles Wutausbruch miterlebt. Aber er wollte wissen, was ausgerechnet die Tänzerin zu dieser Regung brachte. “Dann”, sprach Friedewald jedoch gleich weiter, “würde mich interessieren, dieser Ort an dem Ihr Euch wiedergefunden habt, diese neblige Wiese, lag diese hier in Lützeltal? Oder irgendwo sonst im Albenhusischen? Ich meine, jetzt im Herbst ist es nicht unüblich, dass sich Nebelfelder über unseren Auen bilden, gerade in der Nähe der Flussläufe. Was denkt Ihr? Und dann: dieses Wesen, das Euch angegriffen hat? Was könnt Ihr mir über dieses Wesen sagen?”

Doratrava schaute Friedewald lange Augenblicke in die Augen, während sie überlegte. Sollte sie dem Edlen sagen, was sie für Merle empfand? Aber er war ihr Schwiegervater, und Nivard hatte sie eh schon alles gestanden. Wie es zwischen Gudekar und Merle stand, wusste vermutlich auch schon jeder hier.

"Ich kenne Merle erst seit vorgestern, aber ein Wesen so voller Liebe, Hilfsbereitschaft und Zärtlichkeit habe ich selten getroffen. Ich habe mich in sie verliebt", gestand sie dann mit fester Stimme und ohne wegzusehen. Dann wartete sie einen Moment, ob Friedewald das einfach so verdaute und sie weitersprechen konnte, oder ob er etwas dazu zu sagen hatte.

Rondrard sog scharf die Luft ein, sagte aber nichts.

Friedewald schluckte sichtbar, doch auch er sagte nichts zu Doratravas Geständnis. Obwohl ihm anzusehen war, dass er ihre Worte vernommen und verstanden hatte, ließ er sich nicht anmerken, wie er das Liebesgeständnis bewertete. Der Edle blickte Doratrava weiter an und wartete auf weitere Antworten.

Nach ein paar weiteren Augenblicken sprach Doratrava schließlich weiter: "Nein, die neblige Wiese liegt nicht im Lützeltal oder sonstwo auf Dere, glaube ich. Ich denke, ich habe irgendwie Zugang zu einer Globule gefunden, wenn Euch das was sagt. Was gleichzeitig heißt, dass Ihr wohl sicher seid vor dem Wesen, das uns bedroht hat. Zu diesem kann ich Euch nicht viel mehr sagen, als dass es entweder böse ist oder zumindest über eine sehr makabre Art von Humor verfügt. Und dass es sich Thu nennt."

„Thu?“ Friedewald schaute neugierig.

“Thu”, bestätigte Doratrava und schaute fragend zurück.

„Ist Euch sowas schon einmal passiert?“, fragte der Edle. „Oder, ich meine, habt Ihr so etwas wie Thu zuvor schon einmal gesehen?“

“Nein, nie”, antwortete Doratrava knapp und bestimmt.

Nivard grübelte, nun, nachdem er diesen Bericht zum zweiten Mal, aber ausführlicher und im Lichte eines neuen Tages gehört hatte. Konnte es wahr sein, was Doratrava erzählte. Diese Geschichte war so verrückt, so unglaublich, so fern jedweder Vernunft und Wahrscheinlichkeit... dass sie eigentlich wahr sein musste. Oder dass Doratrava wenigstens felsenfest glaubte, die Wahrheit zu erzählen. Dies war erleichternd und beunruhigend zugleich - zu wissen, dass sie wirklich unschuldig war, aber eben auch fürchten zu müssen, zu wem oder was sie, ohne ihr Zutun, Zugang hatte.

Erneut musterte Friedewald die Tänzerin. Nach einer Weile fragte er: „Gibt es irgendetwas, das Ihr mir sagen wollt?“

“Hat die Frau von Galebfurten Euch nichts ausgerichtet?” Doratrava runzelte die Stirn. “Ich wusste ja nicht, ob Ihr direkt mit mir sprechen würdet, daher sagte ich ihr, sie soll Euch sagen, dass ich niemanden verletzen wollte. Dass ich lediglich Merle in Sicherheit wissen wollte. Dass Ihr gerne selbst mit mir sprechen dürft. Nun, das tut Ihr ja gerade, dafür bin ich Euch dankbar. Dass ihr Merle und Tsalinde von Kalterbaum zu Wort kommen lassen sollt. Letztere hat sich bisher sehr für mich eingesetzt und war die einzige, die sich immer vorbehaltlos auf meine Seite gestellt hat, wenn Eoban gegen mich gesprochen hat. Das gestern war nicht das erste Mal, müsst Ihr wissen. Ich bin wie er von der Herzogenmutter selbst beauftragt worden, mich um die Sache mit dem Pruch zu kümmern, insofern hatte ich nun schon länger mit dem Herrn von Albenholz zu tun, aber vom ersten Tag an behandelt er mich wie eine Hure, mit der er nichts zu schaffen haben will. Wenn er nicht vom Pruch beeinflusst wurde, dann mag ihn ja seine mir unverständliche Abneigung zu seinen überzogenen Anschuldigungen bewogen haben. Von Anfang an hat er jede meiner Taten in schlechtes Licht gerückt und so ausgelegt, als wolle ich der Gruppe schaden. Das solltet Ihr bedenken. Fragt Nivard, der sollte das bestätigen können.” Sie schaute diesen intensiv an.

Auch Friedewald blickte erwartungsvoll zu Nivard.

"Doratrava erzählt die Wahrheit, was das Verhalten Eobans von Albenholz angeht." bestätigte Nivard. "Ich hätte zwar vor dem gestrigen Tage nicht gesagt oder auch nur gedacht, dass er deswegen von Pruch beeinflusst sein könnte oder gar ist - seit gestern weiß ich leider nicht mehr, für wen wir überhaupt noch das Gegenteil unterstellen dürfen - aber bis dahin wirkte es für mich, als ob Eobans Frömmigkeit der gütigen Mutter gegenüber und seine tiefe, auch nach außen gelebte Ernsthaftigkeit, mit der er an unsere Aufgabe heranging, mit Doratravas impulsiver Art, mit ihrer tänzerisch-verspielten Lebensweise immer wieder und immer häufiger kollidierte. Es war tatsächlich schon vor dem letzten Abend schwierig, unsere Gruppe zusammenzuhalten, nicht weil die einen sich recht und die anderen falsch verhalten hätten, sondern weil es am Verständnis füreinander fehlte." Nivard erinnerte sich an die schlimmen Ereignisse in Schneidgrasweiler, wo es bereits fast zum Bruch der Gruppe gekommen wäre, nein, eigentlich bereits war. "Er wollte nicht einsehen, dass die Herzogenmutter sich schon was dabei gedacht hat, diese… und genau diese Gruppe auszusenden…”

“Nun, ich weiß zu wenig über die Mission, der Ihr folgt oder die Intentionen der Herzogenmutter, um über das Handeln der einzelnen Gefährten zu urteilen, und dies steht hier auch nicht zur Verhandlung. Auch ist mir von keiner Anklage gegen den hohen Herren von Albenholz etwas bekannt, sofern Ihr ihn nicht der Paktiererei bezichtigen wollt, wofür in meinen Augen jedoch jegliche Anhaltspunkte fehlen. Hier geht es ausschließlich um die Taten der Tänzerin.” Bevor einer der Anwesenden etwas darauf erwidern konnte, wandte sich Friedewald wieder an Doratrava.

Nivard zögerte daher nur kurz und schüttelte dann den Kopf.

„Nun, Ihre Wohlgeboren von Galebfurten war bei mir und hat mir in etwa das ausgerichtet, was Ihr gerade gesagt habt.“ Friedewald beugte sich nach vorn, um näher an Doratrava zu rücken. „Ihr sagtet, Ihr wolltet niemanden verletzen. Wart denn Ihr es, die seine Gnaden Rahjel oder Merle verletzt hat?“

“Was?” Doratrava schüttelte unglücklich den Kopf. “Nein … vielleicht … unwissentlich. Die Schnitte, meint Ihr vermutlich? Ich kann nur annehmen, dass das Nebenwirkungen des … Transports waren. Ich glaube, ich habe da eine Grenze gewaltsam eingerissen, und das waren die Folgen. Aber das konnte ich nicht wissen, das war keine Absicht, und wir mussten einfach von da weg, mit Thu war es zu gefährlich dort. Aber Nivard habe ich verletzt. Ich meine zwar, mich erinnern zu können, ihn gewarnt zu haben, aber trotzdem wollte ich das nicht, das tut mir sehr leid.” Wieder warf sie Nivard einen entschuldigenden Blick zu, den wer-weiß-wievielten seit dem Ereignis.

Erneut schaute auch Friedewald kurz zu Nivard, doch hatte der Edle bereits am Tag zuvor registriert, dass der Krieger seine Verwundung nicht der Gauklerin nachtrug und man ihr diese nicht als tätlichen Angriff zur Last legen konnte.

"Schon gut." beschwichtigte Nivard abermals. "Ich weiß, dass Du mir nicht schaden wolltest. Mach Dir wegen mir keine Sorgen. Eher wegen diesem Thu!"

Doratrava lächelte müde und nickte Nivard dankbar zu.

Borix saß neben Friedewald und beobachtete den Schlagabtausch zwischen der Gauklerin und seinem Freund aufmerksam. Er versuchte immer wieder im Gesicht der Halbelfin zu lesen.

Friedewald dachte eine Weile nach. Er schien sich nicht mehr sicher zu sein, was er Doratrava fragen sollte, um sich ein besseres Bild von der Art ihrer magischen Begabung zu machen. Schließlich sah er sie ernst an, ernster als er sie bisher angesehen hatte. “Also, nehmen wir an, die Verwundung dieses Mannes war ein unglückliches Missgeschick, so bliebe immer noch die Frage, wie dieser, ähm, dieser Transport in die Globule, wie Ihr es nennt, möglich war. Meint Ihr, Ihr könntet mich dorthin bringen, wenn ich Euch darum bitten würde?”

Doratrava schreckte auf bei dieser für sie unerwarteten Frage und brauchte ein paar Augenblicke, um eine Antwort zu formulieren: “Ähm … das ist jetzt eine theoretische Frage, oder? Ihr wollt nicht wirklich dorthin? Und falls doch … glaube ich nicht, dass ich Euch hinbringen könnte. Wie ich schon sagte, ich weiß nicht, was da genau passiert ist und wie ich das gemacht habe. Vielleicht müsste ich mich in Euch verlieben und jemand müsste Euch bedrohen?” Die Gauklerin rettete sich in spielerischen Sarkasmus, um ihre Unsicherheit zu überspielen.

Doch genau das war die spontane Intuition des Edlen. Friedewald wollte wissen, ob Doratrava wirklich eine solche Magie innewohnte, die es ihr ermöglichte, den Ort zu wechseln und andere Personen dabei mitzunehmen. Er wollte wissen, ob dies eine magische Fähigkeit von ihr ist, die für andere eine Gefahr darstellte. Alle Bedenken, alle warnenden Hinweise auf ein dämonisches, mit dornenbewehrten Tentakeln ausgestattetes Wesen schob er beiseite. Friedewald stand auf, atmete tief durch und legte die Hand an sein Schwert. Dann beugte er sich über Doratrava und fing an, laut und energisch auf sie einzureden, er brüllte sie regelrecht an: “Verdammt, Doratrava. Was denkst du eigentlich, was das hier soll? Wir sind nicht zum Vergnügen hier! Du wirst beschuldigt, mit dem Paktierer zusammenzuarbeiten, der viele unserer Freunde und Familienmitglieder getötet hat. Wenn wir nicht wissen, was du da gestern wirklich getan hast, werden wir dich im besten Falle vor die Magiergilde zerren, dass dir deine unheilige Magie ausgetrieben wird, im schlimmsten Fall tun das die Praioten mit dem heiligen, reinigenden Feuer. So oder so wirst du leiden. Wenn du nicht offen zu mir bist, wenn du mir nicht zeigst, was du kannst oder nicht kannst, dann kann ich dir nicht mehr helfen, dann kann dir niemand mehr helfen, nicht der Herr von Tannenfels, nicht die Dame von Kalterbaum und erst recht nicht Merle, die sich gefälligst erst einmal darum scheren soll, ihren Traviabund zu retten!” Den letzten Satz über die Lippen zu bringen, tat Friedewald vermutlich mehr weh, als Doratrava, denn er wusste, dass nicht Merle das Leid verursacht hatte. Doch eine Eingebung sagte ihm, dass er nur so herausfinden konnte, was Doratrava tatsächlich zu tun in der Lage war.

Vom plötzlichen Ausbruch des Edlen überrascht, zuckte Doratrava zusammen. Und auch, wenn er das mit Merle vielleicht nicht so meinte, schürten seine Anschuldigungen ihre Wut, zumal es um ihr Nervenkostüm nicht mehr sonderlich gut bestellt war. "Doch, ich bin eigentlich zum Vergnügen hier", gab die Gauklerin nun heftig zurück. "Genau gesagt, zu dem der Leute hier. Leider hat sich das erledigt. Dann hat Merle mir von dem Brief erzählt, und ich wollte sie damit nicht allein lassen, das ging ihr verständlicherweise sehr nahe. Und als wir uns deswegen besprechen wollten, kam die Sache mit Gudekar und Meta ans Licht, und Merle ist zusammengebrochen, sodass ich nicht anders konnte als zu versuchen, sie irgendwie zu retten. Ja, ich gebe zu, da war kein bewusster Gedanke dahinter und dass ich in einer Globule landen würde, war mir nicht klar. Aber kaum bin ich zurück, halbtot, kommt Eoban und beschuldigt mich aller möglichen Sachen und der Paktiererei obendrein! Was soll der Schwachsinn? Wäre ich wirklich mit dem Pruch im Bunde, hätte ich dann Merle und Rahjel zurückgebracht? Hätte ich mich dann dermaßen selbst verletzt? Wäre ich dann zu Euch zurückgekommen, obwohl ich hätte wissen müssen, was mir blüht? Haltet Ihr mich für so bescheuert?"

Nivard war kurz verwirrt. Was war in Friedewald gefahren, Doratrava so anzugehen? Dann aber verstand er, was der Edle vorhatte. Und es behagte ihm nicht. Nach allem was er verstanden hatte, war dieser andere Ort gefährlich, und das nicht nur für die, die selbst dort waren, wie er am eigenen Leib hatte erfahren müssen. Wer wusste, was gleich passieren würde, so wenig wie Doratrava sich selbst und ihre Gabe offensichtlich beherrschte.

"Bei allem Respekt, Wohlgeboren." meldete er sich zu Wort. "Ihr solltet Euch beruhigen und wieder zur besonnenen Befragung zurückkehren, die Ihr bislang führtet. Ich schlage vor, wir machen eine kurze Pause, bis wir alle wieder wir selbst sind."

Die freche, ja fast schon unverschämte Antwort der Gauklerin zeigte Friedewald, dass er es fast geschafft hatte. Entweder würde sie, wenn er jetzt nicht nachließ, tatsächlich ihre Kräfte einsetzen, oder es würde sich zeigen, dass nicht sie die Reise in eine andere Globule verursacht hatte. Irgend etwas in ihm wollte ihn davor warnen, den Weg weiterzugehen, doch fehlte ihm letztlich die Willenskraft, auf die Stimme der Vernunft zu hören, auch auf jene des Tannenfelsers. Dessen Vorschlag, die Befragung an dieser Stelle zu unterbrechen, ärgerte Friedewald vielmehr. Er wollte es hinter sich bringen, diese leidige Schuldfrage ein für alle mal klären. Er konnte jetzt nicht zurückschrecken. “Jetzt nicht, Hoher Herr von Tannenfels”, blaffte der Edle Nivard an. “Ich BIN mitten in der Befragung.” Dann wandte er sich wieder an Doratrava. “Du wärst nicht die einzige Person aus Merles Umfeld, die sich in den letzten Tagen bescheuert verhalten hat. Ich weiß nicht mehr, wer sich hier alles der Paktiererei schuldig gemacht hat oder unter dem Bann des Paktierers steht”, Friedewald beugte sich abermals bedrohlich über Doratrava, “aber wenn du nicht willst, dass am Ende irgendjemand auf dem Scheiterhaufen landet, dann solltest du mir schon etwas mehr bieten, als Abwiegelungen, wie du dich verhalten würdest, wenn dies oder das wäre!” Ein grimmiger Blick traf die zierliche Tänzerin.

Scheiterhaufen? War das Friedewalds Ernst? Irgendwo in Doratrava regte sich das Gefühl, dass der Edle sie nur provozieren wollte, aber das änderte nichts daran, dass sie langsam, aber sicher die Beherrschung verlor. Schon spürte sie das Blut in ihren Ohren rauschen und hatte das Gefühl, ihr Gesichtsfeld würde sich einengen. Wer ihr ins Gesicht schaute, konnte erkennen, dass ihre Augen, gerade noch dunkelbraun, plötzlich eine violette, dann eine rubinrote Färbung annahmen, in welche sich schwarze Schlieren mischten. Nivard wurde unheilvoll an das Aussehen von Doratravas Augen kurz vor ihrem Verschwinden erinnert, aber der Effekt war nicht genau derselbe.

Doratrava merkte, dass gleich etwas geschehen würde, wenn sie es zuließ - aber sie wollte es nicht zulassen, die Angst vor dem, was dann geschehen konnte, hielt sie - noch - zurück. Sie erinnerte sich der Messer, welche sie auf dem Wagen beim See gefunden hatte und immer noch unter ihrer Kleidung trug. Kurz kam ihr der wahnwitzige Gedanke, sich durch einen körperlichen Angriff auf Friedewald von dem abzulenken, was in ihr hochbrodelte, aber ein letzter Rest Verstand sagte ihr, dass sie damit alles nur noch schlimmer machen würde. Doratrava öffnete den Mund, um etwas zu sagen, eine Warnung auszustoßen, um Hilfe zu rufen, sich zu wehren, einfach zu schreien, aber kein Ton kam heraus. Ihre Augen füllten sich mit Schwärze, und ganz tief drinnen spürte sie einen völlig unpassenden Anflug von Heiterkeit, der nicht ihrer war - hoffte sie.

Als Borix merkte, dass Doratrava drohte von ihren Gefühlen übermannt zu werden, setzte er sich auf dem Stuhl ein wenig um, so dass er bei einer möglichen Attacke auf seinen Freund dazwischen gehen könnte. Er war sich sicher, dass er die Kraft hätte sie festzuhalten.

"Bei allen guten Göttern, haltet ein!" rief Nivard, der sich nur zu gut und mit einem schmerzhaften Schaudern an die Geschehnisse, gestern im Herrenhaus, erinnern konnte.

"Ich bitte Euch! Alle beide!” Er wandte sich nun eindringlich Friedewald zu: “Wohlgeboren, habt Ihr nicht genug gesehen? Habt Ihr Doratravas Augen wahrgenommen? Wie gestern… Das muss doch reichen... Es gibt Wahrheiten, die einfach einen zu hohen Preis kosten, ein zu hohes Risiko erfordern! Doratrava hat offensichtlich irgendwelche Kräfte, die sie aber genauso offensichtlich nicht kontrollieren kann! Was, wenn Ihr diesmal weniger Glück habt als Doratrava mit Merle und seiner Gnaden von Altenberg, und, ja, auch ich gestern? Ihr verhaltet Euch, als wolltet Ihr für den Beweis, dass Euer Haus brennbar ist, selbiges in Brand stecken. Das ist, mit Verlaub, Wahnsinn!”

Nachdem er so auf den Edlen eingeredet hatte, ging sein Blick zu Doratrava. Bei der großen Mutter, war es etwa schon zu spät? Diese Schwärze…

“RAUS!, SCHNELL RAUS HIER!” Nivard versuchte, Friedewalds Arm zu packen, und den Edlen aus der Kammer zu zerren. Komm auch mit, Borix. Schnell!... Ihr auch, Rondrard!”

Die Schwärze hatte Doratravas Augen inzwischen gänzlich gefüllt, wenn auch noch ein paar rote Funken darin tanzten. Die Tänzerin verzog das Gesicht wie unter großen Schmerzen, Schweiß trat ihr auf die Stirn und sie krümmte sich zusammen, was den Blickkontakt abreißen ließ. Sie kämpfte - gegen wen oder was war nicht ersichtlich, aber sie kämpfte.

Da Nivard Friedewald mit sich zog, war der Angroscho, der auf dem zweiten Stuhl gesessen hatte, nun direkt von der Gauklerin. Vorsichtig blickte er sich um, ob die drei Begleiter den Raum verlassen hatten.

Sollte es der Fall sein, würde er als letzter langsam rückwärts gehend, den Raum verlassen.

Doch Friedewald machte nichte den Anschein, als wollte er sich von Nivard aus dem Raum zerren lassen. Heftig versuchte er, seinen Arm aus dem Griff des Kriegers zu schütteln.

"GENUG! ALLE BEIDE!', donnerte Rondrard. "ICH VERBIETE DIR DIE HEXEREI, FRAU DORATRAVA. UND IHR, FRIEDEWALD, WOLLT IHR WIRKLICH DAS HÄMMERN AN DEN GRUNDFESTEN DERES IN AUFTRAG GEBEN?! GLAUBT IHR SO PRAIOSGEFÄLLIGE BEWEISE ZU SICHERN? ICH DENKE NICHT!" Mit erhobenem Haupt und strengem Blick musterte er beide.

Nun wandte sich der Edle an Nivard und Rondrard und ließ die Gauklerin aus seinem Blick. Verärgert beschwerte er sich: “Wollt Ihr mir wahrhaftig vorschreiben, wie ich meine Befragung durchzuführen habe?”

Gleichzeitig ruckte Doratravas Kopf hoch, als Rondrard sie so anschrie. Es fühlte sich an, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. Ein Teil von ihr hieß diesen Schlag willkommen, versuchte sich aus der Umklammerung der Kraft aus ihrem Inneren zu befreien, aber das andere, das tief unten, wollte diesen Wicht an seinen rechtmäßigen Platz setzen, und das war im Staub zu ihren Füßen. Wenn er Glück hatte. In Doratravas Augen wirbelten nun wieder mehr rote Funken als zuvor und schienen die Schwärze zurückdrängen zu wollen, gleichzeitig verlor ihr Gesicht, gerade noch verzerrt, jeglichen Ausdruck, und sie starrte Rondrard an. Nur diesen, als sei sonst niemand mehr im Raum. Als gäbe es keinen Raum mehr.

"Wenn Ihr sie mit illegalen Mitteln durchführen wollt, dann ja!", Rondrard ließ sich durch Friedewald nicht einschüchtern. Doratravas Blick, oder besser die wechselnden Farben ihrer Augen, ließen schon eine kleine Schweißperle entstehen, die langsam neben seinem rechten Auge das Kinn hinab lief.

Als Friedewald bemerkte, dass Rondrards Aufmerksamkeit, ungeachtet seiner Worte, eher weiter auf Doratrava ruhte als auf dem Edlen selbst, drehte sich der Lützeltaler ebenfalls wieder beobachtend der Tänzerin zu. Doch in Friedewalds Gestik lag nun nichts provozierendes mehr, vielmehr schien ihn eine tiefe Neugier ergriffen zu haben, was Doratrava nun tun würde, ob sie sich im Griff haben würde.

Da sich Friedewald nicht aus dem Raum ziehen lassen wollte und Doratrava jetzt auch nicht mehr durch seinen alten Freund angegangen wurde, entspannte sich der Angroscho wieder und ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken.

"Ihr befragt sie nicht…” fügte Nivard den Worten Rondrards hinzu. “Ihr beschwört Dinge herauf, die weder sie noch Ihr am Ende beherrschen könnt. Seht Ihr nicht, wie verzweifelt sie dagegen ankämpft? Und wie schwer Ihr es ihr dabei macht?" Nivard schüttelte den Kopf. "Wenn hier noch ein Unglück geschieht, dann habt Ihr es ausgelöst - Ihr ganz alleine. Als ob gestern und in der zurückliegenden Nacht nicht bereits mehr als genug geschehen wäre. Ich bitte Euch noch immer - alle! - verlasst - BITTE - diesen Raum, bis Doratrava wieder ganz sie selbst ist."

Friedewald beachtete Nivards Worte jedoch nicht, denn er beobachtete weiter Doratrava.

Doratrava schien Nivards Worte nicht zu hören, zumindest reagierte sie in keiner Weise darauf, kein Muskel regte sich in ihrem zu einer marmornen Maske erstarrten Gesicht. Gerade war sie noch zusammengekrümmt auf der Liege gelegen, nun stand sie in einer fließenden Bewegung auf, der man mit den Augen kaum folgen konnte. Obwohl sie keinen Schritt machte, hatte Rondrard, der ein wenig im Hintergrund stand, plötzlich ein Gefühl, als wären ihre schwarzen, rot verwirbelten Augen nur noch eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt. Die anderen konnten dagegen lediglich sehen, dass Doratrava den Storchenfluger weiterhin ohne zu blinzeln anstarrte.

Schließlich brach Friedewald das Schweigen und sprach mit ruhiger Stimme: „Gut, ich denke, es ist vorbei. Ich sehe nicht, dass hier eine Gefahr besteht. Doratrava, Ihr könnt Euch wieder entspannen.“

Lautstark vor Erleichterung atmete Borix aus. Jetzt hoffte er inständig, dass die Gauklerin einschlug.

Nivards Anspannung hielt trotz der versöhnlichen Worte Friedewalds an, noch immer ließ er kein Erleichterungsgefühl zu. Erst wollte er sicher sein, dass Doratrava Herrin ihrer Lage und wieder ganz sie selbst war, ehe er die Gefahr als gebannt ansehen würde. "Doratrava." murmelte er leise und nichtsdestoweniger eindringlich in ihre Richtung. "Es ist gut. Niemand bedroht dich oder dringt auf Dich ein. Hörst Du?"

Rondrard begann zu schwitzen. Er fühlte sich unwohl. Der Raum wandelte sich in nebliges Grau. Die anderen waren verschwunden. Einzig Doratrava mit den wirbelnden Augen war noch da. Es war, als stünde sie am Ende eines Tunnels und er am Anderen. Irritiert schüttelte er den Kopf. Er fühlte Angst aufwallen. Wie immer, wenn er so fühlte, rief er sich die Melodie des Liedes zum Lob des Herrn Praios ins Gedächtnis. 'Praios invictus, Rex duodecim…'. Langsam kam er wieder zu sich. Entschlossen streckte er Doratrava seine rechte Hand mit gespreizten Fingern entgegen - das Zeichen des Auges wider dunkle Mächte, Sünde und Finsternis.

Von weither hörte Doratrava Nivards eindringliche, beruhigende Stimme, während etwas aus ihr herauszudrängen versuchte, um diesen erbärmlichen Schwächling vor ihr zu zermalmen. Doch obwohl sie in diesem Zustand die Worte Nivards nicht verstehen konnte, waren sie doch so etwas wie ein Anker, ein Leuchtturm, ein rettendes Ufer, auf das sie mit aller Kraft, die ihr verblieben war, zuschwamm. Jeder Schwimmzug kostete sie dabei mehr Überwindung als der vorhergehende, doch sie war es von klein auf gewohnt, immer zu kämpfen und niemals aufzugeben, und arbeitete sich verbissen Schritt vor Schritt voran, während die innere Dunkelheit aus den Tiefen ihrer Seele verbitterte Enttäuschung durch ihren Geist wehen ließ, doch nicht verhindern konnte, wieder hinabzusinken in den unauslotbaren Abgrund, aus dem sie aufgestiegen war.

Die anderen, vor allem Rondrard, sahen, wie Doratrava plötzlich krampfhaft die Augen schloss und ihre gerade noch fast zum Zerreißen angespannte Gestalt in sich zusammen und zurück auf die Liege sank. Es schien, als ruckte für einen kurzen Moment der Boden unter ihren Füßen, als flimmerte die Luft und flösste das Licht gerinnend in einen Raum jenseits des Raumes, dann war alles wieder normal und so wie vorher. Mit einem Keuchen öffnete Doratrava die Augen wieder, riss sie nachgerade entsetzt auf, dann ließ sie sich erschöpft gegen die Wand hinter ihr fallen.

Der Edle von Lützeltal ging auf Doratrava zu und legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. „Alles ist gut! Nichts ist geschehen. Wir haben gesehen, dass von Euch keine Gefahr ausgeht, selbst wenn Ihr bedroht werdet. Niemand wurde von Euch irgendwohin transportiert.“ Friedewald blickte zu seinen drei Begleitern. Er schien nicht bemerkt zu haben, wie nah Doratrava tatsächlich an einem Ausbruch war, an einem Ausbruch, der vermutlich anders ausgegangen wäre als jener im Herrenhaus am Tag zuvor. “Ich denke, meine Fragen sind beantwortet. Wie sieht es bei euch aus?”, fragte er seine Begleiter. “Habt ihr noch Fragen an die Gauklerin?”

"Wie geht es Dir jetzt, Doratrava?" war das einzige, was Nivard in diesem Moment wissen wollte. "Alles in Ordnung mit Dir?" Er hatte gesehen und gespürt, wie dünn der seidene Faden geworden war, der Doratrava und sie alle gerade noch so vor einem weiteren Zwischenfall, vielleicht sogar einer Katastrophe bewahrt hatte. Besorgt sah er die Freundin an.

Kraftlos schüttelte Doratrava den Kopf und machte dann eine abwinkende Geste mit der Hand. “Ich … bin erschöpft. Als hätte ich zu lange getanzt. Obwohl man gar nicht lange genug tanzen kann … aber das gerade … war wie das Gegenteil eines Tanzes. Tanzen macht mich glücklich … das hier nicht.” Sie machte eine kurze Pause und blinzelte ein paarmal, dann bewegte sie probeweise ihre Schultern und ihre Beine. “Aber sonst fehlt mir nichts, glaube ich.”

Dann sah sie Friedewald unsicher an, auch zu Rondrard zuckten ihre Augen kurz. Wollte sie nicht gerade … ? Hatte sie nicht … ? Die Bilder in ihrem Kopf von dem, was gerade passiert war, verschwammen und zerflossen, das Letzte, an was sie sich klar erinnerte, war Rondrards Geschrei, dass er ihr zu zaubern verbat. Der Rest … entglitt ihr.

“Nun ja”, erklärte Friedewald, “so eine Nacht in Gefangenschaft kann zermürbender sein als ein rauschendes Fest. Insbesondere, wenn man ständig befragt wird und immer wieder aufs Neue Rechenschaft ablegen muss.” Entweder hatte Friedewald tatsächlich nichts davon bemerkt, wie sehr Doratrava einen inneren Kampf ausgefochten hatte, um die Kontrolle über sich selbst zu behalten, oder er versuchte absichtlich, das Geschehene zu ignorieren.

Der Storchenfluger ließ seinen Arm sinken, behielt Doratrava aber weiterhin im Auge.

“Ich denke, wir wissen nun genug und können Euch bis zur Verhandlung Zeit geben, Euch zu erholen.” Der Edle schaute seine Begleiter eindringlich an. “Sorgen wir dafür, dass diese Dame bis dahin nicht weiter gestört wird.” Er wandte sich zur Tür und wollte die Zelle schon verlassen, doch dann drehte er sich noch einmal um. “Doratrava?”

Friedewalds Worte verloren sich fast im Rauschen von Doratravas wild durcheinanderwirbelnden Gedanken. Einerseits versuchte sie, die verblassenden Eindrücke festzuhalten, als Warnung, als Mahnmal, vielleicht, um nächstes Mal besser vorbereitet zu sein, andererseits begrüßte sie das wohlige Vergessen, um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, was mit ihr nicht stimmte. Erst Friedewalds Ansprache, als er fast schon draußen war, riss sie in die Wirklichkeit zurück. “Ja?” Sie hob den Kopf, Verwirrung und Unsicherheit spiegelten sich im Blick ihrer nun violett leuchtenden Augen, nicht unähnlich des Amethyst-Farbtons derer Lianas.

Friedewald legte den Kopf schief und musterte die Tänzerin. “Ihr sagtet, Ihr liebt meine Tochter, also meine Schwiegertochter. Merle. Und Ihr deutetet an, dass …, nun, lassen wir es unausgesprochen. Wie ernst meint Ihr Eure Worte? Antwortet mir nicht, aber ich bitte Euch, denkt selbst darüber nach. Merle wurde die letzten Tage, nein, in den letzten Monden, sehr verletzt. Tut bitte nichts, was sie noch mehr verletzen könnte. Merle ist die Frau meines Sohnes, doch ich liebe sie wie meine eigene Tochter.”

“Ich …”, setzte Doratrava dennoch an, brach dann aber ab und nickte nur. Ja, sie liebte Merle, und nein, sie wollte sie nicht verletzen. Aber sie war durch die ganzen Ereignisse mittlerweile ernüchtert genug, dass sie die Gedanken an eine - theoretische - Zukunft nicht mehr verdrängte. Würde Merle sie so lieben können, wie sie Merle umgekehrt liebte? Würde sie die Ehe mit Gudekar, zumindest zeitweise, oder auch für immer, vergessen können? Würde sie das Leben mit einer Gauklerin teilen wollen, die die meiste Zeit nicht da war? Doch bevor diese Gedanken Gewicht bekamen, musste sie jetzt erst einmal die Verhandlung überstehen.

„Erholt Euch nun noch ein wenig von den Strapazen. Ich werde mich nun auch auf die Verhandlung vorbereiten. Ich sehe Euch dann bei der öffentlichen Verhandlung. Dies wird noch einmal sehr anstrengend für Euch.“ Nun wandte sich der Edle an seine Begleiter. „Lasst uns nun gehen.“

Doratrava zuckte lediglich die Schultern und sagte nichts. Sie hatte keine Vorstellung, wie eine solche Verhandlung ablaufen würde, aber sie war inzwischen darüber hinweg, sich wegen allem, was kommen mochte, zu ängstigen. Sie musste es nehmen, wie es kam.

Nivard widerstand dem kurzen inneren Drängen, zum letzten Thema noch etwas hinzuzufügen. Ihm war sofort klar, dass es ein letztes Beben seines gestern noch intakten, aber nach den Ereignissen der Nacht vollends gebrochenen Willens war, alles zu unterbinden, das die Rettung der Ehe Merles und Gudekars gefährden könnte. Nun war klar, so bitter das war, das dort nichts mehr zu retten war. Warum also sollte Doratrava sich nicht Merles annehmen? Wenn sie es nur ernst mit Merle meinte...

"Ruh Dich aus." Er versuchte, der Freundin aufmunternd zuzulächeln, auch wenn ihm dies, nach allem, was er in den letzten 24 Stunden hatte erleben müssen, schwer fiel. "Und dann wird dieses Missverständnis hier aufgeklärt." Er wollte schon gehen, drehte sich aber nochmals um. "Wenn Du wieder frei bist, suchen wir Hilfe für Dich, in Ordnung?"

In Anerkennung von Nivards Aufmunterungsversuch zog Doratrava einen Mundwinkel leicht nach oben und nickte stumm, auch wenn sie nicht der Meinung war, ‘Hilfe’ zu brauchen. SIe würde mit Rahjan darüber sprechen, zumindest das nahm sie sich vor, aber niemand sonst sollte in ihrem Kopf herumpfuschen. Und dann würde man sehen. Aber das alles war nichts, was sie jetzt zwischen Tür und Angel ihrer Zelle ansprechen wollte. Daher winkte sie Nivard lediglich lahm zum Abschied.

Beim Hinausgehen zischte Rondrard der Gefangenen zu: "Nicht nur, dass sie eine Hexe ist. Sie ist auch krank. Widerlich und krank." Dann spuckte er vor ihr aus.

Doratrava spürte, wie erneut etwas in ihr hochkochen wollte, aber sie hatte sich inzwischen wieder soweit im Griff, dass sie sich erfolgreich dagegen wehren konnte. Dennoch verletzte sie das Verhalten des Storchenflugers fast mehr, als es Eobans Beschuldigungen getan hatten. Bitter schaute sie ihm hinterher, verzichtete aber auf jegliche Widerworte.

“Das, war Ihr Krankheit nennt, ist aber auch heilbar”, grummelte Borix zu Rondrard. Er kannte schließlich auch die Stärken Murlas in diesen Dingen. Oder - was bei den Menschen vielleicht naheliegender war - die Stärken der Boronis. Dabei musste er an die Gespräche mit Marbolieb denken, die ihm sehr geholfen hatten.

“Wirklich?!”, fragte der Storchenfluger überrascht. “Ich wäre mehr als froh, wenn ich nichts mehr über elfische oder Amazonenliebe hören oder gar sehen müsste. Einfach widerlich. Können diese Perversen das nicht zuhause machen, wo man das nicht sehen muss?” Er musste einmal tief durchatmen, um nicht wieder in Zorn zu geraten. “Wisst Ihr mehr über diese Heilmethoden?”

“Oh, da haben wir wohl andere ‘Krankheiten’ im Sinn gehabt”, antwortete Borix. “Ich habe an den Kummer, der die Seele befällt und die Gedanken trübt, gedacht.”

“Naja”, überlegte der Ritter, “vielleicht hängt das ja zusammen.”

***

Als die vier Männer das Haus des Dorfschulzen verließen, eilte ihnen Merle Dreifelder, die Schwiegertochter des Edlen von Lützeltal entgegen.

Merle hatte es endlich geschafft, sich frisch zu machen und umzukleiden; sie war nun in ein schlichtes, nachtblaues Gewand gekleidet. Das dunkelblonde Haar trug sie ordentlich hochgesteckt, ihr Gesicht jedoch war blass und von dunklen Schatten um die Augen gezeichnet. Höflich nickte sie den Begleitern des Edlen zu, wandte sich jedoch direkt an ihren Schwiegervater: "Vater Friedewald, wäre es möglich, dass ich noch kurz mit Doratrava sprechen könnte?"

Friedewald sog scharf die Luft ein und atmete dann mit einem Blick zu seinen Begleitern tief aus. „Merle, ich denke, es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür.“

"Wieso? Geht es ihr nicht gut?" Sie blickte dem Edlen besorgt in die Augen. "Ich will wirklich nur schnell nach Doratrava sehen. Eigentlich hatte ich ihr schon gestern Abend versprochen, sie noch einmal zu besuchen, aber dann ist alles..." Sie schluckte und presste mit sichtlich schlechtem Gewissen die Lippen zusammen. "Bitte, Vater, lass' uns doch ein paar Worte wechseln. Damit Doratrava weiß, dass ich sie nicht vergessen habe."

Der Edle schüttelte den Kopf und Merle erkannte in seinem Gesicht, dass es ihm ernst war, jedoch nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus echter Sorge. Sorge um Merle, aber auch Sorge um die Tänzerin. „Es geht ihr soweit gut. Aber es könnte später von Nachteil für sie sein, wenn du jetzt zu ihr gehst. Ich lasse ihr ausrichten, dass du dich um sie sorgst, es dir jedoch verwehrt blieb, sie zu besuchen.“

"Von Nachteil? Wieso denn von Nachteil? Du hast doch eben auch mit ihr geredet", widersprach Merle hartnäckig. "Und du kannst ja aufpassen oder eine Wache abstellen, damit ich ihr keinen Kuchen mit Feile reinschmuggle."

„Ach Merle, niemand glaubt, dass du sie zu befreien versuchen würdest.“ Der Edle nahm seine Tochter in den Arm. Hätte Merle miterlebt, wie seine Befragung gerade verlaufen war, würde sie verstehen, dass er sie nicht zu der Frau lassen konnte. „Ich war in offizieller Angelegenheit bei ihr, das ist etwas ganz anderes.“ Friedewald legte seine Hände auf Merles Schultern. „Lass uns kurz unter vier Augen sprechen, Kind.“

Merle akzeptierte die Umarmung ihres Schwiegervaters, zog aber leicht verunsichert die Stirn kraus. Was genau hatten Doratrava und Friedewald wohl besprochen? Da sie erkannte, dass der Edle sie nicht ohne weiteres zu ihrer Freundin durchlassen würde, nickte sie mit sichtlich verlegener Miene. "Ja natürlich, Vater, wie du willst."

Als Doratrava Merles Stimme hörte, gleichzeitig aber, dass Friedewald sie nicht zu ihr lassen wollte, stellte sie sich auf die Liege und schaute zum Fenster hinaus. Sah Merle zu ihr herüber?

Am Fenster erkannte Merle Doratravas Gesicht, traute sich direkt neben Friedewald stehend jedoch nicht, etwas zu ihr zu sagen. Sie hob nur grüßend die Hand und versuchte ein aufmunterndes Lächeln, das sich auch für sie selbst eher gequält und hilflos anfühlte.

Der Schatten eines Lächelns huschte über Doratravas Gesicht und sie winkte zurück. Sehnsüchtig und voller Wehmut sah sie zu ihrer Geliebten hinüber, aber solange Friedewald in der Nähe war, hatte es wohl keinen Sinn, Merle zu sich zu rufen.

Auch wenn Merle sonst nicht weiter reagierte, wurde ihr Gesichtsausdruck ein wenig weicher, ihr Lächeln wärmer und offener. Dann senkte sie schnell wieder den Blick und schaute ihren Schwiegervater an.

„Herr von Storchenflug, sorgt Ihr bitte mit dem Rest Eurer Lanze dafür, dass die Geweihten in Sicherheit sind, solange sie noch in der Bäckerei tagen. Borix, du kümmerst dich am besten darum, dass hier auf dem Dorfplatz alles für die spätere Verhandlung hergerichtet wird. Und Herr von Tannenfels, Ihr bleibt vorerst dafür verantwortlich dass niemandem, egal ob im Guten oder im Schlechten, Zutritt in die Zelle der Gauklerin gewährt wird.“ Friedewald hoffte so, die Lage weiter zu entspannen. Er war sich nicht sicher, was Rondrard tun würde, hätte er die Aufgabe, die Gauklerin zu bewachen. Mit einer anderen Aufgabe wäre er zumindest vorerst beschäftigt und abgelenkt. Dem Tannenfelser als ehemaligem Plötzbogener vertraute der Edle jedoch soweit, ungeachtet dessen Freundschaft zu der Gauklerin, seine Aufgabe gewissenhaft zu erfüllen.

Rondrard schlug donnernd die Faust gegen die Brust und drehte sich zackig auf dem Absatz um. Dann eilte er sich seine Lanze zusammenzutrommeln.

"Jawohl." bestätigte Nivard. Er war nicht undankbar über die Aufgabe. "Soll ich Ihr direkt die Sorge Eurer Schwiegertochter und ihre Grüße ausrichten?" Dabei lächelte er Merle aufmunternd an.

„Ja, tut das.“ Der Edle hoffte, dies würde Doratrava wieder etwas zur Ruhe kommen lassen.

Merle nickte Nivard dankbar zu, wirkte aber eher unglücklich, nicht selbst vorgelassen zu werden.

Borix nickte ebenfalls nur kurz und machte sich dann auf in die Scheune, um dort Tische und Stühle zu holen, die er dann mit ein paar Helfern unter dem Baum vor der Zehntscheune aufbaute.

Ins Gewissen geredet

„Gut, Merle, gehen wir zu den Waldgruns in die Stube, da können wir in Ruhe reden.” Friedewald kehrte also sogleich wieder um, und ging auf die andere, die Haupttür des Hauses seines Dorfschulzen zu.

Merle nickte resigniert und folgte widerspruchslos dem Edlen.

Ein Stich fuhr durch Doratravas Herz, als Merle mit Friedewald fortging, und sie musste sich die Tränen verbeißen. Wie gerne hätte sie jetzt ein freundliches Wort gehört oder Merles Berührung gespürt. Aber es sollte nicht sein. Tief seufzend ließ sie sich auf die Liege zurücksinken.

Die beiden Lützeltaler betraten durch die Tür die Stube der Familie Waldgrun, die jedoch nicht zu Hause war. Das Zimmer war vergleichsweise spartanisch eingerichtet. Rechts und links der Fensterfront gab es zwei Türen. Zur Bachseite hin die Eingangstür, durch die die beiden den Raum betreten hatten, auf der anderen Seite eine Tür zum Treppenhaus, von dem aus auch je eine Tür in die Küche und die Wachkammer führte. Unter den Fenstern standen einige verschlossene Truhen. An der gegenüberliegenden Seite gab es einen Kamin und rechts und links davon zwei große geschlossene Schränke. Neben der Eingangstür hing ein altes, verblasstes Wappenschild, auf dem das Wappen des Hauses Weissenquell nur noch schemenhaft zu erkennen war. Die restlichen freien Wände waren mit einfachen, schmucklosen Wandteppichen behangen. In der Mitte des Raumes stand eine Tafel mit acht gepolsterten Stühlen.

Im Kamin glühten noch die Reste einiger Holzscheite und Friedewald legte etwas Brennholz nach, um die Glut nicht ausgehen zu lassen. Dann setzte er sich an den Tisch und blickte Merle an, so dass es deutlich wurde, dass auch sie sich setzen sollte.

Die junge Frau nahm folgsam Platz und schaute den Edlen halb fragend, halb beklommen an. Sie sagte jedoch nichts, sondern wartete ab, wie Friedewald das Gespräch eröffnen würde, schließlich hatte er ja darum gebeten.

Einen kurzen Augenblick lang, der Merle jedoch wie ein volles Stundenglas vorkam, musterte Friedewald seine Schwiegertochter. “Warum möchtest du zu Doratrava?”

"Sie ist meine Freundin." Merle zwang sich, Friedewald direkt in die Augen zu schauen und ihre Hände ruhig zu halten. "Gestern Abend habe ich ihr versprochen, sie nicht im Stich zu lassen. Und das werde ich auch nicht."

“Das verlangt auch niemand von dir. Doch es gibt Dinge, die in der falschen Situation falsch ausgelegt werden könnten.” Friedewald schaute besorgt.

"Ich war gestern schon bei Doratrava, um ihre Wunden zu versorgen", beharrte Merle. "Da habe ich zu ihr gesagt, dass ich so bald wie möglich wieder nach ihr sehe." Mit bittendem Blick lehnte sie sich etwas näher zu ihrem Schwiegervater. "Während so viele schlimme Dinge passieren, wird eine gute, unschuldige Frau eingesperrt und angeklagt. Warum kannst du sie nicht einfach freilassen? Sie hat nichts Schlimmes getan!"

“Darüber entscheiden wir nachher. Darüber entscheide ich nachher.” Schuld und Unschuld sind manchmal Fragen, dachte Friedewald, die ineinander fließend übergehen. “Merle. noch einmal: Warum willst du jetzt zu ihr gehen?” Friedewald griff nach den Händen der jungen Frau und drückte diese. Ohne Merle antworten zu lassen, sprach er weiter. “Weißt du, mein Kind, manchmal, wenn man schlimme Dinge erlebt, wenn einem Dinge widerfahren oder angetan werden, die der Geist nicht begreifen und verarbeiten kann, dann lassen wir uns zu Taten hinreißen, die wir gar nicht wollen, die wir nicht tun würden, wenn die Zeiten normal” – was ist schon ‘normal’? – “wären. Manchmal empfinden wir dann Gefühle, die nicht unserem eigenen Innersten entstammen. Ich sage nicht, dass diese Gefühle schlecht sind und wir sie ignorieren sollten, doch müssen wir vorsichtig sein, wenn wir uns diesen Gefühlen zu voreilig hingeben. Wir könnten schnell erwachen und bereuen, was wir empfunden oder getan haben. Und dann ist der Schmerz oft umso größer. Für einen selbst, aber auch für diejenigen, denen wir nur Guten wollten.” Der alte, ergraute Mann machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. “Also, mein Kind, ich meine es nur gut mit dir. Warum möchtest du jetzt zu Doratrava?”

Skeptisch kniff Merle die Augen zusammen. Was wusste Friedewald oder glaubte er zu wissen? "Ich will zu Doratrava gehen, weil ihr etwas Schlimmes widerfahren ist. Sie wurde aus heiterem Himmel beschuldigt - von ihren eigenen Gefährten! - und ist jetzt ganz allein. Ich will für sie da sein, sie trösten und ihr Mut machen." In die Stimme der jungen Frau hatte sich so etwas wie Trotz geschlichen. "Und ich wüsste nicht, was daran zu bereuen wäre."

“Und es hat nicht auch etwas mit dem zu tun, was ihr zusammen gestern nach eurem Verschwinden erlebt habt?” hakte Friedewald nach.

Sichtlich genervt und durchaus etwas herausfordernd begegnete Merle seinem Blick. “Willst du einen ausführlichen Bericht, Vater? Oder worauf willst du hinaus?” Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. “Warum kannst du mich nicht einfach zu ihr lassen?”

Friedewald zog die Augenbrauen hoch und kräuselte die Stirn. “Was Doratrava jetzt braucht, wäre eine wahre Freundin. Jemand, die ihre Gefühle beruhigt und nicht weiter in, ähm Wallung bringt. Jemand, die ihr Halt gibt und nicht in einen weiteren Strudel zieht. Kannst du das sein? Kannst du das jetzt, in diesem Moment, in dieser Situation sein? Nach dem, was du erlebt hast, und dem, was du und Doratrava zusammen erlebt habt?”

Merle fühlte sich in die Enge getrieben und wollte Friedewald schon eine gepfefferte Antwort entgegenschleudern, hielt dann aber inne und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Sie machte sich ja selbst Sorgen, wohin das alles führte, dass Doratrava ihr Gefühle entgegenbrachte, die sie selbst vielleicht nicht erwidern konnte, dass sie ihre Freundin früher oder später verletzen würde. Nach einem langen Moment des Schweigens brachte sie mit sehr viel leiserer, rauer Stimme heraus: "Ich möchte ihr eine wahre Freundin sein. Es sind so schreckliche Dinge passiert... und Gwenn", sie schluckte mühsam, "...ich möchte Doratrava einfach in die Arme schließen und ihr Trost spenden und vielleicht selbst etwas Trost bekommen." Merles Augen waren feucht, doch hielt sie tapfer die Tränen zurück. "Das ist alles. Ist das so schlimm?"

“Nein, das ist nicht schlimm! Das ist sogar gut. Dann sei ihr eine Freundin. Eine wahre Freundin. Geh zu ihr und gib ihr Rückhalt. Aber denke an meine Worte!” Friedewald lächelte Merle verständnisvoll an. Er war großer Hoffnung, dass sie nichts falsches tun würde. Sie würde wahre Größe zeigen, wie es einer Weissenquellerin würdig war.

"Danke, Vater Friedewald. Hab tausendfach Dank!" Die junge Frau lächelte glücklich und drückte den Edlen in eine enge, herzliche Umarmung. Kurz sah es aus, als wollte sie noch etwas sagen oder erklären, doch schien sie es dann doch zurückzuhalten.

***

Wiedersehen macht Freu(n)de

Friedewald stand auf und ging in die Wachkammer, in der Nivard von Tannenfels unerwünschte Besucher von Doratrava fernhalten sollte. „Herr von Tannenfels, würdet Ihr meine Tochter bitte mit der Gauklerin sprechen lassen?“

Merle, die direkt nach Friedewald die Wachkammer betrat, blickte dem Krieger warm und freundlich ins Gesicht. "Danke dir, Nivard", sagte sie leise. Sie hoffe, dass der Tannenfelser in diesem ganzen Irrsinn irgendwann die Zeit und Ruhe bekäme, um seinen Bruder zu trauern. Doch vermutlich mussten sie alle erst einmal die Verhandlung um Doratrava überstehen, bis sie ein klein wenig durchatmen konnten.

"Natürlich." Gerne hätte er noch das eine oder andere Wort mehr mit Merle gesprochen, doch nicht unter den Augen und Ohren Friedewalds, und an dieser Stelle. "Dein Besuch wird ihr guttun", merkte er daher nur leise an, das warmherzige Lächeln Merles erwidernd. Wenigstens hoffte er, dass er Recht behielt. Und dass auch Merle etwas Halt und Trost in diesen haltlosen Tagen fand. Er war erstaunt, wie stark sie in diesem Moment wieder wirkte. Wie es wohl in ihrem Inneren aussah?

„Gut“, schloss Friedewald, „Ihr achtet darauf, dass…, ach, was rede ich, Ihr wisst wohl selbst gut genug, worauf Ihr zu achten habt.“ Dann wandte sich der Lützeltaler zum Gehen. „Ich habe nun aber eine Verhandlung vorzubereiten.“ So verließ er das Haus.

Doratrava war aufgesprungen, als sie Friedewalds Frage gehört hatte. Schnell war sie bei der Tür, trat dann aber wieder einen Schritt zurück. Warum sollte sie lauschen? Zumal die Tür sowieso nicht so dick war und man eh fast alles verstand, was draußen gesprochen wurde, solange niemand flüsterte. Gespannt wartete sie darauf, dass die Tür sich öffnete.

Nivard nickte bestätigend und öffnete dann für Merle die Tür. “Du weißt ja… ich bin hier. Wenn was sein sollte…” raunte er ihr noch zu, festen Willens, die beiden nicht zu belauschen, aber dennoch bereit, einzugreifen, sollte die Sache - warum auch immer - aus dem Ruder und in gefährliche Bahnen laufen.

Merle unterdrückte ein Augenrollen in Nivards Richtung. Er tat ja geradezu, als würde sie in die Kerkerzelle einer blutrünstigen Trollzacker Barbarin geführt. Sie wollte ihm gerade etwas beruhigendes antworten, da stürmte die Gauklerin schon auf sie zu.

Kaum war die Tür weit genug auf, dass Doratrava hindurchpasste, hatte sie Merle im Arm und drückte sie an sich wie eine Ertrinkende. Dass sie dazu einen Schritt aus der Zelle hinaus machte, war ihr egal. Sie war aber genug bei Verstand, Merle jetzt nicht zu küssen, so entfuhr ihr nur ein Schluchzer, als sie ihren Kopf in Merles Hals und Schulter vergrub.

Nivard räusperte sich vernehmlich. “Ich mach die Tür hinter Euch zu, dann könnt Ihr ganz ungestört miteinander sprechen, in Ordnung?” Er hoffte, nein, er vertraute darauf, dass er nicht nachdrücklicher werden musste. Er wollte die beiden Freundinnen nicht maßregeln, gerade nicht jetzt, in ihrer Wiedersehensfreude, doch waren die Anweisungen Friedewalds dennoch umzusetzen - nicht gegen Doratrava, sondern eigentlich und ganz besonders in deren ureigensten Interesse.

Merle entwich ein überraschtes leises Geräusch, als Doratrava sie so blitzartig an sich drückte, irgendwo zwischen einem Seufzen, Schluchzen und Lachen, sie schlang ihre Arme eng um die schlanke Tänzerin und streichelte ihr liebevoll übers Haar. Nivards Räuspern ließ sie jedoch den Kopf heben und ihn kurz verwirrt ansehen, dann verstand sie. "Ähm, wir sollen in die...", sie nickte Nivard verstehend zu und schob Doratrava sanft in die Zelle zurück. "Lass uns kurz hinsetzen, Liebes, ja?" flüsterte sie ihr leise ins Ohr.

Nivard warf noch einen kurzen Blick auf die beiden, dann schloss er die Tür und verriegelte diese, um sich in zwei Schritt Abstand vor diese zu stellen. So würde er nicht allzu laut gesprochene Worte nicht verstehen, aber mitbekommen, falls es drinnen heftig würde. Und dann wäre er schnell zur Stelle.

Kurz leistete Doratrava Widerstand, um Merle nicht loslassen zu müssen, aber dann gab sie nach und ließ sich wieder in die Zelle und auf die Liege bugsieren. Mit aller Gewalt musste sie dagegen ankämpfen, Merle nicht doch noch zu küssen, vor allem, nachdem Nivard die Tür geschlossen hatte. Als sie nebeneinander auf der Liege saßen, schlang sie aber zumindest ihren Arm um Merles Taille und legte ihren Kopf auf deren Schulter. Sie konnte nicht anders als zu weinen, vor Freude, vor Erleichterung und einfach, weil endlich jemand da war, bei dem sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen konnte, und brachte zunächst kein Wort heraus.

Merle drückte Doratrava fest an sich und ließ sie erst einmal einige Momente lang schluchzen, auch wenn es ihr das Herz zusammenzog, ihre Freundin so aufgelöst zu erleben. “Ist ja gut, meine Süße, ist ja gut”, murmelte sie beschwichtigend in Doratravas weiches, weißes Haar. Seltsamerweise fiel es ihr leichter, selbst die Tränen zurückzuhalten, wenn sie für andere stark sein musste, auch wenn sie selbst nicht wusste, wie lange sie noch durchhalten würde. Dennoch schob sie schließlich, ohne die enge Umarmung zu lösen, mit der Hand sanft Doratravas Kinn nach oben, um der Halbelfe eindringlich in die Augen zu schauen. "Geht es dir einigermaßen gut?" fragte sie leise wispernd nach.

Es dauerte noch ein wenig, bis Doratrava sich wieder so weit gefasst hatte, dass sie antworten konnte. "Wie ich deinem Vater schon sagte", flüsterte sie mit gebrochener Stimme zurück, "so gut, wie sich ein Vogel in einem viel zu engen Käfig, der nicht mal genug Platz lässt, die Flügel auszustrecken, fühlen kann." Sie schniefte, wischte sich über das Gesicht und fuhr dann mit einem nassen Zeigefinger sanft über Merles Schläfe und Wange. "Aber jetzt, wo du da bist ... du bist der erste Sonnenstrahl in der Dunkelheit, die mich umfängt, seit man mich hier eingesperrt hat." Doratrava brachte ein wehmütiges Lächeln zustande. "Wenn ich auch fürchte, dass man die Sonne bald wieder aussperren wird aus dieser Zelle. - Sag ... du wolltest doch gestern noch kommen, was hat dich abgehalten?" Die Gauklerin legte ihre freie Hand an Merles Wange und streichelte diese sanft mit dem Daumen, um zu unterstreichen, dass die Frage nicht als Vorwurf gemeint war.

Merle lehnte sich mit der Wange Doratravas Hand entgegen, akzeptierte die Zärtlichkeit auf eine fast unbewusste, natürliche Weise, als würde ihr Körper klarer sprechen als es ihr dumpfer, verwirrter, überforderter Verstand vermochte. "Gestern…", murmelte die junge Frau und schien tatsächlich zu überlegen, was alles passiert war, seit sie Doratrava in der Zelle zurückgelassen hatte. In gewisser Weise schien der gestrige Abend unendlich lange her zu sein, auch wenn die Emotionen in ihr brodelten, als stünde sie noch immer im nächtlichen Wald und würde ihrem wegreitenden Ehemann hinterherblicken. "Gudekar wollte mit Meta in die Rabenmark fliehen. Zusammen mit Kalman, Rionn, Imelda und ein paar anderen bin ich ihm nachgegangen, um noch einmal mit ihm zu sprechen.” Sie fragte sich, ob sie das mit dem Zauber in ihrer Erzählung bewusst ausließ, weil sie sich schämte oder vor Doratravas Reaktion fürchtete. Wie verzweifelt und jämmerlich wirkte es, dem Mann, der sie magisch angegriffen hatte, auch noch hinterherzurennen? Wer würde so etwas verstehen? Nach einem kaum hörbaren, schmerzvollen Seufzen sprach sie mit leiser, tonloser Stimme weiter: “Dort im Wald wurden wir angegriffen, von Schergen des Pruchs. Es war ziemlich… schlimm. Imelda und Hesindiard wurden schwer verletzt, aber Rionn konnte sie heilen. Und dann ist Gudekar wirklich gegangen.” Sie schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. “Er ist fort. Es ist vorbei. Endgültig.” Mit einem fast hilflosen Blick schaute sie Doratrava an, die sie noch immer eng an ihrem Oberkörper presste, als wollte sie sie nie wieder loslassen. Es war ihr sichtlich peinlich, so ein jämmerliches Häufchen Elend zu sein wegen diesem verdammten, treulosen, selbstgefälligen Scheißkerl, der jetzt schon das süße Leben mit seiner dummen, grobschlächtigen Ritterin genoss und seine Familie vergessen hatte. Wie um den Gedanken aus dem Kopf zu vertreiben, schüttelte sie langsam den Kopf. “Aber das ist jetzt nicht wichtig. Erstmal müssen wir dich Vögelchen aus diesem blöden Käfig rausholen, was?” Sie zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln und hauchte Doratrava aus dem Impuls heraus einen zarten Kuss auf die Wange. “Wie ich gehört habe, ist Eoban schon abgereist. Vater Friedewald muss also nur noch das formelle Verfahren durchziehen, aber er ist klug und vernünftig. Dieses ganze Missverständnis wird sich in Windeseile aufklären, du wirst schon sehen.”

Während Merles kurzem Bericht waren alle möglichen Emotionen über Doratravas Gesicht gelaufen, die ihre Geliebte so fest hielt wie diese sie: Bestürzung, Wut, Mitgefühl, auch etwas wie Erleichterung und Unsicherheit. Merle hatte es nun hoffentlich endgültig geschafft, ihren eigenen Käfig, dessen Gitterstäbe unsichtbar, aber nicht weniger massiv gewesen waren als die Wände ihrer Zelle, zu verlassen. An der Schwelle der offenen Gittertür war sie gestern ja schon mehrfach gestanden, nur, um jedes Mal wieder freiwillig umzukehren. Das war nun hoffentlich vorbei, und ihre eigenen Hoffnungen wurden davon beflügelt, aber so ganz wollte sie sich diesen noch nicht hingeben. Auch wenn Eoban fort war, war sie sich nicht sicher, ob die Verhandlung nur eine Formalität sein würde. Sie musste nur an Rondrard von Storchenflugs Auftritt denken, damit ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. Nicht, weil sie Angst vor dem Mann persönlich hatte, aber sie wusste nicht, wie viel Gewicht sein Wort bei den anderen Adligen haben würde. Und ob es sonst noch jemanden gab, der gegen sie aussagen würde. Oder einfach gedankenlos war wie Rahjel, der von Besessenheit sprach.

"Ich weiß, dass Gudekar weg wollte", antwortete Doratrava schließlich. "Er war bei mir, also draußen am Fenster, und hat mir angeboten, mich zu befreien. Aber ich wollte das nicht, eine Flucht hätte mich in den Augen aller erst recht schuldig erscheinen lassen." Sie legte eine nachdenkliche Pause ein. "Aber das mit den Pruch-Schergen ist schlimm. Er muss diesen Ort hier immer noch beobachten. Was er allerdings mit diesem Angriff erreichen wollte, ist mir schleierhaft. Offenbar war er ja nicht gut geplant, wenn ihr alle - zum Glück! - durchgekommen seid." Erst jetzt schob sich der Gedanke in den Vordergrund, dass gerade Merle, die keinerlei Kampferfahrung hatte, in der Nacht hätte sterben können. "Aber ihr wart auch leichtsinnig", schalt sie Merle daher mit plötzlicher Intensität. "Wenn dir etwas passiert wäre ..." Doratrava brach ab, neuerlich wallten Tränen in ihren Augen auf, und sie schoss die Vorsicht in den Wind. Ihre Lippen trafen Merles in einem verzweifelten Kuss.

Merle erwiderte den Kuss, ohne zu zögern oder davor zurückzuschrecken. Als ihre Lippen, ihre Münder, ihre Zungen sich trafen, spürte sie eine ungebremste, heiße Lavawelle roher, ungefilterter Gefühle durch sich hindurchströmen; ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen, doch wusste sie selbst nicht genau, ob es der Verlust Gudekars war, die tiefe, reine Zuneigung Doratravas, sicherlich ein Gefühl von Liebe, doch gemischt mit so viel Schmerz, Trauer und unerfüllter Sehnsucht, dass sie nicht sagen konnte, was sie da eigentlich fühlte. Was sie jedoch wusste war, dass sie diesen Kuss jetzt dringender brauchte als die Luft zum Atmen - die Berührung von Doratravas süßen, weichen Lippen, die körperliche Nähe, die Verbindung ihrer Seelen - auch wenn es vielleicht am Ende alles noch schlimmer und schmerzhafter machte. Um die Selbstbeherrschung nicht völlig zu verlieren, beendete sie widerstrebend den Kuss, rückte mit dem Kopf ein bisschen von Doratravas Gesicht ab und blickte ihr liebevoll in die Augen. Spontan setzte sie noch ein schnelles, kurzes Küsschen hinterher, dann atmete sie tief durch. “Es ist alles Ordnung. Mir geht’s gut”, tat sie die Besorgnis ihrer Freundin fast schon leichtfertig ab. “Aber Gwenn…” Sie senkte mit gequälter Miene den Blick. “Hast du das mit Gwenn mitbekommen?”

Gern hätte Doratrava diesen Kuss bis in alle Ewigkeit fortgeführt. Sie hatte sehr wohl gespürt, wie Merle darauf reagiert hatte und war umso enttäuschter, dass sie es beendete, auch wenn ihr Verstand ihr mit Vernunft kommen wollte, das dumme Ding. Während sie noch überlegte, wie sie ihrem Verstand am besten den Hals umdrehen konnte, kam Merles Frage einer kalten Dusche gleich. Doratrava blinzelte. "Was? Habt ihr sie gefunden?" Um die Entführung an sich konnte es nicht gehen, das hatte ja ihnen beiden schon der halbtote Scherge am See unter die Nase gerieben.

"Nein, nicht gefunden..." Merle war kreidebleich geworden, ihre Stimme ein kaum hörbares Flüstern. "Aber ihre... Hand wurde heute früh hergeschickt..." Die junge Frau musste mehrmals ein- und ausatmen, um weitersprechen zu können, um die Worte förmlich aus ihrer zugeschnürten Kehle zu pressen. "Sie sollte wohl einen Brief schreiben... um Gudekar und die anderen Ermittler aufzufordern, mit der Jagd auf Pruch aufzuhören. Und als sie nicht tat, was er wollte, sondern schrieb, dass sie weitermachen sollen... da hat er ihr die Hand abgehackt. Einfach so!" Nachdem Merle die Tränen mühsam zurückgehalten hatte, brachen sie nun schwallartig aus ihr heraus und sie drückte sich heftig schluchzend in Doratravas Umarmung. "Oh Doratrava, sie muss so schrecklich leiden!"

Entsetzen wallte in Doratrava auf, als sie das hörte, und sie musste gleich an die Kiste von heute Morgen denken. Entsetzen, das in Wut umschlug, Wut, hier gefangen zu sein und nichts tun zu können, Wut, dass die Leute hier so viel Zeit mit ihr zubrachten, statt sich um die wichtigen Dinge zu kümmern. Kurzzeitig tanzten Sterne vor ihren Augen, und sie spürte es wieder, die unheimliche Kraft ganz tief unten, die sich wieder regte, Versprechungen von Macht und Rache wispernd, so kam es Doratrava zumindest vor, bevor sie kurz die Augen schloss und in einer bewussten Anstrengung die Schleuse in ihrem Inneren wieder fest versiegelte. Nun nahm sie wahr, dass es jetzt Merle war, die sie fast erdrückte, deren heiße Tränen ihr geliehenes Kleid durchtränkten. Sie hielt Merle ganz fest, während sie ihr beruhigend den Rücken streichelte und tröstende Worte flüsterte, obwohl sie doch selbst so dringend Trost brauchte. "Weine, Merle, lass es raus. Was geschehen ist, können wir nicht ändern, aber ich bin da und werde dich beschützen, so gut ich kann - wenn ich hier raus bin." Sie verzichtete auf Phrasen wie 'Alles wird gut' oder 'Das wird niemals wieder passieren'. Sie liebte Merle zu sehr, um sie anzulügen. Sie verzichtete auch darauf, Merle zu versprechen, Gwenns Peiniger zu jagen bis ans Ende seiner Tage, denn allein würde ihr das nicht gelingen, und nach den Geschehnissen hier konnte sie sich nicht vorstellen, nochmals mit den anderen Ermittlern zusammenzuarbeiten. Schon Eoban würde dafür sorgen, dass das nicht passierte, auch wenn sie die Verhandlung überstand. So blieb ihr nichts, als jetzt Merle kurzfristigen Trost zu spenden und sie weiter sanft zu streicheln, bis sie sich wieder beruhigte.

Während Merle ihre Tränen fließen ließ und unter immer neuen Schluchzern erzitterte, konnte Doratravas Nähe zwar nicht den Schmerz in ihrem Inneren lindern, der sich wie ein dunkles, kaltes Loch in ihrem Brustkorb anfühlte, doch ließen die warme, liebevolle Umarmung und das gleichmäßige Streicheln ihres Rückens sie nach und nach wieder etwas ruhiger werden. “Wenn ich nur mit dem Brief aus Flusswacht gleich zu ihr gegangen wäre”, murmelte sie mehr zu sich selbst. “Wenn ich sie von dieser dummen Brautentführung abgehalten hätte… Bei den Göttern, wie es ihr jetzt wohl geht… was sie für Schmerzen erleiden muss! Sie muss sich völlig verlassen fühlen, in der Gewalt dieses Wahnsinnigen!” Merle hob den Blick und starrte Doratrava voller Verzweiflung aus geröteten, tränennassen Augen an. “Und niemand hier tut etwas, um sie zu finden und zu retten, um sie da rauszuholen, stattdessen sperren sie dich ein und planen ein völlig überflüssiges, wahnwitziges Tribunal!” Der gehetzt wirkende Blick Merles ließ erkennen, dass das ohnmächtige Gefühl, in einer Zelle mit vergitterten Fenstern festzusitzen und nichts tun zu können, auch an ihr zu nagen begann. “Sie klagen dich an, während Gwenn in irgendeinem dunklen Kerker verblutet! Warum sieht denn niemand, wie falsch das alles ist?!” Ihre aufgebrachte, schluchzende Stimme war so laut geworden, dass auch Nivard draußen vor der Tür sie hören mochte.

Merle sprach Doratrava aus der Seele, das waren schon mehrfach ihre eigenen Gedanken gewesen, und sie mochte nicht ausschließen, dass auch da der Pruch seine Hand im Spiel hatte. Andererseits ... es waren so viele Geweihte anwesend, sollten die es nicht bemerken, wenn sie alle hier beeinflusst wurden? Aber wahrscheinlich mussten sie dazu irgendeine Liturgie sprechen, so wie die Seelenprüfung, und das dauerte vermutlich recht lange und setzte auch einen konkreten Verdacht voraus. Dass Witta beschlossen hatte, alle Ermittler sollten sich nach Eintreffen der Geweihten aus Albenhus einer Seelenprüfung unterziehen, war möglicherweise angebracht, kam aber wohl zu spät, falls wirklich jemand unter dem Bann des Pruchs stand. Und Eoban, den sie am stärksten im Verdacht hatte, war einfach abgereist und hatte sich dieser Seelenprüfung somit entzogen. Wie übrigens auch Gudekar ...

"Du hast ja recht, Merle", stimmte Doratrava zu, ohne mit dem Streicheln aufzuhören. "Das habe ich auch schon mehrfach vorgebracht, aber niemand hört auf mich. Alle hören nur auf Eoban, selbst jetzt, wo er nicht mehr da ist." Den letzten Satz hatte sie nun auch mit erhobener Stimme gesprochen, damit Nivard ihn draußen hörte. Nivard war ihr Freund, sie war sich sicher, dass er sie durchaus ernst nahm, aber gegen Eoban hatte er sich trotzdem nicht gestellt. Genauso wenig wie Liana, von der sie auch mehr erwartet hätte. Auch Gedanken, die ihr schon mehrfach durch den Kopf gegangen waren. Dass Nivard sich nicht durchsetzen konnte als einfacher Krieger, konnte sie noch verstehen. Aber Liana als Baronin hätte Eoban doch sicher überstimmen können. Auf der anderen Seite war die Elfe eher eine leise, zurückhaltende Person, ihr lag ein offener Konflikt zugunsten einer einfachen Gauklerin vermutlich nicht. Vielleicht war sie auch schon so lange Baronin, dass Hierarchien und adlige "Ordnung" ihr mittlerweile vertrauter waren als Mitgefühl um des Mitgefühls Willen. Aber vielleicht tat sie ihr auch nur Unrecht. Wenn sie ehrlich zu sich war, kannte sie Liana eigentlich kaum, was auch umgekehrt gelten dürfte.

Weil Merle so verzweifelt war, überlegte sie ernsthaft einen Moment lang, ob sie nicht ihre neu entdeckten Kräfte einsetzen könnte, um Gwenn zu finden. Aber schnell verwarf sie den Gedanken wieder, denn sie fühlte sich Thu nicht gewachsen und wollte sich dieser erst recht nicht ausliefern. Sie hatte zwar eine ganz vage Vermutung, dass sie mit Thu vielleicht verhandeln könnte, war sich aber sehr sicher, dass damit ein Preis einherging, den sie nicht zu zahlen bereit war. Auch nicht, um Gwenn zu retten. Wenn diese überhaupt noch lebte. Sie presste die Lippen zusammen bei diesen Gedanken, blieb aber stumm.

Verzweifelt legte Merle ihren Kopf an Doratravas Schulter und blies frustriert die Luft aus. Auch wenn ihre Tränen für den Augenblick versiegt waren, fühlte sie sich, als würde nur ein winziger Auslöser, ein einziger Gedanke ausreichen, um sie sofort wieder zum Weinen zu bringen. Sie fühlte sich so beklommen, neben sich stehend, verloren wie nie zuvor in ihrem Leben, doch konnte sie sich nicht länger ihrer Trauer und Verzweiflung ergeben. Sie musste stark sein. Für Lulu, für Gwenn… auch und gerade für Doratrava. “Lass’ uns eins nach dem anderen angehen, ja?” erklärte sie plötzlich, um sich selbst aus der Lethargie zu reißen. “Erst einmal müssen wir diese Verhandlung überstehen und dich hier rausholen.” Sie fasste ihre Freundin an den Oberarmen und rieb diese in einer bemüht aufmunternden Geste, dann probierte sie wieder ein schmales, trauriges Lächeln, während sie gedankenverloren mit Doratravas Haar spielte. “Gibt es etwas, das ich nachher, wenn ich befragt werde, unbedingt sagen sollte?” Ihre Stimme war wieder zu einem leisen Flüstern geworden, damit Nivard nicht mithören konnte. “Oder auf gar keinen Fall?”

Doratrava genoss jede Berührung ihrer Geliebten, und es freute sie, dass sie sich ein wenig fasste und nach vorne sah. Verzweiflung war möglicherweise manchmal unvermeidbar, brachte einen aber nirgendwo hin. "Was hast du denn schon erzählt? Hat dich schon jemand so richtig befragt?", wollte die Gauklerin dann wissen, wobei sie genauso flüsterte wie Merle. "Denn tatsächlich wäre ich mit manchen Auskünften vorsichtig, aber wir sollten uns nicht in Widersprüche verwickeln." Doratrava machte eine kurze Pause und zog die Brauen zusammen. "Überhaupt ... hatten wir ja noch gar keine Zeit, selbst über das zu sprechen, was ... da drüben ... passiert ist", fügte sie dann hinzu. "Wie du das empfunden hast ... was genau du erlebt hast?" Unsicher, aber auch forschend, sah sie Merle in die Augen, während sie mit den Händen über ihre Seiten streichelte.

“Wie ich was empfunden habe?” fragte Merle in einer Anwandlung von Keckheit. Herausfordernd grinste sie Doratrava ins Gesicht. "Ja, das war recht… nett", kommentierte sie trocken und zwinkerte der Tänzerin neckisch zu, dann presste sie ihr einen raschen Kuss auf die Lippen. Doch ebenso schnell wurde sie wieder erst. “Nein, richtig befragt wurde ich nicht. Am See habe ich nur kurz mit Kalman geredet, du weißt schon, als Rahjel damit angefangen hatte, du wärst gefährlich. Und als wir zurück ins Dorf kamen, da wollte Eoban überhaupt nicht hören, was ich zu sagen habe. Am ausführlichsten hab ich vielleicht sogar mit Gudekar darüber gesprochen”, ihre Miene verdüsterte sich merklich und sie atmete tief durch, “aber das ist ja nun egal.” Merle schien sich sichtlich zusammenzunehmen, straffte sich und ordnete kurz ihre Gedanken. “Eoban war ja davon überzeugt, dass du die Leute beeinflussen kannst, dass du sie zum Frevel gegen Travia verführst und so. Zumindest hat er meinen, ähm… Ausbruch im Gutshaus so gedeutet - aber Gudekars jahrelange Untreue war aus Sicht des hohen Herren im Vergleich anscheinend nicht so schlimm!” Wütend stieß sie die Luft durch die Nase und bemühte sich, wieder leiser zu werden und Doratrava leise ins Ohr zu wispern: “Jedenfalls denke ich, dass wir, wenn es darum geht, wie wir, ähm… zurückgekommen sind, sehr betonen sollten, dass Rahjel dabei und involviert war. Der Rahjadienst in einem Tempel oder mit einem Rahjageweihten ist schließlich auch kein Frevel.” Sie legte nachdenklich den Kopf schief und sah Doratrava mit einem fast verträumten Lächeln in die Augen. “Tatsächlich bin ich fest überzeugt, dass es das Wirken der Liebholden selbst war, das uns vor diesem… Wesen dort gerettet und zurück nach Hause gebracht hat. Ich glaube, die Göttin hat uns beschützt. Oder was denkst du?”

Merle hatte Doratravas Frage offenbar falsch verstanden ... oder nur halb richtig verstanden, aber umso mehr freute sie sich über den Kuss und ihre Reaktion, so dass sie sich sicher sein konnte, dass der Liebesakt nicht nur der Not entsprungen war ... oder vielmehr, dass er schon der Not entsprungen, aber dennoch auch von Herzen gekommen war. Das zauberte auch auf ihre Lippen ein kurzes, wahrhaftig glückliches Lächeln trotz aller Umstände. Aber eigentlich hatte sie gemeint, wie Merle das mit Thu empfunden hatte, und das war sicher keine schöne Erfahrung für sie gewesen. Aber Doratrava entschied sich, das jetzt nicht weiterzuverfolgen, vermutlich brauchten sie später einmal Zeit und Ruhe, um sich darüber richtig auszutauschen - wenn es ein 'später' gab. Und damit es ein 'später' gab, durften sie sich jetzt keine Fehler erlauben.

Doratrava fuhr zärtlich die Linie von Merles Hals nach, dann antwortete sie: "Rahja ist eine der wenigen Göttinnen, oder auch Götter, von denen ich mich gern retten lasse, und gern auch öfter." Ein verschmitzter Ausdruck trat in ihr Gesicht, das ebenso tränennass wie das von Merle war, aber auch sie wurde schnell wieder ernst. "Ja, Rahjel ... als man mich fragte, was passiert sei, habe ich bereits eine kurze Zusammenfassung gegeben, und vorhin, da hat mich die Frau Lucilla von Galebfurten befragt, die wollte alles ganz genau wissen, da sie Rechtsgelehrte ist und angeboten hat, meine Verteidigung zu übernehmen. Auch ihr habe ich von dem, was 'drüben' passiert ist, nur eine knappe Zusammenfassung gegeben. Aber ich habe jedes Mal Rahjels Mitwirkung betont, da sind wir beide uns schon mal einig. Bloß dass Rahjel davon faselt, ich wäre besessen und gefährlich, das ist nicht hilfreich. Ich hoffe, er hält sich damit bei der eigentlichen Verhandlung zurück, und es bringt auch niemand anderes dieses Thema auf. Vielleicht kannst du ja nochmal auf ihn einwirken. Leider hat er das auch vorhin wiederholt, er kam dazu, als die Frau von Galebfurten mich befragt hat. Er hat dann wohl gemerkt, dass das nicht gut war, aber da ist die Rechtsgelehrte schon misstrauisch gewesen. Ich weiß nicht, was sie daraus machen wird. Hoffentlich nichts."

Die Gauklerin hielt inne und schaute sorgenvoll. Ihre Finger entwickelten ein Eigenleben und streichelten weiter Merles Arme, ihre Hände, ihre Beine, wie von selbst. "Wahrscheinlich können wir von Glück sagen, dass Eoban nicht mehr hier ist. Er war ja vernünftigen Argumenten überhaupt nicht zugänglich, wie du ja selbst bemerkt hast. Aber wie auch immer, wenn ich nochmal berichten muss, was 'drüben' passiert ist, werde ich bei der Kurzfassung bleiben: da war ein Wesen, es nannte sich 'Thu' und wollte, dass wir uns gegenseitig wehtun, weil es offenbar von negativen Emotionen lebt. Wir konnten uns aus seinem Griff nur befreien und zurückkehren, weil wir es mit Rahjels Hilfe geschafft haben, in uns gegenseitig positive Gefühle zu erzeugen. Mehr werde ich von mir aus nicht sagen. Wenn sie aber nachbohren, wie wir das mit den positiven Gefühlen gemacht haben, werde ich sie nicht anlügen. Ich werde dann etwas sagen wie dass wir uns unter Rahjels Schirmherrschaft gemeinsam Rahjas Ekstase hingegeben haben."

Ihre eigenen Worte brachten Doratrava den Liebesakt wieder umso lebhafter in Erinnerung, unwillkürlich reagierten ihr Geist und ihr Körper. Sie fasste Merles Gesicht mit beiden Händen und zog es sanft zu sich heran, dann gab sie ihr einen weiteren, leidenschaftlichen Kuss.

Mit einem genießerischen Seufzen krallte sich Merle mit der Hand in Doratravas Haarschopf fest und zog diese enger an sich heran. Die Küsse der schönen Tänzerin lösten ein heißes, aufregendes Kribbeln in ihr aus, das sich durch ihren ganzen Körper zog und sie innerlich zum Glühen brachte, wie dunkler, schwerer Wein, der ihre Sorgen und Ängste zumindest für den Moment betäubte. Ja, sie könnte süchtig nach diesem Gefühl werden, nach Doratravas Zärtlichkeit und Leidenschaft, dachte sie fiebrig, überrascht von der plötzlichen, sie fast überwältigenden Erkenntnis, nach so langer Zeit wieder begehrt zu werden, gewollt zu sein, nicht länger den bohrenden Gedanken im Hinterkopf zu haben, im Vergleich zu anderen Frauen nicht interessant, gebildet, selbstsicher, adlig, jung oder schlank genug zu sein, um noch anziehend zu wirken. Sie merkte erst jetzt, wie tief sich die Überzeugung, nicht auszureichen, nicht gut genug zu sein, schon in ihre Seele eingefressen hatte und wie fast schmerzhaft erlösend Doratravas Küsse ihr Herz von den harten Verkrustungen befreiten, die sich dort festgesetzt hatten. Um nicht völlig das klare Denken aufzugeben, löste sie sich wieder ein Stückchen von ihrer Freundin, strich sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. “Ach, ich begreife wirklich nicht, wie Rahjel darauf kommt, du könntest ‘besessen’ sein. Dieses Thu-Ding lebte eindeutig in der Nebelwelt, sofern man von ‘leben’ sprechen kann”, mit einem unbehaglichen Gefühl, als sie an das Monster dachte, zog sie die Brauen zusammen, “schließlich wollte es uns doch unbedingt dort festhalten. Die Wunden an deinem Bein waren ja wohl der Beweis dafür…” Gedankenverloren streichelte Merle über Doratravas Unterschenkel, wo dank Gudekars Heilzauber keine Spuren oder Narben der Verletzung zurückgeblieben waren. “Wie kann Rahjel nur denken, du wärst gefährlich? Und das auch noch überall rumerzählen?!” Erbost schüttelte sie den Kopf. “Eigentlich verstehe ich den Mann ohnehin nicht. Mit welch arroganter Selbstverständlichkeit er Gudekar einen Rahjabund gewährt hat, auf einem Traviafest, buchstäblich vor den Augen der betrogenen Ehefrau!” Während Merle sich mehr und mehr in Rage redete, ballten sich ihre Hände unbewusst zu Fäusten, bei denen die Knöchel weiß hervortraten. “Als ob so ein Eidbruch einen zwölfgöttlichen Geweihten überhaupt nicht kratzen müsste! Ist ja alles im Interesse von Liebe, Freiheit und Harmonie!” Sichtlich genervt versuchte sie, wieder ruhiger zu atmen und an die aktuellen Probleme zu denken. “Ach, ich weiß wirklich nicht, ob ich die Richtige bin, mit ihm zu reden. Wahrscheinlich regt mich sein scheinheiliges Gefasel so auf, dass ich ihm eigenhändig eine runterhaue. Und dann können sie mich auch einsperren, wegen Angriff auf einen Geweihten.” Sie lachte bitter auf, nickte Doratrava sogleich aber wieder ernsthaft zu. “Auf jeden Fall müssen wir bei der Verhandlung vorsichtig sein, was Rahjel angeht. Und diese Dame von Galebfurten - meinst du, dass sie dir wirklich helfen will? Gwenn sagte gestern”, sie schluckte, als ihr bewusst wurde, wie sehr alles sich seit gestern Vormittag verändert hatte, wie viel in so kurzer Zeit zerstört worden war, “dass sie aus dem Haus des Barons von Tälerort stammt. Also des Mannes, der Gudekar und Meta eine Anstellung versprochen hat. Ich finde, das macht sie nicht besonders vertrauenswürdig.” Die junge Frau hob ratlos die Schultern. “Vielleicht solltest du dich doch lieber von Tsalinde verteidigen lassen?”

Wieder hatte Doratrava gespürt, wie Merle auf ihre Küsse reagiert hatte, und das hatte ihre Leidenschaft nur noch mehr angefacht, so dass sie kurz stöhnend aufseufzte, als Merle sich wieder zurückzog. "Ich weiß auch nicht, wie Rahjel zu seiner Einschätzung kommt", sagte sie dann, nachdem sie ihrer Lust mühsam Zügel angelegt hatte. "Aber wie gesagt, er hat es nunmal schon herumerzählt. Allerdings kann ich verstehen, wenn du nicht mit ihm sprechen willst. Ich kann auch nicht nachvollziehen, warum er das mit Gudekar und Meta ausgerechnet hier bei der Hochzeit und vor deiner Nase machen musste. Aber auch das fällt unter 'passiert ist passiert' und lässt sich nun nicht mehr ändern und wir müssen irgendwie das Beste daraus machen." Die Gauklerin seufzte tief. "Und die Frau von Galebfurten ... ich weiß nicht genau, was ich von ihr halten soll. Sie gibt sich einerseits freundlich, lässt aber andererseits keinen Zweifel daran, dass ich nichts von ihr zu erwarten habe, sollte ich in ihren Augen wirklich gegen Recht und Gesetz verstoßen haben. Ich kenne mich mit so Zeugs halt auch nicht gut aus und weiß nicht, was für Fallstricke es da geben könnte. Ich fürchte, ein falsches Wort von mir - oder auch von Rahjel - könnte mich in des Namenlosen Küche bringen, und davor habe ich schon Angst." Sie sah Merle niedergeschlagen an. "Natürlich würde ich mich gerne von Tsalinde verteidigen lassen, aber ich habe mich jetzt nicht getraut, das Angebot der Frau von Galebfurten abzulehnen. Wer weiß, wie sie mir das ausgelegt hätte, und ich weiß ja nicht, wie viel ihr Wort als Rechtsgelehrte bei der Verhandlung zählt." Doratrava seufzte erneut, noch tiefer als vorher. "Ach Merle, wenn ich sicher wäre, nicht wieder an so einem schrecklichen Ort herauszukommen, würde ich dich jetzt am liebsten umarmen und uns ganz weit fort wünschen, wo wir all das hinter uns lassen könnten. So muss ich es wohl bei der Umarmung belassen." Sie zog Merle wieder eng an sich heran, und je mehr sie vom Körper ihrer Geliebten spürte, desto größer wurde auch ihr Verlangen nach dem nächsten Kuss ... und mehr. Aber Merle hatte sich nun schon zweimal - vielleicht vernünftigerweise, aber was sie mit der 'Vernunft' machen wollte, hatte sie ja vorher schon überlegt - nach einem Kuss wieder zurückgezogen. Daher sah sie ihr nun lediglich in die Augen, voller Verlangen und Zärtlichkeit zwar, aber dennoch mühsam abwartend.

Merle schaute Doratrava skeptisch an; ihre Miene wirkte sichtlich unglücklich. 'Passiert ist passiert’, dachte sie mit einem stechenden Schmerz im Herzen, ‘das Beste daraus machen’... Wenn es so einfach wäre! Offenbar verstand Doratrava weder ihren Ärger über den Rahjabund noch ihre Wut auf Gudekar und Meta, in die sich trotz allem die brennende Sehnsucht mischte, er würde durch ein Wunder seinen Fehler erkennen und doch noch zu ihr zurückkehren. Sie verstand es ja selbst nicht, verstand sich nicht - wie der Wunsch, Gudekar mit aller Macht ins Gesicht zu schlagen und ihn leiden zu lassen genauso stark sein konnte wie der, ihn in ihre Arme zu schließen, auf die Stirn zu küssen und ihm liebevoll ins Ohr zu flüstern, dass alles wieder gut wird. Mühsam verdrängte sie diese törichten, kreisenden Gedanken, über die sie nicht sprechen konnte, jedenfalls nicht mit Doratrava, die ihr aus ziemlich offensichtlichem Eigeninteresse dabei helfen wollte, Gudekar so schnell wie möglich zu vergessen. Sie nahm es der Tänzerin nicht übel und wahrscheinlich wäre es sogar besser, sich vollends auf den liebevollen Trost ihrer Freundin einzulassen und die Besessenheit von Gudekar aufzugeben, doch war er nun einmal seit zehn Götterläufen der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens, ihr Ehemann vor der Gütigen Mutter. Sie hatte geschworen, zu ihm zu halten bis ans Ende ihrer Tage - wie sollte sie ihn jetzt so einfach loslassen? Verstand wirklich niemand, wie hart es war, jemanden gehen zu lassen, mit dem man eigentlich für immer zusammengehörte? Unbewusst, tief in Gedanken versunken, rückte Merle ein Stück von Doratrava ab und schlug traurig die Lider nieder. “Es wäre schön, wenn du uns zum Meer zaubern könntest”, murmelte sie nach einem langen Moment des Schweigen unvermittelt, mit leiser, zaghafter Stimme. “Da war ich noch nie. Obwohl ich mir immer vorgestellt hatte, wie schön es wäre, einmal Havena zu sehen und im Meer der Sieben Winde zu schwimmen.”

Da, Merle tat es schon wieder. Statt Doratrava von sich aus zu küssen, rückte sie von ihr ab und versetzte ihr einen neuerlichen Stich. Sie verstand ihre Geliebte einfach nicht. Hatte sie nicht selbst gesagt, es sei nun alles vorbei mit Gudekar? Was hielt sie dann noch zurück? Warum hielt sie sich noch zurück? Einmal mehr hasste sie die Traviageweihten, die mit ihren Predigten den Menschen Fesseln anlegten, stark genug, um sich damit zu erdrosseln, selbst wenn sie den Schlüssel zu der Fessel in der Hand hielten. Statt sich zu befreien, quälte sich Merle lieber, machte sich Selbstvorwürfe, klammerte sich an Vergangenes und würde früher oder später daran zerbrechen. Es war schwierig für Doratrava, darüber nachzudenken und das mit anzusehen, aber jedes Angebot, das sie machte, wurde von Merle ausgeschlagen. Jeder Kuss wurde geduldet zwar, genossen sogar, erwidert immerhin, blieb aber unverbindlich. Fast hatte Doratrava das Gefühl, dass Merle nach jeden Kuss tiefer in das Loch rutschte, das andere zwar für sie gegraben hatten, doch Merle hatte ihnen dann die Schaufel aus der Hand gerissen und arbeitete nun selbst am eifrigsten daran, es weiter zu vertiefen.

Und nun dieser Wunsch ... Traum ... Wunschtraum, ans Meer gezaubert zu werden ... meinte Merle das denn ernst? Oder war es nur ein anderer Ausdruck ihrer Verzweiflung, sich Unerreichbares zu wünschen, wie die Liebe Gudekars? Plötzlich wallte Trotz in Doratrava auf, gepaart mit Zorn. Bei allem Schrecklichen, was ihr hier widerfuhr, gönnte das Schicksal ihr nicht einmal das kleine Glück, wenigstens Merle aus ihrem selbst gewählten oder zumindest bereitwillig willkommen geheißenen Martyrium zu retten und ein paar schöne Tage mit ihr zu verbringen - oder auch mehr, wenn sie beide das wollten. Nun, Merle wollte es offenbar gerade nicht. Doratrava presste kurz die Lippen aufeinander. Ihre noch immer violetten Augen flammten auf und wurden doch gleichzeitig dunkler, während sie Merle intensiv anschaute. "Für dich würde ich es noch einmal versuchen", bot sie an, wobei ihre Stimme brüchig und harsch zugleich klang. "Ich bin jetzt vorbereitet. Und entschlossen, wenn das der einzige Weg ist, dir zu zeigen, wie viel mir an dir liegt."

In Merles Blick stand vor allem Verwirrung. Kurz hatte sie geglaubt, mit Doratrava eine Freundin gefunden zu haben, die sie wirklich verstand, mit der sie das tiefste Innere ihrer Seele teilen konnte, ohne viele Worte machen zu müssen. Doch der harsche Tonfall der Tänzerin und die seltsame Dunkelheit in ihren Augen machten ihr bewusst, dass auch zwischen ihnen letztendlich eine unsichtbare, aber unüberwindliche Mauer stand. Wenn sie ehrlich mit sich war, gab es im Grunde niemanden auf dem Dererund, der wirklich nachvollziehen konnte, was in ihr, Merle, gerade vorging. Als würde sie frösteln, schlang die junge Frau die Arme um ihren Oberkörper, erfasst von einem plötzlichen Gefühl von Einsamkeit und Trauer. Sie schaute Doratrava mit leicht zusammengekniffenen Augen an, fast forschend, als würde sie irgendetwas suchen, von dem sie selbst nicht wusste, was es war. “Ich will nicht, dass du mir beweist, was dir an mir liegt. Das musst du nicht”, widersprach sie mit tonloser Stimme, in der ein Anflug von Verzweiflung lag. ‘Was ich mir wünsche, ist verstanden zu werden’, setzte sie in Gedanken hinzu, ohne es auszusprechen, selbst nicht begreifend, warum sie sich derart verloren, distanziert und bedrückt fühlte, obwohl Doratrava doch so wundervoll war. Mit einem langsamen Kopfschütteln versuchte sie, die Fassung zurückzugewinnen. “Du hast selbst gesagt, eine Flucht würde dich erst recht schuldig erscheinen lassen. Wenn du jetzt aus dieser Zelle verschwindest, dann bist du eine Gesuchte und wirst nie wieder irgendwo auftreten können."

Einen Hauch sanfter, aber immer noch mit stählerner Entschlossenheit, erwiderte Doratrava: "Das ist es, was ich meine. Selbst das würde ich in Kauf nehmen, wenn es dich glücklicher macht. Oder wenn es dir irgendwie hilft, mit dir ins Reine zu kommen."

Sie verstummte, nahm einen zitternden Atemzug und schloss kurz die Augen, und als sie sie wieder öffnete, war der dunkle Anflug verschwunden, ihr Ausdruck hatte nun eher wieder etwas Hilfloses. Sie fasste Merle bei den Schultern, sanft, und ihre Stimme klang nun wieder warm und besorgt. "Oder sag mir einfach, was ich tun kann, um dir zu helfen? Was ich tun kann, damit es dir besser geht? Ich würde auch versuchen, mit dir zum Madamal zu teleportieren, wenn ich dir deinen Seelenschmerz damit nehmen könnte!"

Doratravas sanfte Worte schienen bei Merle eher das Gegenteil zu bewirken. “Ich weiß es doch auch nicht! Ich weiß nicht, was du tun kannst!” entgegnete die junge Frau mit sichtlich verzweifelter Miene. “Du sollst nicht alles für mich aufgeben. Das ist dumm! Das ist Wahnsinn! Es setzt mich einfach nur unter Druck!” Sie wand sich aus Doratravas Griff an ihren Schultern und sprang auf, um fahrig in dem kleinen Zellenraum herumzulaufen. “Ich habe das Gefühl, du erwartest viel zu viel von mir. Stört es dich, dass ich um Gudekar trauere? Nervt es dich, dass ich Angst um Gwenn habe? Aber ich trauere nun einmal! Es geht mir nun einmal gerade nicht besonders gut! Tut mir leid, ich kann's nicht ändern! Kannst du das nicht einfach akzeptieren? Mir wurde das Herz gebrochen! Wie soll ich mich denn bitteschön fühlen?!” Merle blieb stehen, als ihr bewusst wurde, wie laut sie geworden war und dass Nivard immer noch draußen vor der Tür stand und ihre Worte vermutlich hören konnte. “Es tut mir leid”, seufzte sie sehr viel leiser und schaute Doratrava verlegen an. “Ich bin hergekommen, um dich zu trösten, um dir zu helfen. Aber vielleicht bin ich darin gerade auch nicht besonders gut.”

Wie vor den Kopf gestoßen starrte Doratrava Merle nach ihrem Ausbruch an. Erst wusste sie gar nicht, was sie sagen sollte, aber sie zwang sich, über Merles Worte nachzudenken und eine Antwort zu formulieren. Auch wenn sie sich fühlte, als hätte sie gerade eine Ohrfeige von dem einzigen Menschen erhalten, dem sie hier wirklich vertraute ... nun ja, von Nivard abgesehen vielleicht. Und Tsalinde. Dennoch ... "Ich ... will dich nicht unter Druck setzen, ich will dir helfen!", brach es aus Doratrava heraus. "Auch wenn ich gerade nicht wirklich in einer tollen Lage bin, um das zu tun. Aber du lässt dir nicht helfen! Du stößt mich weg! Was hast du denn davon, im Selbstmitleid zu versinken? Dich kaputt zu machen? Du bist zu wertvoll dafür! Ich kann das einfach nicht mit ansehen!" Doratravas Stimme war nun auch nicht mehr leise, sie wurde mitgerissen von ihren Emotionen, wie so oft. "Du sagst, ich erwarte zu viel von dir. Ist es zu viel erwartet, wenn ich hoffe, dass du nach vorne siehst? Dass du Gudekar hinter dir lässt? Dass du wieder Freude am Leben empfindest? Ja, ich habe mich in dich verliebt, und ja, gerade jetzt will ich es sein, die dir diese Freude vermittelt, die mit dir zusammen Freude erlebt, so wie gestern in der Globule, aber das war nur ein Anfang! Ich will ... ich wünschte mir, mehr für dich zu sein als nur diejenige, die deine körperlichen Bedürfnisse befriedigt. Ich ..." Doratrava warf die Hände in die Luft, und ein Geräusch zwischen Seufzen und Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, auch ihre Augen wurden wieder feucht. "Ich weiß doch auch nicht, ob das in einer Woche noch so sein wird, oder in einem Monat oder einem Jahr. Ich fühle jetzt so und hoffe, dass das auch für dich etwas Gutes ist. Weil ich jetzt so fühle, möchte ich dir nicht wehtun, möchte dich zu nichts zwingen, was du nicht selbst willst. Aber du stehst dir selbst im Weg! Nein, es stört mich nicht, dass du um Gudekar trauerst, aber es stört mich, dass du dir von dieser Trauer dein Leben diktieren lässt! Und nein, natürlich stört es mich nicht, dass du Angst um Gwenn hast! Wie könnte ich? Aber es gibt nichts, was du tun kannst, um Gwenn zu helfen. Also ist auch das kein Grund, um deswegen in Verzweiflung zu versinken! Und mein Herz wurde auch schon gebrochen! Ich weiß nicht, ob sich das genauso anfühlt wie bei dir, hatte ich doch noch nie jemanden, der meine Liebe wirklich erwidert hat, alles ist immer nach höchstens wenigen Tagen in die Brüche gegangen!" Doratrava ballte die Fäuste und wandte sich ab, um die Wand anzustarren, während Tränen der Verzweiflung und Frustration über ihr Gesicht liefen. "Und ich bin dir dankbar dafür, dass du mich trösten willst, so dankbar ...", sprach sie mit erstickter Stimme gegen die Wand. "Aber ich will dich auch trösten ... und lieben ... und geliebt werden ... und hier raus!" Mit einem Aufschrei schlug sie mit der Faust gegen die Wand, dann brach sie schluchzend über der Liege zusammen.

Mit hilflosem Blick trat Merle zu Doratrava, kniete sich neben die Liege auf den Boden und legte vorsichtig ihre Hand auf den bebenden Rücken der Tänzerin, um diesen sanft zu streicheln. "Ach Liebes, es tut mir so leid”, flüsterte sie. “Du verdienst es, aus vollstem Herzen geliebt zu werden, du verdienst Freude, Glück und unendlich viel Liebe! Aber mein Herz ist in tausend Scherben zersprungen - und gerade für nicht allzuviel zu gebrauchen, fürchte ich. Und das mit uns… das geht mir alles zu schnell. Ich kann dir nicht so viel geben, wie du von mir willst, jedenfalls nicht sofort… Und es tut mir wirklich, wirklich leid, dass ich”, sie verzog qualvoll das Gesicht, “...dass ich nicht so bin, wie du mich brauchst oder willst. Ich kann im Moment nicht nach vorne sehen und lächeln und verliebt und lustig sein. Es geht nicht - und ja, es ist zuviel erwartet, wenn du mir sagst, dass ich meine schlechten Gefühle abstellen soll oder zumindest nach außen hin so tun, als ginge es mir gut - damit du dich besser fühlst. Ich kann doch nicht nach außen hin lächeln und vorgeben, es wäre alles in Ordnung mit mir, wenn es gar nicht so ist!” Auch wenn sie sich bemühte, weiterhin ruhig und beherrscht zu sprechen, zitterte ihre Stimme vor Emotionen. “Doratrava, ich bin einfach traurig. Traurig, überfordert, verzweifelt und erschöpft. Im Grunde versuche ich nur, das hier alles irgendwie durchzustehen, ohne völlig durchzudrehen. Und ich will mich nicht auch noch schuldig fühlen müssen, weil ich in diesem ganzen Mist für deinen Geschmack nicht fröhlich genug bin. Vielleicht vermagst du Schwermut und Kummer einfach so abzuschütteln, ich kann es nicht! Mein Mann ist erst letzte Nacht fortgegangen. Vor gerade einem Stundenglas hab ich erfahren, dass meiner Schwägerin die Hand abgeschlagen wurde! Und du möchtest, dass ich mich zwinge, das alles von jetzt auf gleich zu vergessen, mal eben wieder Glück und Freude zu spüren und optimistisch in die Zukunft zu blicken? Wirklich?” Merle, nun doch wieder merklich aufgewühlt, zog die Hand von Doratravas Rücken weg und drehte sich um, so dass sie mit dem Rücken zu der Pritsche auf dem Boden saß. “Ich will einfach nur in Ruhe trauern, ist das zuviel verlangt? Warum können wir es denn nicht erstmal nur ‘Freundschaft’ nennen und schauen, wohin es uns führt? Aber wenn du es nicht mit ansehen kannst, wie ich gerade bin, wenn du nicht die Geduld hast, mir Zeit zu geben… dann sollte ich jetzt vielleicht gehen.”

Dumpf nur bekam Doratrava Merles Worte mit, diese mussten sich durch einen dichten Schleier von Schmerz und Verzweiflung kämpfen, und auch danach brauchte es eine Weile, bis der Geist der Gauklerin sie auch nur ansatzweise verarbeiten konnte, während sie in die Liege hinein schluchzte. Es war auch nicht so, dass sie jedes Wort als solches mitbekam, eher war es verzerrtes Rauschen, aus dem sich nach und nach so etwas wie Sinn schälte - aber ein Sinn, der ihr nicht gefiel, den sie nicht hören wollte, den sie im ersten Augenblick nicht wahrhaben wollte. Wobei ihr in diesem Moment auch nicht klar war, ob sie Merle überhaupt richtig verstand oder ihre Worte sich mit ihrer eigenen Trauer und Wut zu etwas vermischten, was Merle so gar nicht meinte. Was aber bei Doratrava ankam, genügte, um das Etwas, das sie eben wieder in die tiefsten Tiefen ihres Unterbewusstseins verdrängt hatte schon wieder regte, wenn auch "nur" mit einem gehässigen, selbstzufriedenen Lachen und einem spielerisch-hinterhältigen Angebot: Ich habe es dir doch gleich gesagt, aber wenn du willst, dann kann ich dir helfen ... aber Doratrava wollte nicht, trotz allem, trotz der Tatsache, dass sie wohl nun auch Merle verlor, kaum dass sie sie lieben gelernt hatte.

Ja, Doratrava war emotional und ließ sich nur allzu leicht von ihren Gefühlen mitreißen, im Guten wie im Schlechten. Aber sie war auch eine Kämpferin, ließ ihre Verzweiflung sie nicht beherrschen. Sie war in der Lage, nach vorne zu schauen, und sah die Situation noch so aussichtslos aus. Daher kämpfte sie nun um ihre Beherrschung, kämpfte ihre Trauer und Wut nieder und fand sich mit den Gegebenheiten ab, auch wenn sie sich gerade so fühlte, als hätte man ein Messer in ihr Herz gestoßen und drehe dies nun mehrfach herum.

Dennoch dauerte es ein Weilchen, bis Doratrava wieder sprechen konnte. Wieder schniefte sie und wischte sich über das Gesicht, während sie sich aufsetzte und Merle ansah. "Ich habe gesagt, dass ich dich liebe und dir helfen will, wieder Freude zu empfinden", begann sie schließlich mit mal wieder völlig zerstörter Stimme. "Ich habe nicht gesagt, dass du sofort alles hinter dir lassen und jetzt, sofort, auf der Stelle fröhlich sein sollst. Aber offenbar hast du das so verstanden, das tut mir leid. Ja, es fällt mir schwer, mit anzusehen, wie du dich in meinen Augen kaputt machst, aber ich will nicht noch eine zusätzliche Bürde für dich sein. Ich werde versuchen, dir Zeit zu geben, wenn du das möchtest. Ich ... würde es vorziehen, wenn du bleibst, bis sie dich hier herausscheuchen, damit ich dich festhalten kann und du mich. Wir müssen auch nicht mehr reden. Aber nur, wenn du das auch selbst willst. Ich ... nein, genug davon." Doratrava schaute Merle fragend an, man sah, dass sie tief traurig war, aber wiederum entschlossen. Dass Merle je nach Ausgang der Verhandlung vielleicht gar keine Zeit bekommen würde, sich über ihr Verhältnis zu Doratrava klar zu werden, hatte sie gerade noch ergänzen wollen, aber das hätte diese möglicherweise wieder als Druck empfunden. Daher ließ sie es lieber.

Merle beruhigte sich, blieb aber für eine ganze Weile still sitzen, ohne etwas zu sagen. Schließlich schaute sie Doratrava lange und tief in die Augen. “Ich… es tut mir leid. Ich hab dich wohl wirklich falsch verstanden.” Ihre Worte klangen leise und zittrig, als würde sie der eigenen Stimme nicht ganz trauen. “Es ist nur, ich habe einfach Angst, dass du mich und meine Art am Ende vielleicht gar nicht leiden magst. Ich bin kompliziert… und manchmal schwermütig. Widersprüchlich. Oft bin ich einfach nur unsicher, schwach und ängstlich. Und ich befürchte halt”, sie zog zweifelnd die Stirn in Falten, “dass du etwas ganz anderes in mir sehen willst, als ich in Wirklichkeit bin…” Wieder glaubte sie die unsichtbare Barriere zwischen ihnen zu spüren, die verhinderte, dass sie einander wirklich verstanden. Sie sah die Traurigkeit und bittere Enttäuschung in Doratravas Gesicht, doch wusste sie nicht, wie sie diese lindern sollte. Sich ohne Zweifel, ohne Zögern, ohne Schuldgefühle auf diese neue Liebe einlassen, Hals über Kopf, ohne groß nachzudenken? Ja, so war sie früher gewesen, damals, als es mit Gudekar anfing, als sie sich blutjung, noch nicht einmal sechzehn Götterläufe alt, mit Haut und Haar in die Romanze mit dem schüchternen jungen Magus gestürzt hatte. Doch nun… nach allem, was passiert war, konnte sie einfach nicht mehr blind vertrauen, wie sie es damals vermocht hatte. War es schon ‘Wegstoßen’, wie Doratrava sagte, wenn sie inzwischen vorsichtig geworden war und mehr Zeit brauchte, ein gebranntes Kind, wie man sagte? Als Gudekar zu dieser Hochzeit in Schweinsfold aufgebrochen war, hatte er sie als sein Ein und Alles bezeichnet, ihr kurz vorher noch das Amulett des Muschelfürsten geschenkt, als Pfand seiner ewigen Liebe - aber offenbar hatte er eigentlich nach einer Frau gesucht, die ganz anders war als sie. Einer Frau wie Meta. Wie sollte sie noch auf das vertrauen, was die Menschen angeblich dachten oder fühlten? Woher sollte sie wissen, wie sie sein sollte, damit sie es wert war, geliebt zu werden? Sie bewunderte Doratrava, begehrte sie, doch war die nagende Stimme in ihrem Hinterkopf nicht zu überhören, die ihr einredete, dass die Tänzerin sie nicht mehr wollen würde, wenn sie wüsste, wie düster es wirklich in ihr aussah. Aber auch das war ein Gedanke, den sie weder mit ihrer Freundin noch mit sonst irgendwem teilen konnte. “Ich würde gerne hier bleiben, wenn ich darf…”, sagte sie schließlich matt, rappelte sich vom Boden auf, setzte sich auf die Liege neben Doratrava und legte zögerlich, ganz sachte, den Arm um sie.

Doratravas Herz machte einen winzigen Hüpfer, als Merle sich wieder neben sie setzte und sie ihren Arm um ihre Hüfte spürte. Vielleicht war ja noch nicht alles verloren. Sie erwiderte die Geste, mit der gleichen Vorsicht, die auch Merle an den Tag legte, dann, nach kurzem Zögern, legte sie einmal mehr ihren Kopf auf Merles Schulter. So verharrte sie einige Augenblicke und genoss einfach das Gefühl des Beisammenseins. Aber lange hielt sie das Schweigen dann doch nicht durch. "Dass du kompliziert und schwermütig und widersprüchlich bist, hast du mir jetzt schon sehr ausführlich bewiesen, glaube ich." Doratrava zog halb wehmütig, halb ironisch einen Mundwinkel nach oben, was Merle aber nicht sehen konnte, solange ihr Kopf auf deren Schulter lag. Aber auch ihre Stimme kündete von ihren Gefühlen. "Wenn du dich auf mich einlässt, müssen wir einfach sehen, wie das funktioniert. Ich kann dir nichts versprechen, da ich wie gesagt keine Erfahrung habe mit längeren Beziehungen. Aber ich für meinen Teil würde, muss es darauf ankommen lassen. Ich bin auch kompliziert, emotional und sprunghaft, ich lebe in den Tag hinein und mache mir wenig Gedanken über die Zukunft. Und möglicherweise habe ich mir ein paar Feinde gemacht, die mir irgendwann an den Kragen wollen, mal ganz abgesehen von der ganzen Scheiße hier. Aber ich habe mich nicht in die komplizierte, schwermütige, widersprüchliche Merle verliebt, sondern in die lebenslustige, liebe, hilfsbereite, zärtliche, mitfühlende Merle. Wenn ich die eine aber nicht ohne die andere haben kann, dann ist es halt so. Dann muss ich es darauf ankommen lassen, dass deine liebenswerten Eigenschaften deine 'komplizierten' überwiegen. Und dass es umgekehrt genauso ist. Aber eines kann ich dir auch nicht verschweigen, auch wenn dir das vielleicht sowieso schon klar ist: ich werde natürlich nicht mit dir zusammen in ein Haus ziehen und dort für immer bleiben. Ich bin ein Schmetterling, ein Zugvogel, ich muss die Welt bereisen und Neues sehen, immer wieder. Aber es würde mir unendlich viel geben, wenn ich einen Platz in deinem Herzen und deinem Haus habe, zu dem ich immer wieder zurückkehren kann. Und natürlich würde ich mich auch nicht verweigern, wenn du mit mir kommen würdest, vielleicht auch nur auf die ein oder andere Reise, du musst ja nicht gleich selbst zur Fahrenden werden." Nun lächelte die Gauklerin warm und fast schon verträumt, während ihre Hand schon wieder ein Eigenleben entwickelt hatte und Merle sanft über die Hüfte streichelte.

“Hmm”, seufzte Merle nachdenklich, während sie zart Doratravas Haarschopf streichelte, der an ihrer Schulter lehnte, “ich weiß noch nicht mal, ob ich in Zukunft ein Haus haben werde… und wo das sein wird… und auch wenn Vater Friedewald sagt, dass ich für ihn wie eine Tochter bin und hier bleiben kann, dann muss ich als Mitglied der Familie Weissenquell zumindest nach außen hin einen traviagefälligen Lebenswandel pflegen… genauso, wenn ich zurück ins Anconiterkloster nach Albenhus gehe… und auch wenn ich es über alles lieben würde, mit dir zu reisen und mehr vom Dererund zu sehen, und Tsalinde sagt, dass jede Reisegruppe jemanden braucht, der Kleidung flicken und Wunden nähen kann, so bezweifle ich, dass das mit einer noch nicht mal Zweijährigen funktioniert und Lulu braucht nun einmal ein stabiles, sicheres Zuhause…” Sie merkte, dass sie schon wieder in einen sorgenvollen Wortschwall verfiel, presste die Lippen aufeinander und atmete schwer ein und aus. “Ja, lass’ uns einfach sehen, wie es funktioniert…”, stimmte sie nach einem etwas zu langen Zögern einlenkend zu. “Vielleicht wird sich mit Hilfe der Götter ja alles fügen.” Tatsächlich war sie noch immer voller Zweifel und Ängste, wovon sie vielleicht am meisten die Frage belastete, ob sie Doratrava so sehr lieben konnte, wie diese sie. Und was wäre, wenn Gudekar zurückkäme. Doch war es falsch, diese unausgegorenen Gedanken bei Doratrava abzuladen, besonders während ihre Freundin noch immer in dieser verdammten Zelle festsaß. “Jetzt geht es erst einmal darum, dass du freigesprochen wirst und hier rauskommst, nicht wahr?”

"Zumindest wären alle Pläne, sofern sie uns beide enthalten, hinfällig, wenn ich hier nicht mehr am Stück herauskäme." Dortrava nahm ihren Kopf von Merles Schulter, damit sie ihre Geliebte anschauen konnte, und lächelte schwach. Dafür, dass sie Merle vor ein paar Dutzend Herzschlägen schon verloren für sie gewähnt hatte, sah es doch jetzt schon wieder ganz gut aus zwischen ihnen. Merle wollte es zumindest versuchen mit ihr, und mehr konnte sie nicht verlangen. "Solltest du kein Zuhause mehr haben, dann werde ich dir helfen, ein neues zu finden, wenn du nicht mit mir reisen willst. Ich kann das verstehen, das Leben auf der Straße ist nicht jedermanns und auch nicht jeder Frau Sache, obwohl du wegen Lulu eigentlich keine Sorgen haben müsstest. Die Fahrenden schaffen das schließlich auch, sich auf der Reise um ihre Kinder zu kümmern." Doratrava lächelte ein wenig mehr und genoss einmal mehr Merles Streicheleinheiten. Wie Merle mit ihr zusammen einen traviagefälligen Anschein würde wahren wollen, wusste sie nicht, aber das war ein Problem für später. Und was die Götter anging, die waren schön und gut, aber zunächst sollten sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, bevor sie sich auf fremde Hilfe, auch die der Götter, verließen. Auch etwas, das sie jetzt nicht laut aussprach.

Die Gauklerin wurde wieder ernst. "Ja, schauen wir, dass ich hier rauskomme, bevor wir weitere Pläne schmieden. Wobei wir uns einig sind, was unsere Geschichte angeht, oder? Und da ich fürchte, dass jetzt bald ein Rettungskommando für dich geschickt wird, um dich aus den Händen der bösen weißhaarigen Hexe zu befreien ..." Doratrava ließ ihre Worte verklingen und zog Merle dicht an sich heran, um ihr einen vorläufig letzten, dafür umso längeren und innigeren Kuss zu geben.

Nivard wurde zusehends unruhiger. Bereits mehrfach war er kurz davor gestanden, das ganze zu beenden, als von drinnen lautere und selbst durch die Tür hindurch deutlich aufgewühlt klingende Stimmen ertönten. Doch immer, wenn seine Hand sich Schloss und Riegel näherte, hatte sich die Lage drinnen offenbar wieder entspannt. Also hatte er sich immer wieder auf seinen diskreteren Posten zurückgezogen. Die Ausbrüche hatten aber ihr Gutes: durch sie wusste er, dass beide noch in dem Raum und nicht längst irgendwo ganz anders waren. Nun aber musste es langsam gut sein...

Er klopfte von außen laut an die Tür: "Merle, Doratrava? Seid ihr langsam soweit? Wie lange braucht ihr noch?"

Für einen Moment gelang es Merle, sich voll und ganz auf Doratravas leidenschaftlichen Kuss einzulassen, weder an die Vergangenheit zu denken noch an die Zukunft, sondern einfach die schöne, süße, aufregende Berührung ihrer Lippen und Zungen zu genießen. Es war, als würde sie gleichzeitig schweben und innerlich dahinschmelzen in diesem warmen, intensiven Gefühl, als könnte ein einziger Kuss all ihre Sorgen, Ängste und Zweifel viel wirkungsvoller zerstreuen als Worte es vermochten. Um so mehr fühlte sich Nivards lautes Klopfen an wie ein eiskalter Regenguss, der sie zusammenzucken ließ und schlagartig zurück in die Realität riss. “Ja, gleich, einen Moment noch!” rief sie durch die geschlossene Tür, selbst überrascht, wie klar und kontrolliert ihre Stimme klang. Fast automatisch und mit offenbar lange geübter Effizienz begann sie, lose Haarsträhnen wieder in ihre Frisur zu stecken, den Sitz der Haarnadeln zu kontrollieren, ihr Kleid gerade zu richten und glatt zu streichen, dann wandte sie sich noch einmal Doratrava zu und ergriff diese an den Schultern. “Liebes, es gibt überhaupt keinen klitzekleinen Zweifel daran, dass du hier rauskommst, und zwar nicht nur in einem Stück…”, Merle lächelte, für einen Moment fast keck und mädchenhaft wirkend, schlang ihr Arme um Doratravas Oberkörper und küsste sie noch einmal zärtlich und genießerisch auf den Mund, “sondern unschuldig und von allen Vorwürfen freigesprochen, wunderschön und triumphierend, wie es der berühmten, gefeierten Künstlerin gebührt, die du bist.” Zur Bestätigung setzte sie einen weiteren schnellen, aber innigen Kuss hinterher, dann wanderte Merles nun doch wieder nervöserer Blick zu der massiven Zellentür.

Wieder spürte Doratrava Merles Reaktion auf den Kuss, wie sie sich voll und ganz darauf einließ, ohne Vorbehalte, fast, als wolle sie alle vorigen Worte der Sorge und der Bedenken Lügen strafen. Doratrava war geneigt, im Meer von Merles Zuneigung zu versinken, doch da riss das Klopfen an der Tür sie aus ihrem süßen Taumel. Mit leicht glasigem Blick verfolgte sie, wie Merle sich wieder herrichtete, und bevor sie selbst einen klaren Gedanken fassen konnte, spürte sie schon wieder Merles unendlich zarten Lippen auf den ihren und hörte von Ferne ihre zuversichtlichen Worte. Sie brauchte noch ein paar Augenblicke, als Merle sie zu ihrem Bedauern endlich freigab, aber dann kehrte auch in ihre Stimme ein wenig Keckheit zurück: "Ich nehme das als Versprechen ... aber nun hinaus mit dir, bevor sie die Tür einschlagen!" Und flüsternd fügte sie noch hinzu: "Und obwohl mein ganzer Körper brennt vor Verlangen nach dir. Da hast du ja was Schönes angerichtet!" Aber sie zwinkerte dazu und schenkte Merle ein strahlendes Lächeln, das keinen Zweifel daran ließ, wie scherzhaft dieser 'Vorwurf' gemeint war - nicht aber die Aussage davor.

Auch Merle grinste Doratrava an, für den Augenblick gelöst und fast heiter wirkend. “Ich? Ich hab gar nichts angerichtet!” Mit gespielter Unschuldsmiene zuckte die junge Frau mit den Schultern, klopfte noch einmal größtenteils imaginären Schmutz von ihrem Kleid und nickte der Tänzerin zum Abschied knapp, aber ernsthaft zu. Um den Abschied nicht noch mehr in die Länge zu ziehen und damit schwerer zu machen, trat sie schnell zur Tür, klopfte ein paarmal daran und rief gut hörbar hinaus: “Nivard, hörst du? Du kannst mich jetzt rauslassen.”

Doratrava warf Merle lächelnd eine Kusshand nach, dann lehnte sie sich auf der Liege zurück an die Wand, so zufrieden und innerlich ruhig wie seit Tagen nicht mehr.

Beide hörten nun Nivard klirrend und scheppernd den Schlüssel rühren, dann öffnete sich die Tür.

"Alles in Ordnung mit Euch?"

Prüfend sah er die beiden Frauen an. Der Sitz der Haare, die Durchblutung der Wangen und auch das eine oder andere Geräusch vorhin bestätigten ihn in seiner Erwartung, dass die beiden sich nicht nur über die anstehende Gerichtsverhandlung besprochen hatten. Inzwischen verspürte er allerdings keinen Widerwillen mehr dagegen aufkeimen - nach allem, was Gudekar Merle angetan hatte, sollte sie wegen ihm ihr Glück in den Armen Doratravas finden - wenn sie selbst dies auch wollte, und Doratrava ihr nicht gleich wieder das Herz brach.

"Bald habt ihr hoffentlich... nein, ganz sicher Gelegenheit, Euch so lange und wo ihr wollt auszutauschen."

“Ja, alles in Ordnung”, murmelte Merle und blickte sichtlich verlegen nach unten. Sie wusste nicht, was der Krieger von ihrem Gespräch mitbekommen hatte und was er von dem wusste oder zu wissen glaubte, was zwischen ihr und Doratrava lief. Und obwohl sie sich nicht schuldig fühlte für die Zärtlichkeit, die sie der Tänzerin entgegenbrachte, war es ein komisches Gefühl, dem Mann gegenüberzustehen, der sich mit am leidenschaftlichsten dafür eingesetzt hatte, den Traviabund zwischen ihr und Gudekar noch irgendwie zu retten. Sie hoffte, Nivard würde nun nicht schlecht von ihr denken, enttäuscht von ihrer Treulosigkeit sein oder gar eine schamlose Frevlerin gegen die Gütige Mutter in ihr sehen. Sie zwang sich, nicht mehr nervös an ihrem Kleid herumzunesteln und Nivard stattdessen direkt in die Augen zu blicken. “Danke, Nivard”, sagte sie leise. “Für alles.”

"Das habe ich gerne gemacht, für Dich." erwiderte Nivard leise, mit einem Lächeln, in dem freundschaftliche Zuneigung ebenso wie eine müde Traurigkeit darüber schwangen, dass sein Wirken so richtig viel nicht für Merle erreicht hatte.

Doratrava bemühte sich, ihre plötzliche Hochstimmung, die eigentlich der Situation nicht angemessen war, nicht zu deutlich zu zeigen. SIe saß auf der Liege, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und hatte die Beine wieder angezogen. Sie bemerkte sehr wohl Merles Verlegenheit, aber Merle war eben Merle, so ganz langsam konnte sie ihre Geliebte ein wenig einschätzen. Sie lächelte selbstironisch bei diesen Gedanken und winkte dann Nivard kurz zu, als Merle an ihm vorbei war. "Alles gut und ich habe Merle nicht verhext", konnte sie sich dann aber nicht verkneifen zu bemerken, allerdings in einer Lautstärke, die hoffentlich nur Nivard und Merle hören konnten und nicht die Wachen weiter hinten im Vorraum. Dabei grinste sie schon wieder schelmisch. "Aber sie vielleicht mich?" Das Grinsen vertiefte sich.

Merle lief rot an, musste aber gleichzeitig ein bisschen verstohlen in sich hineinlächeln. Sie schaute Doratrava noch einmal für ein paar Wimpernschläge intensiv an, bevor sie eilig durch die schwere Zellentür hinausschlüpfte.

"Sei bloß still!" insistierte Nivard, allerdings mit einem Grinsen, und legte den Zeigefinger auf die Lippen. "Wer weiß, wer euch beide noch hört. Ich meinte gerade nicht, dass ihr Euch bald so lange, wie ihr wollt, austauschen könnt, weil ihr dann zusammen in Gewahrsam seid und auf den Prozess wartet. Eigentlich würde ich Euch viel lieber beide in Freiheit sehen."

“Da bin ich ja dankbar, dass du uns in Freiheit sehen willst!” kommentierte Merle, die im Wachraum nahe der Tür stehen geblieben war. Ihr Tonfall klang immer noch leicht, doch war die unterschwellige Sorge deutlich auszumachen. “Zum Glück ist Eoban nicht mehr anwesend. Ich versteh’ einfach nicht, weshalb er sich so auf Doratrava eingeschossen hatte.”

Gleichzeitig winkte Doratava nur müde, aber dennoch irgendwie beschwingt und erleichtert ab. Sie wollte etwas sagen, aber Merle war ihr zuvor gekommen. Die Erwähnung Eobans dämpfte ihr unangebrachtes Hochgefühl gleich wieder.

"Das, fürchte ich, ist eine längere Geschichte." seufzte Nivard. Die Erinnerungen an Schneidgrasweiler kamen ihm einerseits zwar vor, als stammten sie aus einer lange zurückliegenden Vergangenheit, andererseits waren sie dennoch noch jung und präsent. "Ich bin davon überzeugt, dass Eoban im Herzen ein durch und durch guter Mann ist. Aber er ist in vielerlei Hinsicht auch so etwas wie das gänzliche Gegenteil von Doratrava - außer darin, gute Menschen zu sein, versteht sich... Außerdem mag auch er in den letzten Monden mehr gesehen und ertragen haben, als einer Menschenseele guttut…"

Doratrava konnte sich ein ungläubiges Schnauben nicht verkneifen. “Guter Mensch? Von einem solchen würde ich doch mehr … Aufgeschlossenheit erwarten, wenn auch kein Verständnis. Oder er ist eben doch der anderen Seite verfallen …” Aber diesen Verdacht hatte sie ja nun schon mehr als einmal geäußert, ohne dass jemand dem nachgegangen wäre, während für ihre Gefangennahme ein Wort des Albenholzers genügt hatte. “Oder er ist einfach bescheuert …”, murmelte sie dann noch. “Bescheuert sein gereicht einem Adligen ja leider nicht zum Nachteil …”

Merle schüttelte zaghaft den Kopf und seufzte. "Ich hatte in Eoban auch stets einen guten und rechtschaffenen Ritter gesehen. Und ich war dankbar dafür, dass er Gudekar ein so treuer Freund und Gefährte war. Und so mehr hat es mich… überrascht”, sie verzog fast schmerzhaft das Gesicht, “dass er auf Doratrava, aber auch auf mich und Tsalinde so scharf losgegangen ist. Ich meine, ich weiß, dass ich im Gutshaus ziemlich ausgerastet bin; das, ähm… hätte nicht passieren dürfen”, sie senkte kurz sichtlich beschämt die Lider, “aber aus Eobans Sicht schienen die Dinge, die ich Gudekar in meiner Wut an den Kopf geworfen habe, tausendfach schlimmer zu sein als alles, was Gudekar getan hat! Und als ich versuchte, mich ihm zu erklären, da wollte er überhaupt nicht mehr mit mir sprechen.” Bedrückt schaute die junge Frau zwischen Doratrava und Nivard hin und her. “Wenn Eoban mir nur einmal richtig zugehört hätte, hätte ich ihn vielleicht von dieser törichten Anklage abbringen können…”

“Hat er aber nicht, genauso wenig wie mir, und jetzt ist er weg, was gut ist”, gab Doratrava mit einem Schulterzucken zurück.

"In Deiner Sache auf jeden Fall." stimmte Nivard zu. "Andererseits wäre es nicht verkehrt, wenn er geblieben wäre und sich - wie wir alle, die wir ins niederhöllische Antlitz Pruchs und seiner Werke geblickt haben - erst der Seelenprüfung gestellt hätte, um sich danach mit allen zu versöhnen. So stehen wir jetzt bis auf weiteres vor einem ziemlichen Scherbenhaufen - Gudekar weg, Eoban weg, soviel Leid und unsere Gemeinschaft ist am Zerfallen..."

Wieder zuckte Doratrava nur die Schultern. Der Pruch war jetzt nicht mehr ihr Problem, und Was-wäre-wenn-Spielchen lagen ihr nicht. Sie konnte nur hoffen, dass ihre ehemaligen Gefährten oder andere es irgendwann bald schafften, den Pruch zur Strecke zu bringen, ohne noch mehr persönliches Leid zu erfahren. Aber wie gesagt, das war nicht mehr ihr Problem. Ihr Problem war es nur noch, hier herauszukommen, auf eine Weise, dass sie jedem hier noch in die Augen blicken konnte und nicht nach Selem auswandern musste.

Merle seufzte erschöpft, als sie an die fruchtlosen Versuche dachte, Gudekar aufzuhalten und von einer Seelenprüfung zu überzeugen. Wie herzzerreißend verloren er sie zuletzt angesehen hatte, wie er ihr zitternd - als würde es ihm beinahe körperlich widerstreben - zugeflüstert hatte, er würde sie auch vermissen, ‘auf irgendeine Art’, was immer das bedeuten mochte… Ach, es tat so weh, ihn zu verlieren, es zog ihr das Herz zusammen, nein, schien ihren ganzen Brustkorb zu zerdrücken. Was dieses heftige Gefühl von Verlust und Sehnsucht noch schmerzhafter machte, war, dass sie sich damit so allein fühlte, dass es nicht wenige Leute, außer Doratrava auch Mika und Morgan, Rahjel und Rionn, anscheinend allesamt für die richtige Entscheidung hielten, ihren Ehemann in ungeklärter seelischer Verfassung mit seiner zwielichtigen Buhle von dannen ziehen zu lassen. Selbst Tsalinde war der Meinung, dass es besser für sie wäre, sich innerlich von Gudekar zu lösen und ihre Ehe verloren zu geben, sich nicht länger an falsche Hoffnungen zu klammern. Doch widersprach das allem, was Merle je über das Wesen des Traviabundes gelernt und geglaubt hatte. Im tiefsten Inneren war sie überzeugt davon, dass sie mit dem sinkenden Schiff untergehen musste - wenn auch noch so viele ihrer Freunde ihr das Gegenteil rieten. Nein, sie würde nicht aufgeben, dachte sie mit geballten Handflächen, sie würde niemals kapitulieren. Gudekar war ihr Mann und würde es immer sein, selbst wenn sie diese Gedanken und Gefühle mit sich allein ausmachen musste. Oh, wenn nur ihre Eltern hier wären! Sie sehnte sich fast schmerzhaft danach, ihnen endlich ihr Herz auszuschütten - und noch viel mehr, in Mutter Luidbirgs Umarmung Halt und Trost zu finden. Was wohl mit ihnen war? Travian hatte gar nicht gesagt, weshalb sie aufgehalten worden waren… Als sie merkte, wie ihre Gedanken immer mehr abschweiften, trat sie, nicht ohne Doratrava ein letztes, trauriges Lächeln zu schenken und leise “Bis gleich!” zuzuraunen, gänzlich aus der Tür heraus in den Wachraum und schaute dem Tannenfelser bittend in die Augen. "Nivard, hättest du einen Moment Zeit, noch ein paar Worte mit mir zu wechseln?"

Doratrava lächelte etwas schief zurück, wobei sie die eigene Trauer aus ihrem Blick herauszuhalten versuchte, und hob nochmals die Hand in einer Abschiedsgeste. Der Blick in Merles Gesicht ließ sie vermuten, welche Gedanken Merle schon wieder hegte, aber sie sagte nichts mehr, hätte sie dazu doch sowieso durch den ganzen Raum schreien müssen.

"Natürlich." Nivard lächelte Merle an. Für sie hätte er immer Zeit. Oder würde sie sich nehmen. "Einen Moment nur noch, bitte."

Er drehte sich zu Doratrava um. "Ich mache wieder zu. Hoffentlich das letzte Mal, bevor sich diese Türe endgültig für Dich öffnet." Er blickte die Freundin entschuldigend an. "Brauchst Du noch was? Fehlt es an irgendetwas?"

“Wenn es noch dauert, etwas zu trinken, aber sonst … bin ich nahezu wunschlos glücklich”, erwiderte Doratrava ironisch. Immerhin fühlte sie sich gut genug, um schon wieder ironisch zu sein. “Aber danke.”

"Ich kümmere mich darum, dass man Dir etwas zu trinken bringt - egal wie lange es noch dauert. Auch wenn das die Anzahl der Türöffnungen und -schließungen bis zur Freiheit erhöht." stellte Nivard in Aussicht. "Bis gleich."

Dann schloss Nivard die Tür und wandte sich Merle zu.

Doratrava hatte auch Nivard nochmals halbherzig zugewinkt und sich dann wieder zurückgelehnt - nur um dann, als die Tür zu war, aufzuspringen und einige Dehnungsübungen zu machen. Immerhin hatten die morgendlichen Gespräche dafür gesorgt, dass ihre Zuversicht, hier wieder herauszukommen, gestiegen war, da lohnte es sich dann auch wieder, sich um ihren Körper zu kümmern.

***

Merle setzte sich auf einen der Stühle, stützte ihre Ellenbogen auf den kleinen Wachtisch und bettete ihr Gesicht in die Handflächen. Sie fühlte sie erschöpft, weniger körperlich als vielmehr ausgelaugt im Inneren ihrer Seele. Ruhig wartete sie ab, bis der Tannenfelser die Zellentür wieder geschlossen hatte. "Ach Nivard", seufzte sie leise, "...ich wünschte, ich könnte Satinavs Rad zurückdrehen. Irgendwie verhindern, dass es soweit kommt. Dass all dieses Leid geschieht."

"Das habe ich mir in den letzten Jahren auch schon oft gewünscht, Merle, glaub mir. So oft!" Nivard setzte sich zu Merle. Er wirkte nicht minder müde als sie. "Was hätte ich all die Male, die wir wieder nicht eine der Gräueltaten vereiteln konnten… in denen der Paktierer uns nahe war, aber entwischt ist… was hätte ich darum gegeben, noch einmal genau diese Gelegenheit zu haben, aber besser vorbereitet zu sein, oder einfach nur mit dem Wissen des ersten Mals andere Entscheidungen zu treffen, die vielleicht zu einem besseren Ende geführt hätten.

Das Herz der Nordmarken wäre dann nie zerstört worden. All die Toten wären noch lebendig, auch mein Bruder. Gwenn wäre noch bei uns. Und wir würden heute glücklich Hochzeit feiern... nein, das stimmt nicht… ihr würdet heute glücklich Hochzeit feiern", korrigierte er sich. "Gudekar und ich hätten uns dann vermutlich nie kennengelernt... Dafür wäre er vielleicht noch Dein treuer Gemahl..." Er schnaubte leise aus. "Ja, wenn ich an Satinavs Rad gelangen könnte..." Dann schüttelte er den Kopf. "So oft kam mir schon derselbe Gedanke wie Dir. Auch gestern Nacht wieder. Bisher habe ich mir dann immer überlegt, was durch das Zurückdrehen der Zeit bis vor die Urkatastrophe außer all dem Bösen noch alles getilgt würde - ich selbst habe meine Frau kennengelernt, ein Kind bekommen und ein zweites bald, und es sind bei all dem Kämpfen und Leiden auch so viele gute Dinge entstanden und gewachsen, neue Freundschaften und mutige, gute Taten."

Nivard legte sachte seine Hand an Merles Oberarm. "Ich weiß, dass die Situation noch nie so finster aussah wie heute - besonders bei Dir, die Du jetzt erst in diesen Schlamassel geraten bist, aber mir geht es ganz genauso. Doch glaub mir: Wenn wir zusammenstehen, uns gegenseitig helfen, dann werden wir diese Tage gemeinsam durchstehen, und dann werden nicht nur bessere Tage kommen, sondern auch und besonders aus der Asche neue, gute Dinge entstehen. Auch wenn wir uns das jetzt überhaupt nicht vorstellen können."

Bei Nivards Worten schien der drückende Knoten in Merles Brustkorb sich gleichzeitig zu verhärten und ein Stück leichter zu werden. Sie griff nach seiner Hand, die warm auf ihrem Arm lag, um ihre eigene Handinnenfläche sanft darauf zu legen. Nach einigen Momenten des nachdenklichen Schweigens nickte sie und schaute ihn eindringlich mit feucht schimmernden Augen an. “Weißt du, ein Teil von mir glaubt immer noch, dass ich jeden Moment aufwachen könnte und wieder zurück im Kloster in Albenhus bin, Gudekar an meiner Seite; wir gehen unserem Tagwerk nach, versorgen die Patienten, leben unseren gewohnten, friedlichen Alltag, während die Götternamen kommen und gehen. Und alles, was jetzt ist, das ganze Leid, die ganzen Toten und unschuldigen Opfer - es wäre nur ein finsterer, bedrückender Alptraum gewesen, einer, den man schnell vergisst, sobald einem das warme morgendliche Praoislicht ins Gesicht scheint…” Sie seufzte traurig. “Mein Verstand weiß natürlich, dass es kein Traum ist. Die guten Zeiten von damals werden niemals zurückkommen, egal was ich tue. Ich wünschte, ich hätte damals zumindest richtig erkannt, wie glücklich wir eigentlich waren… Und ja”, sie rang sich ein melancholisches Lächeln ab, “...wären die vergangenen zwei Götterläufe ungeschehen, dann hätte ich auch meine Lulu nicht bekommen, und sie ist das Licht meines Lebens, mein Sonnenschein; ich werde alles, wirklich alles, auf mich nehmen, um meine Kleine zu beschützen und zu behüten…”, nun liefen wieder dicke Tränen über Merles blasse Wangen, “aber ich weiß nicht, wieviel Kraft ich noch habe… wie lange ich das noch durchhalte… und ich habe schreckliche Angst um Gwenn, sie muss so furchtbar leiden…” Die junge Frau brach ab, atmete ein paar Mal tief durch und senkte die Lider. “Ach, Nivard, entschuldige, dass ich dich jetzt auch noch mit meinen Tränen belaste… Eigentlich bin ich die ganze Zeit ununterbrochen nur am Weinen… und ich weiß ja, du hast eigene, viel schlimmere Sorgen und Nöte zu ertragen. Dein Bruder… es ist… ach, es tut mir so leid”, sie schluckte schwer und drückte vorsichtig seine Hand, “...unsagbar leid.”

Nivard schüttelte den Kopf und erwiderte den Händedruck. "Nicht doch." fing er in sanftem Tonfall an. "Du hast alles Recht zu weinen und zu klagen, mehr noch sogar als ich. Während ich mein Schicksal zu Teilen selbst gewählt habe, und damit..." Seine Stimme bebte kurz. Es war zu spüren, wie er kämpfte und sich schließlich hart zusammenriss, denn auf einmal klangen seine Worte sehr hart: "...den Tod meines Bruders auch ein Stück weit mitzuverantworten habe,..." Nivard atmete schwer aus, um wieder leiser und weicher fortzufahren, "wurde Dir Dein Los in jederlei Hinsicht aufgezwungen. Bis gestern schien Deine Welt zwar nicht unbeschwert, und die Vorahnung, dass mit Gudekar etwas nicht stimmte, lag vielleicht auch schon in der Luft, doch all die Schrecken hier sind ebenso völlig unvermittelt über Dich hereingebrochen wie Gudekars Verrat an Dir und den seinen...

Deswegen: mach Dir keine Sorgen darüber, dass Du mich oder irgendwen anders mit Deinem Schmerz und Deiner Trauer belasten könntest, Merle, Du hast alles Recht dazu.” Er sah Merle in die Augen und zwang sich zu einem Lächeln. “Und heißt es nicht, dass geteiltes Leid auch ein halbes Leid ist? Besser, wir tragen unser aller Leid gemeinsam als jeder ganz alleine und nur für sich das seine!"

“Ach, Nivard”, begann sie leise, “du hast den Tod deines Bruders nicht zu verantworten! Glaub das nicht! Auch nicht zu Teilen! Einzig und allein der Paktierer und die unheiligen Mächte, die er heraufbeschworen hat, sind dafür verantwortlich.” In ihrem Hinterkopf hallte die eigene bohrende Stimme wieder, die ihr selbst die Schuld an Gwenns Entführung gab, hatte sie doch den Brief aus Flusswacht als erste in den Händen gehalten und hätte ihre Schwägerin ohne Zögern warnen können, müssen. Doch tatsächlich schienen ihr Nivards offenkundige Schuldgefühle zu helfen, die eigenen in Relation zu setzen; war seine ehrlich und unverstellt nach außen getragene Trauer für sie ein wirksamerer Trost als Doratravas Versuche, sie vom Kern ihres Schmerzes abzulenken. Ja, sie hatte das Gefühl, dass sie direkt in diesen Schmerz hineingehen, ihn annehmen und durchleben musste, um daran nicht völlig zu zerbrechen. Mit einem erstickten Schluchzen rückte die junge Frau näher an den Krieger heran, um ihn fest zu umarmen und seinen Oberkörper an sich zu drücken. “Ich weiß nicht, ob geteiltes Leid nicht am Ende genauso weh tut”, murmelte sie, während sie ihre tränennasse Wange an seine Schulter legte, “aber ich bin sehr, sehr dankbar, dass ich dich kennengelernt habe, Nivard. Und dass du jetzt hier bist.”

Zunächst wirkte Nivard etwas überrumpelt von der Umarmung - sein Rückgrat war erst noch steif, doch schnell wich die Spannung aus ihm und er ließ sich in Merles Geste des gegenseitigen Trostes und der Freundschaft fallen. Er legte seine Arme um Merle und drückte diese ebenso an sich, wie sie sich an ihn. Es war geradezu zu spüren, dass er sich hier nicht nur Halt gebend empfand, sondern diesen vielmehr noch selbst in Merle fand. Zum ersten Mal seit gestern Abend, seit er seinen ersten Zusammenbruch dank Lianas und weiterer Freunde Zusprache, aber auch kraft seines Zorns und Hasses auf Pruch zu überwunden haben schien, wähnte er sich soweit in Sicherheit, dass er einen Moment lang sein wahres Empfinden zulassen, einfach nur schwach und traurig sein, zu seinen Selbstvorwürfen stehen durfte, und nicht nur als Fassade des Kriegers, der er war, nach außen weiter stark sein und weiter voran stürmen musste. Und er spürte, wie gut es ihm tat. Eine Träne rann ihm aus dem Auge, die Wange hinab.

"Wenn es etwas Gutes gibt, das ich von diesen Tagen mitnehmen werde, dann, Dich getroffen und zur Freundin gewonnen zu haben. Du bist einer der besten Menschen, die ich kenne." So verharrte er, dankbar in der Umarmung.

Merle presste Nivard eng an sich und strich sanft beschwichtigend über seinen Rücken, fand jedoch keine Worte, das Chaos in ihrem Inneren auszudrücken. Dass sie - die kleine, ungebildete Anconiterschwester - für diesen weltgewandten, tapferen Recken nicht nur ein naives, unbedeutendes Opfer war, das man bestenfalls bedauerte, sondern tatsächlich eine geschätzte und wertvolle Freundin, das ließ ihr Herz vor Zuneigung und Dankbarkeit überfließen. Ja, es tat gut, in dem Schmerz und Leid nicht allein zu sein. Nach einigen weiteren tiefen Atemzügen ging Merles Blick zu der geschlossenen Zellentür; es schien, als ob sie noch etwas sagen wollte, doch schloss sie den Mund wieder und presste die Lippen nachdenklich aufeinander.

Nivard war der Blick Merles in Richtung der Zellentür und die Veränderung in der Gestik nicht entgangen. "War etwas... da drin?" fragte er vorsichtig und mit leisem Tonfall nach. Er wollte sie auf keinen Fall bedrängen, sich äußern zu müssen, doch wäre er ihr ein offenes Ohr, wenn sie ihre Sorgen teilen wollte.

“Ach nein… eigentlich nicht.” Merle atmete noch einmal tief durch und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. “Doratrava, sie… Du kennst sie schon länger, oder?” Ihre Stimme war gesenkt, fast flüsternd, da sie nicht wollte, dass die Tänzerin das Gespräch durch die Zellentür mithören konnte. “Ich… ähm, ich habe das Gefühl, ich bin gerade dabei, sie zutiefst zu verletzen.” Mit zerknirschtem, sichtlich verlegenem Blick rückte sie ein Stück von ihm ab und schaute dem jungen Krieger in die klugen, graubraunen Augen. “Auch wenn ich sie erst kurze Zeit kenne, ist sie mir unendlich lieb und teuer. Ich mag sie wirklich sehr… Aber ich fürchte, dass ich ihr nicht das geben kann, was sie sich von mir wünscht. Oder sie dadurch verletze, dass ich mehr von ihr nehme, als ich sollte. Egal, was ich mache, ich tue ihr weh - und früher oder später breche ich ihr das Herz. Obwohl es das Letzte ist, was ich möchte!”

"Das weiß ich. Und es spricht so sehr für Dich, dass Du an Doratrava denkst, und nicht zuerst an Dich, selbst in dieser, Deiner Situation." Nivard dachte einen Moment nach. "Ich finde aber, dass Du genau das jetzt solltest. An Dich denken, meine ich. Auch wenn wir beide uns noch gar nicht so lange kennen, habe ich den Eindruck, das Gefühl, dass Du immer nur alles für Deine Lieben getan hast und tust. Für Lulu, für Gudekar, für Deine Zieheltern, für Deine Familie hier... Du handelst immer aus Liebe, gibst Dich selbst für die anderen. Auch für Doratrava. Doch denke dieses eine Mal zuerst an Dich. Wenn Du glaubst, dass Du Doratrava nicht geben kannst, was sie sich von Dir wünscht, obwohl Du selbst Dich aus tiefstem Herzen genau danach sehnst, es aber nur aus Deinem Pflicht- und Treuegefühl heraus nicht zulässt, dann sage ich Dir, die gütige Mutter möge es mir verzeihen, dass Du Deine Pflicht mehr als erfüllt hast, besonders Gudekar gegenüber, obwohl er es Dir nicht gedankt hat. Dann folge Deinem Herzen und..." er stockte, ehe er vorsichtig fortfuhr, "und wage Dein Glück mit ihr. Wenn Du aber spürst, dass die Wünsche Doratravas nicht Deinen eigenen innigsten Wünschen entsprechen, dann bitte ich Dich: folge auch dann Deinem Herzen. Ich weiß, dass Doratrava ein durch und durch emotionales Wesen ist, mit einem großen und guten Herz... aber wem erzähle ich das... und ich bin der Letzte, der sie leiden sehen will. Aber Du hast Recht: in diesem Fall wirst Du ihr früher oder später das Herz brechen. Lass es besser jetzt geschehen - dann ist es noch am wenigsten schlimm, für Doratrava und für Dich. Das wird sie auch verstehen... irgendwann."

Merle hörte Nivards Worten aufmerksam zu, dann schwieg sie für einige lange Augenblicke. “Es ist… kompliziert”, begann sie, sehr leise und zögerlich. “An mich denken, meinem Herzen folgen… Dazu müsste ich erst einmal wissen, was mein Herz überhaupt will. Ich meine, ich finde Doratrava wirklich sehr… anziehend… und vielleicht bin ich auch ein bisschen verliebt in sie…”, die junge Frau lächelte verträumt und errötete leicht, “also muss ich wohl zugeben, dass ich mir ihre Nähe von Herzen wünsche… Aber gleichzeitig ist es nicht nur so, dass die Gütige Mutter von mir erwartet, treu zu meinem Schwur und meinem Mann zu stehen - auch ich selbst kann Gudekar nicht einfach aufgeben. Weißt du, Nivard, mein Herz ist gespalten - ja, ich sehne mich nach Doratrava, aber gleichzeitig verzehrt sich mein Innerstes noch immer nach Gudekar. Selbst wenn mein Verstand mir sagen will, dass ich ihn längst verloren habe, dass er nie wieder zurückkommt. Alle sagen mir, dass ich loslassen, ihn vergessen soll… Aber er ist nun einmal mein Mann; unsere Seelen wurden von Travia verbunden! Wie soll ich ihn so einfach aus meinem Herzen reißen?” Intensiv und voll sichtbarer Verzweiflung blickte Merle in die Augen des Kriegers. “Wenn Gudekar jetzt kommen und mich zurückhaben wollte, dann würde ich natürlich wieder zu ihm gehen. Ganz ohne Zweifel. Er ist mein Ehemann, wir sind im Bund und werden es immer bleiben. Und das zu wissen, das muss für Doratrava ganz schrecklich sein! Sie wünscht sich, dass ich mich voll und ganz auf sie einlasse. Dass ich sie so liebe, wie sie mich liebt, wie sie es verdient… Es wäre doch einfach nicht richtig und vor allem Doratrava gegenüber grausam, mit ihr zusammen zu sein, wenn ich nicht mit ganzem Herzen dabei bin, oder? Aber vermutlich", ihr Mund verzog sich zu einem leicht schiefen, traurigen Lächeln, “wird sie sagen, dass ihr mein halbes Herz immer noch lieber ist als gar nichts davon.” Merle strich sich nervös eine Haarsträhne hinters Ohr und schüttelte den Kopf. "Ach, mir ist schon klar, dass du mir keine Lösung für mein ganzes Chaos anbieten kannst, niemand wird das können - aber ich bin dir wirklich so unsagbar dankbar, dass du dir das alles anhörst."

"Wenn ich mir ganz sicher wäre, dass Gudekar Dich aus gänzlich freiem Willen verlassen hat, noch dazu auf diese miese Weise, würde ich, auch wenn mir meine Elvrun und auch meine Schwester vielleicht widersprächen, sagen, dass Du den... verzeih mir den Ausdruck... Dreckskerl ein für alle Mal vergessen sollst - er hätte Dich nicht verdient. Dasselbe, wenn seine Seele zwar - verschuldet oder unverschuldet - in die Fänge des dämonischen Gebieters Pruchs geraten wäre und ich wirklich jegliche Hoffnung aufgegeben hätte, dass er doch noch von dieser Dunkelheit befreit werden könnte." Nivard schüttelte den Kopf. "Aber weil es noch immer nicht ganz ausgeschlossen ist, dass Gudekar selbst - aller Untreue zum Trotz - doch nur ein noch zu rettendes Opfer ist, zeugt es nur von der Liebe in Dir, von der Kraft Deines traviagesegneten Herzens, dass Du ihn nicht gänzlich aufgeben kannst. Es ist eine Tragödie, dass er gegangen ist, ohne sich der Seelenprüfung zu unterziehen, denn dann hätten wir alle, vor allem aber Du Gewissheit, könntest im schlimmsten Fall mit ihm abschließen und so wenigstens, bei allem Schmerz, Frieden und Freiheit finden." Nivard schwieg einen Augenblick, in dem er Merles Hände ergriff.

Er sah sie eindringlich an, als er weitersprach: "Ich habe Dir vorhin geraten, Deinem Herzen zu folgen, Merle. Und dabei bleibe ich. Vielleicht spricht die Gütige Mutter durch Dein Herz zu Dir und sagt Dir, dass es tatsächlich so ist: dass Gudekar am Ende doch noch Heilung erfahren, zur Vernunft und zu Dir zurückkommen kann. Wenn es aber so ist, dann ist es besser, Doratrava klar zu machen, dass Du sie zwar als Freundin in Dein Herz geschlossen hast, mehr aber nicht zwischen Euch sein kann."

Merle stieß einen frustrierten Seufzer aus. “Woher soll ich bloß wissen, was der richtige Weg ist? Ach, es fühlt sich alles so… falsch an!” Sie sprang auf und begann ruhelos in dem kleinen Zimmer auf- und abzugehen. “Wenn ich Doratrava abweise, dann breche ich ihr das Herz. Und wenn ich mich vollends auf sie einlasse, dann breche ich meinen Traviaschwur… Ich wünschte, es gäbe einen Weg, wie ich Doratrava lieben kann und gleichzeitig nicht selbst zur Frevlerin vor der Gütigen Mutter werde…” Sie blieb stehen und blickte Nivard eindringlich in die Augen. “Verzeih mir, wenn das in deinen Ohren ketzerisch klingt… aber meinst du, es gäbe - falls Gudekar jemals zurückkommt, theoretisch den Weg, einen Ehebund aufrechtzuerhalten, eine Familie zu sein, sich gegenseitig in Harmonie und Vertrauen zu unterstützen… während man rahjanische Freuden bei jemand anderem findet?” Unsicher, halb schon Widerspruch und Schelte ob dieser Gedanken erwartend, legte sie den Kopf schief und kaute auf ihrer Unterlippe. “Dann könnte Gudekar mit seiner Meta zusammen sein und ich mit Doratrava… Ich meine, den Traviabund können wir ja ohnehin nicht auflösen, egal wohin er flieht. Egal, was ich tue. Aber wenn wir es schaffen würden, unsere Ehe so zu führen, dass wir uns gegenseitig wieder mit Respekt und Freundlichkeit begegnen…” Merle schüttelte heftig den Kopf. “Nein, das wird diese Ritterin nicht zulassen. Sie will Gudekar ganz für sich allein. Sie will, dass er mich verlässt und seinen Traviabund auflöst, auch wenn das eigentlich nicht geht. Sie will mich loswerden. Und Doratrava…” Merle ließ sich zurück auf ihren Stuhl sinken; ihre Miene wirkte sichtlich bedrückt, “Doratrava kann ganz sicher nicht mit einer Frau zusammensein, die verzweifelt an einem Traviabund und einem Mann festhält, der vielleicht nicht mehr zu retten ist… Nein, das kann ich ihr einfach nicht zumuten. Damit tue ich ihr nur wieder und wieder weh.” Nachdem sie einmal tief ein- und wieder ausgeatmet hatte, fügte sie mit festerer Stimme hinzu: “Wahrscheinlich sollte ich wirklich erst einmal zurück nach Albenhus gehen, mit meinen Eltern reden, viel zu Travia beten. Mich in die Arbeit stürzen. Zu mir selbst finden.”

Nivard nickte verständnisvoll. "Das solltest Du wirklich. Erst einmal zur Ruhe kommen, wenn dieser Albtraum hier vorbei und durchstanden ist, alles setzen lassen. Kein Mensch könnte sich nach allem, was gestern und heute in nur so wenigen Stunden über uns alle und vor allen Dingen über Dich hereingebrochen ist, seiner Gedanken und Gefühle soweit gewahr sein, um vernünftig zu entscheiden, wie genau es weitergeht - ich selbst fühle mich sogar wie benommen, wie muss es Dir dann erst gehen?" Geradezu beschwörend sah er Merle nun an. "Gib Dir selbst die Zeit... sieh Dir Deine eigene Orientierungslosigkeit in diesem Chaos nach. Auch Doratrava muss Dir die Zeit geben. Ich glaube wirklich, dass das Gespräch mit Deinen Eltern und das Gebet zu Travia die besten Hilfen sein werden, Dir über Dich und Deine Zukunft klar zu werden."

"Du hast Recht", stimmte Merle dem jungen Krieger zu, während sie nachdenklich ins Leere starrte. "Es ist alles zu viel... und zu schnell auf einmal. Ich hab das Gefühl, mich selbst verloren zu haben. Und solange das so ist, kann ich Doratrava schlecht das geben, was sie sich wünscht. Was sie verdient hätte.” Geknickt ließ Merle den Kopf hängen und seufzte leise. “Nivard, wann willst du aus Lützeltal abreisen? Direkt nach der Verhandlung?” Sie schluckte schwer, als sie an seinen armen Bruder dachte, an den schrecklichen Anblick, als gestern Abend diese unselige Kiste geöffnet worden war. “Sicherlich wird es kein einfacher Gang, die schlimmen Nachrichten deiner Familie mitzuteilen… Aber es ist gut, wenn auch du erst einmal etwas Ruhe und Frieden daheim findest. Und dir Zeit zum Heilen nimmst.” Sanft legte sie ihm die Hand auf die Schulter; in ihrer flüsternden Stimme lag tiefe Anteilnahme und Zuneigung. “Deine Frau wird überglücklich sein, dich wohlbehalten zurückzuhaben."

"Das wird sie." Nivard lächelte, doch war seinen Augen anzusehen, dass neben der Sehnsucht nach seinen Lieben noch ein anderes, dunkleres Gefühl mitschwang: die Angst um sie. "Und ich werde erst wieder ruhig schlafen, wenn ich Elvrun und Raginhard unversehrt in die Arme geschlossen habe", gestand Nivard seine Sorge. Wenn der Erzfrevler ihn bereits mit dem Tod seines Bruders quälte, wie nahe lag es einem so kranken Geist dann erst, ihm über seine Frau und seine beiden Kinder, das jüngere noch ungeboren, Schmerzen zuzufügen. Nivard fürchtete so sehr, sie durch sein Handeln in die Schusslinie gebracht zu haben. "Ich werde daher abreisen, sobald sich hier alles auflöst, natürlich lieber heute als morgen. Aber erst will ich sicher sein, dass hier das Gröbste durchstanden ist." Zum einen wollte er, so sehr es ihn nach Hause lockte, den Gastgebern beistehen, falls der Albtraum hier vor Ort noch immer nicht ganz vorbei war. Zum anderen wollte er sich nicht die kleinste Chance entgehen lassen, Pruch doch noch hier zu begegnen und seinem Treiben ein für allemal ein Ende zu bereiten. Dann wäre auch seine Familie wieder sicher, und Rondrards Tod gesühnt.

Nach einer Pause fügte er hinzu: "Und ich will gewiss sein, dass Du und Lulu in Sicherheit seid. Dann habe ich wenigstens etwas Frieden. Aber heilen... heilen wird meine Wunde erst, wenn Pruch das Handwerk gelegt ist und er seine Strafe erhalten hat. Dann kann ich mir vielleicht auch selbst einreden, dass mein Handeln gerechtfertigt war, und ich nicht umsonst den Hass des Verderbten auf meinen Bruder und meine Familie gelenkt habe."

“Nivard, hör auf, dir selbst Schuld daran zu geben, was diese mörderische Bestie von Paktierer getan hat!” widersprach Merle mit leiser Stimme, in die sich dringliche Schärfe gemischt hatte. ”Natürlich war dein Handeln gerechtfertigt! Was wäre denn die Alternative? Nichts zu tun gegen den Feind? Du bist ein rechtschaffener, tapferer Streiter gegen das scheinbar übermächtige Böse… und ein Strahl der Hoffnung für uns, die wir in der Heimat nur bangen, beten und hoffen können. Ich bin dir und deinen Gefährten unsagbar dankbar, dass ihr euch, allen persönlichen Gefahren zum Trotz, diesem erbarmungslosen Kampf stellt.” Sie drückte noch einmal seine Schulter, bevor sie ihre Hand wieder an sich zog und die Arme um den eigenen Oberkörper schlang, als würde sie frieren. Für einige lange Augenblicke schwieg sie mit düsterer Miene, dann platzte bitter, fast aggressiv aus ihr heraus: “Aber ein wenig beneide ich dich auch.” Merle schüttelte sogleich den Kopf, als ihr bewusst wurde, wie das für Nivard in seiner Trauer klingen musste, und biss sich auf die Unterlippe, während sie nach besseren Worten suchte. “Ich meine, weil du kämpfen kannst. Du kannst da rausgehen, diesen verdammten Pruch aufspüren und ihm alles heimzahlen, was er uns angetan hat, du kannst nach Gwenn und den anderen Geiseln suchen und zumindest versuchen, sie zu retten, du kannst… etwas machen. Ich hab das Gefühl, einfach nur hilflos und ohnmächtig zu sein; dass ich bloß starr vor Schrecken abwarten kann, ob es gelingt, den Feind zu besiegen. Ob Gwenn jemals gefunden wird, tot oder lebendig. Und ob es dem Pruch irgendwann doch  gefällt, sich an mir und Lulu zu vergreifen…” Der letzte Satz war ganz schwach und düster aus ihrer belegten Kehle gekommen, sie schluckte und atmete tief ein. “Ach, Nivard, ich wünschte einfach, ich könnte irgendetwas tun! Irgendwas!”

~*~

Von den Göttern gesegnetes Mahl

Nach der gemeinsamen Besprechung mit seinen Schwestern und Brüdern im Glauben schickte Travian die Geweihten hinaus aus der Backstube, damit sie ausreichend Speisen und Getränke zusammentragen und alle Bewohner und Gäste zu einem gemeinsamen Mahl zusammenrufen ließen. Auch sollte ein jeder eine Segnung der Speisen oder Gemeinschaft im Sinne seines Gottes vorbereiten. Lediglich Rajalind und Mika bat der Traviageweihte, ihm beim zeremoniellen Backen des traviagesegneten Brotes zu helfen. Travian hatte extra einen kleinen Sack geweihtes Mehl aus Albenhus mitgebracht, damit Gwenn und Rhodan daraus und aus dem vorbereiteten Vorteig gemeinsam hätten das Hochzeitsbrot backen können. Doch dazu kam es ja bekanntlich nicht, so dass Travian entschied, dennoch ein gesegnetes Mahl für alle zu bereiten.

Arika indes suchte in der Zeit Kalman von Weissenquell auf, damit er sie zu all jenen Orten führen konnte, an denen das Wirken der Paktierer am Vortag besonders deutlich geworden war. So waren diese beiden zusammen mit den Pferden unterwegs.

***

Rionn war dem Rahjageweihten Rahjel gefolgt. Dieser hatte sehr entschlossen die Versammlung der Geweihten verlassen, um seinem Vorhaben, für Doratrava einzustehen und sie dem Rahjatempel in Eisenstein zu überstellen, nachhaltig Geltung zu verschaffen. Nun war der Tsageweihte neugierig und gespannt, was Rahjel nun tun würde. Rionn würde versuchen, ihn dabei zu unterstützen.

“Guter Rionn. Viele sind wir ja nicht. Aber das sollte reichen. Die ´jüngeren´ brauchen echt mal eine Belehrung in ihren Aufgaben. Hammer schwingen, Flammen schüren, Brot backen und Schwerter schwingen sollten nicht davon ablenken, dass wir Diener der Zwölfe auch eine Pflicht gegenüber Seele und Herz der Gläubigen haben.” Rahjel seufzte. “Ich werde mein Glück bei der Baroness Caltesa von Immergrün versuchen. Sie ist erfahren und ist seit Ewigkeiten für die Reichskanzley tätig. Und soweit ich weiß sehr götterfromm. Fällt dir noch jemand unter den Gästen ein, wo wir unser Glück versuchen könnten?”

“Tut mir leid, Rahjel.” Rionn schüttelte den Kopf. “Ich kenne den Adel hier in den Nordmarken kaum. Diejenigen, die ich kenne, haben sich in den letzten Stunden eher befremdlich verhalten. Da befürchte ich einen unheiligen Einfluss. Zumindest gab es diesen. Aber vielleicht diffundiert dieser mittlerweile. Vielleicht kann uns ja diese Caltesa weiterhelfen. Ich bin gespannt.”

“Gehen wir”, sagte Rahjel und ging voran.

~ * ~

Gespräch beim Backen

In der Backstube hatte Travian bereits den Teig mit Mikas und Rajalinds Hilfe aus Vorteig und gesegnetem Mehl geknetet und zu kleinen Kugeln geformt, die in gemäßigter Wärme eine Weile aufgehen sollten. Während dieser Ruhephase des Teigs sprachen die beiden Geweihten weitere Segnungen über die Teiglinge. Schließlich entfachte Travian an der Flamme, die er in Albenhus am heiligen Herdfeuer entnommen und in seiner Sturmlaterne nach Lützeltal transportiert hatte, einen Holzspan, den er sogleich in den Backofen legte, um auch hier mit einem heiligen Feuer das Brot backen zu können. Nun, da alles vorbereitet war, zog sich Rajalind zurück, um mit ihrem Novizen Leander ihre Abreise vorzubereiten. Denn sie hatte entschieden, dass sie nun wohl in Albenhus dringender gebraucht wurde als hier.

Kaum war Rajalind gegangen, öffnete sich die Tür des Backhauses erneut und Merle trat hinein, ihre Tochter Lulu an der Hand. Nach dem Gespräch mit Doratrava und Nivard war sie gegangen, um ihre Tochter zu holen, und kaum war Merle in der Zehntscheuer, wurde ihr gesagt, ihr Bruder Travian wollte sie im Backhaus sehen. Und so war Merle gekommen.

“Tritt ein, Schwester, und schließe die Tür hinter dir, damit die Wärme nicht entfleucht”, begrüßte Travian sie.

Als Mika ihre Schwägerin sah, duckte sie sich unwillkürlich und schaute nur noch auf die Teigkugeln, die sie gerade zu dünnen Fladen zu formen begonnen hatte.

Merle schloss die Tür und nickte Mika mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck zu, dann hellte sich ihr Gesicht auf, als sie in Travians vertrautes Gesicht blickte. Sie führte ihre Tochter zu ihrem Bruder, umarmte diesen noch einmal schnell und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. “Schau, Lulu, kennst du deinen lieben Onkel Travian noch?” wandte sie sich nun an das kleine Mädchen. “Na, magst du hallo sagen?”

Schüchtern und mit großen verschreckten Augen versteckte sich Lulu hinter Merles Beinen und steckte den Daumen in den Mund.

“Travia zum Gruße, Lulu! Ei, bist du groß geworden! Das wird die gute Mutter sicher freuen!”

Mika warf einen ganz kurzen Blick zu Merle, schaute dann aber wieder verschämt zu den Teigkugeln.

"Ja, richtig groß, nicht wahr?" Merle ging neben Lulu in die Knie und streichelte ihrer Tochter beruhigend übers Haar. "Der Onkel Travian backt der Gütigen Mutter gesegnetes Brot! Magst du auch versuchen, ein bisschen Teig zu kneten, Liebes?" Sie blickte fragend zu ihrem Bruder auf. "Darf sie?"

Travian lächelte Lulu an. „Ja, das würde Mutter Travia gefallen. Komm her, Lulu!“ Er hielt ihr ein Teigbällchen hin, dann legte er es auf den Tisch. „Du kannst einfach drauf hauen, pass auf, so!“ Er nahm einen zweiten Klumpen und schlug mit der flachen Hand darauf, dass ein flacher Fladen entstand.

Merle nahm Lulu hoch, setzte sich mit ihr an den Backtisch und bedeutete ihrer Tochter, auf den bereitgelegten Teigball draufzuschlagen. Das Mädchen patschte mit seiner kleinen Kinderhand auf den Teig, allerdings sehr langsam und zaghaft, so dass kaum eine Delle in dem Bällchen entstand. Merle lachte hell auf. "Nicht so schüchtern, Lulu, schlag ruhig feste drauf! Schau!" Mit Merles Hilfe gelang es dem Kind, den Teigfladen etwas flacher zu bekommen, worauf es begeistert aufjuchzte und erneut mehrmals darauf einschlug, nun deutlich fester, wenn auch noch etwas unkoordiniert. "Wunderbar machst du das, meine kleine Bäckerin!" lobte Merle enthusiastisch, "...na, willst du noch einen Fladen machen?" Während sie Lulu ein neues Teigbällchen hinlegte, hob die junge Frau den Blick und schaute Travian, immer noch leise lächelnd, in die Augen. "Du wolltest mich sprechen, Bruder? Ist etwas schlimmes mit unseren Eltern?" Ein schneller, nervöser Blick ging zu Mika, deren Stimmung sie weiterhin nicht richtig einschätzen konnte.

“Merle, mein Liebes”, fing Travian an, während er seine Hand auf ihre legte. “Mach dir keine Sorgen. Vater und Mutter Dreifeld geht es gut. Ihnen ist nichts widerfahren, nicht persönlich zumindest. Doch in Albenhus, im Tempel sind Dinge vorgefallen, die ihre Anwesenheit dort unabdingbar machen. Dinge, die deutlich höhere Priorität haben als die Hochzeit deiner Schwägerin gehabt hätten. Deshalb haben sie mich hergeschickt, um die Feierlichkeiten deiner Familie zu begleiten und Gwenns Bund zu segnen.” Der Geweihte schluckte. “Wir konnten ja nicht ahnen, … Doch es hätte wohl nichts geändert. Die Ereignisse in Albenhus haben eine deutlich höhere Priorität als das, was hier geschehen ist.”

Mika blickte interessiert zu Travian. Sie war neugierig, wie viel von dem, was geschehen war, er Merle zu erzählen bereit war.

"Sie sind wirklich wohlauf?" hakte Merle mit ungewollt zittriger Stimme nach und kniff prüfend die Augen zusammen. Dann nickte sie akzeptierend. Sie würde ihren Bruder nicht bestürmen, wenn er nicht bereit war, ihr genaueres zu sagen. Leise und bedrückt seufzte sie. "Ach Travian, ich hatte mich so danach gesehnt, mit ihnen zu sprechen." Mühsam versuchte sie, die Fassung zu behalten, während sie Lulu geduldig beim Bearbeiten des Teigs half. "Ich glaube, ich hab die beiden noch nie so sehr gebraucht wie jetzt..."

“Es geht ihnen wirklich gut”, bekräftigte Travian noch einmal. “Und ich weiß, dass sie gerne gekommen wären, wenn es möglich wäre. Aber sag”, er schaute seine Schwester besorgt an, “wie geht es dir? Du siehst nicht gut aus. Hat dich Gwenns Schicksal derart mitgenommen?”

"Ja, hat es", gab sie schlicht und ehrlich zu. "Ich denke die ganze Zeit an sie, wie es ihr jetzt wohl ergeht, was für schreckliche Schmerzen und Qualen sie gerade erleidet", ihre Stimme war ein kaum hörbares Wispern geworden, vor allem, um das Kind nicht zu beunruhigen. "Und Gudekar...", sie schluckte mühsam, um die erneut in ihrer Kehle aufsteigenden Tränen zurückzuhalten, "er... er hat mein Herz nicht nur gebrochen, sondern zerrissen."

Travian hielt mit seiner Arbeit inne und drehte Merle zu sich. “Wir können nur für Gwenns Seele beten. Möge die gütige Mutter ihr beistehen und ihr, wo immer sie auch sei, dennoch Wärme und Geborgenheit schenken. Doch was ist mit Gudekar geschehen? Was hat er getan?”

Merle versuchte die in ihrem Inneren kämpfenden Emotionen, die zwischen Traurigkeit und Verbitterung, Angst und Zorn hin und her pendelten, an den Hintergrund ihres Bewusstseins zu drängen und mit tonloser, sachlicher Stimme zu berichten; als ginge es um fremde Leute, von denen sie sprach: "Er betrügt mich seit zwei Götterläufen. Nein, nicht mit der Edlen von Kalterbaum, sondern mit einer blutjungen almadanischen Ritterin, die er auf der Hochzeit in Schweinsfold kennengelernt hat. Sie haben schon vor einem Jahr einen Rahjabund geschlossen und diesen gestern erneuert, was ich zufällig mitbekommen habe, da ich eigentlich mit den Rahja-Geweihten sprechen wollte. Er hat seine Buhle auf das Hochzeitsfest seiner Schwester gebracht, um mir und der Familie öffentlich zu verkündigen, dass unser Bund vor der Gütigen Mutter ihm nichts mehr bedeutet. Dass er mich und Lulu verlassen, nein, verstoßen will. Was er dann, nachdem er noch seine Magie gegen mich gewirkt hat, auch tat. Wir haben versucht, ihn aufzuhalten, weil es verschiedene Anzeichen gibt, dass… ähm, etwas… Dunkles auf seiner Seele liegt… doch ist er mit dieser Frau fort, in die Rabenmark, wo die beiden sich eine Anstellung beim Baron von Tälerort organisiert haben.” Wieder schluckte sie und presste verbissen die Lippen aufeinander. “Mein Ehemann hat mich verlassen, ohne es groß zu bedauern oder zu bereuen. Er will mich, uns nicht mehr in seinem Leben haben. Will die Verantwortung, zu der er sich damals mit seinem Eid vor Mutter Travia bekannt hat, nicht länger tragen." Auch wenn Merle sich bemühte, ihren Bericht neutral und ruhig klingen zu lassen, waren die Handbewegungen, mit denen sie den Teig knetete, zusehends hastiger und aggressiver geworden, bis sie diesen fast mit ihren Händen zu verprügeln schien. Die kleine Lulu, die den Stimmungsumschwung ihrer Mutter zu spüren schien, begann unruhig herumzuzappeln und und leise vor sich hinzujammern, als würde nicht mehr viel fehlen, bis das Mädchen zu weinen begann.

Travian hörte bei Merles Worten ganz genau zu. Immer wieder schluckte er, als Merle von Gudekars Frevelei berichtete. Schließlich legte er seine Hände auf Merles und hielt sie fest, so dass sie mit dem Kneten des Teigs aufhören musste. “Wenn du die Teigstücke so fest knetest, Liebes, gehen die Fladen am Ende nicht mehr auf und unsere Gäste können sie nicht beißen”, versuchte er, Merles Gedanken kurz abzulenken. “Komm her, Schwester!” Der Geweihte schloss Merle in seine Arme, ohne auf seine mehligen Hände zu achten, die weiße Staubflecken auf Merles Kleid hinterließen. “Das ist schlimm! Er frevelt offen gegen die Gute Mutter und hofft, damit auch noch durchzukommen. Jetzt verstehe ich, warum dir Vater und Mutters Besuch so wichtig erschien. Als dein Bruder und Freund würde ich dir gerne sagen, pfeif’ auf diesen Mistkerl und sei froh, wenn er weg ist, doch ist es nicht das, was uns die Gute Mutter lehrt. Du würdest dich ebenso der Frevelei schuldig machen wie er. Wir müssen dafür sorgen, dass er seiner gerechten Strafe zugeführt wird und Buße tut. Nur so ist seine Seele und auch deine zu retten. Du sagst, es steht zu befürchten, dass etwas Dunkles auf seiner Seele liegt? Berichte mir, was genau meinst du damit? Was fürchtest du?”

Mika, die die ganze Zeit wortlos zugehört hatte, schaute kurz auf und schnaubte verächtlich, als Travian das Dunkle auf Gudekars Seele erwähnte, verrichtete dann aber weiter ihre Aufgabe.

Merle drückte Travian eng an sich und atmete mühsam durch. “Ach, ich bin so dankbar, dass du hier bist!”, murmelte sie, während sie ihre Wange an seine Schulter legte. “Nicht nur als Geweihter, mehr noch als mein Bruder. Es tut unheimlich gut, dich an meiner Seite zu wissen…” Sie seufzte schmerzvoll, machte sich langsam und vorsichtig von ihm los und streichelte sanft ihrer Tochter übers Haar, um gleichermaßen Lulu und sich selbst zu beruhigen. Nachdem sie ihre Gedanken geordnet hatte, begann sie leise weiterzusprechen: “Von meiner Seite war es erst nur eine Art… Ahnung. Du weißt ja, Gudekar war früher immer lieb, zärtlich und rücksichtsvoll zu mir, voller Hochschätzung und Respekt - und dann hat er mich plötzlich acht- und rücksichtslos aus seinem Leben gedrängt, als hätte er mich und unseren Bund einfach… vergessen. Diese Veränderung seines Wesens war schon sehr, sehr abrupt. Obwohl er über die Amulette des Muschelfürsten meinen Schmerz gespürt haben muss, hat er nicht einen Funken Reue und Mitleid gezeigt, keine wirklichen Schuldgefühle für sein Tun. Da war keine Bereitschaft zur Buße.” Die junge Frau hob ratlos die Schultern. “Ich weiß, das muss für sich genommen nichts bedeuten, auch wenn es mich erschüttert, wie schnell und endgültig er mich und Lulu aus seinem Herzen reißen konnte. Jedoch hat auch Rionn, der Tsageweihte, von seinen Zweifeln berichtet, dass auf Gudekars Seele ein… Schatten liegen könnte. Rionn hatte bereits vor einiger Zeit beobachtet, dass mein Mann der Gütigen Mutter gesegnetes Brot nur mit sichtlichem Widerwillen essen konnte, als wäre es verdorben. Und dass ein erzdämonisch beflecktes Kästchen, welches der Paktierer den Ermittlern schickte, bei Gudekar keinerlei Wirkung zeigte, anders als bei den anderen Gefährten.” Ihre Stimme war zu einem fast lautlosen Flüstern geworden, mehr an sich selbst gerichtet als an ihren Adoptivbruder. “Das Ansinnen einer Seelenprüfung hat Gudekar gestern mit einem Nachdruck und Widerwillen von sich gewiesen, der schon überraschend heftig war. Mit Händen und Füßen hat er sich dagegen gesträubt, als ahnte er, dass mit seiner Seele etwas nicht in Ordnung ist. Später hat er seine Magie gegen mich eingesetzt, hat in meinem Geist rumgepfuscht, um mich gefügig zu machen und ungestört mit seiner Buhle aus Lützeltal fliehen zu können. Und danach hab ich ein zerknülltes Pergament in seiner Manteltasche gefunden, das darauf hindeutet, dass er schon länger mit dem Pruch im Briefwechsel stand, dass er Gemeinsamkeiten zwischen sich und diesem Frevler und Mörder sah… Wie gesagt, es sind alles nur Indizien.” Nach einem unsicheren Seitenblick zu Mika schaute sie ihren Adoptivbruder fragend, fast verzweifelt an. “Aber es deutet schon einiges darauf hin, dass Gudekars Verhalten von Travias erzdämonischer Widersacherin geleitet sein könnte, wenn auch sicherlich unwissentlich, meinst du nicht auch?” Wieder blickte sie schnell zu Mika. “Ach, ich weiß nicht, was ich glauben soll. Es fühlt sich alles so… falsch an, so unwirklich. Und ich weiß nicht, ob ich ihn hassen oder lieben, strafen oder retten will… Oh Travian, Bruder, was soll ich denn jetzt nur tun?”

Nun reichte es Mika. Sie verließ ihren Platz an dem Backtisch und stellte sich Merle und Travian auf. “Ach, papperlapapp! Die ganze Zeit schon sind alle gegen Gudekar, nur weil er sich in Meta verliebt hat. Das soll ja wohl von Zeit zu Zeit vorkommen, dass Mann und Frau sich ineinander verlieben. Und anders als andere dieser feinen Männer steht er halt dazu und sagt offen, was er fühlt, anstatt ständig allen etwas vorzugaukeln. Ihre Liebe die ganze Zeit geheimzuhalten wäre doch euch beiden gegenüber gemein, zu dir und zu Meta!” Die Novizin hatte inzwischen ihre Fäuste in die Hüften gestemmt.

Merle erwiderte mit starrer, verhärteter Miene den Blick ihrer jungen Schwägerin. “Ja Mika, sehr schön, recht vielen Dank für deinen Beitrag! Ich hab schon verstanden, dass du es für gut und richtig erachtest, wie dein lieber Bruder mich betrogen, gedemütigt und aus seinem Leben verstoßen hat; wie leichtherzig du seinen Eidbruch und Traviafrevel zu entschuldigen weißt”, zischte sie der Novizin mit sichtlicher Verbitterung entgegen. Auch in Mika schien es zu kochen. “Ich gebe zu, es erschüttert und verletzt mich, dich so reden zu hören, warst du doch immer wie eine Freundin, ja eine kleine Schwester für mich - doch hab ich jetzt wirklich nicht die Kraft und Nerven, mich mit dir und deinen naiven Kleinmädchenträumen auseinanderzusetzen. Merkst du nicht, wie du irrst? Es ging nie darum, dass Gudekar nicht sagen darf, was er fühlt! Aber du hast ihm dazu verholfen, sich seinem Seelenheil und seiner Verantwortung vor Travia und den Zwölfen zu entziehen; du lässt ihn geradewegs in den Abgrund rennen! Vielleicht solltest du zunächst mal mit Seiner Gnaden Firumar über Schwurtreue, familiäre Pflichten, Loyalität und Verantwortungsbewusstsein sprechen, bevor du dich zu Dingen äußerst, von denen du offensichtlich keine Ahnung hast!" Als Lulu leise zu greinen begann, drückte Merle ihre Tochter beschützend an sich und wandte sich müde und sichtlich entnervt an Travian. “Bruder, wenn du mich hier nicht mehr brauchst, würde ich jetzt gerne mit der Kleinen zur Zehntscheuer zurückkehren.”

Auch Travian hatte bei ihren Worten entsetzt zu Mika geschaut, dann jedoch zunächst Merles Erwiderung abgewartet. Noch immer hatte er die Hände seiner Schwester in festem Griff. “Warte, Merle!” forderte er sie kurz auf. “Es wäre nicht im Sinne der Gütigen, wenn du jetzt so gehst. Merkt ihr beide nicht, wie sehr auch ihr euch schon habt vergiften lassen?” Travian ließ Merle los, legte seine Hände auf Mikas Schultern, um sie festzuhalten, und blickte ihr eindringlich in die Augen. “Mika, was du da sagst, ist Frevelei gegen die Heilige Mutter!”

Doch Mika schüttelte Travians Hände von sich ab und ignorierte seine Worte. Stattdessen hielt sie nun Merle auf. “Du nennst mich eine Träumerin? Sag mal, in welcher Globule lebst du denn? Du träumst noch immer davon, dass Gudekar eines Morgens aufwacht und denkt: ‘Ach, huch, ich liege ja neben der falschen Frau, dann gehe ich mal schnell zurück zu meiner geliebten Merle”, und dann wird alles wieder gut, so wie früher? Wach’ du doch endlich mal auf! Ich entschuldige seinen Frevel nicht, doch ich bin realistisch. Gefühle für andere Menschen zu entwickeln ist noch lang kein Frevel. Doch Gefühle aus einem äußeren Zwang heraus zu unterdrücken, das macht uns Menschen auf Dauer schwach für unheilige Verlockungen, wenn wir keinen Weg finden, diese Gefühle zu kanalisieren. Das ist es, was mir seine Gnaden beibringt, Gefühle zu beherrschen, abzuleiten, indem ich eins mit der Natur werde. Und wenn Gudekar das nie konnte, nie Gelegenheit dazu hatte, was dann?”

"Es geht hier verdammt noch mal nicht um Gefühle! Weder um seine noch um meine!" rief Merle wutentbrannt zurück. "Es geht um Pflicht und Verantwortung! Um ein heiliges Versprechen, das wir einander unter den Augen der Gütigen Mutter gaben. Den Schwur, einander auf ewig zur Seite zu stehen, einander zu achten und zu ehren, eine Familie zu sein! Mika, ich sage nicht, dass Gudekar keine Gefühle haben soll, dass er sich nicht verlieben darf - aber ich bin nun einmal seine angetraute Ehefrau - und das kann er nicht ändern, wie er lustig ist, nur weil er blöderweise eine Frau getroffen hat, die jünger, frecher und offenherziger ist als ich! Willst du es allen Ernstes so darstellen, als wäre sein Verhalten, wie er seine Familie behandelt, wie er mich kalt und gleichgültig im Stich lässt, in irgendeiner Weise kein Frevel vor den Zwölfgöttern?!" Die junge Frau kniff scharf die Augen zusammen. "Kind, was stimmt denn nicht mit dir?"

Mika holte tief Luft und plusterte die Backen auf. Es fehlten ihr aber die richtigen Worte, um Merle etwas schlaues zu entgegnen. Es fehlten ihr die Argumente. Sie hatte keine Argumente. Denn es gab keine Argumente. In ihrem Innersten wusste auch Mika das.

Und auch Travian durchschaute Mikas Getue. So griff er abermals nach ihren Schultern, und drehte sie zu sich, diesmal mit noch festerem Griff und damit rechnend, dass sie sich erneut zu entwinden versuchte. Doch er hatte das Gefühl, dieses Mal zu Mika vordringen zu können. “Mika, er hat Merle vor Travia einen Treueeid geschworen, und das, was Gudekar getan hat, ob von einem Dämon getrieben oder nicht, ist höchste Frevelei gegen unsere Beschützerin des Herdfeuers. Falls er nicht schon einen Pakt mit ihrer Widersacherin geschlossen hat, dann ist er auf dem schnellsten Weg dahin, falls all das stimmt, was mir berichtet wurde. Du kannst das nicht gutheißen, Kleines!”

Mika stand einige Augenblicke in lauernder Stellung da. Dann senkte sie mit einem Mal reumütig den Kopf. “Ja, Euer Gnaden, wahrscheinlich habt Ihr recht. Aber das kann nicht sein. Das darf nicht sein! Nicht Gudekar. Er hat doch nie irgendjemandem etwas getan.”

“Weißt du, Mika, nicht immer ist es Gewalt, mit der man ‘jemandem etwas tun’ kann. Manchmal sind es die kleinen Dinge, die eine schlimme Tat sind. Und manchmal sind es auch die guten Menschen, die den Feinden unserer Götter in die Falle gehen und ihnen verfallen, ohne dass sie oder andere es zunächst bemerken. Das ist der Lauf der Welt. Und unsere Aufgabe als Geweihte, ja, auch deine Aufgabe wird dies einst sein, ist es die Menschen davor zu bewahren, und, sollte ein guter Mensch doch einmal Opfer der Verlockungen geworden sein, die anderen vor den Folgen zu schützen. Manchmal leider auch mit allen schlimmen Folgen für den Verführten. Und manchmal trifft es die, die uns die Liebsten und die Nächsten sind.” Travian atmete tief durch, dann wandte er sich wieder an Merle. “Es ist weder deine Aufgabe”, griff er Merles Frage von vor dem Streit wieder auf, “ihn zu strafen, noch ihn zu retten. Das ist die Sache anderer. Du bist seine Frau, und wenn ihr den Bund in Liebe eingegangen seid, dann ist es deine Aufgabe, ihn zu lieben bis an das Ende von Satinavs Lauf. Das, was du für ihn tun kannst, ist beten um das Wohl seiner Seele. Er ist fort? Dann können wir wohl im Moment nichts weiter tun. Ich werde später wohl noch einmal mit Bruder Rionn reden. Und wenn ich zurück in Albenhus bin, trage ich die Geschichte Mutter und Vater vor und wir werden uns beratschlagen. Doch jetzt”, und damit ließ er Mikas Schultern los und schob sie zurück zum Backtisch, “sorgen wir zunächst dafür, dass die Hüterin der Gemeinschaft ihren Segen und ihre Fürsorge allen Geretteten hier in Lützeltal zuteil werden lässt. Und das gilt nicht zuletzt für euch beide, denn euer Streit zeigt mir nur zu gut, wie leicht wir alle uns von den schlimmen Einflüsterungen der Säerin der Zwietracht beeinflussen lassen. Mika, denke du über meine Worte nach, während du mit Liudbirg weiter die Fladen formst und dabei zwölfmal das Hausgebet des Sankt Badilak für deine Nichte rezitierst. Und du, Merle, beantwortest mir die Frage, was es wohl sein mag, dass Mika dazu treibt, derart unbedacht über Gudekars Taten zu urteilen, während wir beide die ersten Brote in den Ofen schieben.”

Merle knuddelte und küsste noch einmal ihre Tochter, dann erhob sie sich folgsam und trat an den Backofen, nicht ohne Mika einen kritischen Blick zuzuwerfen. Sie ergriff den langen hölzernen Brotschieber, um Travian bei den vertrauten Handgriffen am Backofen zu helfen. Ohne ihn bei der Arbeit anzuschauen, begann sie leise auf seine Frage zu antworten: "Mika liebt ihren Bruder über alles, natürlich, sie vergöttert ihn geradezu. Deshalb will sie sich nicht eingestehen, er könnte jemals etwas schlimmes oder frevelhaftes tun." Sie seufzte traurig.

„Gut“, kommentierte Travian Merles Ausführungen bis hierhin, ohne sie unterbrechen zu wollen. „Dies sind ja durchaus travianische Gefühle, die sie hat. Erzähl weiter.“

"Offenbar hat sie die romantische Vorstellung, dass diese fremde Ritterin besser zu ihrem Bruder passt als ich, dass ich Gudekar nicht mehr glücklich machen kann und unser Bund seinem Liebes- und Lebensglück im Wege steht. Dass ich ihn fessle, bremse, lähme, ihn daran hindere, sein volles Potenzial zu entfalten und endlich ein interessantes und freies Leben zu führen… Und dass Gudekar was besseres verdient als mich dummes, langweiliges, reizloses Ding." Je mehr Merles Emotionen hochkochten, um so weniger Mühe gab sie sich, ihre Stimme gesenkt zu halten. Es war ja auch egal, dachte sie mit einem weiteren schnellen Seitenblick zu ihrer jungen Schwägerin, sollte Mika die Wahrheit nur hören. "Sie ist der Meinung, ich hätte nicht versuchen sollen, mich gegen seinen Verrat zu wehren, hätte ihn lieber klag- und widerstandslos freigeben und mit seiner Buhle ziehen lassen sollen, damit er endlich frei und glücklich sein kann, ohne die grausamen Zwänge eines Traviabundes mit seiner biederen Ehefrau. Ja, meine süße kleine Mika glaubt, dass diese tolle, schneidige Ritterin Gudekars einzig wahre große Liebe ist und ich nur der störende Klotz an seinem Bein, den er allerschnellstens loswerden sollte." Wie bittere Galle spie Merle die Worte aus; in ihren Augen lagen tiefste Verletztheit und Enttäuschung. "Deshalb hilft sie ihrem feinen, hochgelehrten Bruder ja auch so eifrig bei seinem frevelhaften Versuch, sich seiner Ehefrau und kleinen Tochter zu entledigen."

Travian hatte bei Merles Ausführungen immer mehr die Stirn gerunzelt, ließ sie jedoch ausreden, nicht ohne genau auf Mikas Reaktionen auf Merles Vorwürfe zu achten. Doch schließlich richtete er das Wort wieder zunächst an Merle. „Das sind sehr negative Worte, in die du deine Emotionen über Mika packst. Glaubst du wirklich, dass Mika derart schlecht über dich und deinen Traviabund mit Gudekar denkt?”

Mika hatte sich derweil mit Lulu der rohen Teiglinge angenommen und gemeinsam formten sie flache Fladen daraus, nicht ohne immer wieder lachend kleinen Schabernack miteinander zwischen den Wiederholungen des Gebets zu treiben. Doch sobald Travian zu ihr schaute, sprach sie sogleich leise eine weitere Wiederholung der Worte:

“Schenke mir die Kraft, Herrin Travia,

um mit den Kraftlosen zu sein.

Bescheiden will ich sein und geben, was ich hab.

Dir, Sankt Badilak, weihe ich mein Tun.

Das Laster will ich bekämpfen durch Worte und Taten.

Anstand und Tugend seien meine Richtschnur allzeit.

(entnommen aus: Travia Vademecum, Seite 12)

Auf Merles deutlich hörbare Vorwürfe reagierte Mika dabei immer wieder mit beleidigten Blicken, unterdrückte jedoch den Drang, sofort zu protestieren.

Merle hob den Blick und schaute Travian todernst in die Augen. Sie zögerte kurz, dann nickte sie, wie um sich selbst zu bestätigen. "Ja. Ja, wenn ich ehrlich bin, glaube ich das. Mika will, dass ich Gudekar gehen lasse, damit ich seinem Glück nicht im Wege stehe. Das heißt ja wohl, dass ich für sie ein störendes Hindernis für die reine, wahre Liebe bin, die ihn mit seiner ach so tapferen Meta verbindet", Merles Stimme troff vor bitterem Sarkasmus. "Aber es ist nicht nur Mika; eine Menge Leute sagen mir dieser Tage, dass ich meinen Mann loslassen und freigeben sollte. Was soll ich denn da sonst denken, als dass ein Traviabund mit einem kleinen, blöden Waisenmädchen schlicht und einfach nichts wert ist? Dass es legitim für meinen Mann ist, mich zu verstoßen, sobald sich für ihn was besseres ergibt..." Wieder sammelten sich Tränen in Merles Augen, die sie ignorierte, um ihrem Bruder direkt ins Gesicht zu starren. "Glaub mir, ich würde sehr gerne positivere Worte für meine Emotionen finden, aber mir fallen leider gerade keine ein!"

Travian erwiderte ihren Blick, während er mit einem Tuch vorsichtig die Tränen aus ihrem Gesicht wischte. “Warum glaubst DU, dass du es nicht wert seist, dass um eure Ehe gekämpft wird?”

Merle lächelte ihren Bruder schüchtern an, als er ihr die Tränen abwischte, dann rückte sie ein Stück ab, um Travian zu signalisieren, dass ihr so viel liebevolle Zuwendung doch ein wenig peinlich war. Sie schien etwas entgegnen zu wollen, zögerte, schluckte hart und presste angestrengt die Lippen aufeinander. "Es scheint einfach niemanden zu überraschen", platzte es schließlich aus ihr heraus, "oder groß zu wundern, dass mein Mann von mir und unserem alten Leben gelangweilt ist und lieber mit seiner kecken kleinen Ritterin durchs Dererund gondelt. Ich weiß nicht; vermutlich bin ich zu wenig für ihn da gewesen, bin nicht auf seine Wünsche und Träume eingegangen, habe ihn nicht genug bei seinen Plänen und Zielen unterstützt. Und klar, es gibt viele Themen, die ihn interessieren, wo ich einfach nicht mitreden kann! In Adelskreisen bin ich unbeholfen und befangen; wahrscheinlich war es ihm immer ein bisschen unangenehm, mich an seiner Seite zu haben. Da macht so eine schmucke almadanische Ritterin doch viel mehr her… Also vielleicht bin ich wirklich nicht die richtige Frau für Gudekar. Einfach nicht gut genug für ihn." Sie zuckte traurig mit den Schultern. “Außerdem scheint in den Augen von Mika und den anderen hier die leidenschaftliche, rahjanische Liebe, die Gudekar bei seiner Meta wohl gefunden hat, ja ohnehin tausendfach wertvoller und wichtiger zu sein als das traute und behagliche Heim im Sinne der Herrin Travia, das ich ihm zu geben versprach.”

Mika wollte sofort auf Merles Vorwürfe antworten, doch Travian hob ohne zu ihr zu blicken die Hand in Mikas Richtung, um sie in ihren Worten zu zügeln. “Zu dir komme ich gleich noch, junges Fräulein!” Dann sprach er mit milder Stimme wieder zu Merle. “Rede dich nicht schlecht, Merle. Du bist seine Frau und er dein Mann. Ihr habt euch damals gefunden, weil ihr die richtigen füreinander wart. Allein, dass du jetzt so empfindest, zeigt doch, wie wichtig du für ihn bist, auch wenn er dies im Moment nicht sieht. Ich denke nicht, dass es irgendjemandem”, nun wanderte sein Blick doch kurz zu Mika, “egal ist, was er dir antut, oder dies sogar gut heißt. Merle, urteile nicht schlecht über die anderen, aber auch nicht über dich."

Mika schaute betreten nach unten. “Natürlich nicht”, murmelte sie leise, so dass es kaum hörbar war.

Nach Travians sanften Worten schüttelte Merle traurig den Kopf. "Nein, ich bin nicht mehr wichtig für ihn, vielleicht war ich das nie…" Seufzend atmete sie aus, während sie nachdenklich in den Backofen starrte. “Sonst hätte er doch gemerkt, wie ich leide. Dann hätte er mich nicht betrogen, im vollen Bewusstsein, dass er mich damit zerstört", schluchzte sie leise. "Ich dachte immer, Gudekar würde mich als seine Familie sehen, würde sich über unser Kind freuen. Aber er hat mich von Anfang an mit Lulu allein gelassen. Er scheint mich überhaupt nicht mehr richtig zu sehen, seit er dieser Ritterin verfallen ist. Und zumindest zum Teil", sie zuckte hilflos mit den Achseln, "muss es doch auch an mir liegen, oder nicht?" Nun erst traf ihr Blick den von Mika. Merle wirkte unsicher, verletzt und verlegen, aber vor allem resigniert. Sie hatte ihre kleine Schwägerin immer von Herzen geliebt, aber aufdrängen würde sie sich ihr nicht. "Ich mache dir keinen Vorwurf, Kleines", flüsterte sie mit schwacher Stimme und senkte die Lider. "Es ist ganz natürlich, dass du zu deinem Bruder hältst. Und ich weiß, du willst nur das Beste für ihn."

Mika hob Lulu hoch auf ihren Arm und ging dann auf Merle und Travian zu, drückte ihre Nichte dann aber dem Geweihten in den Arm, um dann Merle zu sich zu drehen. “Du irrst dich, Merle. Du irrst dich in so vielem und hast natürlich irgendwie auch recht. Sag nicht, du wärst Gudekar nie wichtig gewesen. Das stimmt nicht, Ich kenne Gudekar besser, als du vielleicht denkst. Ich weiß, wie wichtig du ihm immer warst. Und ich glaube daran, nein, ich bin mir da absolut sicher, dass du ihm noch immer wichtig bist. Ich weiß nicht, was dazu geführt hat, dass er sich von dir abgewendet hat. Aber es lag ganz sicher nicht an dir. Weißt du, Merle”, Mikas Stimme wurde mit einem Mal leiser und schüchterner und sie blickte betreten auf den Boden, “wenn ich gewusst hätte, was er dir die ganze Zeit wirklich angetan hat, hätte ich vermutlich anders reagiert.”

Merle schaute ihrer jungen Schwägerin lange und tief in die Augen. In ihrem Blick kämpften widerstreitende Gefühle miteinander; kurz schien ihr eine scharfe, wütende Entgegnung auf der Zunge zu liegen, oder die bittere Frage, wie naiv Mika eigentlich sein musste, um nicht zu merken, wie sehr die vergangenen zwei Götterläufe an Merle gezehrt hatten, wie weh es tat, vom eigenen Ehemann ignoriert und abgewiesen, betrogen, belogen und verstoßen zu werden, wie enttäuscht und verletzt sie war, dass ausgerechnet Mika, die für sie wie eine kleine Schwester war, das alles vergnüglich oder romantisch oder zumindest nicht allzu tragisch fand und offen Partei für die Ritterin ergriff, für dieses freche, boshafte Weib, das sich ohne jeden Skrupel an den Mann einer anderen heranmachte und am Ende noch herumheulte, wie übel ihr, der schamlosen Ehebrecherin und Travia-Frevlerin, hier in Lützeltal angeblich mitgespielt wurde… All diese dunklen, schmerzvollen Gedanken gingen Merle im Kopf herum, doch etwas an der Art, wie Mika zu Boden blickte, an der kläglichen, schmerzhaft ehrlichen Art und Weise, wie Mika jetzt sprach, ließ Merles Herz doch wieder weich werden, etwas in ihr schmelzen und ihre Schwägerin schnell und ruckartig in ihre Arme reißen. Ohne ein Wort zu sagen, strich sie über das Haar des Mädchens, presste Mika eng an sich und küsste sie sanft auf die Stirn. "Es ist gut, Kleines", brachte sie schließlich heraus, selbst erstaunt, wie belegt und kratzig ihre Stimme klang. "Es ist alles gut. Ich habe dich wirklich sehr, sehr lieb." Mit feuchten Augen drückte sie der Novizin einen weiteren Kuss auf die Wange. "Wir sind doch Familie und werden es immer bleiben, oder?"

Auch bei Mika fing eine Träne an, die Wange herunter zu laufen. "Natürlich sind wir eine Familie. Du warst immer wie eine große Schwester für mich und wirst das auch immer bleiben.” Mika genoss die Umarmung durch ihre Schwägerin, die Wärme ihrer Nähe. Das war es, was Mika in der Zeit bei Firumar am meisten vermisst hatte, das einzige, was sie wirklich vermisst hatte. Die Wärme der körperlichen Nähe von vertrauten Menschen. Das Gefühl tiefster Geborgenheit. “Vielleicht war das mein Fehler. Ich habe dich zu sehr wie eine Schwester gesehen und dabei vergessen, dass du auch Gudekars Frau bist.”

Travian lächelte beim Anblick der beiden Frauen zufrieden, denn er spürte, dass Travias Wirken hier erste Früchte trug.

Merle nickte verstehend und drückte Mika noch einmal liebevoll. "Ist schon gut, ist schon gut", wiederholte sie murmelnd. "Lass uns wieder lieb zueinander sein, meine Kleine, ja?"

~ * ~

Die Zusammenkunft

Schließlich nach fast eineinhalb Stundengläsern waren die zahlreichen Brotfladen fertig gebacken. Im ganzen Dorfkern hatte sich der Duft nach brennendem Holz und frisch gebackenem Teig ausgebreitet. Fast alle Gäste und Dorfbewohner hatten sich inzwischen in der Zehntscheuer oder auf dem Dorfplatz davor versammelt. Aus dem Wirtshaus wurden weitere Speisen herangeschafft und auch die Bauern hatten noch das eine oder andere mitgebracht.

„Sind alle anwesend?“, fragte Travian schließlich den Edlen des Gutes.

Friedewald schaute sich noch einmal um und suchte nach ihm bekannten Gesichtern. „Soweit ich es überblicken kann, müssten die meisten hier sein. Ein paar Alte und Kranke sind in ihren Häusern geblieben, doch ansonsten…“

„Gut“, warf Travian ein, „ihnen mögen im Anschluss gesegnete Speisen gebracht werden.“

„Mein Sohn Kalman ist noch mit ihrer Gnaden Arika unterwegs“, ergänzte Friedewald.

„Sie werden sicher bald eintreffen. Wir können aber schon einmal anfangen. Arika ist in meine Pläne eingeweiht.“

„Und die Tänzerin“, Friedewald deutete auf das Haus des Dorfschulzen, „wartet in der Verwahrkammer auf ihre Verhandlung.“

Travian schüttelte den Kopf. „Ich sagte, alle, denen es möglich ist, mögen zu der Speisung gerufen werden. Das umfasst auch Doratrava!“

„Aber wir dachten, …“, wollte Friedewald erklären.

„Nein“, blockte Travian ab, „es ist wichtig, dass auch gerade sie an dem Mahl teilnimmt. Lasst sie herbringen.“

Und so wurde auch Doratrava mit verbundenen Händen und von den beiden Dorfwachen bewacht zur Zehntscheuer geführt. Die Ritterin Alana schritt genau hinter ihnen.

Bald darauf kehrten auch Arika und Kalman von ihrem Ausritt zurück. Beide stellten sich wortlos mit der Hand am Schwertgriff rechts und links neben Doratrava, um so noch besser reagieren zu können, sollte die der Paktiererei Beschuldigte etwas tun, das sie alle in Gefahr brachte.

Als man Doratrava endlich aus der Zelle holte, fühlte sie eine Mischung aus Erleichterung und Nervosität, in die sich hilfloser Zorn mischte, als sie dann auch noch gefesselt wurde. Das ließ sie sich aber nicht anmerken, schweigend und mit ausdruckslosem Gesicht ließ sie die Prozedur über sich ergehen.

Als sich dann in der Zehntscheuer Kalman und eine ihr unbekannte Rondrageweihte gruß- und auch ansonsten wortlos und Doratravas Empfinden nach in bedrohlicher Manier direkt neben ihr aufstellten, wurde ihr schon wieder mehr als mulmig zumute, gleichzeitig regte sich erneut der Zorn in ihr über diese entwürdigende Behandlung. Aber sie presste wiederum nur die Lippen zusammen und versuchte, sich zu entspannen, während ihr Blick über die anderen Anwesenden schweifte.

Entsetzt über die Behandlung der zierlichen Gauklerin schaute Friedewald die Wachen an. “So löst doch bitte ihre Fesseln. Oder wollt ihr sie auch noch knebeln?” fragte der Edle empört.

“Das wäre keine schlechte Idee”, erwiderte Kalman. “Sie wird schließlich der Hexerei beschuldigt. Wir müssen uns und unsere Schutzbefohlenen vor Unheil bewahren.”

Friedewald schaute zu seinem Enkel Morgan, der eine Ausbildung an einer Magierakademie in Elenvina genoss. “Morgan, ist diese Frau eine Magierin, die ihre Zauber mittels Spruchmagie wirkt?”

“Nein, Großvater, sie ist eine Elfe, die intuitiv zaubert, nicht mittels Worten”, äußerte sich Morgan mit seinem nicht ganz korrekten Halbwissen.

“Eine Elfe also.” Friedewald blickte zu Kalman. “Dann lasst diesen Firlefanz. Heute ist Doratrava ein Gast unseres Hauses und wir wollen gleich Travia huldigen. Da verbietet es unsere Gastfreundschaft, sie hier in Fesseln vorzuführen.”

Nun mischte sich die Ritterin Alana ein. “Ihr habt den Edlen gehört, löst die Fesseln”, bestätigte sie seine Worte mit Nachdruck.

Die “Elfe” sagte weiterhin nichts, warf Friedewald und Alana aber einen dankbaren Blick zu. Dann drehte sie sich so, dass ihre gefesselten Hände zu Kalman zeigten, während sie der Rondrageweihten einen eher abschätzenden Blick zeigte. Was diese wohl von der ganzen Sache hielt? Was diese hier überhaupt machte? Aber offenbar hieß sie ihre Behandlung wohl gut, sonst hätte sie kaum mit Kalman zusammen diese Wachposition eingenommen.

“Ich bin bei euch”, sagte Alana, wobei nicht klar war, wen sie eigentlich meinte.

Kalman nickte seiner Cousine zu und trat näher an Doratrava heran, um den Knoten ihrer Fessel zu lösen. „Dies bedeutet jedoch nicht, dass Ihr frei seid. Lediglich während der Götterdienstes sei Euch dieses Entgegenkommen gewährt. Macht einen Fehler, und es war Euer letzter.“

Das Gesicht der Rondrageweihten zeigte keinerlei Regung, sie stand in höchster Anspannung da, als erwartete sie jeden Augenblick einen Angriff des Erzdämons höchstpersönlich.

Doratrava rieb sich die Handgelenke und warf Kalman immer noch stumm einen giftigen Blick zu. Da die Rondrageweihte offenbar die Statue geben wollte, ignorierte sie diese.

Alana stellte sich neben sie und schenkte der Gauklerin ein kurzes Lächeln.

Diese lächelte zwar nur schwach, aber dankbar zurück. Immerhin waren hier nicht alle gegen sie.

Unerwartete Heimkehr

Es hatten sich gerade alle auf dem Dorfplatz versammelt, als sich aus Richtung des Herrenhauses zwei weitere Gestalten näherten. Eine Frau, die wohl schon die vierzig Götterläufe überschritten hatte, mit einem etwa achtjährigen Knaben an der Hand, trat sich suchend umschauend auf die Versammelten zu.

Beide waren ärmlich gekleidet und die Kleidung schien von einer langen Reise staubig und angeschmutzt zu sein. Beide wirken erschöpft. Die blonden Haare der Frau hingen strähnig und ungekämmt ins Gesicht, konnten aber die Narbe, die sich auf der linken Gesichtshälfte entlang zog nur unvollständig verdecken.

Als sie Friedewald in der Menge stehen sah, steuerte sie direkt auf ihn zu und fiel vor ihm auf die Knie. “Vater …”, stammelte sie und brach in Tränen aus.

Voller Wachsamkeit wandte sich Kalman nun von Doratrava ab, die er noch immer bewacht hatte, und stellte sich mit gezogenem Schwert zwischen seinen Vater und die Fremden. „Haltet ein!“ forderte der Ritter die Frau auf. „Erklärt Euch, wer seid Ihr?“

Friedewald drehte seinen Kopf ebenfalls in Richtung der Neuankömmlinge. Erst wirkte er überrascht und brauchte einen Moment, um seine Tochter zu erkennen. Er hatte sie schließlich nach all den Jahren nur ein einziges Mal gesehen, und auch das war nur kurz und lag bereits eineinhalb Götterläufe zurück. Doch dann hellte sich seine Miene auf und er begann, freudig zu strahlen. „Joleante“, rief er. „Du bist hier! So komm doch näher!“ Er öffnete seine Arme und ging auf Joleante zu, bis er von Kalman aufgehalten wurde.

Als Murla Ansgrimma oder wohl nun doch eher Joleante kommen sah, stieß sie ihrem Mann den Ellenbogen in die Seite. “Hat sie sich doch auf ihre Vergangenheit besonnen.”

“Bei Angroschs langem Bart”, erwiderte Borix, “einen besseren Zeitpunkt hätte sie sich aber kaum aussuchen können. Als wenn wir hier nicht schon genug Unruhe hätten.”

Die Frau blieb stehen als sie das Schwert vor sich und ihrem Sohn auftauchen sah und musterte den Mann, der ihr die Waffe entgegen hielt, lange und aufmerksam. Dann blickte sie zwischen Kalman und Friedewald hin und her und versuchte Ähnlichkeiten in den Gesichtern der beiden Männer zu finden.

“Bist du mein kleiner Bruder?” fragte sie Kalman schließlich.

Nun drängte sich auch Murla nach vorne und sprach den Ritter an: “Meister Kalman, senkt das Schwert oder wollt Ihr Eure Schwester erstechen?”

Kalman wirkte verunsichert und ließ die Schwertspitze sinken. „Wer seid Ihr?“ fragte er abermals.

Sein Vater legte seine Hand auf Kalmans Schwertarm und beruhigte ihn. „Das sind Joleante, deine Schwester, und ihr Sohn Throngerd. Sie ist endlich wieder heimgekommen.“

„Joleante?“ fragte Kalman verwirrt, „bist du es wirklich?“ Er musterte die Frau, um sich davon zu überzeugen, dass es wahr war, was er sah.

Immer noch die Augen voller Tränen nickte die Frau.

“Nun trollt euch!” fuhr derweil Borix die umstehenden Gaffer an. “Seht ihr nicht, dass es hier etwas gibt, was nur die Weissenquells angeht. Los, ab in die Scheune!”

“Ja, Kalman, es ist tatsächlich Joleante!” Aus der Menge heraus trat eine Frau, die etwas jünger als Kalman war, in ihrer Reisekleidung aus Reitstiefeln, schwarzer Lederhose und brauner Lederjacke, mit nach hinten zusammengebundenem dunkelblonden Haar eine Ähnlichkeit zu ihm nicht zu verbergen suchte. Es war Eilada von Weissenquell, die am Vortag bereits am frühen Morgen mit ihrem Schwager und seiner Familie abgereist war. Reto von Darrenbruck ging es nicht besonders gut. Er litt noch immer ab und an an den Folgen seiner Entführung, und in der Nacht vor der Jagd hatte sich sein Zustand verschlechtert. So dass seine Gattin entschieden hatte, mit ihm abzureisen. Eilada hatte die Familie bis Schlatt begleitet. Dort war sie dann auf die Reisende und ihren Sohn getroffen, und der Zufall fügte es, dass Eilada herausfand, dass es sich um ihre lang verschollene Schwester handelte. So kehrte Eilada abermals um und begleitete Joleante und Throngerd nach Lützeltal.

Während Kalman diese Neuigkeit noch zu verstehen suchte, ging Friedewald an ihm vorbei und mit offenen Armen auf seine älteste Tochter zu. “Joleante, Throngerd, ich freue mich, dass ihr gekommen seid! So kommt doch zu mir und lasst euch umarmen.” Friedewald bot seine Arme an, doch drängte er sich nicht auf. Joleante selbst sollte entscheiden, zu welcher Nähe sie bereit war.

Joleante ließ sich laut schluchzend in die Arme ihres Vaters fallen. “Ich hatte alles vergessen … aber es kam wieder zurück … nach Deinem Besuch …”

Throngerd stand plötzlich allein gelassen einen Schritt hinter seiner Mutter, umgeben von lauter Fremden. So viele Menschen … ängstlich versuchte er sich an Joleante anzuschmiegen.

Murla sah wie der Junge schluckte und spürte wie in ihm die Panik aufstieg. Sie ging deshalb zu ihm und nahm ihn sanft in den Arm. “Es wird alles gut!” sprach sie beruhigend auf ihn ein. “Alles wird gut!”

Borix war immer noch beschäftigt, die Schaulustigen von der sehr intimen Familienszene wegzuschieben.

Friedewald fiel ein Stein vom Herzen. Wenn sich Joleante wirklich an ihre Vergangenheit zu erinnern begann, dann gab es für ihn Hoffnung, seine Tochter nach all den Jahren wiederzubekommen. Der Edle schloss die Arme um seine lang vermisste Tochter und hielt sie fest. „Alles wird gut, mein Liebes. Du bist zu Hause.“ Zu Throngerd warf er ein aufmunterndes Lächeln. Friedewald war dankbar, dass sich Murla erst einmal dem Jungen angenommen hatte, so konnte er sich auf Joleante konzentrieren. Er wandte sich an die Umstehenden. "Bringt unseren Reisenden doch etwas zu Trinken und zu Essen. Sie müssen doch hungrig sein!“

Kalman war erst einmal beruhigt und steckte sein Schwert zurück in die Scheide. Dennoch war er sehr verwundert. War es möglich, dass seine verloren geglaubte Schwester nach all den Jahren plötzlich wieder auftauchte? Und was hatte sein Vater von ihr gewusst? Auch schien Eilada Bescheid zu wissen. Wieso war sie eingeweiht und er nicht. Seine jüngere Schwester nahm seinen fragenden, zweifelnden Gesichtsausdruck wahr und legte ihre Hand auf Kalmans Rücken. „Komm, Kalman, lass sie erst einmal ankommen. Gehen wir etwas abseits, dann erkläre ich dir alles, was ich weiß. Das ist allerdings auch nicht viel.“ Sie führte ihren Bruder zu einer Stelle abseits des Geschehens, wo sie ungestört mit ihm reden konnte.

Joleante blieb still und schweigend in den Armen ihres Vaters stehen. War sie jetzt da, wo sie sein wollte? Hier in einem Dorf voller Fremder. War es richtig, ihr langjähriges Zuhause einfach hinter sich zu lassen?

All diese Gedanken, die sie sich schon auf dem Weg gemacht hatte, schossen ihr wieder durch den Kopf. Nur kam sie immer noch zu keinem Ergebnis. Da sie aber den Weg hierher gewagt hatte, würde sie auch das Weitere auf sich zukommen lassen.

Was immer es auch sein möge.

Murla nahm nun die Hand des Jungen und führte ihn in die Zehntscheune. “Du musst hungrig von dem langen Weg sein. Hier in der Scheune finden wir bestimmt noch etwas zu Essen.”

Throngerd folgte Murla nur unwillig, er wollte bei seiner Mutter bleiben. Aber die sanften Worte der Angroschna schafften es letztlich, dass er ihr folgte. Sie war ja außer der Mutter und Meister Borix die einzige Person, die er hier in dieser Menschenansammlung kannte. Und es waren so viele Menschen, viel mehr als in Oberroden.

“Das ist eine gute Idee von Murla. Komm, Joleante, lass uns auch hinein gehen”, schlug Friedewald schließlich vor. “Dort kannst du dich setzen und etwas essen. Und Throngerd fühlt sich vielleicht auch nicht so allein.” Sachte führte Friedewald seine Tochter in das Haus und suchte einen etwas abgelegenen Tisch, an dem sie in Ruhe sitzen konnten. Er hatte zwar viele Fragen an seine Tochter, doch diese würde er zunächst zurückhalten. Sie sollte erst einmal ankommen.

~ * ~

Ebenso verwundert wie der Lützeltaler Ritter war auch das jüngste der Weissenqueller Geschwisterkinder. Mika hatte ihre große Schwester Joleante nie kennengelrnt, denn sie war bereits einige Götterläufe vor Mikas Geburt verschollen. Dennoch war es Mika, die als einzige in der Familie bis zuletzt fest davon überzeugt war, dass Joleante noch lebte. Doch war dies mehr einer romantischen Vorstellung geschuldet, Joleante hätte sich frei von allen Zwängen der Gesellschaft gemacht und würde ein abenteuervolles und aufregendes Leben in der Wildnis, eins mit der Natur führen. Diese Vorstellung von ihrer Schwester war stets ein wenig ein Vorbild für Mika. Nun stand eine Frau vor ihnen, die ganz anders wirkte als in Mikas Träumen, und dennoch behaupteten Eilada und ihr Vater, dies sei ihre Schwester. Doch wer sich beide, Joleante und Mika, genau ansah, konnte hier eine ältere und eine jüngere Variante desselben Gesichts sehen. Die beiden hätten durchaus Mutter und Tochter sein können, oder eben ältere und jüngere Schwester.

Völlig überfordert von der neuen Situation suchte Mika in der Menge eine Freundin, an die sie sich halten konnte und sah Imelda in der Nähe des Angroscho Limrog etwas abseits stehen. Langsam, zunächst kaum merklich, zog sie sich in ihre Richtung zurück, bis Mika neben Imelda stand. „Kann das wirklich sein?“ fragte Mika die Ingra-Geweihte.

Unsicher biss sich Imelda auf die Unterlippe. “Mhhh, weiß nicht. Ich würde sagen, die Dame sieht dir schon irgendwie… ähnlich? Naja, du bist natürlich jünger!” Fragend schaute sie ihre Freundin an. “Mika, ich wusste ja bisher gar nicht, dass du eine verschwundene Schwester hast. Oder hattest du mir davon schon einmal erzählt?”

“Hab ich dir nicht von Joleante erzählt? Sie war meine älteste Schwester und war bereits vermisst, bevor ich geboren wurde. Ich heiße übrigens mit zweitem Vorname wie sie: Mika Joleante.”

“Ahhh, verstehe…”, nickte Imelda und schüttelte sogleich den Kopf. “Süße, von Joleante hattest du mir noch nie erzählt! Du hast ja so viele Geschwister… ich hätte nicht gedacht, dass es noch mehr sind!”

Mika zuckte mit den Schultern. “Ich glaube jetzt kennst du alle. Joleante, Kalman, Eilada, Gudekar, Gwenn.“ Bei der Erwähnung von Gwenn senkte Mika traurig ihre Stimme und schaute zu Boden.

Die Hadingerin sah Mika mitfühlend an und strich ihr sanft über die Schulter. “Was meinst du, wollen wir gemeinsam deine Schwester begrüßen?”

Schüchtern trat Mika einen Schritt zurück und schien sich hinter Imelda verstecken zu wollen. „Ich weiß nicht, was soll ich ihr denn sagen? Wir kennen uns doch überhaupt nicht.“

Die Hadingerin verdrehte ein wenig die Augen, nahm Mika an die Hand und zog sie ein paar Schritte kräftig hinter sich her, bis die Novizin ihr selbstständig folgte.

„Hey! Schubs mich doch nicht!“ beschwerte sich Mika, ließ sich dann aber in die Richtung schieben.

Bei Joleante angekommen räusperte Imelda sich laut. “Ähm, Verzeihung!”, rief sie gut hörbar und setzte ein höfliches Lächeln auf. “Ich bin Imelda von Hadingen und eine gute Freundin Eurer lieben Schwester, Mika!”, sie trat zur Seite und deutete auf das Mädchen neben sich. “Mika möchte alles über Euch erfahren… vor allem, wie es Euch in den letzten Jahren ergangen ist.”

„Firun mit dir, Joleante. Ich bin Mika, deine jüngste Schwester“, stellte sich Mika vor, schaute dann aber schüchtern zu Boden. „Du kennst mich nicht. Ich wurde erst geboren als du schon… ähm, weg warst. Mutter und Vater haben mich Mika Joleante genannt. In Erinnerung an dich.“

Joleante schaute die junge Frau an, dann sagte sie leise: “Die Zwölfe mit Dir, kleine Schwester. Ich lerne heute viele neue Leute kennen. Du trägst auch meinen Namen. Vermutlich länger als ich ihn getragen habe, denn ich hatte ihn lange Zeit nicht gewusst.”

Mika lachte verschmitzt auf. “Sehe ich wirklich schon so alt aus?” Sie begann zu rechnen. “Nun, ich glaube, du warst schon noch etwas älter damals, als ich es jetzt bin. Schön, dass du wieder hier bist!”

“Da bin ich mir noch nicht sicher”, erwiderte Joleante, “es sind so viele Menschen hier, da bin ich nicht mehr gewohnt. Und, um ehrlich zu sein, es macht mir auch ein wenig Angst.”

Mika lachte. „Ja, sollen Hochzeiten so an sich haben.“ Dann schaute Mika traurig, als ihr wieder bewusst wurde, warum dies nun doch keine Hochzeitsfeier war. „Aber ich ziehe die Einsamkeit des Waldes dieser Ansammlung auch lieber vor. Mach dir aber keine Sorgen, eigentlich sind in unserer Familie alle ganz lieb.“

Dann wandte sich Joleante Imelda zu: “Und Ihr, Euer Gnaden, seid eine gute Freundin meiner Schwester?”

Imelda nickte eifrig. “Oh ja, Mika ist eine liebe Freundin von mir! Wir haben uns vor zwei Götterläufen kennengelernt.” Die Geweihte legte stolz den Arm um die Schulter ihrer Freundin. “Tatsächlich hat sie mich bei unserer ersten Begegnung im Finale eines Wettbewerbs beim Balkenkampf ins Wasser gestoßen.” Der Kopf von Imelda wog hin und her und sie rief enthusiastisch: “Und Mika hat damals zurecht gewonnen!”

“Vor zwei Jahren hat mich Vater wieder entdeckt”, antwortete sie mehr zu sich selbst als zu Mika. Dabei huschte ein versonnenes Lächeln über ihr Gesicht.

Mikas Augen wurden groß. Was hatte Joleante da gesagt? Das würde doch bedeuten…

“Ach, war das etwa bei der Lehensfeier in Ishna Mur?” fragte Imelda interessiert nach und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. “Aber warum hat der Herr Friedewald denn da noch nichts gesagt?”

Imelda hatte das ausgesprochen, was Mika selbst durch den Kopf ging. Sie hörte wortlos zu.

Joleante zuckte nur mit den Schultern. “Ich kann es Euch nicht sagen. Er hat Unterroden damals zusammen mit seinem Begleiter und Meisterin Murla verlassen und sagte, dass ich seine Tochter sei und wenn ich will, solle ich nach Lützeltal kommen.

Ich habe viel nachgedacht und auch mit der Meisterin zu dem Für und Wider gesprochen, aber sie hat mir die Entscheidung überlassen und gesagt, dass es die Zeit zeigen wird.

Und nun habe ich mich entschieden und bin hierher gekommen.”

“Warum hat Vater es nicht erzählt?” wiederholte Mika Imeldas Frage, ohne eine genauere Antwort zu erwarten. “Ich, ähm wir”, sie zog Imelda am Arm näher zu sich ran, “waren doch auch da in Ishna Mur. Dort haben wir uns doch kennengelernt. Warum hat Vater mir meine Schwester vorenthalten?” Die kleine Jägerin schaute ihre Schwester entgeistert an. “Ich wusste, dass du da irgendwo sein musstest. Ich wusste es die ganze Zeit, dass du nicht …, ähm… Sie hätten dich früher suchen sollen. Ich hätte dich suchen gehen sollen.”

“Oh, kleine Schwester”, meinte Joleante und hielt Mika ihre Hände hin. “Du hättest mich doch gar nicht erkannt und auch Vater hat erst gezweifelt und es nicht glauben wollen.

Und ich hätte es doch auch nicht geglaubt. Es hat bei mir auch zwei Götterläufe gedauert, bis ich es selber glauben konnte und die Erinnerungen wieder kam.”

Sie lächelte nun Mika an.

“Und so richtig kann ich das hier alles noch nicht glauben.”

Dann fragte sie Mika: “Hast Du schon Throngerd kennengelernt, er ist Dein Neffe.”

“Neffe?”, fragte Imelda lauthals und ein breites Grinsen machte sich auf ihrem Antlitz breit. Sanft stupste sie ihre Freundin an. “Siehst du, Mika? Das ist doch toll, was?! Du bekommst noch einen weiteren Neffen!”

„Throngerd?“ fragte Mika neugierig. „Nein, ihn kenne ich noch nicht. Ist er auch hier? Es ist so schön, wenn die Familie zusammenkommt.“

“Ja, er ist auch hier”, antwortete Joleante, “ich konnte ihn nicht dort lassen.” Suchend schaute sie sich nach ihrem Sohn um.

“Er ist mit Meisterin Murla weggegangen …”

“Murla!”, rief Imelda begeistert auf und klatschte in die Hände. “Ach, sie kann wirklich gut mit Kindern! Na, Mika? Wollen wir gemeinsam nach deinem neuen Neffen schauen?”

Mika begann zu strahlen. „Ja, lass uns nach ihm schauen.“

Joleante nickte nur und machte sich dann mit den beiden anderen Frauen auf die Suche nach der Zwergin und ihrem Sohn.

Segnungen durch die Geweihten

Nach der überraschenden Ankunft von Friedewalds ältester Tochter und ihres Sohnes dauerte es noch einige weitere Minuten, bis sich die aufgeregte Unruhe im Dorf beruhigt hatte. Doch schließlich ließ Travian die Glocke läuten und rief alle, die Edlenfamilie, ihre Gäste, aber auch die dazugekommenen Dorfbewohner, hinein in die Zehntscheuer, in der die Speisen aufgebaut waren, die für die Hochzeitsfeierlichkeiten vorbereitet worden waren. Auch die gesegneten Brotfladen, die Travian mit Rajalinds, Merles und Mikas Hilfe gemeinsam gebacken hatte, standen in Körben und Schüsseln in der ganzen Scheune verteilt bereit.

Immer mehr füllte sich die Scheune und die Menschen, Elfen und Angroschim drängten sich eng aneinander, doch alle, das war Travian wichtig, sollten willkommen geheißen werden und die Segnung erfahren. Arika Löwenauge, die Rondrageweihte aus Albenhus, forderte die Geweihten auf, mit ihr zusammen Schutzkreise um die Scheunenbesucher zu wirken, während sich alle in der Halle versammelten.

“Schwester”, fragte Grimmgasch die Rondrageweihte, “gegen wen sollen wir die Kreise wirken?”

„Wir sollten verhindern“, erklärte Arika, „dass der Paktierer eine Gelegenheit bekommt, direkt in unserer Versammlung zuzuschlagen, wenn das ganze Dorf hier versammelt ist, falls er noch immer sein Unwesen hier zu treiben beabsichtigt. Er soll weder Lolgramoths Gift versprühen und weiteren Unfrieden stiften können, noch sollte es ihm ermöglicht werden, ihre Dämonen direkt unter uns zu schicken.“

“Also ein Kreis gegen dämonische Wesen. Gut”, antwortete der Angrosch-Priester, “dann lass uns gemeinsam beten und die Götter um ihren Schutz bitten.”

„So sei es!“ Sprach Arika. Gemeinsam wirkten sie einen Schutz um die in der Scheune versammelten, auf dass sie von Dämonenpack verschont blieben.

Unbemerkt von allen anderen war auch Firumar aus dem Wald zurückgekommen. Er hatte Arikas Worte ebenfalls vernommen und sorgte sich um die Menschen, die noch vor der Scheune auf dem Dorfplatz standen. Von der Hauswand der Zehntscheuer aus beginnend schritt er einen großen Kreis um den Dorfplatz ab, wobei er einen weißen Staub, mit Kalk vermengtes Knochenmehl, auf den Boden streute. Dabei wiederholte er leise in seinem Geiste immer wieder die Worte: “Wacht halten wir, wacht stehen wir. Bleibet fort, Kreaturen der Dunkelheit und der Niederhöllen. Verschonet diese Gemeinschaft, denn wir werden nicht wanken. Im Namen Firuns stellen wir uns vor die Wehrlosen, drum bleibet fort!”

Travian selbst hatte indes das Podest erklommen, das man an einem Ende der Scheune aufgebaut hatte, und auf dem zunächst der Treueeid des Brautpaares hätte gesprochen werden und später einige Musiker zum Tanz hätten aufspielen sollen. Nun winkte Travian die Geweihten zu sich, mit denen er bereits in der Backstube gesprochen hatte. Alle stiegen ebenfalls auf das Podest, mit der einzigen Ausnahme von Rajalind, die nach den Neuigkeiten aus Albenhus zusammen mit ihrem Novizen Leander bereits die Abreise angetreten war. Und selbst Firumar war inzwischen aus dem Wald zurückgekehrt und stellte sich an den Rand der kleinen Bühne.

Als etwas Ruhe eingekehrt war, ergriff Travian schließlich das Wort. “Liebe Brüder und Schwestern, liebe Familienangehörige, liebe Freunde und Gäste. Der heutige Tag sollte ein Fest der Freude werden zu Ehren zweier Menschen, die sich gefunden hatten, um ihr Leben gemeinsam zu verbringen und im Sinne der gütigen Mutter Travia eine neue Familie zu gründen. Doch schlimme Dinge sind gestern geschehen, die verhindern, dass die Liebenden vereint werden können. Zunächst brachten Efferd und Rondra ihren Zorn über das Dorf, als zürnten sie der Frevel, die im Nachgang noch geschehen sollten. Denn Ehegelübde wurden gebrochen, Menschen wurden entführt, verstümmelt, getötet. Nicht nur die Braut, unsere Tochter, Schwester, Freundin Gwenn von Weissenquell und Eoinbaiste, der Novize unseres Bruders Rionn, wurden entführt, nein, viele geliebte Freunde und Familienangehörige gaben ihr Leben, entweder, weil sie versuchten Gwenn zu verteidigen, oder weil der größte Frevler, den unsere Grafschaft seit langem gesehen hat, Rache an jenen üben wollte, die im Namen der Zwölfe gegen eben jenen Paktierer und seine Schergen in den Kampf gezogen sind. Doch auch da, wo Hoffnungslosigkeit und Verlust um sich greifen, gibt es stets einen Funken von Hoffnung, solange wir die fürsorgliche Liebe für unsere Nächsten in uns tragen. Und so, wie auf den Zorn von Rondra und Efferd stets der Herr Praios wieder sein güldenes Antlitz über uns erstrahlen lässt, so folgt auf Verlust auch stets Fund neuer Freunde und Angehöriger. Und so ist es hier so, dass die Heilige Mutter Travia es gefügt hat, dass heute eine längst verloren geglaubte Tochter und Schwester den Weg heim in ihre Familie gefunden hat. Wie hätte Travia uns ein größeres Geschenk machen und uns Hoffnung geben können? Joleante von Weissenquell und Throngard, ich heiße Euch im Schoß Eurer Familie und Freunde herzlich willkommen!”

Als sein Name fiel, drückte sich der Junge eng an seine Mutter. Es waren zu viele Menschen um ihn herum und so viel Gerede.

Joleante neigte nur schweigend den Kopf und hielt ihren Sohn fest.

Travian ergriff wieder das Wort. “Lasst uns dafür sorgen, dass das Licht des Herren Praios auf euch und auf uns alle, die wir hier versammelt sind, scheint. Öffnet Fenster und Türen, um das Licht hinein zu lassen! Entzündet Kerzen und Fackeln, Und ist auch das Licht, dass Ingerimms Feuer uns spendet, ein anderes als das des Götterfürsten, so mögen sie sich heute hier vereinen, um die Dunkelheit, die über unseren Herzen liegt zu vertreiben. Schwester Imelda und Bruder Grimmgasch, ich bitte Euch, segnet nun die Flammen, die dieses Heim zum Leuchten bringen!”

Grimmgasch blickte zu der Ingrageweihten. “Du nimmst die linke Seite, ich die rechte.”

Dann sprach er leise auf Rogolan den Feuersegen.

“Väterchen Angrosch, Herr aller Essen, ich bitte Dich,

schenke uns vom Feuer der himmlischen Esse.”

Schon leuchtete eine Flamme über seiner Rechten auf und mit diesem Flämmchen entzündete er alle Kerzen und Fackeln auf seiner Seite der Zehntscheune.

Die junge Ingrageweihte schritt zum linken Ende des Scheunensaals. Dort angekommen kramte sie in ihrer Beuteltasche und zog ein eingewickeltes Bündel mit feinen Brennhölzern heraus. Dann nahm sie ihre kleine heilige Laterne von ihrem Gürtel und entzündete mit einem der Holzspäne die erste Kerze auf der Tafel. "Rondrard", sprach sie ernst und entzündete die zweite Kerze mit den Worten: "Bernhelm." Imelda schritt zur dritten Kerze. "Marno…"

Nachdem sie die Namen aller Verstorbenen und Vermissten der letzten Stunden aufgezählt hatte, fuhr die Geweihte schweigend und mit ernster Miene fort, die restlichen Kerzen und Fackeln zu entzünden. Sie ließ sich hierbei bewusst Zeit, um in Ruhe, sehr andächtig, den Raum weiter mit den Flammen Ingras zu erleuchten.

Als Imelda die letzte Kerze entzündet hatte, hauchte die rotblonde junge Frau das letzte Brennholz in ihrer Hand aus. "Unsagbar grausames Leid ist geschehen, welches über unsere Vorstellungskraft hinausgeht. Mögen die Herrscher Alverans sich der Seelen der Toten annehmen und die Lebenden beschützen. Ich bete, dass mit den Flammen Ingras die Dunkelheit schwindet. Das Feuer brennt mit seiner unbändigen Macht und ähm…", an dieser Stelle wusste Imelda plötzlich nicht so recht, wie sie fortfahren sollte. Sie holte einmal tief Luft, um ein wenig Zeit zu gewinnen. "Doch geht das Leben weiter. Aus der Asche entsteht neues Leben. Es mag anders sein, doch das Leben bahnt sich seinen Weg."

Als die beiden Geweihten des Feuergottes ihre Segnung ausgesprochen hatten, rezitierte Travian Praois zu Ehren das Segensgebet seiner Priesterschaft.

“Denn wo das Licht des Herrn erstrahlt, verblassen Lüge und Zweifel.

Wo das Licht des Herrn herrscht, wird die Ordnung nicht wanken.

Wo das Licht des Herrn wacht, weicht die Dunkelheit.

Im Namen Praios', des Ewigen Herrschers,

des Allsehenden Richters, des Gleißenden Königs:

Das Licht des Herrn erfülle eure Herzen, Das Licht des Herrn erhelle eure Seelen,

Das Licht des Herrn weise euch den Weg, jetzt und auf immerdar.

Es sei!”

(Entnommen aus dem “Praios Vademecum”)

“Rahjel”, sprach Travian nun den Jünger der lieblichen Göttin an. “Segne nun bitte für uns den Wein und die Säfte und reiche dann mit Hilfe der Mägde einer und einem jeden von uns einen Becher davon.

Der Geweihte der Göttin Rahja war nun wieder ordentlich und wirkte so, als ob nichts in den letzten Stunden geschehen war. Rahjel strahlte eine innere Ruhe aus und hielt seine Hände über die Kelche und Krüge.

“Rahja, Herrin des Weines, segne diese Tränke, auf dass wir uns an ihrer Süße laben und uns erquicken. Schenke uns Deine Freuden, Herrin der Reben, und lasse uns teilhaben an Deinem sanften Rausch.” Dann lächelte er.

“Hebt nun alle eure Becher und lasst uns in stillem Gedenken auf die Toten und Vermissten trinken. So kurz ist der Tag, solang ist die Nacht!” Travian hob seinen Becher und hielt ihn schweigend für einige Augenblicke, wobei er die Augen geschlossen hielt. Dann trank er einige Schlucke des Weins, bevor er den Becher an die Magd Harka übergab. Anschließend wandte er sich an Perainhulda Waldgrun, die Frau des Dorfschulzen und Dorfheilerin. “Perainhulda, du bist zwar keine Geweihte, aber von uns allen vielleicht diejenige, die der Gebenden am nächsten steht. Würdest du bitte nun Peraines Gaben hier auf den Tafeln segnen? Und Firumar”, er wandte sich an den Geweihten des eisigen Jägers, “du segne bitte die Beute, die ihr gestern auf der Jagd für uns gemacht habt.”

Perainhulda ging etwas verunsichert zu den Tafeln, auf denen die Speisen standen, die der Wirt und die Bauern des Dorfes hergerichtet hatten. Sie war es zwar gewohnt, für die Felder und bei den Dorffesten um Peraines Segen zu bitten. Doch vor einer solch großen Menge von Menschen, und nochdazu so vielen adeligen und geweihten Gästen zu reden, war ihr gar nicht wohl. Doch nun streckte sie beide Hände öffnend in Richtung der Perainegaben aus. Dann erhob sie die rechte Hand mit ausgestreckten drei mittleren Finger und fing an zu beten.

“Herrin Peraine,

wir danken dir für die Gaben, die du uns spendetest!

Wir danken dir für den Apfel und das Korn und die Rübe und den Kohl.

Wir danken dir, dass du unsere Felder segnetest und wir nun ausreichend deiner Gaben haben, um sie mit unseren Gästen zu teilen.

Wir bitten dich, reinige die Speisen,

die unser fleißiges Volk aus deinen reichen Gaben bereitet hat,

von allem Gift und Seuchenkeim, die über unser Tal gekommen sind.

Deine Kraft mache sie rein und frisch,

auf dass sie auch unsere Seelen rein und frisch und frei von jedem Gifte machen,

und uns wohl nähren mögen.

Es sei!“

Schnell zog sich Perainhulda zurück in die Menge und stellte sich dicht neben ihren Mann, der ihr bestätigend die Hand drückte.

Nun war Firumar an der Reihe, die Jagdbeute zu segnen, die Teil dieses Mahles werden sollte. Er schritt ebenfalls vor die Tafel und blieb zunächst schweigend stehen. Dann drehte er den Kopf zu Mika und deutete ihr mit einem eindringlichen Blick, an seine Seite zu treten. Als die Novizin überrascht und stolz zugleich neben ihm stand, hob er die Arme und streckte die Hände nach oben aus. Für die Umstehenden, die nur seinen in einen Pelzumhang gehüllten Rücken von hinten sahen, wirkte der grauhaarige, großgewachsene Mann selbst wie ein Bär, der in Angriffsstellung stand. Mit tiefer, bebender Stimme fing er an zu sprechen:

“Alter vom Berg,

grimmiger Jäger,

Du stelltest uns auf die Probe

und Du fordertest Deinen Tribut.

Unsere Gefährten haben mit ihrem Blut gezahlt,

damit Du uns Deine Gnade zuteil werden ließest.

Du stelltest uns Deiner Prüfung,

und wir haben uns Deiner würdig erwiesen.

Schenke Milde unserem Kameraden, der sein Leben gab,

um unsere Jagd zu einem Erfolg werden zu lassen.

Schenke Deine Gnade deiner Novizin,

damit sie sich auch in Zukunft Deiner würdig erweisen kann.

Nun segne die Beute,

die Du uns als Lohn unserer Mühen darbotest.

Möge sie uns Kraft und Stärke verleihen,

um auch die Jagd auf die Feinde Deiner Geschwister zu bestehen.”

Der Albenholzer nahm seine Hände herunter und wandte sich nun Mika zu. Er raunte ihr leise zu: “Nun du!”

Mikas Herz schien einen kurzen Augenblick stillzustehen und sie wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Dann schritt sie nach vorne vor die Tafel mit den Speisen und kniete sich von einem gebratenen Wildschweinferkel nieder.

“Herr Firun, eisiger Jäger,

wir danken Dir für Deine Gnade!

Durch Deine Führung haben wir dieses Tier und seine Gefährten erlegt.

Auch sie folgten nur ihrer Bestimmung,

doch im ewigen Kampf um das Überleben

konnte nur eine Partei überdauern.

Zum Schutz der Ernte und des Überlebens unserer Bauern

musste die Rotte ihr Leben opfern.

Und so ehren wir Dich, weißer Jäger,

indem wir ihr Opfer annehmen und untereinander teilen.

Milde Herrin,

erhöre unsere Bitten.

Verscheuche die Angst,

die unsere Gemeinschaft befallen.

Verscheuche die Sorgen,

die der Vergifter über uns gebracht.

Vertreibe die Dämonen

in Herz und Verstand.

Weise uns den Weg,

nimm uns bei der Hand.”

Firumar legte seiner Novizin die Hand auf die Schulter und drehte sich und sie zu den Umstehenden um. Erneut hob er seine Hände, die wie Pranken wirkten. “Es sei!” schloss er die Gebete.

Auch Mika hob ihre geöffneten Hände, wobei an ihrer Linken ein Streifen neu gebildeter Haut deutlich zu sehen war, der quer über die Handfläche verlief. Es war zu erkennen, dass zwei Ihrer Finger ungewöhnlich abstanden. Auch sie wiederholte Firumars Worte. “Es sei!”

“Das Leben ist das wichtigste Gut auf Dere, denn ohne Leben gibt es keine Familie und keine Freunde. Ohne Leben gibt es nichts, was wir anpflanzen und ernten könnten, nichts das wir hegen und erlegen könnten, um satt zu werden. Bevor wir nun zum gemeinsamen Mahl schreiten, bitte ich dich, Bruder Rionn, segne für uns die Lebenden hier im Raum. Und vergiss nicht, den Segen auch für die zu erbitten, die jetzt nicht bei uns sein können.” Travian lächelte den Tsa-Geweihten an.

Rionn blickte nach oben und hob die Arme. So verharrte er einen Moment in Stille. Unvermittelt wurde er umspielt vom farbenfrohen Licht des Regenbogens. Ein kleiner Schmetterling flatterte um seine Arme. Dann begann er zu beten:

“Sei gepriesen, Du Jugendliche,

Du Herrin der ewigen Jugend, o Lebenspendende!

Gewaltige Zeichen deiner Größe hast Du uns gesendet.

Mitten hinein in die Dunkelheit und in die Anfechtung,

in das Leid und in die Verzweiflung

hast Du Deine Macht demonstriert.

Du hast den Zwillingen Ardare und Eoinbaiste das Leben geschenkt!

Du hast der Familie Borkmund neue Hoffnung geschenkt!

Du hast Isfried vor dem vorzeitigen Tode bewahrt!

Du hast Ardare, Hesindiard und Gudekar zu Werkzeugen

deines gnadenreichen Wirkens gemacht.

So dürfen auch wir zuversichtlich in diesen Tag gehen,

denn wir wissen durch dich und dein gnadenvolles Tun, o Ewigjunge,

dass wir nicht von den Göttern verlassen sind.

Nein! Sie stehen vielmehr an unserer Seite!

So dürfen wir darauf vertrauen, dass die Zwölfe uns auch helfen werden,

das Böse zu besiegen,

dem Übeltäter das Handwerk zu legen und seine Geiseln zu befreien.

So bitten wir nun um deinen Segen für die Lebenden,

für all jene, mit denen wir uns verbunden fühlen,

die wir in unseren Herzen tragen,

für all jene, die hier nicht bei uns sein können.

Erneuere uns in deiner Kraft, o Quell, aus dem das Leben strömt!

Dein buntes Licht durchdringe uns, dring tief in unsere Herzen ein!

Ermutige uns zu neuem Tun, lass uns spüren deine schöpferische Freude!

Die Macht des Bösen banne weit, schenke Frieden uns allezeit!

Atme in uns! Belebe uns! Schaff uns neu!

So sei es.”

Dann senkte der Tsageweihte seine Arme wieder und blickte einen Moment lang schweigend zu Boden. Als er seinen Kopf wieder hob und den Menschen in die Augen blickte, war sein Antlitz erfüllt von einem lebensfrohen Lächeln, dem man sich nicht entziehen konnte, so ansteckend wirkte es.

Trotz all der Schrecknisse, die das Tal in den vergangenen zweimal zwölf Stunden heimgesucht hatten, verbreitete sich nun wie eine schützende Decke ein Hauch von Trost und Hoffnung und Zuversicht über den Versammelten. Kinder fingen fröhlich zu lachen an und auch bei so manchem Erwachsenen stahl sich ein Lächeln ins Gesicht.

Travian blickte sich einige Augenblicke in der Menge um und fragte dann: “Gibt es unter uns noch jemanden, die oder der sich berufen fühlt, ebenfalls segnende Worte zu sprechen?”

Die Baroness von Immergrün, geheime Phexgeweihte, schaute teilnahmslos in die Runde, doch schlug sie unbemerkt mit ihren Fingern das Zeichen des Phex. Gedanklich versprach sie ihrem Gott ihren Verlobungsring, auf dass diese Gemeinde das Glück hold sei.

Schließlich nahm Travian einen der Körbe mit den traviagesegneten Brotfladen, die an der Bühne bereit standen und fing an, Stücke von einem Laib abzubrechen und den Geweihten zu geben, wobei er jeden von ihnen herzig umarmte. Anschließend sprach er selbst ein Segensgebet an die gütige Mutter Travia:

“Herrin Travia, wir danken dir für die Gastfreundschaft,

mit der das Haus Weissenquell uns hier empfangen hat.

Wir danken dir für die Fürsorglichkeit,

mit der Friedewald seine ihm Anvertrauten umsorgt und behütet.

Wir danken dir für die Speisen, die mit uns geteilt weden.

Blicke auf uns hernieder und segne unser Mahl,

auf dass wir gestärkt unserem Tagwerk nachgehen können.

Lasse unser Herdfeuer nie erlöschen,

auf dass es unser Heim und uns stets wärme.

Himmlische Mutter, Dir ein Dank

Für Gemeinschaft, Speis und Trank.”

(Angelehnt an die Gebete aus dem “Travia Vademecum”)

“Brüder und Schwestern, nun esset das Brot, das ich euch dargeboten habe. Und dann tut es mir gleich. Nehmt ein jeder einen Korb und verteilt das Brot unter der Gemeinschaft. Achtet darauf, dass eine jede und ein jeder ein Stück davon esse, auf dass Travias Segen jeden hier in unserer Versammlung erreiche.” Travian nahm die Körbe und reichte jedem der Geweihten einen davon. Während das Brot verteilt wurde, ging auch Travian in der Scheune umher und umarmte alle Leute, an denen er vorbei kam.

// Bitte schreibt Eure Reaktionen auf das Verteilen und Essen des Brotes und die Umarmung des Traviageweihten

Die ganze Zeremonie hatte Doratrava irgendwie wie in Trance an sich vorüberziehen lassen. Ja, es war schön und gut und wichtig, den Segen der Götter herbeizurufen und damit ein Bollwerk gegen den Einfluss Lolgramoths zu schaffen. Aber das Wirken der Götter führte leider nicht dazu, dass sich die Menschen vernünftig verhielten, wie man an ihrem eigenen Beispiel sah. Sie hatte genug von diesem Ort und vielen der Leute hier, von ein paar Ausnahmen wie Merle oder Tsalinde oder auch Nivard oder Rionn abgesehen, sie wollte das alles hinter sich lassen. Dazu musste aber erst die Verhandlung stattfinden, und diese Zeremonie zögerte wiederum selbige hinaus, was ihr nicht schmeckte.

Als dann auch noch der Traviageweihte kam, um sie zu umarmen, ließ sie das zwar geschehen, aber nur sehr steif und ohne sich wirklich wohl dabei zu fühlen. Vom Brot aß sie zwar, aber eher pflichtschuldig als sich etwas davon zu erhoffen. Wieder dachte sie nur daran, wann denn endlich die Verhandlung stattfinden und was das Ergebnis sein würde.

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