LH1-Für Travia

1. Akt: Für Travia – Anreise, Tag der Treue & Fest des Volkes

(12. Travia 1045 BF)

  • Ankunft der Gäste und das Fest zum Tag der Freude.

Ein Kapitel der Lützeltaler Hochzeit


Das Dorf macht sich bereit

Die Herbstsonne ließ das Laub der Obstbäume und der angrenzenden Waldränder im Lützeltal in traviagefälligem Orange leuchten. Noch erwärmten Praios’ Strahlen tagsüber die Luft, doch sobald am späten Nachmittag Praois sein Antlitz hinter den Wipfeln des Haderholzes versinken ließ, zog eine feuchte Kälte vom Bach her in das Lützeltal.

Schon von Weitem war das geschäftige Treiben in Lützeltal zu sehen und zu hören. Es wurde gehämmert und gesägt. Die letzten Vorbereitungen wurden getroffen, um den Tag der Treue zu begehen, um die Gäste willkommen zu heißen und – natürlich – um in zwei Tagen den Traviabund zwischen Gwenn von Weissenquell, der Tochter des Edlen, und Rhodan Herrenfels feiern zu können. Überall im Dorf wurden orangefarbene Wimpel und Fähnchen aufgegangen. Einen hohen Mast auf dem Dorfplatz zierte eine orangefarbene Fahne, auf die das Wappen der Weissenqueller aufgenäht war.

Tische und Bänke wurden auf dem Dorfplatz in zwei Bereichen aufgestellt: Ein Bereich für die geladenen, vornehmen Gäste und ein Bereich für die Bewohner des Dorfes. Die Zimmermannsleute waren noch dabei, am Rande des Dorfplatzes ein Podest als Bühne aufzubauen, während rund herum bereits an mehreren Feuerstellen verschiedene Kessel dampften und Fleisch gegart wurde. Aus dem Brauhaus wurden Fässer herausgerollt und Kisten voller Becher und Krüge herausgetragen. Einige Musiker übten noch einmal die Lieder, die sie heute und in den nächsten Tagen zum Tanz spielen wollten.

Etwas abseits auf einer Streuobstwiese wurden Stroh- und Heuballen mit Mistgabeln auseinandergezogen und über den Boden verteilt. Hier konnten die Gäste, die nicht in einer der anderen, zum Teil provisorisch zurecht gemachten Unterkünfte ein Quartier gefunden hatten, ihr Zeltlager aufschlagen. Zahlreiche vorbereitete Feuerstellen sollten die nächtliche Kälte des beginnenden Herbstes vertreiben.

Eine lange Liste von Familienangehörigen sowie mit den Brautleuten befreundeten und verbündeten Häusern waren geladen. Nach und nach kamen die Gäste an. Wie eine Karawane zogen die Reisenden sowohl von Norden als auch von Süden entlang der Straße in das Dorf ein. Überall sah man Menschen, die ihr Wiedersehen mit einer herzigen Umarmung würdigten. Selbst einige Angroschim waren geladen.

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Die Gäste treffen ein

Unterkünfte

Folgende Unterkünfte stehen zur Verfügung:

  • Besonders hochrangige Gäste sowie besondere Ehrengäste kommen im Herrenhaus der Weissensquells unter, die dafür in das Gesindehaus umgezogen sind. (Witta von Dürenwald, Lares von Mersingen mit Schwester und Knappin, Baronin Liana Alyandéra Morgenrot von Rodaschquell mit Anhang)
  • Das Gasthaus „Zur Weißen Quelle" vermietet gute Zimmer zu einem saftigen Preis. Wer seine Gesinde im selben Haus unterbringen möchte, kann einen Schlafplatz im Schlafsaal im Dachgeschoss dazubuchen. (Rhodan Herrenfels & Gwenn v. Weissenquell, Baroness Ardare von Kaldenberg, Darian von Sturmfels, AdelmannXI mit seiner Frau Ativana)
  • Ähnliches ist im oberen Stock der Brauerei möglich, wo nicht ganz so komfortable Zimmer zu einem deutlich günstigeren Preis provisorisch hergerichtet wurden.

(Meta Croy, Rajalind von Zweibruckenburg & Leander, Alana & Rahjel von Altenberg)

  • Wer es rustikal mag, kann im „Jagdschloss“, einer großen Jagdhütte am Waldesrand mit 5 Gästezimmern unterkommen, allerdings ist ein kleiner Weg zum Dorf zu absolvieren.

(Lucilla von Galebfurten, Doratrava, Firumar & Mika, Nivard von Tannenfels)

  • Auf der Streuobstwiese am südlichen Dorfrand wurde mit Heu und Stroh der Platz für ein Zeltlager vorbereitet.

(Rondrard Ingeras von Storchenflug und Gefolge, Borix & Murla)

  • Schon auf dem Weg ins Dorf war es aufgefallen, dass an einigen Bauernhäusern neben der Tür orangene Kissen mit aufgestickten Gänsen aufgehängt wurden. Diese machen deutlich, dass man sich hier in dem Bauernhaus einquartieren kann. Gegen einen angemessenen Obolus können so ganze Familien die traviagefällige Gastfreundschaft der Lützeltaler Bauern genießen.

(Familie Kalterbaum, …)

  • Beim Schmied, einem Angroscho, wurde die Ingra-Geweihte einquartiert.

(Imelda von Hadingen)

Die Gäste aus Rosenhain

Lares von Mersingen dementgegen war beileibe nicht bei bester Laune. Ein kleiner Erdrutsch, der nur zwei Tage nach Abreise seines Kontormeisters den schnellsten Pass über die Ingrakuppen unbegehbar gemacht hatte, hatte ganz erhebliche Aufräumarbeiten gefordert. Die Erde schien sich der Wärme wegen gelockert zu haben, dabei sollte im TRAviamond eigentlich schon Schnee auf den Gipfeln rund um das beschauliche Gut in der Baronie Rodaschquell liegen. Irgendetwas war nicht in Ordnung, das spürte der Mersinger ganz eindeutig. Die Aufräumarbeiten hatten fast eine Woche in Anspruch genommen - und hätte er nicht selbst mit angepackt, hätten sie die Hochzeit wahrscheinlich verpasst. Darüber hinaus ging ER noch immer um… Eine Hochzeit, welch eine Gelegenheit. Als ob sie IHM das Paraphernalium auf dem Serviertablett präsentieren wollten. Dementsprechend nervös wirkte der kleine Ritter, als er nicht im Prachtornat, sondern in Wappenrock und voller Bewaffnung im Lützeltal eintraf. Seine Schwester Miranda von Mersingen und sogar seine Pagin Basilissa von Keyssering hatten versucht, ihn zu beruhigen und angesichts der Hochzeitsfeier daran erinnert, anderen Menschen ihren Spaß zu lassen - gut, die mittlerweile fast jugendliche Basilissa hatte es etwas anders formuliert, war sie doch darauf bedacht, ihren Schwertvater nicht zu reizen. Sie kannte seine Launen, doch war er zu ihr bisher immer gerecht und väterlich zugewandt gewesen. Doch seit einigen Wochen schien der Schwarzhaarige nicht mehr aus dem Grübeln herauszukommen. Seine schlechte Laune war ansteckend - und die junge Baroness hatte langsam aber sicher die Schnauze voll. Seine Schwester, die extra aus Darpatien angereist war - nur mit Mühe hatte sie sich diese eine Woche ausbitten können - war vielmehr besorgt um ihren großen Bruder. So derangiert hatte sie ihn noch nie gesehen. Bisher war er das Rückgrat der Familie gewesen…wo doch der Vater…

Nur zwei Reisende der Mersinger Entourage ließen sich von der schlechten Laune nicht anstecken. Der eine, weil er völlig ungeachtet des Junkers schlecht gelaunt war: Erbosch, Sohn des Kalax hing schief auf seinem Zwergenpony. Es durfte das erste Mal in vierzig Götterläufen sein, dass der Zahlmeister des Rosenhainer Kontors eine längere Strecke geritten war. Und dann auch noch für eine Hochzeit?! Eines Kurzlebigen?! Gut, der Herrenfels war sein Vorgesetzter und der guten Ordnung halber… Aber es blieb so viel Arbeit liegen? Wer würde in seiner Abwesenheit die Bücher führen? Niemand! Das würde alles später anfallen. Das hieß dann wieder: Bis in die Nacht. Dementsprechend grummelte der Erzzwerg vor sich hin, was ihn wenigstens von der physischen Erschöpfung ablenkte. Diese ganze Reiterei war nichts für ihn. Obwohl der Junker nur etwas größer war als er selbst, merkte man die Reiterfahrung. Auf der anderen Seite war Vinja Rankmann bester Laune. Die junge Frau mit dem fließenden braunen Haar und den großen, goldenen Augen konnte so schon nichts aus der Ruhe bringen, doch erlebte sie aktuell die wohl schönste Zeit ihres nur zwanzig Götterläufe langen Lebens. Die Gärtnerin - ja, so jedenfalls bezeichnete sie der Mersinger vorrangig - genoss die Fülle der Natur, die Rosenhain im letzten Jahr zu bieten hatte, pflegte mit Hingabe die Rosen und konnte jetzt sogar Weinreben bestaunen. Die Akoluthin der schönen Göttin kümmerte sich um den kleinen Schrein und die vielen Frauen des Ortes - trotz ihrer jungen Jahre war sie schnell zur Ansprechpartnerin für all die besonderen Sorgen der Damen avanciert. Die Aussicht, eine große Hochzeit des sympathischen Rhodan feiern zu dürfen, machte sie überglücklich. „Kommt, wir sind gleich da!“, trällerte sie vergnügt - was nur ein mürrisches Brummen des Zahlmeisters provozierte.

~*~

Haus Galebfurten

“Das sieht einladend aus”, sprach der hochgewachsene Rittersmann mit dem kastanienbraunen, wilden Haaren, die ihn bis auf die Schultern fielen, als das Dorf in Sichtweite kam.

“In der Tat. Der gütigen Mutter zum Wohlgefallen”, antwortete die zierliche Gestalt mit den giftgrünen Augen derer von Galebfurten und den hüftlangen, braunen Haaren.

Beide, die noch sehr junge Junkerin von Galebfurten und vom Quellpass, Erbvögtin der Baronie Galebquell und ebenso ihr etwas älterer Begleiter, der Ritter Lûthardt Anselm von Galebfurten, saßen hoch zu Ross. Mit gemächlichen Schritten lenkten die Edelleute ihre Pferde, einen Apfelschimmel und einen Fuchs in Richtung des Dorfes.

Lucilla, die mit zweitnamen Amalteia hieß, hatte noch keine zwanzig Götterläufe gesehen, war vom Baron von Galebquell Roklan von Leihenhof abermals entsandt worden, an seiner statt einem gesellschaftlichen Ereignis beizuwohnen, eine Bitte, die die standesbewusste Junkerin gerne nachkam, dabei aber auch eigene Ziele im Blick hatte.

Wunnemar, das Familienoberhaupt derer von Galebfurten, Baron von Tälerort in der Rabenmark, hatte Lucilla gebeten das Haus Weissenquell in Augenschein zu nehmen, da eines ihrer Mitglieder - Gudekar von Weißenquell - sich anschickte, an seinen Hof in die Rabenmark zu kommen, um ihm als Magus zu dienen.

Den Baron interessierte dabei offenkundig nicht nur die Motivation des Arconiters, sondern darüber hinaus auch die Möglichkeiten eines Bündnisses mit dem Hause Weissenquell.

Lucilla lächelte bei diesen Gedanken. Wunnemar, der im Volke ‘der weiße Witwer’ genannt wurde, wuchs an seiner Verantwortung. Ihre Befürchtungen, er wäre nicht in der Lage, die Geschicke des Hauses zu führen, hatten sich nicht bewahrheitet. Nein, vielmehr schätzte die Rechtsgelehrte die überaus erquickenden Gespräche mit ihm, die stets konstruktiv waren. Wunnemar war nicht ungeschickt in Sachen Politik und Staatskunst. Roklan und vermutlich ebenso der Hlûtharswachter Baron, dem er als Ritter gedienst hatte, hatten ihn gut ausgebildet. Lucilla bedauerte nur, dass Wunnemars Treuegelübde verhindern würde, dass er einen Nachkommen und somit einen Erben zeugen konnte. Aber damit würde dann vielleicht eines ihrer Kinder zum Zuge kommen, ein Spross der Verbindung der Häuser Galebfurten und Leihenhof.

“Reiten wir gleich zu diesem ‘Jagdschloss’, oder ins Dorf?”, fragte der in einen dunklen Gambeson und einem gelb-blau geteilten Wappenrock gekleidete Lûthardt, während er den Sitz seines Schwertes und die Befestigung von Schild und Reiterhammer an den Satteltaschen des Pferdes prüfte, in denen auch der Rest seiner Rüstung sicher verstaut war.

Der als tobrisches Flüchtlingskind von der verstorbenen Junkerin Jolenta von Galebfurten vor der Traviakirche adoptierte, gebürtige Tobrier, war ordnungsliebend und über die Maßen aufmerksam, fast schon penibel. Lucilla führte dies auf den Schwertvater Lûthardts - Roderich von Krotenau zurück.

Die Erbvögtin schüttelte sachte den Kopf und machte sich daran, ihre wilde Mähne zu einem züchtigen Knoten zu binden, so wie es sich geziemte.

“Wir reiten ins Dorf und stellen uns vor”, sprach sie mit glockenheller Stimme.

Lûthardt nickte. “Ich dachte, ihr würdet euch vielleicht umkleiden wollen, bevor…”

“Anselm”, fiel Lucilla ihm ins Wort, die ihn gern und bewusst bei seinem in ihren Ohren wohlkingenden Zweitnamen nannte. “Wir sind unter uns. Du musst nicht so förmlich sein.”

Der Angesprochene presste kurz die Lippen aufeinander und nickte dann. Er kannte diesen ‘Vorwurf’, den er bereits diverse Male unterwegs vernommen hatte.

“Ich werde mir Mühe geben.” Eine Antwort, die der Junkerin ein helles Lachen abverlangte.

“Anselm, du bist abermals als Bedeckung an meiner Seite. Das heißt, wir werden unweigerlich viel Zeit miteinander verbringen. Freunde dich mit dem Gedanken an.”

Lûthardt wurde rot und er erwiderte nichts. Lucilla, die jene Regung nicht entging, spitzte süffisant lächelnd den Mund. “Und nein, ich gedenke nicht, mich vorher umzuziehen. Heute ist nicht der Tag des Bundes und es ist noch früh am Tag. Wir werden zum Fest des Tags der Treue schon gebührend auftreten, sorge dich nicht. Jetzt verlangt es mich nach einem Glas verdünntem Wein und einem schlichten Mahl.”

Betont langsam blickte sie anschließend an sich herab und begutachtete ihre Reisegarderobe aus schlichter, dunkler Wildlederhose, hohen, geschnürten Stiefeln und einer vorne durch zwei Reihen Knöpfe geschlossene, hellblaue Brokatjacke, über die ein Wollmantel lag, welcher bis auf den Rücken ihres Schimmels reichte.

“Oder meinst du etwa, ich bin ‘so’ nicht vorzeigbar?”, fragte sie dann gespielt vorwurfsvoll und mit lauernden Blick, der ihr viel Selbstbeherrschung abverlangte. Die Unsicherheit des jungen Mannes im Umgang mit der Frauenwelt, amüsierte sie. Immerhin war er doch sechs Jahre älter. War es ein Zeichen der tiefen traviafrömmigkeit eines Mannes, der einen beträchtlichen Teil seiner Kindheit in einem Waisenhaus verbracht hatte, welches von der Priesterschaft der Herrin von Heim und Herd geführt wurde?

“Natürlich nicht euer Wohl… ich meine Lucilla”, eilte sich Lûthardt stockend zu antworten.

“Dachte ich mir”, schloss die Erbvögtin mit einem weiteren Lächeln, da sie die Grenze des Dorfes überquerten.

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Haus Morgenrot

Sie hatte einige Tage reisen müssen, die kleine Delegation der Rodaschblick, dem Hauptsitz der Baronie Rodaschquell. Und dass die Herrin dieser Lande der Einladung zur Hochzeit folgen würde, war jenseits jeden Zweifels gewesen. Schließlich heiratete der Kontormeister des Edlenguts Rosenhain, das in ihrer Baronie lag. Die Hochzeit eines Kontormeisters mochte vielleicht nicht jede Dame und nicht jeden Herrn von Stand nach Albenhus locken, doch Baronin Liana scherte sich nicht darum. Vielmehr sah sie in der Hochzeit einmal mehr die Gelegenheit, alte Bande zu festigen und neue zu knüpfen.

Begleitet wurde sie wie ehedem von ihrer Zofe Eduina Malganahr, ehemals eine Edeldame am darpatischen Fürstenhof, und ihrem Ritter Darian von Sturmfels.

Letzterer trug eine Lanze mit einem Wimpel in den Farben der Baronie, Blau und Silber, so dass für kundige Augen schon von weitem zu erkennen war, wer die kleine Gruppe sein mochte.

Die Dienerschaft beeilte sich, der Baronin zu versichern, dass ein Gemach im Herrenhaus für sie bereit stehe, als die drei gegen Mittag eintrafen. Doch bezüglich des Ritters herrschte zunächst noch etwas Unsicherheit.

Darian winkte mit einem Lachen ab.

“Ich kehre gern im Gasthaus ein, um euch kein Kopfzerbrechen zu bereiten.' Sofern im Gasthaus noch ein Zimmer frei sein sollte”, sagte er.

Liana bedachte ihren Ritter mit einem amüsierten Blick, saß ab und sah sich um, während man sich um ihre schneeweiße Stute kümmerte.

Der Dorfplatz und das Herrenhaus machten einen freundlichen, gepflegten Eindruck …

Es dauerte nicht lang, da kam aus der offen stehenden Tür des Herrenhauses der Edle Friedewald von Weissenquell persönlich heraus geeilt. Friedewald war nicht mehr der jüngste - für ein Rosenohr. Er hatte die schon mehr als 60 Jahre auf dem Buckel, seine gepflegt geschnittenen Haare waren grau, und der gestutzte Vollbart konnte die beginnenden Falten auf der gebräunten Haut in seinem Gesicht nur teilweise verdecken. Ihm folgte die Magd Wiltrud Bächerle. Auch sie war nicht mehr die jüngste, wenn auch deutlich nicht so alt wie der Herr des Hauses. Ihr rundlicher Körperbau ließ es für sie jedoch schwer erscheinen, mit ihrem gestählten Herren Schritt zu halten.

“Seid Willkommen, Eure Hochgeboren!”, begrüßte der Hausherr die Baronin. “Es ist mir eine Ehre, Euch und Euer Gefolge in unserem bescheidenen Haus zu begrüßen. Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise.”

“Habt Dank für Eure freundliche Begrüßung”, antwortete die Baronin freundlich. “Es tat gut, wieder einmal zu reiten, anstatt länger in der Kutsche zu sitzen. Auch wenn dies bedeutet … “ - sie warf ihrer Begleiterin einen Blick zu - “dass das Gepäck nicht so umfassend ausfällt.”

Neben den drei Reittieren gab es noch ein Packpferd, das Eduina, die Zofe, mit sich führte, während sie ihrer Herrin einen Blick zurück warf, der gleichermaßen wissend wie auch amüsiert und dezent pikiert schien.

Der Ritter an ihrer Seite saß ab und reichte der Dame seine Hand, und sie stieg ebenfalls vom Pferd.

“Dies ist Herr Darian von Sturmfels”, sagte die Elfe sanft, “und dies ist die Dame Eduina aus dem Hause Malganahr”. Sie wies zunächst auf den Ritter, dann die Zofe.

Der Edle von Lützeltal verneigte sich vor den Gästen. “Meine Damen, mein Herr, darf ich Euch in das Haus hineingeleiten? Im Speisesaal erwartet Euch eine kleine Erfrischung, und Wiltrud und Harka können Euch Eure Zimmer zeigen, falls Ihr Euch nach dem langen Ritt frisch machen wollt.

„Aber Herr Friedewald, für den Hohen Herrn haben wir ein Zimmer im Gasthaus freigehalten!“ mischte sich die Magd ein.

Liana konnte sich ein heiteres Schmunzeln nicht verkneifen. So, wie die Magd sich brüsk eingemischt und ihrem Herrn widersprochen hatte, erinnerte sie die Elfe doch sehr deutlich an die Zofe, die an ihrer Seite stand, und die ebenfalls bekannt dafür war, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Und die Magd war Liana damit auf Anhieb sympathisch. Sie schaute sie kurz an.

“Ich bin sicher, Herr Darian wird auch im Gasthaus alles aufs Trefflichste vorfinden”, sagte sie dann, drehte sich halb und warf ihrem stattlichen Ritter einen kurzen Blick zu.

“Gewiss”, gab dieser mit einem leichten Schulterzucken zur Antwort - in dem Wissen, dass es ohnehin keine Rolle mehr spielte, da die Sache bereits entschieden war.

“Habt Dank für Euer Verständnis und verzeiht mir bitte die Unannehmlichkeiten, die dieses Missverständnis verursacht. Herr von Sturmfels, solltet Ihr irgendein Bedürfnis verspüren, bei dem wir Euch entgegenkommen kommen, so scheut Euch bitte nicht, einen Boten zu unserem Haus zu schicken, damit wir Euch entgegenkommen können!” Dem Edlen war die Situation spürbar unangenehm. Dennoch spürte Liana, dass er seine Magd nicht schelten würde.

Darian winkte beschwichtigend ab. “Solange ich einen gut gefüllten Krug bekomme und ein herzhaftes Mahl und ein stabiles Bett - und bei allem habe ich keine Zweifel -, ist Euer Gasthaus gewiss der richtige Ort für mich”, versicherte der Ritter mit einem breiten Lächeln dem Edlen von Weissenquell.

“Wir danken Euch für das freundliche Willkommen. Und ich freue mich sehr auf das Fest in diesem schönen Ort!””, sagte Liana dann wieder an den Gastgeber gewandt - und ließ sich gern von Friedewald in das Herrenhaus führen.


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“Eine Elfe? Eine leibhaftige Elfe? Im Haus unseres Herren, sagst du? Bist du ganz sicher?”

“Ja, absolut sicher! Wiltrud hat die spitzen Ohren mit eigenen Augen gesehen. Und die ist die Base meines Mannes.”

(Geflüster, das sich im Dorf ausbreitet.)

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Familie Adelmannsfelden

“Jetzad Herrschaft! Wo san den de von der Sippschaft? Weib, schaug ned so deppat.” In seinem besten Wams, den er mit sämtlichen je erworbenen Orden geschmückt hatte, dazu einer dunklen Hose aus edlem Stoff und seinen guten Stiefeln stand Adelmann XI von Adelmannsfelden mit seiner Gattin Ativana vor dem Herrenhaus. Sein Knecht hatte sich eben Hilfe vom Stallburschen Marno geholt und Pferde samt Kutsche wurden versorgt. Zu Adelmann XIs Ärger hatte man noch keine Notiz von ihm genommen. “Der Bursch, der werd sein Herrn scho hoin.” Ativana antwortete etwas verschlafen ohne rechte Emotion auf das Gebaren ihres Gatten. Sie war eine schöne Frau, lange, fast schwarze Haare, hellblaue Augen, die von vollen Wimpern geziert wurden. Ihr Alter und die Geburt des Stammhalters Adelmann XII sah man ihr kaum an. Sie trug bequeme Reisekleidung, ein blaues Wollkleid mit rundem Ausschnitt in dem man ja ihre Figur durchaus als altersentsprechend rahjagefällig bezeichnen konnte.

Aus dem Wirtschaftstrakt eilte eine ältere, leicht rundliche Frau heraus in den Kleidern einer Magd herbei, sofern man ihren Gang ‘eilen’ nennen mochte. Sie wischte ihre Hände an einem Tuch ab, dass sie schließlich unter das Band steckte, das ihre Schürze um die ausladende Hüfte hielt. “Ach je, die nächsten Gäste kommen, und keiner ist da, sie in Empfang zu nehmen!” schimpfte sie. Dann erkannte sie den Mann, der dort in voller Würde stand. “Der gute Herr Adelmann!” Gleich korrigierte sie sich, um die Form zu wahren. “Ach, meine Manieren! Euer Wohlgeboren von Adelmannsfelden! Es ist schön, euch endlich mal wieder auf dem Gut zu sehen! Das muss ja ewig her sein. Wart Ihr seit Cialas Hochzeit überhaupt schon einmal wieder hier?” Die Magd lief direkt auf den Edlen zu und umarmte ihn herzig.

„O mei, Is des a fette Blunzn worn.“ Leise flüsterte er zu sich selbst. Bereitwillig ließ er sich umarmen, bis seine Orden, von den üppigen Brüsten aneinandergedrückt klimperten. „Und immer no so fesch wie damals. Artivana, kinm ume.— des Is mei zweite Frau. Und naa, seit damals bin ich nimmer da gwen.“ Zum Glück. Dieses Getue um Travia, das ging ihm schon sehr auf die Nerven. Arivana war immer noch schläfrig wandte sich an die Frau „Schaugts doch bitte, dass unser Graffl und er a Zimmer bekommen. Und der Herr Friedewald, dem gebt’s auch Bescheid.“

“Sehr wohl Eure Wohlgeboren!” Wiltrud versuchte einen Knicks, was in Anbetracht ihrer Fülle jedoch nicht sehr elegant aussah. “Da unser Haus bereits voll ist, haben wir ein Zimmer für Euch im Gasthaus belegen lassen. Doch wartet hier so lange. Der Herr Friedewald wird gleich kommen, Euch zu begrüßen. Wollt Ihr vielleicht in der Zwischenzeit im Speisesaal eine Erfrischung einnehmen?” Mit einem weiteren Elefantenknicks deutete Wiltrud zum Herrenhaus.

„Ja freilich, geh, Weib? Wir speisen etwas und dann wern ma scho segn.“ Ativana blickte teilnahmslos zu ihrem Gemahl, schüttelte den Kopf und gab der gwamperten Wiltrud einen Heller. „Habt Dank für die Mühe. Wir essen was im Speisesaal. Und an vorzüglichen Wein soi es hier ja a geben.“ Zumindest schien Ativana, wie Ciala durchaus fähig, den eigenartigen Dialekt der Gegend auch wechseln zu können.

Wiltrud schaute etwas überrascht, einen Heller von den Gästen zugesteckt zu bekommen, steckte den aber schweigend in die Tasche ihrer Schürze.

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Die Rahjanis und der Rahjaschrein in der Brauerei

Rajalind von Zweibruckenburg, Dienerin der Lieblichen aus dem Tempel von Albenhus, hatte sich in der Brauerei einquartiert. Sie war eingeladen worden, weil sich das edle Brautpaar bei einem von ihr angebotenen Pelura-Turniere kennengelernt hatte. Pelura, das war ein Spiel, das aus Almada stammte und bei dem man drei Kugeln geschickt geworfen an ein kleines Ziel heranbringen musste. Die junge Rahhani hatte Pelura während eines Aufenthalts in Punin gespielt, sich darin verliebt und Pelura in die Nordmarken gebracht. Was zuerst nur ein kleines Spieltreffen am Rande des Rahjanischen Freudensfests war, hatte sich im Laufe der letzten Jahre zu einem harmonischen kleinen Turnier entwickelt dieser Spiele waren sich Braut und Bräutigam dann über den Weg gelaufen war schon eine ganze Weile hier, denn sie war den travianischen Treiben entflohen, der ausgehend vom Tempel der Gänsemutter die ganze Stadt schnattern und gackern ließ, wie ein einziger großer Gänsestall. Nicht, dass sie Gänse nicht mochte, Rajalind schätzte die Strenge Mutter und ihre Dienerschaft, war sogar mit einem davon befreundet. Sie hatte allerdings die EInladung nach Lützeltal dankbar ergriffen und war vor dem Tag der Treue aus Albenhus ‚ausgebüxt’. Die junge Geweihte mit dem langen dunkelblonden Haar und der kurvigen Figur begleitete einer der älteren Novizen des Tempels, namens Leander.

Die umgängliche Geweihte, auf deren Lippen meist eine kleine Melodei lag und ihr Novize, der blonde junge Mann mit dem heiteren Wesen, der gern und dann aber grunzend lachte, hatten die Brauerei kurzerhand zur Heimstatt Rahjas gemacht, als sie einen kleinen Altar aufbauten, der eigentlich gut dort ins Bild passte:

Über einer Reisetruhe lag ein rotes Tuch geschlagen, auf dem vor einer Holzstatuette einer von Rosen und Weinreben umrankten Göttin ein Krug von dem örtlichen Bier, ein mit Rahjanisbeerensirup gesüßtes Sauerbier, etliche Becher verschiedenster Formen und Werkstoffe und ebenso mehrere verschieden große Flaschen standen, bei denen es sich um Weine, aber auch um Schnäpse handelte. Dazwischen fand sich ein Tablett mit Dörr- und kandierten Früchten, Früchtebrot, kleinen Kuchen, und diversen Süßigkeiten wie die Sahne-Karamellen und - wer hätte das gedacht - Kekse in Gänseform.

Die Zweibruckenburg hatte die Gänsekekse selbst hergestellt, ebenso wie die Bonbons. Leider musste sie Leander hin und wieder auf die Finger klopfen, damit er nicht zu vielen von ihnen aß. Eine Laute lehnte daneben. Drum herum lagen ein paar Decken. Die so dargebotene kleine ‚Tafel‘ lud zum Probieren und Verweilen ein.

Rajalind war aber niemand, die ständig um das Allerheiligste herumschlich. Sie überließ den Schrein ihrem jüngeren Tempelbruder und folgte der Neugier hinaus ins Dorf, wo sie das Treiben um die Ankunft der Gäste beäugte. So sah man die junge Rahjani in der Hand ein Schälchen Gänsekekse und Sahnekonfekt, welche sie an diejenigen, die ihren Weg kreuzten, verteilte.

Als die Zwillinge Alana und Rahjel von Altenberg, Base und Vetter der Braut, an dem Brauhaus eintrafen, in dem sie einquartiert worden waren, sahen sie noch das geschäftige Treiben vor und in dem Gebäude. Aus den Toren des Lagers wurden Fässer herausgerollt und auf einen Wagen geladen, um sie zum Dorfplatz zu transportieren, und in den Eingang der kleinen Gaststube wurden Körbe mit Decken und Kissen sowie verschiedene Kisten hineingetragen. “Mit dieser Kiste sollt ihr vorsichtig sein, hat Ihre Gnaden gesagt! Passt doch auf, dass ihr sie nicht fallen lasst!” schallte der Ruf eines älteren Mannes, der scheinbar das Sagen hatte zu den Knechten.

Vinja Rankmann flanierte gerade mit der Schwester des Mersinger Junkers Miranda über den Dorfplatz. Die junge Akoluthin war schon ganz aufgeregt, was die nächsten Tage so bringen würden. Im ruhigen Rosenhain waren Festlichkeiten ja eine Seltenheit und geschäftiges Treiben gab es höchstens im Kontor von Rhodan Herrenfels. Umso aufmerksamer und gespannter lugte sie hierhin und dorthin, in offene Kisten, dampfende Kessel und schwappende Fässer. Die lauten Rufe des Kommandierenden ließen sie hellhörig werden und so schleifte die Braunhaarige die junge Mersingerin förmlich hinter sich her. Miranda bemühte sich, mit der Gärtnerin Schritt zu halten, was ihr ersichtlich schwer fiel. In den letzten Wochen hatte sie nicht nur den anstrengenden Dienst am Hofe der Darpatischen Markgräfin geleistet, sondern auch den langen Ritt zurück in die Nordmarken absolviert. Ihr Bein schmerzte heftig - weshalb sie eigentlich langsamer machen musste. “Die Herrschaften, was für fragile Ware transportiert ihr?”, flötete Vinja munter und ließ sich durch die Aufdringlichkeit der Frage nicht irritieren.

Mit einem mürrischen Gesicht blickte der Knecht auf die Wagenladung, die noch darauf wartete, ausgeladen zu werden. Er musste die schweren Kisten der Gäste schleppen, Geweihte hin oder her, und wenn ihm eines der Dinger ausrutschte und beinahe seinen Fuß zertrümmerte, dann wurde er dafür auch noch gescholten. Als er jedoch zu den beiden Damen schaute hellte sich sein Blick auf. Zwei so liebreizende Geschöpfe würde er auch gerne unterhaken. “Das gehört den Rahjanis, die sich hier beim Rodenbach einquartiert haben. Die wollen wohl einen Schrein aufbauen.” Dann packte er zusammen mit einem weiteren Knecht die nächste Kiste und hievte diese vom Wagen.

„Was, nein wirklich? Das ist ja vortrefflich!“, juchzte die junge Dame. Neugierig tapste sie an die Kisten heran. Miranda hielt dementgegen etwas Abstand - nicht, dass sie jemandem ungeschickt im Wege stehen würde. „Wo findet man denn den Rodenbach? Ist das die hiesige Brauerei?“, stellte sich die Gärtnerin etwas dumm. Vielleicht war der zupackende Herr ja zuvorkommend und führte sie etwas herum? Dann würde sie sicherlich mehr über dieses entzückende Örtchen erfahren.

Als die Kiste abgeladen und auf eine Karre gestellt war, gab er seinem Helfer den Auftrag, diese in die Schankstube zu fahren, und drehte sich zu Vinja um. Er lächelte freundlich. “Ja, meine Damen, Ihr steht direkt davor. Das Brenn- und Brauhaus Rodenbach. Hier gibt es den besten Albenbluth und das beste Sauerbier im ganzen Albenhusischen!” Der Mann, ein kräftiger Bursche, so um die 25 Jahre, mit verschwitzten, schwarzen Haaren, hatte die linke Faust auf seine Hüfte gestützt und zeigte mit einer ausholenden Geste mit der Rechten auf das Haus, vor dem sie standen, ein längliches altes Bauernhaus, dessen Erdgeschoss aus Feldsteinen gemauert war. Das Obergeschoss bestand aus ordentlich in Schuss gehaltenem Fachwerk. Über seiner einfachen Kleidung trug er eine lederne Schürze. Seine Hände waren ebenfalls durch Arbeitshandschuhe aus Leder geschützt. Von seiner Stirn lief der Schweiß, den die Anstrengungen aus ihm herausdrückten. “Aber, wenn ihr Erlwulf Rodenbach selbst sucht, der steht da drüben.” Der Knecht wies auf den etwas älteren, rundlich gebauten Mann, der eben noch die Anweisungen gerufen hatte, nun aber von einer jungen Frau in einem roten schulterlosen Trägerkleid aus sanft fließendem Stoff, die nicht nur durch ihr Blumenband im Haar unschwer als Dienerin der Schönen Göttin zu erkennen war, etwas erhalten hatte, von dem er nun abbiss.

„Ach, um, danke“, murmelte die junge Frau enttäuscht und betrachtete eine Weile die Brauerei. ‚Pech musste man haben‘, dachte sie und wandte sich zu ihrer Begleiterin um. „Werte Dame, dann haben wir die Brauerei wohl gefunden.“ Sie zuckte mit den Achseln. Miranda legte den Kopf schief und betrachtete das Gesicht ihrer Begleiterin näher. Was wollte sie ihr nur sagen? Verwirrend, diese Sprunghaftigkeit. Sie selbst war ein heiteres Gemüt mit so manchen Anwandlungen, aber Vinja Rankmann konnte manchmal als junges Mädchen durchgehen. „Habt Dank“, verabschiedete sie sich an Vinjas Statt von dem jungen Burschen.

Die Gärtnerin war zwischenzeitlich schon an allen vorbeigehuscht und wie ein Wirbelwind neben der Geweihten der Rosenherrin aufgetaucht. „Ihr seht wunderschön aus - besonders das Blumenband steht Euch ausgezeichnet“, erklärte sie rundheraus aus strahlenden Augen. Miranda zuckte nur die Achseln und trottete dem ungestümen Geschöpf hinterher.

Mit einem Anflug von Enttäuschung schaute der Knecht den beiden Damen hinterher. Er hatte das Gefühl, gerade eine sich ihm bietende Chance vertan zu haben. Dabei hatte er doch die Frage der jungen Frau beflissentlich beantwortet. Aber was erwartete er? Die hohen Herrschaften, die dieser Tage so zahlreich im Dorf zu Besuch waren, sahen vermutlich nur mit Verachtung auf solch einfache Burschen wie ihn herab. Dabei standen er und seinesgleichen viel mehr ihren Mann, als all’ die feinen Herren zusammen – ausgenommen natürlich die Herren Friedewald und Kalman, die wussten auch anzupacken, wenn im Dorf Hilfe gebraucht wurde.

„Die Göttin mit euch! Eine rahjanische Süßigkeit?“ begrüßte die junge Frau die anderen beiden Frauen und reichte jeder ein kleines gebackenes Gänschen. Als Auge hatten die Gänse eine gedorrte Weintraube eingelegt, das gelbliche ‚Gefieder‘ war durch Eigelb aufgemalt. Daneben befanden sich braune Würfelchen, in der Schale, die sie in der Hand hielt. Der Duft von Honig und knusprigem Teig und die blumige Süße der beiden Rosen, die mittig in ihrem Kopfputz saßen, umwehte die langhaarige Zuckerbäckerin.

“Oh beeindruckend!”, freute sich die Gärtnerin und nahm das Federvieh mit beiden Händen entgegen. Mit einem herzhaften Biss war der Kopf ab. Miranda lächelte, bedankte sich höflich mit einem Knicks und musterte das Kunstwerk zunächst, bevor sie es beschnupperte. Der Geruch war einladend, fast wie der Rosengarten bei ihr zuhause. “Habt Ihr das Gebäck selbst hergestellt?”, frug sie voller Anerkennung. Vinja dementgegen hatte das süße Teilchen schon fast vollständig verputzt.

„Ja, natürlich! Wollt ihr auch eine Karamelle? Die habe ich auch gekocht.“ entgegnete sie und Stolz füllte ihre Augen mit Leuchten. „Seid ihr beiden unterwegs zu mir in den Temp.. Schrein?“ verhaspelte sie sich und kicherte amüsiert über ihren eigenen Versprecher.

Mirandas Augen weiteten sich bei der Vorstellung Rahjaschrein ein wenig, während Vinja unumwunden antwortete: “Ja selbstverständlich! Ich bin Vinja und das ist die hohe Dame von Mersingen!” Die quirlige junge Frau packte ihre etwas jüngere Gefährtin am Handgelenk und zog sie mit sich zur Geweihten der Rahja.

“Schön, ich zeige ihn euch. Nennt mich Rajalind,” stellte sich die Geweihte den nahezu Gleichaltrigen vor. Sie sah dann die Mersingerin neugierig an: “Und hat die Dame von Mersingen auch eine Namen?” Fragte sie schmunzelnd.

Miranda zog die Augenbrauen hoch und hielt sich bedeckt. Wie sollte sie diese Frage verstehen? "Mein Name lautet Miranda von Mersingen zu Rosenhain, Euer Gnaden. Habt Dank für Eure Einladung in den Schrein. Es schien mir, als würden diese tapferen jungen Burschen die vielen Utensilien transportieren, die den Schrein ausmachen. Kommen wir ungelegen? Stören wir Euch beim Aufbau?" Sie wies vorsichtig auf die schmachtenden muskulösen Männer.

„Ach das meint ihr, Miranda - übrigens ein sehr schöner Name, ihr solltet ihn benutzen!“ Sie zwinkerte. Dann folgte Rajalind dem Blick der Mersingerin zu den Arbeitenden. „Das sind die Sachen meines Bruders Rahjel, der ist eben erst angekommen.“ Sie machte eine einladenden Geste. „Aber so kommt doch, kommt ruhig herein! Und dann erzählt, welche Einladung euch hier auf diese Hochzeit führt, ich bin sehr gespannt.“

Mit diesen Worten ging die Geweihte voraus und hinein in die Brauerei, wobei sie darauf achtete, dass die beiden anderen ihr folgten.

Der Duft von Bier lag in der Luft, unverkennbar und das Aroma war fast schon ein wenig aufdringlich, obwohl sie sich im Vorbau befanden und die Siedekessel hinter einigen Türen lagen.

Rajalind führte Vinya und Miranda zu dem kleinen Schrein, der sehr prominent im Raum aufgebaut war, aber aussah, als gehöre er schon immer zum Mobiliar.

Das rustikale Holz des Fachwerkbaus fand sich in einer hölzernen Statuette einer von Reben und Rosen umrankten nackten Göttin wieder, die auf einem kleinen niedrigen Tischchen - bei genauerem Hinsehen war es eine Truhe, über die nur ein rotes Tuch geschlagen war - stand. Drum herum waren Krüge und verschiedene Flaschen aufgestellt und etliche Becher. Und es lagen in Schälchen allerhand Speisen bereit, die allermeisten waren Süßigkeiten: Dörrfrüchte, kandierte Früchte, dunkelbraunes Früchtebrot mit Nüssen, kleine Kuchen, die gut in eine Hand passten, ein Berg goldbrauner Honigkaramellen und weitere Gänsekekschen. Es war ein sehr züchtiger Schrein. Sogar die Scham der Holzrahja war von einer Rosenblüte bedeckt. Um das Tischchen herum lagen Decken und eine Laute.

„Setzt euch doch. Was wollt ihr trinken? Was wollt ihr kosten?“ fragte die Geweihte, als sie sich selbst auf die Decke vor dem Schrein niederließ. „Ich habe vom hiesigen Bier was da, das ist mit Rahjanisbeerensirup gesüßt, sehr lecker. Oder wie wäre es mit Wein aus Elenvina? Ich mag ja auch den Erdbeerlikör sehr gerne. Und bei den Speisen bedient euch bitte. Ist alles selbst gemacht. Beinahe alles.“

Vinja beäugte neugierig alle dargebrachten Leckereien und schien sich nicht recht entscheiden zu können. Ihr schlanker, drahtiger Körper huschte von einem Schälchen zum nächsten. Fast hätte Vinya ihre Begleiterin auf die faszinierende Konsistenz der gedörrten Früchte aufmerksam gemacht, doch konnte sie ihre übersprudelnde Begeisterung noch im letzten Moment zügeln.

Rajalind schmunzelte bei der Unentschlossenheit der anderen. „Nehmt euch ruhig von allem und freut euch am Genuss!“

Miranda dagegen nahm die freundliche Einladung der Geweihten an und platzierte sich mit einem vornehmen Knicks ihr gegenüber. Dabei bemühte sie sich, ihr linkes Bein zu verdecken. “Ich würde sehr gerne ein kleines Gläschen dieses Erdbeerlikörs kosten”, antwortete sie mit einem freundlichen Lächeln.

Drei Trinkgefäße waren schnell eingeschenkt und verteilt. Schon wenn man der Nase der Kelchöffnung nur nahekam, entfaltete sich Bilder von Erdbeerfeldern in der goldenen Sonne, von Früchten, die sonnenwarm und süß mit einem Klecks geschlagener Sahne so luftig, leicht und aromatisch den Gaumen kitzelten, dass es eine wahre Freude war, sie zu riechen, zu schmecken, zu fühlen, jemanden damit liebevoll zu füttern und liebevoll gefüttert zu werden. Der Geschmack des Likörs trug die Süße der Beeren weiter, rundete sie mit einer Note Rosenwasser ab und ließ auf Zunge und Lippen weder ein Brennen, dafür aber eine weiche Samtheit zurück.

„Hmmm,“ seufzte die Geweihte genüsslich, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, dann sah sie Miranda und Vinya erwartungsfroh an. „Was kann ich und die Heitere für euch beide tun?“

Miranda schnüffelte mit ihrer Stupsnase und genoss den leckeren Duft. Vinja dagegen hatte endlich aus den Süßigkeiten gewählt. Naja. Vielmehr hatte sie sich von so gut wie Allem bedient und leckte sich entzückt die Finger, bevor sie das erdbeerrote Tröpfchen entgegennahm. Miranda schien gerade sprechen zu wollen, doch die Gärtnerin war schneller: „Ich bin die Rosengärtnerin im Gut der Herrschaften von Mersingen müsst Ihr wissen. Deshalb will ich alles über die wunderbaren Blumen der Herrin des Genusses erfahren - alles, was es gibt! Habt Ihr ein Geheimnis, dass Ihr mit mir teilen könnt?“ Die Augen der jungen Freu leuchteten voll Spannung.

Die Geweihte lachte auf. „Oh! Ich bin selbst kein Gärtner, musst du wissen, ich verstehe mich eher in anderen Künsten der Schönen… aber ich habe meine Brüder und Schwester, die sich um unseren Rosengarten in Albenhus kümmern, schon des öfteren sagen hören, dass…“ sie lehnte sich den beiden Frauen verschwörerisch schmunzelnd entgegen, „…die dornigen Schönheiten es gerne haben, wenn man mit ihnen spricht. Wenn man ihnen Lieder singt und dergleichen, das mögen sie wohl auch. Ich gestehe, ich habe es noch nicht ausprobiert. Es leuchtet mir aber ein. Sind Rosen doch auch Kinder Rahjens, wie wir.“ Anschließend nippte sie von ihrem Likör.

„Oh ja, das mache ich gerne! Immer zusammen mit Iri. Sie kann so fröhlich singen und weiß auch immer ein neues Lied. Gut, manchmal sind die Lieder etwas konfus, aber immer kreativ“, flötete Vinja begeistert. Das ließ Miranda aufhorchen. „Wer ist Iri?“, frug sie verwundert, was die Gärtnerin schmunzeln ließ. Mit einem Schluck war der Erdbeerlikör verschwunden. Noch mit Beerenschaum auf der Oberlippe meinte sie ganz nebenbei: „Das Mädchen, das bei Herrn Herrenfels wohnt. Sie scheint weit gereist zu sein für ihr zartes Alter. Vielleicht hat er sie vorübergehend aufgenommen, was weiß ich? Aber gut gelaunt ist die Kleine immer.“ Die schmale Frau beugte sich verschwörerisch nach vorne: „Also, wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen, wachsen die Rosen ganz besonders gut, wenn sie nur in der Nähe ist.“ Die rechte Augenbraue der jungen Mersingen schoss zweifelnd nach oben. „Also jetzt geht deine Phantasie mit dir durch Vinja“, tadelte sie die unwesentlich Ältere.

„Was entrüstet dich? Es kann doch sein, dass auf dieser…Iri… das Auge der Liebholden liegt. Oder das von Mutter Peraine. Vielleicht trägt sie auch Madakraft in sich und lässt Rahjens Blüten daher wachsen?“ Die Geweihte lächelte. „Aber für nichts davon sollte man sie mit Schmach überziehen.“ Sie adressierte das nicht, sondern sagte das sehr allgemein. „Wenn sie eine liebenswerte Person ist, die eine gute Seele hat, und danach hört es sich zumindest an, scheint sie Liebe ebenso zu verdienen wie jeder andere von uns. Ich habe gehört, dass die Alben machen können, dass Pflanzen schneller, schöner, besser wachsen. Ist Iri denn vielleicht eine von ihnen?“ fragte die Geweihte anschließend mit interessiertem Blick zu der Gärtnerin.

“Nein, das nicht. Sie ist ein ‘Rosenohr’ - ach, ich mag diesen Begriff!”, freute sich Vinja. “Ich denke, Frau Rankmann bildet sich dieses überderische Wachstum eher ein. Manchmal tendiert sie zur Übertreibung, nicht wahr, Vinja?”, tadelte sie Miranda dementgegen.

“Was wäre so schlimm daran, wenn Iri Dinge könnte, die ihr beiden nicht könnt?” fragte die Geweihte. „Würdet ihr sie denn damit weniger schätzen?“ Rajalind wusste, dass es immer wieder Leute gab, die nicht damit klar kamen, wenn andere anders waren und die dann der Heilung bedurften.

„Nein, nein, das wäre kein Problem. Naja, solange sie sich an die Regeln der Gemeinschaft hält, was sie bisher untadelig tut“, wiegelte Miranda ab. „Magisches Wirken ohne Sanktionierung würde unzweifelhaft meinen Herrn Bruder erzürnen. Aber ich denke nicht, dass solche Kräfte in unserem beschaulichen Rosenhain am Werk sind.“

„Wieso, was hat er denn gegen magisches Wirken?“, wollte die Geweihte völlig unbedarft wissen. Sie kannte offenbar den Herrn von Mersingen noch nicht.

Miranda zuckte ein wenig zurück. “Na das, was jeder aufrichtige Nordmärker gegen wilde Magie hat: Sie ist verboten”, konstatierte sie ruhig. Vinja zuckte dabei nur entschuldigend die Achseln.

Rajalind machte eine abwehrende Handbewegung, als wolle sie das nicht gelten lassen. “Ach, Miranda, der Schönen ist es ganz gleich. Sie ist gänzlich ohne jedes Vorurteil. Denn zu lieben, zu genießen und Leidenschaft zu empfinden ist jeder auf diesem Dererund fähig! Auch jemand, der in anderer Augen ‘wilde Magie’ übt.” Dabei sprach sie den Begriff übertrieben geheimnisvoll aus. “Das darfst du deinem Bruder ruhig sagen. Er sollte nicht so engstirnig durchs Leben laufen!” Sie zwinkerte Miranda zu. ”Rahja ist eine Alveranierin, ebenso wie Hesinde und Mada!”

“Und der Herr Praios. Dieser achtet geltende Regeln hoch. Die Nordmarken erlauben keine wilde Magie, deshalb erlaubt mein Herr Bruder keine wilde Magie. Das ist nur nachvollziehbar und gerecht. Mit Liebe oder nicht hat das doch nichts zu tun. Wir bestrafen doch auch nicht jeden, der etwas Verbotenes tun könnte, solange er es nicht tut”, erwiderte Miranda. Die junge Dame schien intelligent zu sein ohne dabei besondere Begeisterung für die Argumentation an den Tag zu legen, die sie doch so stringent vertrat. Ihr Gestus verriet Zurückhaltung und eine ordentliche höfische Schule.

„Ganz recht. Wir bestrafen doch auch nicht jeden, der etwas Verbotenes tun könnte, solange er es nicht tut.“ erwiderte Rajalind der Mersingerin mit ihren einen Worten. „Aber es ist dir - und übrigens auch deinem Bruder - frei, welchen Lehren ihr folgt. Meine Kirche lehrt, dass im Auge der Liebe solche Unterschiede keinen Bestand haben. Der Herre Praios kann dies selbstverständlich ebenfalls anders sehen,“ sie zwinkerte Miranda erneut zum und dann wechselte die Geweihte das Thema: „Wollt ihr beiden noch von etwas anderem probieren? Ich habe auch einen wohlschmeckenden Eierlikör…“. Dabei drehte sich die Geweihte zu dem Schrein um und hob eine Flasche aus den anderen hervor, in der es gelblich schimmerte.

Verlockt war sie ja schon, die junge Miranda, musste sie unumwunden zugestehen. Zögerlich blickte sie zu dem hübsch abgefüllten Getränk. Bevor sie etwas sagen konnte, intervenierte Vinja: „Ja selbstverständlich. Eure Großzügigkeit ehrt Euch, Euer Gnaden!“ Die Augen ihrer Freundin wurden zuerst groß, aber dann nickte Miranda zaghaft.

“Nicht doch. Es ist der Wunsch der Heiteren, die Gemüter und Herzen fröhlich zu stimmen. Ein Schlückchen Likör ist doch beileibe kein Aufwand.” erklärte die Geweihte bescheiden. “Bitte, nehmt doch auch noch vom Gebäck!” Nebenbei schenkte sie sich und den Frauen goldgelben Likör ein. “Also du bist Gärtnerin, Vinja, und welchem Tagwerk gehst du nach, Miranda?”

„Tagwerk?“ Die Frage irritierte die junge Adlige. Wollte sich die Geweihte für ihre kritischen Worte revanchieren, indem sie sie beleidigte? „Was meint Ihr damit?“

“Ich meinte: Was tust du den Tag über, um dein Herz zu erfreuen?” fragte die Geweihte freundlich, während sie die Flasche zurück stellte. Ihr schien keinerlei Argwohn anzuhängen.

„Ah, ich verstehe. Mein Tag wird von den Wünschen der Markgräfin von Rabenmund bestimmt. Ich bin ihre Zofe, Euer Gnaden“, konstatierte die junge Frau ersichtlich ohne Wertung. „Noch nicht sehr lange, allerdings. Erst kürzlich trat ich in die Dienste des reisenden Grafenhofs, doch meine Familie pflegt schon lange beste Beziehungen zum markgräflichen Haus.“

“Uiii, das klingt toll! Aber….wenn du Zofe an einem hohen Hof bist - was machst du dann hier? Ausgerechnet in Lützeltal? Hast du dann nicht andere - wichtigere - Aufgaben zu tun, als hier zu so einer kleinen Traviabundfeier zu gehen?”, fragte die Geweihte sichtlich irritiert.

“Eigentlich schon. Ich kann tatsächlich nur an dieser Feier teilnehmen, weil mein Bruder bei der Markgräfin höchstselbst vorsprach. Wenn ich ehrlich bin, kommt mir diese Unterbrechung nicht sonderlich gelegen: Ich war gerade erst dabei, mich am Hof der Rabenmunds einzuarbeiten. Doch Lares war es einfach nicht auszureden, dass ich hier erscheinen möge. Er sprach von guten nachbarschaftlichen Beziehungen, dem Zusammenhalt in den Nordmarken und traviagefälliger Treue.” Mirandas Gesicht verfinsterte sich, als sie an das Gespräch mit ihrem Bruder zurückdachte. Manchmal konnte er sehr streng sein, doch diesmal war etwas anderes ausschlaggebend gewesen. Nur was genau?

„Dein Bruder muss ein sehr praios- und traviagläubiger Mensch zu sein,“ fasste Rajalind die bisherigen Bschreibungen zusammen. Sie lachte dabei, so dass man meinen konnte, dass sie diese Bemerkung fast schon belustigte. „Mich erinnert das an einen lieben Freund von mir. Er ist ein Geweihter der Gänsemutter und redet ähnlich.“ Sie machte nicht den Eindruck, dass sie dies bekümmerte. Im Gegenteil. „Euer Bruder ist nicht zufällig auch ein Tempelvorsteher? Dann würde ich sagen, es liegt daran.“ Ihre Frage war nicht ganz ernst. Allgemein schien die junge Geweihten nur sehr wenig sehr ernst und das Leben recht heiter zu nehmen.

[ping Miranda]

Rahjel von Altenberg, der Rahjageweihte und seine Zwillingsschwester, die Ritterin Alana von Altenberg, betrachteten von der Ferne das Schauspiel vor der Brauerei, doch kümmerte sie es wenig. Der gutaussehende Mann drückte seine Schwester, die kleiner und schlanker war, und schaute ihr aufmunternd in die Augen. “Mein Röschen. Du wirst ihn ja bald wieder sehen. Lilian ist in guten Händen bei Oda. Doch jetzt schieben wir die Trübsal zur Seite und feiern. Die ´lieben´ Verwandten” er rollte mit den Augen, “wollen uns nun besser kennenlernen. Ich bin immer noch ganz verwundert über diese Einladung. Immerhin schreibt man die Liebolde groß hier und Rahjalind ist auch da. Und die Geschenke für das Brautpaar werden sicherlich die Gemüter frohlocken.” Die blasse Alana lächelte. “Wie immer hast du recht. Ich bin auch immer wieder überrascht, wie sehr ich den Kleinen vermisse, wenn ich auf Reisen bin.” Die Ritterin schaute sich um. “War das nicht gerade die Schwester von Lares?” Ihr Gesicht hellte sich auf. “Schauen wir uns den Schrein an!”, sagte Rahjel und lief los.

Das rustikale Holz des Fachwerkbaus fand sich in einer hölzernen Statuette einer von Reben und Rosen umrankten nackten Göttin wieder, die auf einem kleinen niedrigen Tischchen - bei genauerem Hinsehen war es eine Truhe, über die nur ein rotes Tuch geschlagen war - stand. Drum herum waren Krüge und verschiedene Flaschen aufgestellt und etliche Becher. Und es lagen in Schälchen allerhand Speisen bereit, die allermeisten waren Süßigkeiten: Dörrfrüchte, kandierte Früchte, dunkelbraunes Früchtebrot mit Nüssen, kleine Kuchen, die gut in eine Hand passten, ein Berg goldbrauner Honigkaramellen und weitere Gänsekekschen. Es war ein sehr züchtiger Schrein. Sogar die Scham der Holzrahja war von einer Rosenblüte bedeckt. Um das Tischchen herum lagen Decken, auf denen drei junger Frauen bei einer Erfrischung saßen. Eine davon war Rahjels Tempelschwester Rajalind.

Als Rajalind den beiden Neuankömmlingen ansichtig wurde, und sie ihren früheren Tempelbruder erkannte, begannen ihre Augen zu leuchten. „Bei der Liebholden, Rahjel, was machst du denn hier?“ Freudig nach einem kurzen „Entschuldigt mich kurz,“ an die beiden Damen gewandt, sprang die junge Zweibruckenburg auf und eilte dem Altenberger entgegen.

Herzlich umarmte er sie.”Wir sind geladen worden. Alana und ich … wir gehören sozusagen zur Familie. Unsere Mutter war auch eine Weissenquellerin und Dienerin der Liebholden.”

~*~

Ein Treffen unter Freundinnen

“Imelda, schön dich wiederzusehen. Das ist ja eine Ewigkeit her!” Die Hadinger Geweihte erkannte die junge Frau zunächst nicht, die sie mit einem freudigen Lächeln begrüßte. Vor ihr stand eine Jägerin, gekleidet in eng anliegende Lederkleidung, die ihre Figur betonte aber nicht über die Maßen herausstellte. Unter der mit Pelz besetzten Lederjacke war eine grüne Leinenbluse in die Hose gesteckt. Braune Stulpenstiefel gingen ihr über die Waden bis fast zum Knie. Die kurz geschnittenen Haare wurden von einem vorn spitz zulaufenden Hut fast verdeckt. Imelda von Hadingen hatte die junge Frau fast nicht erkannt. Doch vor ihr stand Mika von Weissenquell. Es war aber offensichtlich, Mika war nicht mehr das Mädchen, das sie in Ishna Mur kennengelernt hatte. Mika war gereift. “Wie war deine Walz? Du musst mir alles von deiner Reise erzählen.”

Nach einem kurzen Moment der Verwirrung erkannte Imelda ihre liebe Freundin: “Mika, Mika, MIKA!!!”, rief sie freudig, sprang die junge Weissenquellerin im wahrsten Sinne des Wortes an und fiel ihr stürmisch um den Hals. “Wie wunderschön, dich zu sehen!” Nachdem sie Mika endlich aus der festen, kräftigen Umarmung entlassen hatte, trat sie einen Schritt zurück und betrachtete prüfend ihre Freundin. “Huh, du siehst ja fesch aus mit den kurzen Haaren, steht dir!” jubelte sie enthusiastisch.

Imelda selbst trug ein einfaches, cremefarbenes Reisekleid mit zarten violetten und braunen Stickereien, die herbstliche Ährenmuster zeigten, darüber ein passendes hellbraunes Lodenjäckchen mit angedeutetem Stehkragen und ihren Schmiedegürtel mit Bronzeschnalle, an dem eine kleine Laterne mit dem heiligen Licht ihres Gottes hing. Das rotblonde Haar hatte sie geflochten und hochgesteckt, auch wenn es von der Reise schon wieder zerzaust war und einige Strähnen vorwitzig aus der Frisur heraus hingen. "Meine Walz... Oje, wo soll ich anfangen? Ich habe ja sooo viel erlebt!" Aufgeregt hüpfte die junge Hadingerin auf der Stelle herum. “Ich kann es gar nicht erwarten, dir alles zu erzählen! In den Briefen konnte ich das ja nicht so ausführlich beschreiben!” Sichtlich aufgekratzt japste sie ein wenig nach Luft. “Aber erstmal sollte ich den treuen Hilbertio im Stall unterbringen und mit ein paar leckeren Karotten verwöhnen, was?” sagte sie halb zu Mika, halb zu ihrem Grautier, das mit beachtlichen Mengen an Taschen, Paketen und anderem Gepäck beladen neben der Geweihten stand und ungeduldig darauf zu warten schien, endlich von der Last erlöst zu werden.

“Komm, ich begleite dich zu deinem Quartier. Wir dachten, wir bringen dich bei unserem Dorfschmied Limrog Kupferblatt unter, das ist ein Angroscho. Vielleicht kannst du bei ihm auch noch etwas lernen.”

“Oder er bei mir”, erwiderte Imelda frech, dann lachte sie. “Nur ein Scherz! Ich freue mich darauf, Meister Kupferblatt kennenzulernen! Außerdem bemüh’ ich mich ja stets, mein Rogolan nicht einrosten zu lassen.”

Mika hakte Imelda unter und führte sie zu einem Haus am Rande des Dorfplatzes, das eindeutig als Schmiede erkennbar war. “Ach deine Briefe! Ich danke dir dafür. Aber ich muss dir gestehen, ich habe sie noch gar nicht gelesen. Ich habe doch im letzten Jahr mein Noviziat bei Firumar begonnen, das hatte ich dir noch geschrieben. Seit dem war ich gar nicht mehr hier zu Hause. Vater hat aber alle Briefe für mich gesammelt.”

Imelda zog einen beleidigten Schmollmund. “Ah, das erklärt dann auch, warum überhaupt keine Antworten mehr von dir gekommen sind, treulose Traube!” Sie knuffte Mika unsanft in den Oberarm, dann lachte sie laut auf. “He, das versteh’ ich doch! Ich hab mich unheimlich für dich gefreut, dass das mit dem Noviziat geklappt hat! Waren die Prüfungen sehr schwer?”

“Na, das kannste laut sagen! Das Schlimmste war, ich durfte am Anfang gar nichts selber machen, durfte nur beobachten. Und Firumar hat eigentlich die ganze Zeit nicht ein Wort geredet und mir das auch verboten. Aber man gewöhnt sich dran,” Mika schaute Imelda an und ein kleines, sanftes Lächeln umschmeichelte ihre Mundwinkel. “Es ist aber umso schöner, in dir jemanden zu haben, mit der ich endlich einmal wieder richtig reden kann.”  

“Auf jeden Fall! Du musst mir alles über dein Noviziat und diesen Firumar erzählen!” nickte Imelda euphorisch. “Wann sollst du denn voraussichtlich die Weihe kriegen?”

“Ach Imelda, daran mag ich noch gar nicht denken! Ich stehe doch noch ganz am Anfang meines Noviziats. Schau, andere Kinder lernen doch von klein an, ihrer Göttin oder ihrem Gott zu dienen, und ich war schon fast erwachsen, als ich von Firumar aufgenommen wurde. Heute Abend oder morgen nach der Jagd, da findet sich bestimmt Zeit, dass wir uns zusammensetzen und uns alles erzählen. Vielleicht gesellt sich Gudekar dann auch dazu, wenn er Zeit dafür findet. Dann kannst du ihm noch einmal das Tanzen beibringen.” Mika lachte. So ausgelassen war sie schon seit langer Zeit nicht mehr.

“Ich werd’s auf jeden Fall tapfer versuchen!” lachte Imelda. “Selbst wenn meine Zehenspitzen es bereuen werden und bei deinem Bruder, was das Tanzen angeht, vermutlich Hopfen und Malz verloren sind - wir werden so viel Spaß haben!” Übermütig jubelnd legte Imelda den Arm um die Schultern ihrer Freundin und drückte diese noch einmal an sich. “Es ist wunderschön, euch endlich wiederzusehen!”

Wieder musste Mika lachen. Die beiden kamen am Brauhaus vorbei, an dem gerade einige Bierfässer an einem Marktstand aufgebaut und angestochen wurden. “Imelda, du hast doch bestimmt Durst!”, warf Mika ein. “Kennst du schon unser gesüßtes Sauerbier? Was magst du lieber: Kirsche, Rahjanisbeere, Apfel oder Waldkräuter?”

“Oder? Was heißt hier ‘oder’?” Ein breites Grinsen breitete sich auf Imeldas Lippen aus. “Ich bin, wie du weißt, liebste Mika, eine ehemalige Obstweinkönigin! Natürlich muss ich zunächst alle Sorten eures Sauerbiers verkosten, bevor ich ein qualifiziertes und abschließendes Urteil fällen kann!”

Mika musste lachen. Sie lenkte die Schritte zu dem Stand. “Firun zum Gruße, Erlwulf! Ihre Gnaden möchte sich ein Urteil darüber machen, welcher Sirup am besten in das Sauerbier passt. Könntest du ihr bitte ein paar Kostproben einschenken?”

Der Rodenbacher schaute die Firunnovizin überrascht an. Er brauchte einen Moment, um die Tochter seines Herren zu erkennen. Dann lächelte er. “Aber sehr gerne, hohe Dame! Es freut mich, dass Ihr uns auch einmal wieder besucht!” Dann holte er vier kleine Becherchen unter dem Tisch hervor und goss in jeden Becher Sirup aus einer anderen Karaffe. Anschließend zapfte er etwas Bier aus einem Fass und füllte so jeden Becher auf. Es bildete sich Schaum in unterschiedlichen Farben von tief dunkelrot bis zu einem leuchtenden Grün. “Und was darf ich der hohen Dame einschenken?” fragte Erlwulf an Mika gerichtet.

“Danke, mir nichts.” Mika wandte sich an Imelda. “Rahja zum Wohle! Lass es dir schmecken!”  

Imelda betrachtete mit großen, leuchtenden Augen die bunt gefärbten Getränke vor sich. “Das sieht ja prächtig aus…”, jubelte sie mit fast kindlicher Vorfreude. Dann begann sie, die einzelnen Becher methodisch durchprobieren. Etwas skeptisch nippte sie zunächst an der Rahjanisbeere. “Mmhhh, lecker! Gar nicht sauer”, befand sie, schluckte den Probierschluck genüsslich herunter und kostete dann von der Kirsche: “Oh, interessant. So fruchtig! Wirklich gut! Eine schöne Idee, den Sirup in das Sauerbier zu mischen!” Schließlich kam sie zu dem Bier mit der grünen Farbe. “Und das ist mit Waldkräutern? Bestimmt gesund, oder?” Vorsichtig nippte sie wieder und ihr konzentrierter Gesichtsausdruck verzauberte sich in ein breites, zufriedenes Grinsen. “Wie lecker, ich mag Waldkräuter am allerliebsten, glaube ich. Das ist wirklich ein ganz besonderer, erfrischender Geschmack!” Sie schaute Mika fragend an. “Möchtest du wirklich nichts, Mika? Wollen wir nicht auf unser Wiedersehen anstoßen?”

Mika schüttelte den Kopf. “Firumar hat mich gelehrt, auf unnötige Genüsse zu verzichten!” Sie schaute Imelda ernst an. Dann grinste sie. “Aber hat auch gesagt, dass die Essenz aus Kräutern des Waldes gegen Vielerlei Gebrechen hilft!” Sie lehnt sich über den Tisch, hinter dem Erlwulf stand und blickte unter die provisorische Theke. “Ah, habe ich es mir doch gedacht!” Mit einer Flasche und zwei weiteren Becherchen tauchte sie wieder auf.

“Aber junge Herrin! Ihr könnt doch nicht…”, protestierte der Rodenbach.

“Du hast Recht, Erlwulf!”, entgegnete Mika und beugte sich abermals über den Tisch, nur um einen weiteren Becher zu angeln. Dann entkorkte sie die Flasche und goss die drei Becherchen voll. “Gudekar hat immer gesagt, der Lützeltaler Albenbluth deines Großvaters Ulbert sei der beste gewesen. Mal sehen, ob der von dir auch so gut schmeckt.” Sie reichte erst Imelda und dann Erlwulf ein Becherchen und hob das letzte selbst hoch. “Der Herr Firun wird doch nichts dagegen haben, wenn wir ein Schlückchen von seinen Gaben probieren. Auf Firun!”

“Auf Firun!” prostete Imelda glücklich Mika zu. “Möge Er stolz und glücklich sein, was für eine großartige, gewandte Jägerin in seiner Gunst heranwächst.”

Etwas unsicher erwiderte auch Erlwulf den Trinkspruch, hatte aber ein ungutes Gefühl, dass sich die Tochter des Edlen, seines Herren, einfach so an dem Schnaps bediente.

Imelda probierte von dem Trank und sah zufrieden in die Runde. “Erlwulf, du wolltest mir also tatsächlich diesen edlen Tropfen vorenthalten?”, schelmisch schüttelte sie den Kopf und sah erwartungsvoll zu dem Rodenbacher, gespannt auf dessen Reaktion.

“Ähm, nein Euer Gnaden, natürlich nicht. Jedoch war der Bluth erst als Verdauerli nach dem Mahl gedacht. Ich dachte nicht, dass die Damen schon vor der Praiosstunde…”

“Sag mal, Erlwulf, wer sind die Leute, die bei euch untergekommen sind?” fragte Mika neugierig.

“Das ist Ihre Gnaden von Zweibruckenburg.” Erlwulf beugte sich zu den beiden jungen Frauen. „Sie und ihr Novize Leander haben in der Gaststube sogar einen Rahja-Schrein aufgebaut!"

“Leander ist auch hier?” Mika erschrak kurz. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich freuen sollte. “Oh, Imelda, wir sollten uns das mal ansehen!”  

“Wer? Was? Wieso?”, fragte Imelda schnell und trank eilig mit einem Schluck das Becherchen aus, bevor sie nicht mehr dazu kam, es zu leeren. “Leander? Ah, den kenn’ ich! Ich war doch im Sommer zum Pelura in Albenhus, wo ich auch Gwenn kennengelernt hab. Leider warst du ja nicht dabei”, sie zog erneut einen gespielt beleidigten Schmollmund, “...aber dieser Leander, der war sogar in meiner Gruppe.” Prüfend schaute Imelda ihrer Freundin in die Augen. “Er sah ja schon nicht so schlecht aus… Oder was meinst du?” Sie zwinkerte Mika vielsagend zu.

“Ja, schlecht sieht er nicht aus, und er ist auch sehr nett. Aber seine Lache!” Mika stieß Imelda in die Seite. “Komm, wir gehen ins Brauhaus rein.”

“Sehr wohl, Frau Forstmeisterin!”, frötzelte sie und stupste Mika seitlich mit dem Ellenbogen an. “Ach, wie schön bei dir zu sein!”

Als die beiden Freundinnen gerade in das Brauhaus gehen wollten, da lief gerade eine andere junge Frau an der Tür vorbei: Meta Croy, die frisch geschlagene Ritterin. Ihr Schutzbefohlener, der Magier Gudekar hatte sich von ihr verabschiedet, da er noch einige Vorbereitungen für den Abend absprechen musste, wobei er ungestört sein wollte. Aus Langeweile schlenderte Meta deshalb durch das Dorf und sah von weitem ihre Freundin Imelda, die mit einer jungen Frau ziemlich fröhlich im Gespräch war.

Imelda, welche sich gerade bei Mika fröhlich untergehakt hatte, rückte verschwörerisch an diese heran. “Mika”, begann sie laut flüsternd, “...es gab da übrigens auf Hylaïlos diesen jungen Mann, Spiros…”, weiter kam Imelda nicht, als sie abrupt stehen blieb und ihre Kinnlade herunterfiel. “META?!”, schrie sie aus voller Kehle. Mika riss die Augen auf. “Das gibt es ja nicht!” Jubelnd ging Imelda kurzfristig in einen Hüpfschritt über, rannte dann jedoch geschwind zu Meta herüber und umarmte diese stürmisch. “Wie wunderschön, dich zu sehen!” Imelda entließ die Ritterin aus ihrer Umarmung und betrachtete ihre Freundin. “Mensch, gut siehst du aus mit dem Schwert.” Dann ging ihr Blick zurück zu Mika. “Ähm, das ist die hohe Dame Meta Croÿ…”, erklärte sie und hielt mit einem kurzen Schmunzeln inne. “Darf ich überhaupt noch ‘du’ zu dir sagen?” fragte sie sprunghaft Meta, dann legte sie die Hand auf Mikas Schulter. “Und das ist Mika von Weissenquell, ihres Zeichens Novizin des Weißen Jägers.”

„Imelda, was machst du denn hier?“ Glücklich lief sie der Geweihten entgegen und begrüßte sie herzlich. Es war nicht zu übersehen, dass die Beiden sich schon länger kannten. „Ja natürlich. Für dich bleibe ich doch immer Meta. Und das ist das erste Mal, dass ich als Ritterin unterwegs bin. Ich zeige dir nachher mein Schwert.“ Dann wandte sie sich an Mika. „Firun zum Gruße, hohe Dame. Ich bin hier, da die Zeiten gerade sehr unsicher sind und so wurde ich zum Schutze für Gudekar angestellt. Es ist schön, da ich so gleich etwas rumkomme. Wollen wir anstoßen, Imelda? Oder störe ich gerade. Ich schlendere nur etwas rum, da mein Schutzbefohlener alleine sein wollte. Seinem Willen beuge ich mich. Also hab ich Zeit.“

Nachdem Mika ihren ersten Schreck, besser gesagt die Überraschtheit, überwunden hatte, zog sie schmunzelnd einen Mundwinkel hoch, was ihr ein Grübchen auf die Wange zauberte. Sie musterte die Ritterin ausgiebig von oben bis unten. Das stille Beobachten ihrer Opfer hatte Mika bei Firumar gelernt. “Firun und Rondra zum Gruße! Das ist sehr beruhigend, dass Ihr Euch um das Wohl des gelehrten Herren kümmert. Ich bin sicher, bei Euch ist er in guten Händen. Arbeitet Ihr auch für den Geleitschutz von Plötzbogen, so wie die Dame, die meine Schwester bewacht?” stellte sich Mika unwissend.

Mühsam versuchte sich Imelda daran zu erinnern, wer von ihren beiden Freundinnen eigentlich was wusste. Dass sie sich gegenüber Mika damals bei der Lehensfeier verplappert hatte, das hatte sie Meta nicht gebeichtet. Also war es sicher besser, das Spiel mitzuspielen. "Ja, genau Mika! Es ist gut zu wissen, dass dein Bruder bei seinen gefährlichen Missionen sich im Geleitschutz einer erfahrenen..., ähm... also einer Ritterin befindet." Imelda lächelte Mika zu und sah dann wieder zu ihrer Freundin Meta: "Ich freue mich ja so für dich! Und dass du so schnell nach deiner Schwertleite gleich eine Anstellung gefunden hast."

Mika lauerte noch darauf, ob und vor allem wie Meta auf ihre Frage antworten würde.

„Nein. Ich arbeite als freie Ritterin. Ich will, wie Imelda, mehr von Aventurien sehen. Euer Bruder kam auf mich zu, da wir bereits gemeinsam gegen einen Dämon gekämpft hatten.“

„Ein Dämon? Oh je! Wie furchtbar! Und dann hat er sich hinterher um Euren Körper gekümmert? Also, ich meine, er hat Eure Verletzungen geheilt?“ hakte Mika nach.

“Um mich? Nein, ich hatte Glück. Imelda war ja auch dabei, aber wir hatten uns aus den Augen verloren. Dann hat ein Magier was gegen den Dämon gezaubert und wurde von so einem Tentakel weggeschleudert. Das war Euer Bruder. Dem hab ich einen Heiltrank gegeben und aus dem Matsch, nein, Moor, wir waren ja im Moor, aus dem der Dämon kam, gezogen. Das war auf dieser Hochzeit, der Schweinsfolder. Da habe ich eben auch Imelda kennen gelernt. Und Euren Bruder.”

Imelda machte große Augen bei der mehr als eindeutigen Andeutung Mikas, Gudekar hätte sich um Metas ‘Körper gekümmert’. Sie merkte, wie Röte in ihr Antlitz schoss, kannte sie doch die recht detaillierten Schilderungen Metas über deren rahjagefällige Begegnungen. Die Geweihte biss sich auf die Zunge und bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. “Ja, genau, im Moor… Das mit dem Dämon, das war ganz entsetzlich!”, nickte sie zustimmend zu Metas Geschichte. “Aber sonst war es eine recht schöne Hochzeit.”

Die angehende Jägerin hatte gelernt, ihrer Beute geduldig auflauern und nicht zu schnell aufzugeben. Diese Taktik wandte sie auch hier an, zumal sie immer mehr Spaß an diesem Gespräch fand. “Das glaube ich gerne, dass es eine schöne Hochzeit war, wenn man von Dämonen und so einmal absieht. Aber eine Sache habe ich noch nicht ganz verstanden, Greta? So war doch Euer Name, oder? Jedenfalls, Ihr sagtet, der Anconiter hätte den Dämon bekämpft und die Ritterin den Heiler geheilt? Sollte das nicht andersherum sein? Habt Ihr da nicht etwas verwechselt?”

Eilig winkte Imelda ab: "Ach, das war damals ein heilloses Durcheinander! Und Greta hat..., äh... ich mein... Meta hat versucht, gegen den Dämon zu kämpfen und sich um die Verletzten zu kümmern. Das war ganz heldenhaft, zumal sie ja noch unter der Aufsicht dieses Linny, also des Bannstrahlers..." Imelda zeigte wild fuchtelnd zu dem Brauhaus. "Mika und ich waren gerade dabei, ins Brauhaus zu gehen, da soll es einen provisorischen Rahjaschrein anlässlich der Hochzeit geben."

Musste Imelda ausgerechnet jetzt das Gespräch abbrechen? Mika war so gespannt, wann sich Meta verraten, verplappern würde. Gudekars Schwester hob abwehrend die linke Hand in Imeldas Richtung, um ihr wortlos Einhalt zu gewähren, so wie Firumar stets bei ihr tat. “Ich muss Euch zutiefst dankbar sein, hohe Dame, dass Ihr Euch derart um meinen Bruder kümmert und für seinen Schutz sorgt. Es ist beruhigend, dass er in diesen gefährlichen Zeiten gut bewacht wird, bei Tag und bei Nacht. Oder steckt Ihr des nächtens das Schwert in die Scheide? Also, ich meine, seid Ihr des nächtens nicht im Dienst?”

“Imelda, einen Moment.” Meta musste lachen, Imelda schaffte es immer wieder, ihre Laune zu heben. “Erstmal, wer soll Greta sein? Gudekar hab ich eine von seinen Flaschen gegeben, die er dabei hatte, Heiltrank. Er hatte mich für die Zeit jetzt angeheuert, da zu sein.” Meta wandte sich nochmal kurz an Imelda. “Der Rahjaschrein interessiert mich sehr, den will ich mir auch anschauen. Aber lass uns doch das Spiel hier auflösen. Es reicht mir, wenn ich vor den anderen Gästen nicht ich selbst sein kann. Mika, Gudekar hat mir erzählt, dass Gwenn und du eingeweiht seid, was unser Verhältnis betrifft. Lasst uns jetzt darüber reden. Imelda weiss es und es ist schwer genug für mich. Ich gebe zu, dass ich eifersüchtig auf Merle bin. Sie hat das, was ich nie bekommen werde. Und für deinen Bruder habe ich viel aufgegeben. Ursprünglich wollte ich es nie so, aber Rahja spielt ihr eigenes Spiel. Ich vertraue ihm. Es sind zwei Götterläufe vergangen, in denen ich nur für ihn da war. In denen ich nicht das verfolgt habe, was mein ursprüngliches Ziel war. Und ich weiss, dass ich nie den Bund schließen werde, Kinder haben oder einen Mann haben, der für mich anerkannt ist, vielleicht sogar ein kleines Stück Land besitzt und adelig ist. Ich entstamme verarmtem Adel und habe viele Geschwister. Ursprünglich wollte ich aus dem raus und meine Familie wieder höher bringen. Na, ist ja auch egal. Wie stehst du zu mir?”

Mika schaute Metas Ausbruch mit verdutzten Augen und offenem Mund zu. Diese Frau hatte Rasse, das war eindeutig. Sie wusste, was sie will, und ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Sie hatte Temperament. Anders als Merle. Einige Augenblicke verharrte Mika in Schweigen, nachdem Meta geendet hatte. Dann prustete sie vor Lachen los. “Imelda, hast du gesehen, wie wütend sie geworden ist?” Mika hielt sich an Imeldas Schulter fest. Mit tränenden Augen versuchte Mika weiterzusprechen. “Entschuldigt, hohe Dame, verzeiht mir mein dreistes Spiel. Ich war einfach zu neugierig, wem mein Bruder sein Herz so unwiederbringlich geschenkt hat. Es war nicht nett von mir, Euch so herauszufordern.” Zu Imelda gerichtet ergänzte sie: “Aber es hat so einen Spaß gemacht!” Langsam beruhigte sie sich und kam wieder zu Luft. “Bitte nehmt mir meinen Streich nicht übel, hohe Dame! Ich freue mich, Euch endlich kennenzulernen. Ich habe schon viel von Euch gehört, vor allem Imelda”, sie klopfte der gemeinsamen Freundin auf die Schulter, “hat mir einiges erzählt von Euch und Gudekar, nicht wahr Imelda?”  

Meta lächelte frech. “Nenn mich Meta. Das Spiel musste sein, da es zu gefährlich ist und ich Gudi versprochen habe, meine Rolle zu spielen. Das ist sonst nicht meine Art.” Sie seufzte schwer, eine gewaltige Last lag auf ihr. Am Ende, sollte Gudekar durchhalten, wäre sie die böse Frau, die der netten Merle den Mann genommen hatte. Wenn er nicht durchhielt, dann war sie alleine und musste den Verlust und die Enttäuschung verarbeiten. “Ich muss Gudi vertrauen, auch wenn er jetzt so viel mit Merle beisammen ist. Das ist nicht leicht. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Wie stehst du zu mir?”

„Meta, ich kenne dich doch noch gar nicht, wie soll ich da zu dir stehen? Aber ich stehe auf Gudekars Seite.“ Die junge Jägerin legte freundschaftlich ihren Arm um Metas Schulter. „Und Gudekar schien wirklich glücklich zu sein, als ich ihn das letzte Mal sah.” Das war allerdings bereits über einen Götterlauf her.

Meta zog die Augenbrauen hoch. “Ah, ich merke schon, dass ich dich nicht richtig überzeugen kann. Dabei haben wir mit Imelda dieselbe Freundin. Gudi ist glücklich mit mir, aber er ist oft schwach. Er wird sich entscheiden müssen. Ich will keinen Mann zwingen.” Einen nahezu mittellosen Mann im Traviabund mit Kind. Meta fand es selbst unverständlich und lächerlich. Linny verstand sie in der Hinsicht sowieso nicht. Aber Meta ließ sich weiter beharrlich von Rahja leiten. “Wisst Ihr, wir hatten ausgemacht, unseren Rahjabund, der auf ein Jahr beschränkt war, hier zu verlängern. Ich werde den Geweihten fragen.”

Imelda war in gewisser Weise beruhigt, dass sich ihre beiden Freundinnen nicht an die Gurgel gingen und sie hoffte, dass keine der beiden ihr böse war, weil sie Mika damals mehr erzählt hatte, als sie vielleicht hätte tun sollen. Auf der anderen Seite hatte ja auch Mika jedes Geheimnis ausgeplaudert, welches ihr auf dem Dererund bekannt war.

"Ihr wollt hier auf der Hochzeit Euren Rahjabund verlängern?" flüsterte sie laut. "So offiziell? Weiß denn der Rest der Familie schon davon?"

“Warte Meta, euch ist es wirklich ernst, oder?” Mika war erschrocken. Allerdings nicht davon, dass sein Bruder und seine Geliebte sich vor Rahja prüfen lassen wollten, sondern dass Meta so abweisend zu ihr war. „Ich wollte dich nicht verärgern. Wenn du und Gudekar, wenn ihr wirklich im Bund steht, dann möchte ich mich auch mit dir verstehen!’

Meta seufzte erleichtert und lächelte. „Imelda, lieb, dass du auch so mitspielst und mich so förmlich anredest.“ Sie machte eine eindeutige Geste, indem sie ihre flachen Hände ein paar mal Richtung Boden bewegte. „Aber bitte nicht so laut. Mit wem um Rahjas Willen soll ich als Wächterin denn hier meinen Bund verlängern?“ Die Ritterin prustete kurz vor lachen, hatte sich aber schnell wieder im Griff. „Nein, es weiß auf Gudis Wunsch niemand davon. Er ist so intelligent, da wird er schon einen Plan haben. Wir werden es der Familie erst nach dem Traviabund sagen. Es ist gerade ganz wichtig, Gwenn eine schöne Feier zu ermöglichen. Und Mika, wir haben uns sicher einfach nur falsch verstanden. Imelda ist meine liebste Freundin, die kann sich nur mit netten Menschen oder Zwergen?“, Meta linste mit kurzen Seitenblick auf Imelda und verengte die Augen, „…also nur mit guten Leuten befreunden. Weißt du, ich bin eigentlich ganz anders. Ach, und ich muss dauernd aufpassen. Wenn er es wirklich schafft, zu mir zu stehen, werde ich viele Feinde in der Familie haben. Außerdem bin ich doch angespannt. Ich vertraue ihm voll, aber Merle wird es ihm nicht leicht machen. Sie hat gesehen, dass er noch zärtlich und lieb zu ihr ist und sollte er es nicht schaffen, zu widerstehen oder allen endlich von mir zu erzählen, ja, dann bin ich wieder alleine. Lass’ uns Freude sein, Mika.“ Man sah Meta den tief sitzenden Schmerz an, ihre braunen Augen wurden ganz dunkel und sie flüsterte immer mehr.

Imelda sah bei Metas plötzlichem, atemlosen Redeschwall ihre Freundin stirnrunzelnd an. Auf die Geweihte wirkte es fast, als ob Meta kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Ein Umstand, welchen man ihr in ihrer momentanen Situation nicht verdenken konnte. Flüchtig fragte Imelda sich, inwieweit es für Gudekar und Meta wirklich eine langfristige Zukunft geben konnte, für die es sich lohnte, eine Familie auseinanderzureißen. Bisher hatte die Affäre der beiden auf die Hadingerin eher wie ein Abenteuer gewirkt. Hatte Meta nicht immer - und auch gerade eben - behauptet, dass sie auf der Suche nach einem gut betuchten Adligen war?

Skeptisch schaute Imelda ihre beiden Freundinnen an und besann sich wieder auf das Hier und Jetzt. Sie verspürte den Drang, Meta helfen und beistehen zu wollen und versuchte daher als erstes, auf den Redeschwall zu reagieren und das Thema auf etwas anderes zu lenken. Aufmunternd klopfte sie der jungen Ritterin auf die Schulter. “Morgen ist doch dieser Jagdausflug geplant. Als Ritterin bist du sicherlich auch mit Pfeil und Bogen oder sowas geübt? Vielleicht kann Mika dir ja noch ein paar gute Tipps geben, wie man sich an den leckeren Wildschweinbraten heranpirscht?”

Meta sah zu Imelda und sprach wieder in normaler Lautstärke. „Leider kann ich nicht mit. Schade. Ich bin als Wächterin des Herrn Gudekar eingestellt und werde ihn und seine Frau auf so einer Nachtwanderung begleiten.“ Zu Imelda gebeugt säuselte sie leiser. „Schau her, das ist anstrengend. Ich spiele hier nur Theater. Und warum? Damit Gwenn eine schöne Hochzeit hat. Das gönne ich ihr auch. Aber dieser Magier!“ Sie lachte leise, aber glücklich. „Dem fallen alleine nur solche Szenarien ein. Ich bin so froh, wenn er endlich den Mut gefunden hat. Wir können nicht mehr ohne den anderen sein. Das ist ähm... seltsam.“

Mika war verwirrt. Sie verstand nicht viel von diesen ganzen Liebesdingen. Es war ihr zu kompliziert. Die Jagd war so einfach. Hier war man selbst, dort war das Tier, das man erlegen wollte. Und es kam auf die eigene Konzentration und Stärke an, ob man das Tier erlegte oder selbst verwundet wurde. Es war so einfach. Warum konnte es zwischen zwei Menschen nicht auch so einfach sein. Warum mussten die Schwestern Travia und Rahja derart um die Gunst zweier liebender Menschen wetteifern? Warum gönnten sie einander nicht, dass sich die Menschen auch manchmal für die eine und gegen die andere entschieden? Firuns Weg dagegen war so klar wie die kalte Luft des Winters. Vielleicht konnte Leander ihr das alles erklären. Sie wollte ihn fragen. “Imelda, Meta, wollen wir vielleicht uns jetzt einmal das Brauhaus von innen anschauen?” lenkte sie von dem Thema ab.

Auch Imelda runzelte bei Metas Geflüster verwirrt die Stirn. Inwiefern würde es Gwenn eine besonders schöne Hochzeit bescheren, wenn Gudekar nicht vor der Trauung, sondern stattdessen direkt danach seine Familie vor den Kopf stoßen und dann vermutlich alle Brücken hinter sich abbrechen würde? Das könnte die Erinnerung des Brautpaars an seinen Ehrentag doch möglicherweise auch im Nachhinein trüben... Was sollte so schlau an diesem ‘Plan’ sein? Die junge Geweihte war überaus froh und erleichtert, als Mika das Thema endlich wechselte und auf das Brauhaus zeigte. “Ja, Frau Forstmeisterin, das machen wir!” nickte sie enthusiastisch und sprang übermütig auf die Eingangstüre zu.

„Endlich. Da gibt’s doch sicher was zu trinken und ich werde nicht von allen möglichen Leuten beäugt? Das ist anstrengend. Aber Gudi wollte es so. Los, Meisterinnen der Schmiede und des Waldes.”

Als sie durch die Tür traten, warf Imelda ihrer Freundin einen neckischen Blick zu. “Ein Rahja-Schrein im Brauhaus, wie? Gefährliche Kombination…”

„Ihr müsst beide mal nach Linnartstein kommen. Das ist sehenswert. Alleine die Feste. Und es gibt auch ab und zu hübsche Männer. Imelda, wir haben jetzt einen Rahjani im Tempel.”

Auch Mika war überrascht, wie sich die Gaststube des alten Brauhauses verwandelt hatte. Die Rahjani hatten wahrlich ganze Arbeit geleistet. Mit offenem Mund schaute sie sich die Details staunend an.

Über einer Reisetruhe lag ein rotes Tuch geschlagen, mittig eine Holzstatuette einer von Rosen und Weinreben umrankten barbusigen Göttin.

Auf der einen Seite des so entstandenen Tischchens befanden sich ein Krug von dem örtlichen mit Rahjanisbeerensirup gesüßtes Sauerbiers, etliche Becher verschiedenster Formen und Werkstoffe und ebenso mehrere verschieden große Flaschen, bei denen es sich um Weine, aber auch um Liköre handelte. Dazwischen Schälchen mit Dörr- und kandierten Früchten, aufgeschnittenes dunkelbraunes Früchtebrot mit Nüssen und kleinen Kuchen auf einem Tablett, ebenso Süßigkeiten wie ein Berg quadratischer goldgelber Sahne-Karamellen in einem bronzenen Schälchen und Kekse in Gänseform.

Auf der anderen Seite der Rahjastatue lagen dafür ein Schälchen mit den getrockneten Blättern des Rahjaliebs, sowie ein Tiegelchen mit Levthansmorchel-Paste. Auch zwei prächtige Liebesspielzeuge, eines aus Mohagoniholz, das andere aus weißem Horn. Was das dunkle Holz an Größe hatte, wertete das hellere mit seinem Umfang auf. Dass beide Spielzeuge einem Phallus nachempfunden worden waren, war offensichtlich. Filigrane Verzierungen, die an Rosen erinnerten, vollendeten diese Kunstwerke.

Vor dem Schrein luden Decken zum gemütlichen Verweilen und zum Genuss der Gaben ein. Sogar eine Laute lag dort.

Auch Imelda trat näher an den Rahjaschrein heran. “Mika, ich muss dir in einer ruhigen Minute mal von Spiros erzählen”, flüsterte sie, als der Geweihte sie überraschte.

Dem Lehrer der Leidenschaft entgingen die Blicke der Ankömmlinge nicht. “Der Liebholden Rahja zum Gruße! Welch eine Freunde euch zu sehen, Euer Gnaden Imelda!” Rahjel machte einen schnellen Schritt auf die Ingrageweihte zu, nahm sie in den Arm und küsste sie auf den Mund. Dann drehte der gutaussehende Mann mit dem gepflegten Bart und roter Tunika zu der Ritterin um. “Na, wenn das nicht … Meta ist!” Mit herzlichen Lachen nahm er auch sie in den Arm und küsste sie.

"Oh... äh... hallo", brachte die Hadingerin überrascht heraus und sah den gutaussehenden jungen Geweihten freudig an. "Rahjel, nicht wahr?" Sie stupste Mika an und flüsterte für alle gut hörbar: "Seine Gnaden war auch auf der Schweinsfolder Hochzeit." An den Geweihten gewandt stellte sie ihre Freundin vor: "Dies ist Mika, sie ist Novizin des Herrn Firun."

Rahjel strich der Novizin eine Strähne aus dem Gesicht und küsste sie auf die Wange. “Firun, dem leidenschaftlichen Jäger, zum Gruße. Imeldas Freunde sind auch meine. Gefällt euch der Schrein?”

Mika wich im ersten Moment überrascht einen Schritt zurück, besann sich dann aber und gab auch den Geweihten ein freundschaftliches Küsschen. Sie war noch nicht oft in einem Tempel - oder Schrein - der lieblichen Göttin gewesen. Genau gesagt erst einmal, und da hatte sie Leander kennengelernt, den sie eigentlich zu treffen erwartet hatte. “Rahja zum Gruße, Euer Gnaden! Es ist ja überraschend, was aus unserem Brauhaus hier geworden ist. Das dürfte so manchem vom Volk gefallen.”

Meta lächelte neckisch und gab Rahjel danach gleich einen Kuss auf die Backe. “He, es ist viel Zeit vergangen und Ihr erinnert Euch noch an mich? Rahja zum Gruße. Bevor alle anderen mit ihren Anliegen kommen, will ich Euch bitten, kurz etwas Zeit unter vier Augen mit mir zu verbringen. Dauert nicht lange, aber es ist sehr wichtig.”

Freudig berührte er Meta an der Schulter. “Sicherlich, gehen wir. Mein Ohr ist ganz deines.”

„Perfekt. Ich beeile mich.“ Aufgeregt gestikulierte Meta zur Untermalung besonderer Gefühle. „Also, wir brauchen Euch morgen. Mein Freund und ich. Wir hatten im lieblichen Feld auf einer Reise den Rahjabund geschlossen, aber zeitlich begrenzt. Er ist, ähm, abgelaufen und wir wollen ihn gerne erneuern. Aber...“ Sie hob den Zeigefinger und legte den anderen auf die Lippen. „Es ist eine ganz private Sache, über die vor Ende dieser Hochzeit niemand etwas erfahren darf. Ist das möglich?“

“Sicherlich ist das möglich. Es gibt auch die Möglichkeit, einen Bund auf Ewig zu sprechen. Bis Boron euch scheidet. Doch in Leidenschaft auf Ewig verbunden zu sein, sollte gut überlegt sein. Zwölf göttliche Monde ist wohl doch etwas einfacher.” Er zwinkerte Meta zu. “Zur Weinstunde? Ich denke heute Abend fällt es nicht auf. Ich denke es könnte sein, dass die Gastgeber sich gestört fühlten, sollte ein anderes Paar seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.”

„Bei Rahja, so verrückt bin ich nicht, dass ich mich gleich für ewig binde. Man kann es ja, wenn man sich noch einig ist, wiederholen.“ Verständig und zuversichtlich nickte sie dem Rahjani zu. „Leider sind wir heute auf der Wanderung zu dieser... dieser Quelle, die manchmal weiß wird. Da müssen wir beide mit. Ich weiß, ich schlafe gerne lang, wenn man mich lässt, aber ginge es morgen nach dem Frühstück?“

“Wenn der Hochzeitsplan es hergibt. Dir ist schon klar, dass solch ein Bund etwas Feierliches ist und auch seine Zeit braucht? Aber sicher helfe ich, sich Liebende vor der Göttin zu binden.” Dann drückte er Meta an sich.

„Es ist etwas ganz Besonderes und mir eine Ehre, wenn du das für uns im Namen Rahjas vermitteln könntest.“ Meta gab Rahjel einen Kuss auf die Lippen und strich über ihre Kette. „Ich stehe Rahja sehr nahe. Ja, ungewöhnlich für eine Ritterin, aber man kann sich nicht alles aussuchen. Manchmal wird man gefunden.“

Rahjel lachte. “Dann bis Morgen und vergiss dein Herz nicht.” Dann ließ er die Ritterin ziehen.

~*~

Imelda schritt zum aufgebauten Rahjaschrein und spürte, wie ihr die Röte in ihr Antlitz schoss; doch trotzdem betrachtete sie neugierig die Details des Schreins. Dann deutete sie auf etwas, was sie als besonders interessant empfand. “Nett ausgearbeitet und sehr detailgetreu. Also, nehme ich an.” Verlegen griff sie eilig zu einem der Gänsekekse.

Die Ritterin, Alana von Altenberg, trat aus einer Ecke heraus und musterte die drei Frauen. “Der Dunkle ist eine Arbeit aus Aranien. Zumindest hat das mein Bruder, Seine Gnaden Rahjel, erzählt.” Alana war blass, trug einen leichten Waffenrock und leichte Stiefel. Ihr rotes Haar war kurz geschnitten, doch ihre hellen Augen und die Feenküsse in ihrem Gesicht ließen sie interessant erscheinen. Ihr Blick fiel von Imeldas üppigem Dekolletee auf Meta, die sie nun auch von unten nach oben betrachtete. “Mit dem Ritterschlag kamen wohl die Rundungen”, sagte sie anerkennend und streckte Meta die Hand zum Rittergruß entgegen.

Mika schaute zu der etwas älteren Ritterin, der eine Ähnlichkeit mit dem Rahjageweihten nicht abzusprechen war. Imelda und Meta schienen die beiden zu kennen. Doch Mika wusste nicht, wer das war. So blieb sie im Hintergrund stehen und beobachtete. Vielleicht würde Leander ja auch bald auftauchen, ihm würde sie gerne ‘Hallo’ sagen.

Flüchtig musterte Imelda Meta und fragte sich, welche Rundungen die Ritterin wohl meinen könnte, während sie genüsslich an ihrem Gänsekeks knusperte. "Hervorragend. Sehr lecker! Wer hat die denn zubereitet?" Unwillkürlich griff sie nach der Schale, um sich einen zweiten Keks zu gönnen.

Mika schmunzelte über ihre Freundin, doch selbst war ihr gerade nicht nach einer der süßen Köstlichkeiten. Zu sehr war sie fasziniert von den Gerüchen und den optischen Reizen in diesem provisorischen Rahjaschrein.

Imelda probierte noch eine Sahne-Karamelle, dann schaute sie sich weiter interessiert um.

Meta erwiderte den Rittergruß und lächelte Alana an. „Danke, aber unter meinem Gewand ist nicht mehr Rundung als zuvor. Es wirkt als Ritterin nur anders.“ Gelöst frech zwinkerte sie der Geweihten zu. Meta sehnte sich danach, nicht mehr diese alberne Rolle, die gar nicht ihrem Charakter entsprach, zu spielen. Aber das Hochzeitspaar sollte es schön haben. Nach zwei Jahren der nächste Wunsch, den sie dem Mann, den sie liebte, erfüllte. Danach würde er sich zu ihr bekennen und sie durfte überall sein, wie sie war. Dass Gudekar es nicht schaffen und bei Merle - die hatte den Vorteil, dass sie als seine Frau immer bei ihm sein durfte und natürlich versuchte, ihn zu verführen, den Gedanken verdrängte sie. Er war zu schlimm. Sie wandte sich wieder an Alana. „Ich hatte es eurem Bruder Rahjel schon ein fruchtbares Gespräch. Jetzt ist mir ein Stein vom Herzen gefallen. Sehr zu Rahjas Freude.“ Sie strahlten Alana an. „Imelda, Alana, Mika, ich hab jetzt Lust auf Rahjas Gaben. Wollen wir gemeinsam etwas Wein trinken?“

“Es steht dir ausgezeichnet, Croy!”, sagte Alana und schenkte ihr einen Blick der Leidenschaft. “Mein Bruder wird euch sicher helfen können … auch ich bin dem Rahjadienst nicht unerfahren. Ich stehe dir zu Diensten.” Nun lachte sie und setzte einen Kelch mit Wein zum Trinken an.

„Oh.., ich glaube, ganz dunkel, dass wir uns schon einmal gesehen, aber nicht gesprochen haben. So einen rahjagefälligen Wein, den hätte ich jetzt auch gerne. Wo bekomme ich den?“ Meta fühlte sich in der Gesellschaft sofort wohl. Die Gefahr, blöde Fehler zu machen, war gering. „Und Rahja stehe ich sehr nahe. Lasst euch nicht von dem Schwert täuschen, aber irgendwie muss man zu Geld kommen.“

Die Ritterin zwinkerte ihr lasziv zu. “Ich kann mich gut erinnern, auf der Hochzeit in Schweinsfold. Noch wart ihr nicht soweit, dass sich unsere Schwertscheiden kreuzten. Zum Wohl!” Alana bot ihr etwas von dem Wein an.

Schelmisch lächelnd nahm Meta den Wein und stieß mit Alana an. „Auf die Schöne und die anderen Elfen“. Mist, diesen wirren Spruch hatte sie von Danilo übernommen und lange nicht mehr benutzt. „Alana, unsere Schwertklingen werden sich auch diesmal nicht kreuzen. Ihr werdet doch den Herrn Gudekar nicht angreifen?“ Sie lachte, der Wein nahm ihr etwas von der Grundspannung, unter der sie hier stand. „Ich bin zu seinem Schutz hier, doch eigentlich in rahjagefälliger Mission. Wie steht Ihr zum Brautpaar?“

“Rahjagefällige Mission, so so”, sagte sie mit anzüglichen Unterton. "Verwandtschaft. Unsere Mutter stammt aus diesem Haus. Aber um ehrlich zu sein, wir sind das erste Mal geladen worden. So weit ich weiß, war sie nie eng zu ihrer Familie. Sie hat den Weg der Liebholden gewählt.”

„Ach, ihr seid verwandt. Was für ein netter Wink Rahjas. Ich plante, morgen mit Rahjel den Rahjabund zu erneuern. Ähm, natürlich nicht mit ihm, so ein Schmarren. Er ist so nett und wird Gudekar und mich erneut binden.“ Meta legte den Kopf neckisch schräg und sah Alana lasziv an. „Das bleibt aber geheim, bis Gwenns Trauung vorüber ist.“ Zärtlich nahm die frische Ritterin Alanas Kopf und gab ihr einen Kuss auf den Mund, an dem die schöne Göttin ihre Freude hatte. „Damit sei es besiegelt, liebe Alana.“

Überrascht schaute Alana Meta an. “Euer Zungenspiel ist äußerst geschickt. Gudekar kann sich glücklich schätzen.” Mit einem Grinsen ließ sie die Ritterin ziehen.

Die Ritterin zwinkerte Alana selbstbewusst zu. “Ich weiss, Alana, meine Hübsche. Bis später.”

~ * ~

Das Hauptaugenmerk der Hadingerin lag aber immer noch auf den beiden Liebesspielzeugen. Neugierig nahm sie das dunkle Holz in die Hand. "Mohagoni, sehr wertvoll und äußerst strapazierfähig. Würde sich auch gut für einen Schwertknauf eignen." Imelda klopfte prüfend gegen das Holz und begutachtete aus nächster Nähe die kunstfertigen Verzierungen. "Liegt gut in der Hand. Welches findet ihr denn besser...", wandte sie sich an explizit an Meta und Mika, "...das dunkle oder das helle aus Horn?"

„Kommt auf die Hand an, die es führt.“ Metas Bemerkung erkannte auch Imelda als recht eindeutig. „Wenn ich nachher etwas Zeit habe, dann lass uns doch über dieses Kunstwerk sprechen. Ich glaub, ich hab da eine Lösung für dich.“

Mika hörte den beiden Freundinnen nicht wirklich zu, denn sie blickte immer noch auf diese Ritterin, die wohl die Schwester des Rahjani war. Sie war jedoch zu schüchtern, sie anzusprechen, denn diese Umgebung verunsicherte sie.

Die Ingrageweihte runzelte die Stirn, angesichts der Antwort Metas. Kess fragte sie nach: “So, so, du kennst dich also damit aus, wie?” Meta konnte erkennen, dass Imelda es nicht mitbekam, doch war ihre Stimme bei ihrem Kommentar so durchdringend, dass das ganze Gasthaus Imeldas Worten folgen konnte. “Was für eine Lösung hast du denn parat? Und wann willst du sie mir verraten?”

So kannte Meta ihre Freundin, und das hatte sie vermisst. Fröhlich lachend legte sie eine Hand auf deren Schulter. „Pssst, die schauen sich schon nach uns um. Du weißt doch, wofür die sein sollen? Hm, eigentlich wollte ich dir eh noch von meinem Verlobten erzählen. Weißt, suchen wir uns ein schönes Eck. Wer weiß, wann wir auf der Hochzeit nochmal gemeinsam Zeit haben.“

Imelda sah sich stirnrunzelnd um; so viele Leute waren es ja nun nicht, befand sie. Schulterzuckend rief sie ihrer Freundin keck entgegen: “Na klar, weiß ich, wozu die gut sind! Bin ja nicht auf den Hinterkopf gefallen. Deshalb wundere ich mich, was du mir für Tipps geben möchtest.” Für einen Moment sah sie Meta wortlos an, während sie den Luststab von einer Hand in die andere jonglierte. Dann, als die letzten Worte Metas in ihrem Geist angekommen waren, weiteten sich Imeldas Augen schlagartig. “Verlobt?! Wie? Aber ich dachte, du wärst mit Gudekar so glücklich? Wer ist es denn? Ist er reich?” Entsetzt klopfte Imelda der daneben stehenden Mika mit dem Mohagoni-Spielzeug auf die Schulter. “Mika, was sagt du denn dazu?!”

Mika schreckte aus ihren Gedanken hoch. “Was? Oh, entschuldige, ich war ganz in Gedanken. Was sage ich wozu?”

Erst schürzte Meta die Lippen, dann flüsterte sie. „Mikas Bruder, aber es muss noch geheim bleiben.“ In normaler Lautstärke fuhr sie fort. „Ach nein, leider ist er noch nicht reich. Da wir vor ungefähr einem Jahr den Rahjabund geschlossen haben und der zeitlich begrenzt war, wollen wir ihn bei Rahjel erneuern. Sowas sehe ich unter gewissen Umständen als Verlobten. Ich weiß, dass das nicht die gängige Regel ist, aber das kürzt eine lange Geschichte ab.“ Lachend griff sie nach dem Mohagonigegenstand. „Jetzt fuchtel doch nicht so mit dem Ding rum. Viel besser ist der, den wir in Linnartstein haben. Model Samaro. Natürlich warm, passt sich jeder Form perfekt an, wurde mir gesagt. Man findet ihn in unserem Rahjatempel.“

Meta erschrak, denn Mika hatte plötzlich ihre Hand auf Metas Arm gelegt. “Habe ich das richtig verstanden, Meta? Du und Gudekar steht im Rahjabund? Das geht, obwohl er… Merle hat?”

„Ja, das hat mit Travia nichts zu tun. Schau, in offeneren Gegenden wie dem lieblichen Feld zählt der Rahjadienst im Tempel auch nicht als Ehebruch.“ Finger für Finger löste sie Mikas Hand von ihrem Unterarm, hielt diese aber locker fest. Bei den Tulamiden kann man mit mehreren Personen gleichzeitig im Bund sein. Es geht nicht um sexuelle Treue, es geht um Liebe.“ Meta wurde ziemlich rot. “Wir hatten ihn auf ein Jahr begrenzt und ich war mir anfangs sicher, dass ich nicht treu bleiben würde. So selten haben wir uns gesehen. Aber ich hatte keinen anderen Mann, als ihn. Und seltsamerweise war es dann gerade die Distanz, die mich dazu gebracht hat. Ich wusste, da ist irgendwo mein Freund - Wir haben uns ja Briefe geschrieben - und was für andere Paare selbstverständlich ist, war für uns jedesmal ein kleines Fest. Wir erneuern ihn wieder für ein Jahr. Man kann sich auch gleich für immer binden. Aber der Glaube der Schönen lehrt, dass Zuneigung und Partnerschaft nicht ewig halten müssen. Man kann sich in Freundschaft trennen, wenn die Wege auseinandergehen“

Mika hörte der jungen Ritterin interessiert zu. Viel zu wenig wusste sie über die Sitten in Rahjas Gemeinschaft, doch diese Frau schien sich darin gut auszukennen. Mit einem auffordernden Blick fragte Mika: “Und du bist sicher, dass Gudekar der Mann für dich ist, für den du dich ganz und gar aufsparen willst? Woher weißt du das? Warum bist du dir da so sicher?

Imelda hatte sich derweil das aus weißem Horn gefertigte Liebesspielzeug geschnappt. "Dieses ist etwas zu dick, finde ich", kommentierte sie übermütig. "Aber Horn ist echt ein gutes Material. Kann man auch bei Scheiden, also Schwertscheiden verwenden." Sie zog mehrfach auffordernd die Augenbrauen hoch und ging vor Meta in Ausgangsstellung. Den linken Arm gebeugt nach oben und mit dem ausgestreckten Horn in der Rechten bewaffnet, sprang sie vor der Ritterin auffordernd hin und her: "Na los Ritterin, beantwortet die Frage der jungen Dame von Lützeltal! Ich habe von meinem Bruder gelernt, mit der Waffe umzugehen. Sprecht Meta, oder ich stecke Euch das Ding irgendwo rein, wo es nicht hingehört."

“Imelda!” empörte sich Mika mit einem beschämten Lachen. “So etwas macht man doch nicht!”

Verdutzt sah die Hadingerin zu Mika. “Da hast du wohl recht…” Die Geweihte verbeugte sich höflich vor der Ritterin und schlug dann mit dem Schalk im Nacken seitlich gegen deren Waffe. “Na los, hohe Dame! Gesteht!”

Plötzlich wehte die Tür zur Stube es Brauhauses auf. Ein eisiger Wind drang hinein, obwohl es ein schöner sonniger Tag war, und umwehte die dort am Schrein der Rahja Versammelten, fuhr in deren Kleidung, zerzauste die am Boden bereitliegenden Decken und ließ alle für einen Moment frösteln. Eindrucksvoll stand ein hochgewachsener, in einen grauen Wolfspelzmantel gekleideter Mann im Türsturz. In der Rechten hielt der Mann einen Jagdspeer. Über der Schulter waren die federbesetzten Enden von Pfeilen zu sehen, ebenso das Ende eines Langbogens.

Sein Begleiter war ein muskulöser weißgrauer Hund mit breitem Gebiss, vernarbten Ohren, kurzem Fell und Stummelschwanz, der sich auf einen kaum merklichen Wink des Mannes neben der Tür auf sein Hinterteil setzte. Mika kannte seinen Namen: Rall. Der Rüde war mit Vorsicht zu genießen, mutig und äußerst klug, auf der Jagd wie ein dritter Mann, sein Kiefer kraftvoll, zum Zermalmen von Knochen wie geeignet, zum Verbeißen ins Fell einer wilden Bache ebenso, und er hörte nur auf einen: seinen Gefährten Firumar von Albenholz.

Der Schritt des Mannes war schwer, als er in die Stube trat, und sein missbilligender Blick aus den tiefliegenden Augen sogleich fand, wonach sie gesucht hatten.

„Verabschiede dich. Wir haben zu tun.“ sprach der Mann mit Strenge in der dunklen Bassstimme zu dem Mädchen, das wusste, dass sie am besten jetzt keine Widerworte geben sollte.

Mikas Gesicht zeigte den Ausdruck von schlechtem Gewissen. Hatte sie bereits über die Strenge geschlagen? Sie dachte, Firumar hätte ihr diesen Tag frei gegeben, damit sie ihre Familie und ihre Freunde begrüßen konnte. Doch war vielleicht ein Rahjaschrein wirklich nicht der richtige Ort, um den Besuch zu Hause zu beginnen. Mit gesenktem Blick antwortete Mika schüchtern: “Verzeiht, Euer Gnaden! Ich komme sofort.” Dann blickte sie entschuldigend zu Imelda und Meta. Gerne hätte sie mehr über die Freundschaft zwischen der Ritterin und ihrem Bruder erfahren. “Ich wünsche euch noch viel Spaß! Wir sehen uns bestimmt nachher noch einmal!” „Sicher. Am Abend beim Feuer? Da werde ich versuchen, zu erklären“, antwortete Meta. Mika drehte sich um und folgte ihrem Lehrmeister, welcher nach ihr noch einmal der illustren Runden vor dem Schrein einen prüfenden Blick zuwarf, der das Gefühl vermittelte, keine Erwiderung zuzulassen. Der Hund folgte der Novizin hinaus, als letztes ging der Geweihte.

Erst als der Geweihte des Grimmigen fort war, verlor sich das Frösteln, welches in der Luft gelegen hatte.

„Imelda, bei dir wäre es mir zu heiss und bei Mika zu kalt.“ Sie prostete Imelda nochmal zu.

"Was soll das heißen, zu heiß?", fragte Imelda gespielt empört. Sie holte das weiße Liebeshorn wieder hinter ihrem Rücken hervor, wo sie es eilig versteckt hatte, als Mikas strenger Lehrmeister hineingeplatzt war. Nach einem Duell war ihr jetzt jedoch nicht mehr zumute. Ratlos stellte sie das Horn auf den Tisch des Schreins, ging zu Meta und ohne eines weiteren Wortes nahm Imelda ihre Freundin herzlich in den Arm. "Ach Mensch, Süße. Ich habe dich vermisst. Schön, dich zu sehen. Mache dir keine Sorgen. Es wird schon alles gut gehen."

Meta schluckte. Sie vermisste Gudekar, der zwar dauernd da war, aber nicht zu ihr durfte und sie wusste, dass die meisten Leute der Familie sie als Ehebrecherin, Verführerin oder was auch immer hassen würden. Wenn Gudekar es überhaupt schaffte. Sie nahm Imelda in den Arm und drückte sie ganz fest. „Ich hab dich so lieb. Du weißt, dass ich nicht schlecht bin oder böse.“

Imelda sah aus nächster Nähe ihre Freundin an. Sie biss sich ein wenig auf die Unterlippe und sagte mit zarter Stimme: "Doch, du bist ein böses Mädchen, aber das war´mein Bruder auch... also kein Mädchen. Trotzdem seid ihr beide die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Das wird sich niemals ändern. Ich werde dir immer zur Seite stehen!" Sie drückte noch einmal Meta ganz fest an sich, bevor sie diese wieder aus ihren Armen entließ. "Also diese Liebesstäbe, sind schon schön... Ähm, ich muss noch mein Quartier beziehen beim Dorfschmied. Magst du mitkommen? Ansonsten sehen wir uns ja nachher beim Fest."

„Beim Schmied? Das ist interessant, aber ich bin ja beruflich hier…“ Meta seufzte. “Gudekar hat mir natürlich keine genauen Angaben gegeben, wann ich ihn wo beschützen soll, aber ich glaube, im Dorf sollte ich mich nicht blicken lassen. Aber auf das Fest freue ich mich schon.“

~ * ~

Der Knappe und sein Herr

Zwei Reiter trabten auf das Dorf zu und zügelten ihre Pferde, als sie etwa Einhundert Schritt davon entfernt waren. Im versammelten Schritt ging es denn weiter bis zur Dorfmitte. Beide Männer, ein jüngerer, der sich das breite Grinsen kaum verkneifen konnte, und einer im besten Alter, trugen königsblaue Wappenröcke, auf denen jeweils vorne und hinten ein schwarzbewehrter silberner Flügel aufgestickt war. Der ältere hatte rotblondes Haar und einen gepflegten Bart. Dazu braune Augen und man konnte ihm ansehen, dass er im Kampf geübt war. Der jüngere war den Einheimischen wohl bekannt. Er hatte kurzgeschnittenes dunkelblondes Haar und braune Augen und war von hochgewachsener Gestalt. Je mehr er sich dem Mannesalter näherte, um so ähnlicher wurde er seinem Vater in jungen Jahren. Sein Name war Lukardis von Weissenquell. Er platzte schier vor Freude, doch hielt er sich zurück. Dann hob der ältere eine metallene Stange mit einem großen und einem kleinen Trichter an den Mund und blies einige wohlklingende Töne darauf. Mit stolzgefüllter Brust richtete sich Lukardis im Sattel auf, wobei er ein wenig schwankte, und rief: “HÖRET! HÖRET! ES KÜNDIGT SICH AN: DER HOHE HERR RONDRARD INGERAS VON STORCHENFLUG. BRUDER DES VOGTES ZU SCHWERTLEIHE, RITTER DER BARONIE SCHWERTLEIHE!” Lukardis strahlte, als er sich wieder setzte und der andere ihm anerkennend zunickte.

Die Dorfbewohner, die teilweise in ihren Arbeiten innehielten, blickten gespannt zum Eingang. Dort sahen sie acht weitere Reiter. Allen voran ein junger Mann, der über einem Kettenhemd einen ebenfalls königsblauen Wappenrock trug, doch war jener mit vielen silbernen Flügeln bestickt, welche allesamt schwarz bewehrt waren. Auch das Streitross, auf dem er saß, hatte einen solchen Wappenrock. Er war mit einem Schwert gegürtet, um welches kunstvoll ein regenbogenfarbenes Band geschlungen war. In seinem Arm hielt er einen Helm, dessen Zier ein einzelner weißer Flügel war. Zu seiner Linken ritt ein weiterer Jüngling, ein wenig jünger noch als Lukardis, der ein wenig Mühe hatte, den Schild seines Herrn zu präsentieren. Auf der rechten Seite des Ritters war eine Frau zu sehen. Sie war eher zierlich, doch hochgewachsen. Das lange, dunkelblonde Haar zu einem strengen Dutt gebunden und auf der Nase hatte sie ein Drahtgestell, in dem etwas drin war, was Glas oder gar Kristell sein mochte. Ihr Blick war kühl. Auf einen Wink hin, den sie gab, ritten Lukardis und der andere Mann weiter Richtung Herrenhaus, um den Ritter dort ebenfalls anzukündigen. Gleichzeitig trennten sich die Männer, die hinter dem Ritter kamen von diesem und bogen Richtung Zeltplatz ab. Ganz zum Schluss kam ein Leiterwagen, der mit einer Plane fest verschnürt war. Dieser wurde von einer robusten Frau gelenkt, welche wohl in den besten Jahren war und fröhlich ein kleines Liedchen summte.

Der Fanfarenstoß war durchaus bis in das Edlengut zu hören, und wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, dass erneut hohe Herrschaften eintrafen. Kalman von Weissenquell, der gerade noch ein paar Absprachen mit seiner Frau Ciala und der Magd Eiltrud traf, entschuldigte sich sofort und eilte aus dem Herrenhaus, um die Neuankömmlinge im Hof des Guts zu begrüßen. Als er das Wappen auf der Brust der Reiter sah, durchzog ein kurzes Lächeln sein Gesicht, bevor er sich wieder zur Raison rief. “Schnell, Madalind, gib deinem Morgan Bescheid, euer Bruder ist eingetroffen!” flüsterte er seiner Tochter zu, die im Hof mit einer neuen Holzpuppe spielte. So wollte er auch sicher gehen, dass das Mädchen nicht versehentlich unter die Hufe kam.

So wartete Kalman nun auf das Eintreffen der Reiter.  

Immer noch im versammelten Schritt kamen Lukardis und der Unbekannte beim Hof an. Letzterer verzichtete auf einen weiteren Fanfarenstoß, doch räusperte er sich lauthals, als Lukardis freudig vom Pferd sprang und mit ausgestreckten Armen “Vaaaater” rief. Lukardis hielt inne und streckte sich. “Ähm, ja ich meine natürlich… Ich tue kund und zu wissen…ähm… der Hohe Herr von Storchenflug ist soeben eingetroffen.” Fragend blickte er den Älteren an. Dieser antwortete schmunzelnd: “Schon gut, Junge, geh man Deine Lieben begrüßen. Dafür sind wir ja hergekommen.” An die anderen gewandt fuhr er fort: “Mein Name ist Aelfhelm Leuw. Ich bin normalerweise der Bannerträger des Hohen Herrn, doch hielt er es für angebracht, dieses Amt heute seinem Knappen zu übertragen.” Lukardis reckte wieder stolz die Brust in die Höhe.

Kalman ging auf Lukardis zu und nahm ihn mit kräftigem Druck in den Arm. “Mein Junge! Es tut gut, dich zu sehen! Lass dich anschauen! Ein Mann bist du geworden. Machst deinen alten Herrn mächtig stolz! Ich bin gespannt, was dein Großvater sagen wird!”

Dann blickte der Sohn des Edlen von Lützeltal zu dem Herold und streckte ihm den Arm entgegen. Kalman hatte zur Begrüßung der Gäste ebenfalls sein Kettenhemd an und den Wappenrock übergeworfen. auf dem dunkelgrünen Stoff prangte das Wappen des Hauses: eine weiße Quelle, die einem grünen Berg entspringt vor blauem Feh. “Sehr erfreut”, entgegnete der Lützeltaler. “Ich bin Kalman von Weissenquell, Sohn des Edlen Friedewald und Vater dieses prächtigen Burschen.” Er schlug seine rechte Hand auf Lukardis’ Schulter und schüttelte diese kräftig, wobei dieser vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre. “Wo ist Euer Herr? Ist er schon im Dorf?”  

Aelfhelm erwiderte den Gruß. “Der Hoher Herr müsste derweil auf dem Dorfplatz angekommen sein und wird gleich hier eintreffen. Zusammen mit seinem zweiten Knappen Garmwart von Grauningen und seiner Schreiberin Wiltrud Dorschau. Der Rest seiner Lanze ist auf dem Weg zum Zeltplatz.”

“Gut. Lukardis, dann haben wir noch einen Moment, dass du die Familie begrüßen kannst, bevor du wieder Haltung annehmen solltest.” Kaum hatte Kalman das ausgesprochen, da rannte auch Madalin aus dem Haus. Ihre blonden Zöpfe flogen rechts und links von ihrem Kopf hin und her. “Lukardis! Lukardis! Endlich bist du zu Hause!” Das inzwischen für ihre 12 Götterläufe schon recht groß gewachsene Mädchen lief direkt auf ihren Bruder zu und umklammerte ihn schwungvoll mit ihren Armen, ohne auf seinen Wappenrock oder was darunter verborgen sein konnte, zu achten. Sie schmiegte ihr Gesicht an seine Brust.

“Madalin, wie groß Du geworden bist”, freute er sich und knuddelte seine Schwester.

Dann trat eine Frau aus der Tür des Gesindehauses, in den die Familie Weissenquell während der Feierrlichkeiten umgezogen war. Lukardis erkannte sofort seine Mutter, Ciala von Adelmannsfelden. Auch sie beeilte sich, zu ihrem ältesten Sohn zu gehen, verzichtete ab auf das losrennen, auch wenn es ihr schwer fiel.

Lukardis fiel auf, dass seine Mutter seit ihrem letzten Treffen an Gewicht verloren hatte und müde aussah. Trotzdem war sie immer noch eine hübsche Frau mit genug weiblichen, mütterlichen Rundungen. Sie beherrschte sich, bis sie bei ihm war, dann umarmte sie ihren Sohn kräftig und drückte ihn an sich. „Mein Schatz, den Göttern sei Dank, dass dir nix passiert ist. Und groß bist gworn.“ Sie ließ ihren Sprössling los und wischte sich etwas Sand aus den Augen. Noch trug sie wie stets ein praktisches, aber kunstvoll in Beigetönen gefertigtes Wollkleid. „Komm, lass uns bei Travia den Moment nutzen. Die Familie ist schließlich heilig.“ An Lukardis Begleiter gewandt ergänzte sie. „Ciala von Weissenquell. Richtet eurem Herrn unsere besten Grüße aus, er wird sicher verstehen, dass wir die kurze Zeit gemeinsam nutzen. Es soll ihm an nichts fehlen, lasst euch von Marno, dem Burschen da“, sie wies auf einen jungen Mann, den sie herbeirief. „Lasst euch zwei Flaschen von unserem besten Wein mitgeben.“

Verwirrt schaute der Bannerträger die Dame des Hauses an: “Ähm… wie Ihr wünscht.” Er neigte das Haupt und ging zu dem jungen Mann, den Wein zu holen.

“Mutter”, freudig umarmte Lukardis auch diese. Dann streckte er die Arme aus, während er ihre Schultern hielt. “Lass Dich anschauen. Geht es Dir gut?”

Kalman schaute seine Frau amüsiert an. Ihre unglaubliche Herzigkeit war zwar wirklich erwärmend, doch in Anwesenheit des Herolds vielleicht nicht zur richtigen Zeit. “Ciala, ich denke, es gibt noch genug Gelegenheiten, in den nächsten Tagen Lukardis zu sehen und zu sprechen. Jetzt lass den Jungen seine Arbeit tun und die Ankunft seines Schwertvaters vorbereiten!” Kalman freute sich darauf, den alten Gefährten wiederzusehen.

“Madalin, du solltest doch Morgan holen, wo ist er denn?” fragte Kalman nun seine Tochter. “Ich weiß es nicht, ich habe ihn nirgend gefunden. Ich gehe ihn nochmal im Dorf suchen!” Und, schwupp, weg war sie!

“Kalman, ich habe ihn so lange nicht gesehen.” Sie wuschelte Lukardis durch die Haare. “Es sind emotional anstrengende Zeiten. Mach dir keine Sorgen, es geht uns gut. Ach, ihr werdet so schnell groß und schon ist euch meine Umarmung peinlich.” Sie lachte herzlich und nahm Kalmans Hand. “Travia sei Dank bremst mich mein Gatte immer wieder. Mein Kleiner, ich gehe wieder, es gibt genug zu tun. Du bist ja noch etwas hier.” Kalman gab sie einen liebevollen Kuss auf die Wange.

Marno eilte sogleich in das Herrenhaus, das dargebotene Geschenk zu holen. Derweil wartete Aelfhelm geduldig und beobachtete, wie die Weissenquells ihren Sohn begrüßten.

Als Marno endlich zurückkehrte, kam Kalman eine Idee. „Wisst Ihr, ich begleite Euch zum Zeltplatz. Dann kann ich dort gleich nach dem rechten sehen und auf Euren Herren warten.“

Der Bannerträger nickte. Es war zwar unkonventionell, doch würde so die Schmach von seinem Herrn genommen und man könnte daraus eine öffentliche Begrüßung machen. “Bitte sitzt auf, ich werde das Pferd führen”, bot er an.

Lukardis drückte seine Mutter noch einmal: “Du bist mir nicht peinlich, bitte denk das nicht von mir.” Dann gab er ihr einen Kuss auf die Wange.

Eigentlich wollte Kalman den Stallburschen Marno sein eigenes Pferd holen lassen, doch wäre dies der nächste Affront gewesen. Und so bedankte er sich bei dem Herold und stieg in den Sattel. Auch wenn der Weg zum Zeltplatz auf den Streuobstwiesen nicht weit war, blieb genügend kurz mit Lukardis zu reden. „Sag, mein Sohn, wie ist es dir ergangen in Amleth?“

“Amleth ist eine richtige Burg und schon uralt. Frau Dorschau sagt, sie hätte schon in den Dunklen Zeiten existiert. Sie wirkt ein wenig düster und ist sehr… kastenförmig. Der Hohe Herr behandelt mich gut und seine Lanze auch. Natürlich sind einige strenger als andere. Aber ich lerne viel bei ihnen. Einmal im Mond darf ich mit in die Stadt Amleth. Die gehört dem Landgrafen und da gibt es alles. So viele Menschen und so viele tolle Sachen. Aber ich spare mir mein Handgeld auf. Frau Dorschau sagt, dass ist wichtig, damit man was hat, wenn es mal bittere Zeiten gibt.”

“Das ist sehr vernünftig, mein Sohn.” lobte Kalman seinen Sprößling. “Aber ab und an sollte man sich ruhig auch einen kleinen Genuss gönnen, wenn die richtige Zeit dafür ist. Ja, Amleth hat schon das eine oder andere zu bieten. Natürlich nicht so viel wie Albenhus, aber ich habe die Stadt immer gemocht. Und wenn ich mich recht entsinne, gab es dort dieses eine kleine Gasthaus… Ach, wie hieß das nochmal? Naja, egal. Ach, das waren Zeiten!” Der Ritter schwelgte in Erinnerungen an die eigene Jugend.

“Also, da wären der Graf, das Bärenfell, die Lohe und die Daune”, zählte Lukardis die vier Gasthäuser Amleths auf. “Die Daune hat aber einen schlechten Ruf, da gehen nur arme Schlucker hin.”

“Oh, ja”, erinnerte sich Kalman. “Damals, als ich nach deiner Tante Joleante suchte, da kam ich auch durch Amleth. Baron Traviadan gewährte uns Unterstützung bei der Suche. Damals war dein Schwertvater ein ganz junger Page bei dem Baron. Das ist nun auch schon über 20 Götterläufe her, und ich selbst stand noch kurz vor meiner Schwertleite. Aber damals schon war das Daune noch schlechter als sein Ruf.” Kalman machte eine Pause, zu lange, um nicht zu ahnen, dass er auch in dieser Absteige seine Erlebnisse hatte. “Aber das Bärenfell, das war ganz ordentlich.”.

Als sie den Zeltplatz erreichten, fragte Kalman seinen Sohn. “Welches sind eure Zelte? Geh, schau, ob Rhodan schon eingetroffen ist.”

In der Mitte des Platzes konnte er eine Gruppe Männer und Frauen sehen, die gerade dabei waren, das erste von drei Zelten aufzurichten. Sie waren U - förmig angeordnet und bestanden aus blau-weißem Stoff, wobei die Streifen senkrecht angeordnet waren. Die weißen Streifen waren in Bodennähe optisch abgerundet und obendrein fein bemalt, so dass sie wie Federn wirkten. Daneben stand ein Leiterwagen, der nun von seiner Plane befreit, den Blick freigab auf weiteres Zeltmaterial, zusammensetzbare Möbel, Werkzeug, Lebensmittel und Kochutensilien. Ein Hund lag darunter und schien zu dösen, doch hob er den Kopf, als die beiden ankamen. Etwas abseits standen die Pferde und wurden von einer robust gebauten Frau versorgt. Mehrere Pfähle waren in den Boden gerammt und mit einem Seil verbunden worden. Kein Hindernis für Pferd oder Dieb, aber eine Abgrenzung.

"In dem Zelt schlafen der Hohe Herr und seine Knappen, das dort", er deutete nach links, "ist das Schlafzelt der restlichen Lanze. Es ist aber nicht groß genug, so dass auch hier, wo es nicht nötig wäre, immer zwei Leute Wache halten. Das andere ist unser Vorratszelt, da lagern wir alles, was man gerade nicht braucht. Die Plane vom Wagen wird zum Schluss noch als Praiossegel über den Platz in der Mitte gespannt. Dann können wir dort den Tisch aufbauen und im Freien essen. Vom Wagen werdet Ihr bald auch nichts mehr sehen. Aus den Rädern werden Kronleuchter, die Stangen der Leitern halten das Segel und die Ladefläche wird unsere Tischplatte." Stolz plapperte der Junge über Dinge, die sein Vater eh schon wusste.

“Sehr gut, mein Sohn! Ich sehe, du hast schon viel gelernt über das Leben im Lager. Das kann die später sehr nützlich sein!” ‘Auch wenn ich hoffe, außer auf Anlässen wie diesem oder einem Turney wirst du dieses Wissen nie benötigen!’ ergänzte der Lützeltaler Ritter in Gedanken.

Aelfhelm war bereits vorgelaufen und hatte einen der Männer geschnappt. Als sie zurückkamen, konnte Kalman seinen Freund erkennen, der immer noch gerüstet, beim Aufbau mit angepackt hatte.

Als Kalman Rondrad erblickte, lächelte er freundlich. “Seid gegrüßt, Rondrad von Storchenflug, mein Freund! Im Namen der Familie Weissenquell heiße ich Euch willkommen in Lützeltal.”

“Kalman von Weissenquell! Habt Dank für Eure freundlichen Worte. Wie ist es Euch ergangen?”

“Nun, besser als mir gut tut, vermute ich. Das Alltagsleben hier auf dem Gut hat mich wieder eingeholt und lässt keine Zeit für Heldentaten.” Auch, wenn ein Hauch von Wehmut in Kalmans Ausdruck lag, schien er nicht wirklich unglücklich über diese Entwicklung. “Und wie geht es Euch? Wie macht sich Euer Knappe?”

“Ich hab mich wieder erholt”, lachte der Ritter, “Welchen Knappen meint Ihr denn genau?”, foppte er den Weissenqueller.

Kalman musste lachen. Ja, Rondrard hatte irgendwie nie seinen Humor verloren. Das machte den jüngeren Ritter so sympatisch. “Na ich meine den, der es nicht einmal schafft, sich selbst die Schuhe zu schnüren. Arbeitet er tüchtig an seinen Schwertübungen?”

“Am Anfang watscheln wir doch alle, wie Enten”, lachte der Jüngere. “Beide machen sich aber recht gut. Euer Sohn hat auch schon eigenverantwortlich seinem Knappenbruder beigestanden. Aber verratet mich nicht, er glaubt, ich hätte es nicht mitbekommen.”

Kalman nickte anerkennend und bestätigend den Kopf. „Ich weiß von nichts!“ erklärte er augenzwinkernd. „Gut, braucht ihr noch Hilfe, das Lager zu errichten? Oder benötigt Ihr noch irgendwelche Ausstattung? Dann würde ich den Knecht vorbeischieben. Speis und Trank wird auf dem Dorfplatz gerichtet. Dort wird Euch gegeben, was Ihr wünscht. Wir können uns später auf dem Fest noch weiter Austauschen und alte Erinnerungen auffrischen.“

“Und vielleicht noch den ein oder anderen Tropfen kippen. Ich hab einen schönen Met dabei.”

“Rondrad, das klingt äußerst verlockend. Dann besorge ich beim Rodebrand eine Karaffe vom Albenbluth, und dann probieren wir, welches Getränk besser schmeckt!” Kalman freute sich darauf, nach so langer Zeit endlich einmal wieder einen unbeschwerten Abend bei guten Getränken, Geschichten aus der alten Zeit und vielleicht etwas Rauchkraut mit einem Freund zu verbringen. So schön und so erfüllend das Leben in Lehen seines Vaters im Schoß der Familie auch ist, ein solcher Abend hat ihm dennoch gefehlt.

“Dann sehen wir uns später”, grinste Rondrard.

~*~

Die Störenfriedin

Am späten Nachmittag erreichte eine herrschaftliche Reisekutsche mit den Farben der Familie von Kaldenberg das Dorf. Die Baronie Kaldenberg, im Nordwesten der Grafschaft gelegen, galt als mächtig, die herrschende Familie jedoch nicht als besonders umgänglich, zudem gab es nicht mehr sehr viele von ihnen. Nur noch den Baron und seine Schwester, hieß es.

Es war niemandem im Dorf bekannt, dass die Kaldenberger mit den Weissenquells etwas zu schaffen hätten (oder umgekehrt), weswegen das Auftauchen der Kutsche manche Beobachter überraschen mochte - zumindest jene, die keinen Einblick in die Gästeliste der anstehenden Hochzeit hatten. Bei denjenigen, die besser informiert waren, mochte sich herumgesprochen haben, dass der Kaldenberger Baron nach der Herzogenturnei ein derartig großzügiges Brautgeschenk gestiftet hatte, dass das Haus Weissenquell sich geradezu verpflichtet sah, die Familie einzuladen - woraufhin die Einladung prompt wie überraschend angenommen wurde. Die junge Baroness Ardare hatte sich angekündigt.

Das Reisegefährt und die zwei bewaffneten Reiter zu Ross bogen in Richtung des Gasthofs zum Weißen Quell vor, um nach einem kurzen Wortwechsel zwischen Wirt und Kutscher, in welchem das Wort “Badezuber” fiel, sogleich zum Herrenhaus weiterzufahren.

Als die Kutsche ihr vorläufiges Ziel erreichte, öffnete sich sogleich die Tür zum Innenraum und ein großer, schwarzbraun gescheckter Hund sprang heraus - ein Wehrheimer Bluthund, wie ein Kenner einzuordnen wusste (wobei jener Kenner bei der Gelegenheit wohl präzisiert hätte, dass es sich tatsächlich um eine Hündin handelte, die trotz ihrer stattlichen Größe noch nicht ganz ausgewachsen war). Dem Vierbeiner folgte, wenn auch nicht so stürmisch, eine brünette Frau Anfang zwanzig, die von mittlerer Größe und schlankem Wuchs war und ein grünes Reisekleid trug. Ihr Gesicht war ebenmäßig geschnitten und wurde von einem Augenpaar dominiert, das immerzu flink in Bewegung schien und in einem klaren Grau strahlte. Der Blick der jungen Frau richtete sich auf das Portal des Herrenhauses, während sie bestimmend nach dem Halsband der großen Hündin griff.

Sogleich war vom anderen Ende Hofes lautes Gebell zu hören. Dort, neben dem Eingang zu den Stallungen, war ein weiterer Hund angekettet, ein weißer Berghund-Rüde, den Friedewald vor einigen Götterläufen als Welpe von einem Angroscho in Albenhus abgekauft hatte. Nun stand Krimasch, wie der Hund hieß, auf dem Hof, nach vorne gelaufen, solang es die Kette zuließ, und kläffte den Eindringling in sein Revier an. Bernhelm Lützelfisch, der Knecht der Familie Weissenquell versuchte mit aller Kraft, den Berghund zu beruhigen und auf seinen Platz zurückzuziehen.

Das Bellen des Hundes ließ den nervösen Mersinger aufschrecken, der kurz nach der Ankunft seine Kammer im Herrenhaus bezogen und erst einmal auf alle Eingänge, Ausgänge und andere Überraschungen geprüft hatte. Dieses laute Kläffen kam Lares sehr bekannt vor. Der kleine Mann beugte sich aus dem Fenster und blickte auf den Hof. Dort zerrte eine ihm wohlbekannte Dame am Halsband eines viel zu großen, ungeschlachten Köters. Eine Kampfmaschine, kein Hund. Genau das Richtige, um Eindruck zu machen. Und bei PRAios: Das gelang der Kaldenbergerin immer. „Den Fürsten der Götter und alles was ihm heilig ist zum Gruße, Baroness!“, rief Lares. „Kommt schnell herein.“ Dabei suchte er die Umgebung nach möglichen Gefahren ab.

Die helle Stimme der Angesprochenen schall über den Hof, ein einsilbiges Wort mit schneidender Schärfe aussprechend. Die Hündin hatte, nachdem die Ursache ihrer Unruhe offensichtlich geworden war, das Bellen erwidert und instinktiv angefangen, sich (und somit auch die junge Frau, die das Halsband hielt) in Richtung der gegenüberliegenden Hofseite zu bewegen. Der ausgesprochene Befehl ließ sie jedoch sofort verstummen und innehalten. Stattdessen setzte sie sich ab, wobei die Rute nervös gegen den Boden schlug. Die Baroness baute sich vor der Wehrheimerin auf und ließ das Halsband los, um die Hand mit nach oben gerecktem Zeigefinger zu heben. Dazu blickte sie das vor ihr sitzende Tier mit einem strengen Blick an.

Dann wandte sie sich ab und überquerte schnellen Schrittes den Hof, um sich mit in die Hüfte gestützten Händen auch vor dem anderen Hund aufzubauen - wobei sie sich durchaus innerhalb der Reichweite der Kette begab, welche den fremden Hund zurückhielt. Den Knecht ignorierte sie dabei vollends. Auch an dieses Tier richtete sie bestimmende Worte, mehr als nur eines und in deutlich weniger strengem Ton als bei ihrer eigenen Hündin.

Es dauerte nicht lange, und auch Krimasch verstummte. Der Berghund setzte sich schwanzwedelnd vor die fremde Frau und jaulte sie dann kurz erwartungsvoll an. Bernhelm jedoch staunte einfach nur. Er war es nicht gewohnt, dass Krimasch derart zutraulich zu Fremden war. Immerhin war es seine Aufgabe, das Heim zu bewachen. Kopfschüttelnd begrüßte er die Kaldenbergerin. “Das war ja erstaunlich! Ich heiße Euch herzlich Willkommen, meine Dame. Mein Name ist Bernhelm Lützelfisch. Wen darf ich melden?”

Die Angesprochene hielt dem Hund ihren Handrücken hin, damit dieser die Hand beschnüffeln konnte. Nachdem dieser das ausgiebig getan hatte, drehte die Dame ihre Hand, um das große Tier unter dem Kinn und dann im Nacken zu kraulen. Dabei sprach sie lobende Worte.

Am anderen Ende des Hofs fing die Wehrheimer Bluthündin an, herzerweichend zu jaulen, bevor sie ihren Oberkörper ablegte und ihren Kopf auf ihre Pfoten legte.

“Ardare von Kaldenberg"...'', antwortete die junge Dame schließlich an den Knecht gewandt. Kurz blickte sie über die Schulter in Richtung des Jaulens, bevor sie die Augen verdrehte und Bernhelm mit amüsiertem Funkeln und spöttisch verzogenem Mund anblickte.

“Ardare von Kaldenberg… Kaldenberg…Baroness Kaldenberg”, Bernhelm dachte scharf nach. “Oh, Eure Wohlgeboren, wenn ich mich richtig erinnere, dann haben wir für Euch ein Zimmer im Gasthaus reserviert. Und falls Ihr seiner Wohlgeboren von Weissenquell die Aufwartung machen wollt, der Herr ist zur Zeit auch auf dem Dorfplatz anzutreffen.

Der Baroness war durchaus anzumerken, dass die Nachricht über die Abwesenheit des Hausherrn sie ärgerte. Mit bemühter Freundlichkeit fragte sie, eher rhetorisch: “Habe ich wohl gerade den jungen Herrn von Mersingen sprechen hören?” Damit richtete sie sich auf und wandte sich in Richtung des Haupthauses.

“Ja, das habt Ihr vermutlich. Seine Wohlgeboren weilt in unserem Haus. Darf ich euch zu ihm geleiten? Folgt mir bitte, ich kündige euch an.”

Während sie den Knecht zum Portal des Herrenhauses begleitete, passierte Arda die Kutsche - und die dort kauernde Wehrheimerin. Ohne hinzusehen, schnippste sie mit den Fingern in Richtung der Hündin, die sich sofort auf ihre Pfoten erhob und zu ihrer Herrin aufschloss. Ihre Position neben Ardare einnehmend, reckte sie beim Laufen den Kopf zu der jungen Frau hinauf, eine stumme Bitte um Zuwendung in den Augen, welche die Baroness allerdings verwehrte. Stattdessen hob auch sie die Augen, um die Fensterfront des Herrenhauses nach dem Fenster abzusuchen, in welchem sie gerade Lares zu sehen geglaubt hatte.

Der allerdings hatte bereits die Fensterläden geschlossen - doch war genau dadurch seine Kammer gut zu erkennen; denn alle anderen Fenster des Hauses standen sperrangelweit offen.

Kurze Zeit später klopfte es an die Tür zu den Gemächern, die Lares und seiner Schwester zugewiesen waren. Bernhelm rief: “Euer Wohlgeboren? Herr von Mersingen? Es ist Besuch für Euch eingetroffen. Seid Ihr disponiert?”

Lares öffnete die Tür zunächst einen Spaltbreit, um auf den Gang blicken zu können. Dort standen nur der unscheinbare Bernhelm und eine aufgebrachte Ardare von Kaldenberg. Letztere packte er am Handgelenk und zog sie ohne Umschweife in die Kammer. Noch schickte er ein: „Nein, danke! Das wäre alles!“, hinterher, dann schloss er die Tür. „Baroness, bei PRAios, schön, Euch wohlbehalten zu sehen! Geht es Euch und Eurer Familie gut? Habt Ihr Euch schon umgesehen?“ Der junge Ritter wirkte fahrig und gehetzt.

Bernhelm hatte gerade Luft geholt, um die Baroness standesgemäß anzukündigen, da wurde ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. So zuckte er nur mit den Schultern und ging zurück an seine Arbeit.

Die junge Adelige wehrte sich nicht, sondern ließ sich vom Mersinger ins Zimmer ziehen. Sein merkwürdiges Verhalten hatte ihre Neugier geweckt.

Auch die Hündin blickte den kleingewachsenen Ritter aus dunklen, unergründlichen Augen an. Es lag eine erstaunliche Klugheit im Blick des Tieres. Vom Theater, das es gerade noch im Hof geboten hatte, war nun keine Spur mehr zu sehen.

“Lares, was habt Ihr nur? Was ist vorgefallen?”, fragte die Baroness mit Nachdruck in der Stimme. Dabei fixierten die sonst so lebhaften, klaren grauen Augen ihr Gegenüber genau. Für den Moment war ihr Groll gegen den Mersinger - jener Groll, der sie hierher geführt hatte - verpufft.

“Habt Ihr etwas auf dem Weg hierher gemerkt? Ist Euch jemand gefolgt?”, erwiderte er. Der junge Mann war tatsächlich wie ein offenes Buch zu lesen - was an seiner Panik liegen musste, die ihn evident überkommen hatte und der Tiefe der Augenringe nach zu schließen auch kein akuter Zustand war.

Ardare ließ nun ebenfalls alle Etikette fallen. Sie trat auf den Mann zu, legte ihre Hände rechts und links auf seine Wangen und zwang ihn mit sanfter Gewalt, den Kopf ruhig zu halten. Ihr Tonfall war sanft, aber bestimmt, ihr eindringlicher Blick duldete keine Widerrede: “Lares. Sagt mir JETZT, ohne Umschweife: Vor WEM fürchtet Ihr Euch so?”

Die Hündin hatte derweil Rute und Ohren aufgestellt und verharrte wie eine Statue, den Blick scheinbar ins Leere richtend.

Seine Augen trafen die ihren, doch nur kurz. Der junge Ritter war bleich. “Wir sollen hier eine Hochzeit feiern. Die beste Gelegenheit für den Bäckerpruch, sich sein nächstes Opfer zu suchen.” Intuitiv fasste er sich an die Flanke; an diejenige Stelle, die Ardare bereits mehrfach - zuletzt gemeinsam mit Circe ter Greven zusammengeflickt hatte. “Ihr seid das perfekte Opfer: Für Eure Familie wäre Euer Verlust unfassbar schmerzhaft.” Seine Pupillen waren geweitet, seine Atmung ging flach. Ardare kannte den jungen Mersinger mittlerweile doch recht gut. Er tendierte manchmal zur Exaggeration. Aber diese Nervosität in seinem Blick überstieg bei Weitem alles, was sie von ihm gewohnt war.

Die Baroness verengte ihre Augen zu Schlitzen. "Ihr… Ihr seid ihm nochmal begegnet, nicht wahr?", fragte sie leise. Sie sprach weiter, mehr zu sich selbst als an den Mersinger gerichtet. "Meine Familie… das ist nur noch mein Bruder, und er ist nicht mehr der, den ich… oder bin ich es, die sich verän…" Ihre Stimme erstarb.

Nach ein, zwei Herzschlägen schüttelte Arda den jähen melancholischen Anflug ab. Mit wiederkehrender Festigkeit in der Stimme setzte sie neu an: "Jetzt sagt schon: Seid Ihr ihm begegnet? Habt Ihr Kunde von diesem verdammten Mistkerl? Gibt es einen begründeten Verdacht, dass er hier auf dieser Hochzeit zuschlagen wird?" Ihr Griff um Lares' Gesicht nahm wieder an Festigkeit zu, fast schüttelte sie ihr Gegenüber, ihr Mund verzog sich zu einem grimmigen Lächeln und die lebhaften grauen Augen funkelten unternehmungslustig.

"Nein, oder doch? Glaubt Ihr nicht? Er kann überall auftauchen. Einfach so. Meine Klinge hat seine widerwärtige Fratze nicht mehr gespiegelt. Aber seine Mordbrennereien, seinen Hass, seine Verbrechen: Deren Zeuge bin ich geworden. Wieder und wieder. Ardare, nehmt Euch in Acht. Er schneidet Euch in Stücke, reißt Euch das Herz heraus und stopft es Eurem Bruder in den Mund! Er ist die Ausgeburt der letzten Bestie! Sogar seinen eigenen Vater hat er auf dem Silbertablett seinem niederhöllischen Patron dargebracht. Ardare, nehmt Euch in Acht!" Die Stimme des jungen Mannes war lauter und lauter geworden. Er packte sie an den Schultern und zog sie an sich, in eine enge, bedrohliche Umarmung.

Arda rollte schicksalsergeben mit den Augen. "Lares!", versuchte sie den Mann vor sich zur Ordnung zu rufen. Sie schob ihre gebeugten Arme zwischen sich und ihr Gegenüber. Mühsam stemmte sie sich mit den Händen gegen seine Schultern und versuchte, ihn auf Armreichweite wegzuschieben. Es hatte keinen Zweck, wurde Arda klar. So war der Mersinger für nichts zu gebrauchen.

Die Baroness suchte seinen Blick und formte ihre astralen Kräfte. "An mir wird er sich aufarbeiten, dieser Bäckerpruch. Das letzte Mal ist er uns entwischt, aber wir sind an dieser Niederlage gewachsen. Wir haben daraus gelernt. Und vergesst nicht, wir haben die Götter auf unserer Seite, er nur das Böse. Per Definition siegt am Ende immer das Gute, denn sonst würde das Böse gegen das Gute nicht aufbegehren…" Die junge Hexe wusste, dass sie faselte, dass sie Dinge aussprach, die der ihr innewohnende Zynismus verlachen würde, wäre sie die Adressatin der Worte. Doch es war egal. Die astrale Kräfte, die sie freisetzte - daran glaubte sie. Und die würden ihr Werk vollbringen.

„Aber zu welchem Preis? Zu welchem Preis?“, faselte auch der Mersinger vor sich hin, doch offensichtlich zeigte die Magie Wirkung, denn der feste Griff des Ritters löste sich langsam, aber stetig. „Es darf nicht noch mehr Blut vergossen werden. Es sind schon so viele gute Menschen auf der Schlachtbank dieses Tiers geopfert worden. Und ich habe nichts dagegen machen können. Warum rührt Euch das nicht so an, Ardare? Warum könnt Ihr damit leben?“

"Warum nicht?", entgegnete die Baroness. "Warum sollte ich nicht damit leben können? Jedes zerstörte Leben dauert mich - umso mehr, wenn ich die Person kannte, oder mochte. Liebte. Helma - sie ist nicht vergessen." Sie atmete einmal durch, in Gedanken an ihre Waffenmagd, die vom Bäckerpruch gemeuchelt wurde. "Aber es ist nicht meine Verantwortung. Nicht mein 'Preis', wie Ihr sagt. Diese Last liegt auf IHRER Seele, nicht auf der meinen." Ihre Augen wurden hart. "ICH werde tun, was zu tun ist, um dem Bäckerpruch… das Handwerk zu legen!"

Der Mersinger nickte bedächtig. „Ja, das ist…vernünftig. Was habt Ihr vor? Wie kann ich Euch unterstützen?“

“Nun…”, setzte Ardare an, ein überlegenes Lächeln aufsetzend, das kaschieren sollte, dass sie gerade vollkommen frei improvisierte, “Lasst ihn kommen. Er hat einen überderischen Verbündeten. Und große Kräfte, offenbar, die er als Leihgabe von diesem Verbündeten erhalten hat. Doch er selbst ist weiter von Fleisch und Blut, wie wir, mit Fehlern und Hybris. Was man so hört - und was wir gesehen haben - lässt nicht vermuten, dass die Fehler und die Hybris durch den unheiligen Pakt weniger geworden sind. Er wird einen Fehltritt machen, und er wird uns unterschätzen. Vielleicht schon auf dieser Hochzeit, vielleicht ein andermal. Dann, lieber Lares, werden wir zur Stelle sein und diesen Schandfleck auf Sumus Leib ausmerzen.” Sie legte ein gewinnendes Lächeln auf: “Unterstützt mich, indem Ihr die Nerven behaltet und Eure Wachsamkeit nicht hinter dem Gegacker eines Huhns, sondern hinter der Gelassenheit eines Falken versteckt.”

Jäh veränderte sich ihre Miene: “...und indem Ihr mich nicht im Greifenspiegel zu diskreditieren versucht!'', spie sie dem Mersinger entgegen. Ihr Zeigefinger bohrte sich in seine Brust. “Darüber, Freundchen, werdet Ihr mir Rede und Antwort stehen!”.

“Ähm, häh, was?”, erwiderte der Mersinger nun ehrlich überrascht.

Mit näselnder Stimme begann Arda den leiernden Ton eines Herolds nachzuäffen: “Doch schon wenige Wochen nach der Belehnung, gab es schon die ersten Einwände von Seiten von Lares von Mersingen, dem ehemaligen Knappen des Allwasservogtes Gorfang vom Großen Fluss- Brüllenfels. Dieser bezichtigte die neue Edle, auf ´praiosungefällige´ Weise sich das Erbe verschafft zu haben und im Besitz ´götterungefälliger´ Güter zu sein.” Sie brach ihren Vortrag ab und blickte Lares böse und mit in die Hüfte gestemmten Armen an. Hätten Blicke allein töten können, wäre in der Kammer des Mersingers ein wahrhaft blutiges Massaker vonstatten gegangen.

„Bitte was?“, gab der Mersinger darauf zurück. „Wie, was, wer? Das soll in einem von diesen Schmierblättern gestanden haben? Im Greifenspiegel? Diese widerlichen Schmierfinken!“

“Ihr habt also… äh…?" Mit allem hatte die Baroness gerechnet, nur nicht mit einem Dementi. Ihr Zorn verpuffte und machte einer sprachlosen Verblüffung Platz. Sie wandte sich ab, blickte ins Leere… und nahm auf einer Kiste Platz.

“Nicht dass…”, setzte sie an, um gleich wieder abzubrechen. “Ich denke, ich glaube - ich kann es nicht beweisen… doch dieser widerliche alte Brüllenfels-Schleiffenröchte war mit ziemlicher Sicherheit ein Diener des Namenlosen.” Arda seufzte auf. “Er hat auf dieser widerlichen Feier einen Nachfolger gesucht - aber nicht nur für das Edlengut, sondern für seine… für seinen anderen Titel. Er hat uns alle versucht, er wollte wissen, wer der Gerissenste und Skrupelloseste von uns ist. Doch bei mir ist er an die Falsche geraten. Der Namenlose hat mir meinen Onkel, meine Base, meine Nichte und Neffen genommen - und wenn ich es richtig vermute, steckt er auch hinter dem Tod jener Person, der ich in meinem Leben am meisten verdanke. Oh nein, Lares, mein Herz ist ein Bollwerk gegen die Einflüsterungen des Namenlosen! Eher verbünden sich die…” Sie brach den Vergleich ab, der sogar in den freigeistigsten Kreisen als Blasphemie gegolten hätte, und blickte den Mersinger mit einer Miene an, in der sich unerschütterliche Sturheit abbildete.

Lares nickte. Tatsächlich hielt er Ardare für viel zu stur, um sich in die Abhängigkeit einer höheren Entität zu begeben. Erst Recht nicht des Namenlosen. „Ihr habt den Nagel auf den Kopf getroffen. Leider habe ich einen schlagenden Beweis: Dieser Brüllenfels-Schleifenröchte war im Besitz eines schrecklichen Artefakts, das dem Verheerer der Sternenleere geweiht war. Er hat uns alle mit diesem Kelch in Verwirrung gestürzt. Baroness, ich suche seit Monaten nach allen diesen schrecklichen Objekten. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn der Bäckerpruch auch nur einen dieser Gegenstände in seine schmutzigen Hände bekäme.“

“Kelch, Kelch…”, sinnierte Arda. Verächtlich schürzte sie die Lippen. “Besucht mich gerne auf Forstland. Ihr könnt Euch gerne seine lächerliche Kelchsammlung ansehen.” Sie hielt kurz inne: “Meine Kelchsammlung, wollte ich sagen. Ich habe sie inzwischen im Keller einlagern lassen. Ich hielt sie für erbärmliche Trophäen der Heroisierung seiner Altmänner-Trunksucht!”

Sie überlegte weiter: “Wer außer Euch sucht nach diesem Artefakt?”

Lares zögerte, doch vertraute er seinem Gegenüber - schließlich hatte sie ihm das Leben gerettet. „Herr Herrenfels war an der Suche beteiligt, darüber hinaus der Traurigsteiner und ihre Gnaden von Hadingen. Neben diesen noblen Herrschaften hat sich eine junge Dame namens Dhana Seehoff dem Unterfangen zwangsweise angeschlossen. Ach ja: Und seine Hochwürden Rajan Bader nicht zu vergessen!“

“Der Bräutigam? Der dickliche Zahlenschubser aus Eurer Manufaktur?”, entfuhr es Arda überrascht. “ER jagt Diener des Namenlosen?” Dann zuckte sie mit den Schultern: “Rahjan - das überrascht mich nicht. Die anderen kenne ich nicht.”

„Tja, Rhodan ist da eher unfreiwillig hineingeraten. Eigentlich sollte er in Herzogenfurt nur unser Rosenöl an den Mann - oder die Frau - bringen. Aber Fatas Pfade führten ihn ganz woanders hin.“

Sie wandte sich zum Gehen, um mit einem abwägenden Blick zum Mersinger zurückzublicken: “Von den anderen Gästen - gibt es da jemanden, vor dem ich mich in Acht nehmen sollte?”

Lares schüttelte den Kopf. „Nein, sonst wäre dieser nicht mehr unter den Lebenden, bei PRAios!“, erklärte er strikt. „Ach haltet Euch vielleicht von diesem Magus fern - dem Bruder der Braut. Er hat einen zweifelhaften Ruf im Umgang mit gutaussehenden jungen Damen wie Euch.“ Lares war deutlich anzusehen, wie sehr er diese verlotterten Sitten verabscheute. Dass Gudekar darüber hinaus der Versuchung von Macht schon einmal erlegen war, behielt der Mersinger für sich. Noch.

“Ein Magus…?” Die Baroness zog die Augenbrauen hoch. “Nun, von solchem Volk halte ich mich grundsätzlich fern”, merkte sie an, ein Lächeln unterdrückend. “Wir sehen uns, Wohlgeboren.” Mit einem Kopfnicken und einem angedeuteten Knicks verabschiedete sich Arda.

~*~

Familie Kalterbaum

Gemütlich trabte ein Tralloper Riese über die Straße auf das Dorf zu. Das Tier war schwarz wie die Nacht mit Schecken, so weiß wie Schnee. Auf seinem Rücken lag eine dunkelgrüne Pferdedecke mit dem Wappen derer von Kalterbaum. Der Hengst war ein Hochzeitsgeschenk Lys von Kargensteins an seine Braut Tsalinde von Kalterbaum in Erinnerung an ihr erstes Kennenlernen, bei dem er sie in der Kunst des Reitens unterrichtete. Das Tier hing im Geschirr einer schlichten, geschlossenen Kutsche und zog diese so mühelos, als wöge sie nichts. Die Kutsche war von schlichter Bauart, aber solide gefertigt und in den Türen der Kutsche war das Wappen der Familie Kalterbaum als Intarsie verewigt. Die schweren, grünen Vorhänge mit den aufgestickten Bäumen waren zur Seite gezogen worden und gewährten einen Blick in das einfache, aber gemütliche Innere.

In Fahrtrichtung saßen Lys von Kargenstein und seine Gattin Tsalinde von Kalterbaum und ihnen gegenüber die Zofe Isavena, die ein Teil der Familie war, der nichts mit einer Blutsbande zu tun hatte.

Zwischen ihnen hing ein gespanntes Tuch, aus dem ein leises Glucksen zu hören war.

Sofort lächelte Tsalinde. “Ich glaube, unser kleiner Schatz ist wach.” Während Lys von Kargenstein sie hielt, beugte sie sich über die kleine Hängematte, nahm ihren Sohn auf den Arm und setzte sich wieder zu ihrem Mann.

Mit großen Augen schaute der kleine Mann aus dem Fenster, während sich die Erwachsenen unterhielten.

“Ich weiß noch immer nicht, ob es eine gute Idee war zu kommen,” sprach Tsalinde ihre Bedenken aus. “Zwar scheint Friedewald sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren und interessiert sich für seinen Enkel, aber Gudekar…"

Zärtlich legte Lys seiner Frau den Arm um die Schulter. “Vielleicht hat er sich ja inzwischen mit dem Gedanken gewöhnt und kann dir ohne Zorn begegnen. Falls nicht, bekommt er es mit mir zu tun. Ich werde ganz bestimmt nicht ruhig dastehen und zulassen, dass er dich erneut kränkt und beleidigt.”

Beruhigend legte Tsalinde ihm eine Hand auf den Oberschenkel. “Lys, dieser Mann ist ein Magier, da kommst du mit dem Schwert nicht weit.”

Entschlossen blickt Lys ihr tief in die Augen. “Erstens ist er ein Heiler und kein Kampfmagier und zweitens gibt es noch andere Wege, als den des Schwertes.”

In dem Moment hielt die Kutsche vor einem hübschen Bauernhaus. Eine Luke über Isavenas Kopf öffnete sich und der Kutscher sagte: “Dies müsste eure Unterkunft sein. Ich werde mal aussteigen und fragen, ob alles bereit ist.”

Neugierig sah Isavena aus dem Fenster. Das Gebäude, vor dem sie standen, war groß und solide gebaut und schien einem eher wohlhabenden Bauern zu gehören. Es lag am Rande des Dorfes und zu dem Bauernhof gehörte ein Stall und mehrere eingezäunte Koppeln.

Bereits nach wenigen Minuten kehrte der Kutscher zu ihnen zurück. “Hier sind wir richtig.” sagte er und öffnete die Tür des Gefährts. Lys stieg als erster aus, nahm Tsalinde das Kind ab und schaute sich um.

Gerade kam eine rundliche Frau mit rosigen Wangen aus der Eingangstür und direkt auf sie zu. “Euer Wohlgeboren, willkommen in unserem bescheidenen Haus. Mein Name ist Traviana Wohlgedei. Bitte nehmt meine Entschuldigung für die Abwesenheit meines Mannes an. Ausgerechnet heute kalbt unsere Kuh Lisa und wie es scheint, hat sie doch arge Probleme damit.”

Lys ging auf sie zu. “Macht euch darüber bitte keine Gedanken, werte Dame. Habt dank für eure Gastfreundschaft. Ich hoffe, wir werden keine zu große Last für euch.”

“Da bin ich sicher.” lachte die Bäuerin, “ich hoffe, es wird euch nicht zu viel Trubel sein.”

In dem Moment kam ein etwa zwölfjähriger Junge um die Hausecke gerannt, gefolgt von einer Schar aus vier weiteren Kindern im Alter zwischen geschätzt drei und zehn Jahren. Sie alle hatten das braune Haar ihrer Mutter, Sommersprossen im Gesicht und strahlende, blaue Augen. Wie die Orgelpfeifen stellten sie sich neben ihrer Mutter auf und versuchten, einen möglichst gesitteten Eindruck zu machen.

Tsalinde musste schmunzeln. So viel Lebensfreude tat ihrem Herzen gut. “Hallo, wer seid ihr denn?”

Eines der Mädchen knuffte den großen Jungen in die Seite, doch als von ihm nur ein Brummen als Reaktion kam, ergriff sie das Wort. “Ich bin Kunida, das hier ist mein Bruder Leofric,” sie deutete auf ihren großen Bruder, “und das sind Ronan, Siric und Maura.” Bei dem letzten Namen strubelte sie der Kleinsten durch die Haare.

Lys schaute das Mädchen ernst an und antwortete: “Ich bin Lys von Kargenstein, das sind meine Frau Tsalinde von Kalterbaum, ihre Zofe Isavena und hier auf meinem Arm habe ich meinen Sohn Siegmund.

Der kleine Junge schaute die Kinder mit großen Augen an.

Kunida fragt: “Darf Siegmund mit uns spielen?”

Ihre Mutter schaltete sich ein. “Siegmund ist noch zu klein um mit euch Rasselband durch die Gegend zu rennen.”

Tsalinde fügte hinzu: “Wenn du magst, kannst du mir heute Abend beim Füttern helfen und wenn ihr versprecht ruhig zu sein, lesen Lys oder ich euch eine Geschichte vor.”

"Lesen? Ihr könnt lesen? Wie geht denn das? könnt Ihr uns das beibringen?" fragte der vorlaute Ronan neugierig. Doch seine Mutter wies ihn zurecht, die hohe Dame nicht zu belästigen, bevor Tsalinde antworten konnte.

Doch Tsalinde wandte sich an Traviana und sagt: “Es macht für mich keinen Unterschied ob ich für ein oder sechs Kinder lese. Im Gegenteil, je mehr, desto besser.” Dann lächelt sie den Jungen an und antwortet ihm kummervoll: "Allerdings muss ich dich leider enttäuschen. Lesen ist schwierig und man kann es nicht an nur einem Abend erlernen.” Bevor der Junge zu traurig wird, fügt sie hinzu. “Aber bei uns gibt es jeden Abend eine Geschichte, manchmal gelesen, manchmal erzählen wir aber auch einfach Geschichten, die wir schon von anderen gehört haben. Vielleicht könnt ihr uns ja auch Geschichten erzählen, die wir noch nicht kennen. Wer weiß. Wenn eure Eltern also nichts dagegen haben werden wir, solange wir bei euch Gast sein dürfen, jeden Abend gemeinsam Geschichten erzählen.”

Erwartungsvoll schauten die Jungen und Mädchen ihre Mutter an, die daraufhin gutmütig lächelnd nickte. “Meinetwegen.”

Jubelnd sprangen die Kinder um die Gäste herum und verschwanden auf einen Wink ihrer Mutter hin erneut hinter der Hausecke.

Lächelnd wandte sich die Bäuerin an Tsalinde. “Wenn ihr mir bitte folgen wollt, euer Wohlgeboren, dann zeige ich euch das Zimmer.” Sie schaute von Tsalinde zu Lys und Isavena. “Euer Kutscher und eure Zofe können gerne mit unserem Gesinde in den Stallungen schlafen. Dort haben sie es warm und trocken.”

Lys lächelte: “Das ist sehr zuvorkommend von euch und ich bin sicher, unser Kutscher wird das Angebot gerne annehmen. Die Zofe schläft auf einem Bärenfell bei uns vor dem Bett, damit sie zu Diensten sein kann, wenn meine Frau oder mein Sohn etwas benötigen.”

Bei dieser Lüge bekam Tsalinde ganz rote Wangen. Ihr war ebenso wie Isavena klar, dass in dem großen Bett genug Platz für drei Erwachsene war.

~*~

Der Vater in Spe (der es bereits ist)

Nivard von Tannenfels war sich bis jetzt noch nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, die Einladung anzunehmen und hierherzukommen. Seine Gemahlin Elvrun befand sich inzwischen im beginnenden neunten Mond ihrer Schwangerschaft, und er würde sich nach den Feierlichkeiten ganz schön eilen müssen, rechtzeitig zur Niederkunft ihres zweiten Kindes, die sie Ende Travia bis Anfang Boron erwarteten, wieder zurück in Ambelmund zu sein. Aber es war neben seiner Dienstherrin, Baronin Wunnemine von Fadersberg, ganz besonders auch Elvrun gewesen, die ihn breitgeschlagen hatte, zur hiesigen Hochzeit zu reisen, um dort Travia zu Ehren und zum Gefallen zu feiern und auch die Gemeinschaft, die zuletzt immer wieder die Wege des vermaledeiten Paktierers gekreuzt hatte, wiederzusehen. Er konnte seiner Frau einfach keinen Wunsch abschlagen...

Geschlagene zehn Tage war Nivard von Ambelmund bis Lützeltal geritten (einschließlich eines kurzen Aufenthalts in Herzogenfurt, für den er auf dem Rückweg keine Zeit haben würde), und entsprechend müde und erschöpft war der mit Mitte 20 noch immer sehr junge Burghauptmann schließlich kurz nach Mittag dort angelangt. Nach einer kurzen Stippvisite im Dorf und seiner ersten Aufwartung beim gastgebenden Edlen trottete sein Pferd, das mindestens ebenso geschafft wie sein Reiter wirkte, nun den Pfad zum Jagdschloss. Vielleicht war es genau diese Verfassung, vielleicht auch die Aussicht, soweit er bei der Ankunft im Dorf vernommen hatte, dort mit Doratrava eine vertraute Freundin wiederzusehen, die ihn dazu bewogen hatten, seine Unterkunft genau dort zu suchen. Jedenfalls freute er sich mehr als redlich über die Aussicht auf eine geruhsame Nacht, nach der es nicht hieß, sich in aller Frühe wieder in den Sattel zu schwingen.

Bevor es soweit war, hieß es jedoch, sich kurz frischzumachen für die kleine Traviaandacht und die Festivitäten des heutigen Abends.

Auf dem Weg zur außerhalb liegenden Jagdhütte begegnete Nivard ein ihm bekanntes Gesicht. Zügig, aber nicht hastig, ritt ihm der Anconiter Gudekar von Weissenquell entgegen und ließ auf seiner Höhe das Pferd anhalten. Der Magier hatte die Jagdhütte aufgesucht, um zum einen seine Schwester Mika zu begrüßen, die vor einem guten Götterlauf ein Noviziat bem Firungeweihten Firumar von Albenhus angetreten war. Zum anderen hatte er mit den Häslers Detais der geplanten Nachtwanderung abgestimmt.

"Gudekar, wie schön Euch zu sehen!" begrüßte ihn Nivard laut. "Wie ist es Euch ergangen, seit wir uns zuletzt sahen?"

“Der Herr von Tannenfels! Welch eine Freude! Habt Dank, es ist mir gut ergangen. Seit den Ereignissen auf dem Elsternschloss waren es ereignislose Wochen, und ich hatte Gelegenheit, mich meiner Arbeit im Kloster zu widmen. Dies ist nach den vielen Strapazen auch einmal wieder eine schöne Erfahrung.” Gudekar schaute sich um. “Reist Ihr allein, oder ist Eure Gemahlin auch im Ort?”

"Ich bin allein hier - einerseits leider, anderseits aber aus schönen Gründen." Nivard lächelte ernst, in Augen und Stimme waren die Sorge ebenso wie die Vorfreude zu erkennen. "Meine Gemahlin ist erneut in freudiger Erwartung, müsst ihr wissen - ihre zweite Niederkunft steht bereits sehr bald nach meiner Heimkehr von diesem Feste ins Haus. Elvrun lässt beste Grüße bestellen und bedauert sehr, nicht zugegen sein zu können, doch wäre die Reise hierher viel zu beschwerlich gewesen, wie Ihr gewiss versteht. Wie geht es denn Eurer Frau Gemahlin und Eurer Tochter?"

Gudekar nickte eine angedeutete Verbeugung. “Meinen herzlichsten Glückwunsch. Welch eine erfreuliche Nachricht in diesen Zeiten! Dann wünsche ich Eurer Gemahlin alles Gute und viel Gesundheit. Mein Vater hatte sich sicherlich gefreut, wenn Elvrun gekommen wäre und die Zeremonie am Nachmittag hätte durchführen können. Meiner Frau und Tochter? Danke, es geht ihnen gut, wie ich mich überzeugen konnte. Da ich mich aufgrund der besorgniserregenden Vorfälle um ihre Sicherheit in Albenhus sorgte, weilen sie nun überwiegend hier in Lützeltal, im Schoß meiner Familie wohl geschützt.”

"Das verstehe ich." nickte Nivard. Er fragte sich zwar, ob sie in Lützeltal tatsächlich sicherer waren als in Albenhus, sprach diese Bedenken aber nicht aus. Er hätte Elvrun und die Kinder nur in äußerster und akuter Not aus Ambelmund weggeschickt. Nur wenn sie in seiner Nähe waren, konnte er sie selbst beschützen. Und er war ohnehin schon mehr als genug auf Reisen. "Dann ist für Euch diese Hochzeit sicher umso schöner, da sie Euch etwas gemeinsame Zeit mit Euren Lieben schenkt!" freute sich Nivard mit dem Anconiter.

“Ja”, bestätigte Gudekar, “es tut gut, alle wieder um sich zu haben, an denen mir etwas liegt. Vor allem freue ich mich jedoch darauf, meine Schwester Mika wiederzusehen. Sie hat vor einem Götterlauf überraschend ein Firun-Noviziat begonnen und war seitdem nicht mehr hier oder in Albenhus. Doch viele Gelegenheiten, mit ihr zu sprechen werden sich leider nicht ergeben. Sie unterstützt morgen seine Gnaden Firumar bei der Durchführung der Jagd.”

"Eine Jagd? Das klingt verheißungsvoll! Ist die Teilnahme denn für alle Gäste offen?" Seit Nivard Burghauptmann war, kam er viel zu selten zum Jagen. Insofern wäre das eine wunderbare Gelegenheit, die er sich nicht entgehen lassen würde.

“Ich bin mir nicht sicher. Die Jagd hat mein Vater angesetzt. Sie wird firungefällig, und so, wie ich Gwenn verstanden habe, bedeutet das, sie wird gefährlich. Firumar von Albenholz wird sie leiten. Erinnert Ihr Euch an ihn?” Gudekar war sich nicht mehr sicher, ob Novard in Liebenstein schon bei der Jagd dabei war oder erst später zu der Gesellschaft stieß. Aber er konnte sich nicht erinnern, dass der Krieger auch unten in der Kammer war. “Er hat sich wohl vorbehalten, nicht geeignete Gäste von der Jagd auszuschließen.”

"Ja, auf jeden Fall, ich kann mich gut an seine Gnaden erinnern, aber leider nicht zu den Freuden und Gefahren der Jagd. Er hat den Herrn von Mersingen und mich tief nächtens hoch zur Ruine, in Weilheim, geführt. Wir haben uns ganz schön den Hintern abgefroren, in jener Nacht." erzählte Nivard, halb grinsend, halb schaudernd. "Eine Jagd an seiner Seite zu bestreiten, wäre mir eine große Freude und Ehre. Ich weiß selbst nur zu gut um die Gefahren - ich bin in den Wäldern von Nordgratenfels aufgewachsen. Wer sich in Firuns Reich begibt, muss bereit sein. sich dessen Prüfungen zu stellen."

“Dann werdet ihr sicher das Vergnügen haben, meinen Vater zu begleiten. Und meine kleine Schwester werdet Ihr vermutlich auch kennenlernen. Ich allerdings bleibe im Dorf. Das Gemetzel muss ich mir nicht antun. Ich genieße lieber hinterher den Lohn Eurer Bemühungen!” Gudekar schmunzelte mit breitem Mund, es war fast ein Lachen. “Ihr seid bereits auf dem Weg zur Jagdhütte, nehme ich an? Habt Ihr dort Euer Quartier?”

"Genau, Euer Vater wies mir diese Unterkunft zu, die, so glaube ich, auch bestens meinen Vorlieben entspricht." bestätigte Nivard. "Allein der Klang ihres Namens verspricht geruhsame Nächte, wenn man ebensolche sucht. Und ich vernahm, dass eine gute Freundin ebenfalls dort untergebracht sein wird, auch wenn ich mir vorstellen kann, diese kaum dort anzutreffen." Unwillkürlich musste er grinsen, wurde aber gleich wieder ernst. "Was das vermeintliche Gemetzel bei einer Jagd angeht, so habe ich durchaus lernen müssen, dass dieses nicht zwingend nur das Wild betreffen muss. Manch wehrhaftes Getier mag auch eine gut gerüstete Jagdgesellschaft herausfordern, und selbst eine Wildschweinrotte ist alles andere als harmlos. Ein Mann Eurer Profession mag dann durchaus auch genau in dieser gefordert sein. Aber natürlich wollen wir es gar nicht dazu kommen lassen."

Gudekar blickte nachdenklich. Ja, er sollte sich bereit machen, falls seine Künste gebraucht wurden. Er hoffte nicht. Es sollte kein Blut der Gäste die Hochzeit seiner Schwester überschatten. “Ich werde nicht mit auf die Pirsch gehen. Jedoch bleibe ich im Dorf bereit, im Notfall eingreifen zu können. Aber über so etwas sollte man besser vorab nicht reden, damit keine Dämonen herbeigerufen werden. Sagt, wenn Ihr Euch nicht zu sehr nach einer langen, geruhsamen Nacht sehnt, wollt Ihr uns nicht heute Abend begleiten? Wir wollen die Quelle des Lützelbaches aufsuchen und hoffen, das weiße Glitzern des Wassers im Schein des vollen Madamals zu sehen.”

"Alleine Eure kurze Beschreibung klingt zu reizvoll, um diese Einladung auszuschlagen. Und da einen die Müdigkeit, dann, wenn man wenigstens etwas, sei es auch nicht viel, nächtlichen Schlaf gefunden hat, zumeist nicht in der kühlen Frische des jungen Morgens überkommt - noch dazu, wenn die Anspannung einer Jagd Muskeln strafft und die Sinne schärft - sondern eher später am Tage, wenn die Beute zerlegt ist, komme ich gerne auf diese Nachtwanderung mit." willigte Nivard freudig ein. Als er zusammen mit Doratrava, Gelda und ihren beiden Gefährten aus dem Volke der Angroschim Jagdkönig in Nilsitz geworden war, lag vor dem frühen Aufbruch auch ein langer und sogar durchaus bierseliger Abend. Außerdem war ihm, als jungem Vater, kurzer Nachtschlaf nur allzu vertraut und nichts mehr, das ihn stärker beeinträchtigte.

“Wunderbar!” Gudekar war froh, auch einen weiteren Gast, der im Umgang mit Schwert geübt war, dabei zu haben. Nur für den Fall, dass ER zuschlagen würde. “Dann sehen wir uns spätestens zur Phexstunde an der Brücke über den Bach. Aber sicherlich werden wir uns schon früher über den Weg laufen. So groß ist das Dorf ja nicht”, lachte der Magier.

"Es wäre mir in jedem Falle eine Freude, und falls wir uns dennoch vorher verpassen, so ist die Phexstunde ein Versprechen." entgegnete Nivard, in Gudekars Lachen einstimmend. "So würde ich zusehen, rasch mein Quartier zu beziehen und meine Habseligkeiten abzulegen, um mich sogleich in die heutigen Feierlichkeiten zu stürzen. Ich hoffe ohnehin, dass ich Euch nicht bereits über Gebühr von diesen abhalte - Ihr wart gerade auf dem Weg dorthin?"

“Ja, mehr oder weniger. Ich muss noch einmal beim Gutshof meines Vaters vorbei. Ich trage noch immer mein Reisegewand und würde mich gerne umziehen, bevor die Feierlichkeiten losgehen.” Gudekar wedelte mit den beiden Händen an seinem Umhang, als wollte er den Staub der Straße abfegen. “Wir sehen uns dann später!”

“Genau, bis später!” wandte auch Nivard sich weiter in Richtung seines Quartiers.

~*~

Haus Immergrün

Eine graue Kutsche hielt vor dem Gutshaus, deren Fenster mit grauen Vorhängen verhangen waren. Nachdem ein Diener die Tür öffnete, passierte erst einmal nichts, doch dann stieg würdevoll eine ältere Frau mit einem verzierten Gehstock aus dem Gefährt. Ein taubenblaues Seidenkleid mit silbernen Stickereien machte einen pompösen Eindruck, doch das üppige Dekollete ließ manchen Atem stocken. Seidenhandschuhe zierten die Hände der Frau, deren Finger alle mit schönen Ringen besetzt waren. Ihr Gesicht war ordentlich gepudert, violettes Lippenrot, dazu die Augen mit Kohlestiftstrichen betont. Ihr Haar war lockig und aufgetürmt und in der Farbe des Flieders. Ein Diadem hielt die aufwendige Frisur zusammen. Kurz kniff sie die Augen zusammen und musterte ihre Umgebung. Ein weiterer Gast folgte aus der Kutsche und stellte sich neben sie. Der Mann war groß und breitschultrig und trug einen gepflegten Vollbart. Haar und Bart waren silbergrau und seine markanten Gesichtszüge wirkten stolz. Der Mittfünfziger trug ein edles Gewand aus Samt und seine Brust zierte ein Amulett mit dem Kopf einer Löwin aus Silber. Ein Schwert hatte er gegürtet.

“Dem Blick nach zu urteilen, scheint es dir nicht gut genug, Mutter”, sagte er spitz. Zynisch schaute sie ihn an. “Halt deiner Mund, Jartgar, das ist eh nicht deine Stärke. Aber du hast recht … wie armselig. Ganz wie dein verstorbener Vater.” Jartgar verdrehte nur die Augen. “Wie du meinst.” Dann stieß sie dem Diener ihren Gehstock in die Hüfte. “Heyda, Nichtsnutz. Was wartest du? Verkünde der Herrschaft, dass die Baroness von Immergrün da ist. Ich hoffe die Zimmer sind fertig. Es sehnt mich nach einem weichen Bett nach dieser Reise.”

Bernhelm blickte die Baroness mit einem wütenden Blick an, doch er konnte sich beherrschen, etwas zu sagen, was seinem Herrn später Ärger bereiten würde. Kannte er die Baroness doch bereits von seltenen früheren Gelegenheiten. Travia sei Dank, von sehr seltenen Gelegenheiten. Er fragte sich, warum Friedewald diese Person überhaupt eingeladen hatte. Gut, sie war die Gemahlin des verstorbenen Onkels seiner Wohlgeboren, das machte ihren Sohn zu Friedewalds Vetter. Das war wohl schon Grund genug, eine Einladung auszusprechen. Darüber hinaus war Jartgar von Immergrün der Schwertvater Kalmans. Bernhelm würde die wenigen Tage wohl überstehen müssen, an denen die Baroness zu Besuch war. Er war froh, dass sie nicht im Herrenhaus einquartiert war, so bestand Hoffnung, nicht allzu viel mit der Dame zu tun zu haben.

“Sehr wohl, Euer Wohlgeboren”, bestätigte Bernhelm mit der nötigen Form, den Schlag, den sie ihm verpasst hatte, ignorierend, aber nicht vergessend. “Ich werde Herrn Friedewald holen. Wartet hier bitte.” Während andere anreisende Gäste zur Begrüßung für eine Erfrischung in den Salon gebeten wurden, versuchte Bernhelm zu vermeiden, dass die Baroness das Herrenhaus betrat, bevor sie ihr Quartier im Gasthaus zugewiesen bekam. Und genau dies, hoffte er, würde am besten Friedewald erledigen.

Caltesa schnaubte aus. “Was für ein frecher Kerl, lässt uns hier einfach stehen. Ich sagte ja, es ist ein Fehler, etwas im ´Lützeltal´ erwarten zu wollen." Die Baroness war sich sicher, dass ihre Worte laut genug gesprochen waren. “Sicher kommen gleich die Knechte für unser Gepäck. Wir sind nicht in Elenvina, Mutter”, sagte Jartgar in der Hoffnung, seinen ehemaligen Knappen zu finden.

Mit einem verärgerten Schnauben kam Bernhelm schon bald wieder aus dem Gutshaus heraus. Friedewald hatte nicht den Mumm, die Baroness zu begrüßen und ihr persönlich zu sagen, wo sie ihr Quartier aufsuchen sollte. Stattdessen schickte er seinen Knecht. “Verzeiht, seine Wohlgeboren, Euer Neffe Friedewald, ist zur Zeit nicht auffindbar. Vermutlich ist er im Dorf aufgehalten worden. Wenn es euch genehm ist, werde ich Euch als erstes zu Eurem Quartier begleiten.”

Die Baroness sagte nichts, doch hob sie ihren Gehstock und signalisierte dem Diener voran zu gehen. “Ist der hohe Herr Kalman zugegen?”, fragte Jartgar den Knecht.

Bernhelm schüttelte den Kopf, während er den Weg in Richtung Dorfplatz einschlug. “Kalman, ähm, der Hohe Herr ist zum Zeltplatz gegangen, seinen Sohn und den Hohen Herrn Rondrad von Storchenflug zu begrüßen.”

Die drei hatten gerade das Tor zum Gutshof passiert, als ihnen Kalman entgegen kam. Sein Lächeln, mit dem er von der Begrüßung seines Freundes zurückkam, fror ihm ein, als er seine Großtante erblickte. Er entspannte sich jedoch gleich wieder, als er seinen Schwertvater Jartgar erblickte. So ging er eilig auf die beiden Gäste zu. “Eure Wohlgeboren, Tante Caltesa! Es ist mir eine Ehre, Euch in Lützeltal begrüßen zu dürfen! Hoher Herr Jartgar, welch eine Freude, Euch nach so langer Zeit endlich einmal wieder zu sehen. Hattet Ihr eine gute Anreise?”

Der ergraute Jartgar schritt auf Kalman zu und ergriff seinen Unterarm zum Rittergruß. “Rondra mit dir, Ritter Kalman.” Mit stolzem Blick lachte er und drückte ihn dann herzlichst an seine Brust. Dass die Baroness genervt die Augen dabei verdrehte, entging Kalman nicht.

~*~

Wer zuletzt kommt, der bleibt auf der Wiese

“Ich habe Dir gesagt, dass Du Dich mit der Reisezeit verschätzt hast, mein Lieber”, grollte Murla als sie auf ihrem Pony langsam auf das Dorf zuritten. “Wie Du siehst ist alles schon belegt und wir müssen in einem Zelt schlafen!”

Borix, der neben seiner Gemahlin ebenfalls auf einem der gutmütigen Zwergenponies ritt, ließ das Donnerwetter über sein Haupt ergehen. Murla hatte ja recht, aber er hatte doch noch zusammen mit Bengurr die Bücher von Ishna Mur und Niacebrasalm durchgehen müssen, denn schließlich stand vor dem Wintereinbruch nach dem Einbringen der Ernte noch das Eintreiben der Steuern auf dem Programm und so kam es wie es kommen musste.

Vater und Sohn sind sich nicht einig geworden und dadurch hat sich der Aufbruch immer weiter nach hinten verschoben.

“Aber Liebling”, versuchte der Angroscho die Wogen ein wenig zu glätten. “Wir sind doch noch rechtzeitig da. Es geht doch erst Morgen los und es ist doch nicht so schlimm im Zelt zu schlafen, das haben wir doch auf dem Weg bereits gemacht.”

Murla schnaubte nur und blickte demonstrativ in die andere Richtung.

Das Schauspiel der beiden führte bei den vier Angroschim, die mit dem Bergvogt und seiner Gemahlin als Begleitschutz unterwegs waren, zu einem versteckten Grinsen und gegenseitigem Augenverdrehen. Schließlich mussten sie die Vorhaltungen der Herrin nun schon jeden Tag seit ihrem Aufbruch von der Bergwacht hören.

Letztlich aber kamen die sechs Angroschim an der Wiese an und errichteten ihre Zelte auf einem freien Platz neben den anderen.

Als das Lager aufgeschlagen war, frug Murla: “Wollen wir jetzt noch schauen, wo wir Friedewald finden und ihn begrüßen?”

“Ja, aber sicher”, bestätigte Borix, “wir haben ihn ja gut eineinhalb Götterläufe nicht mehr gesehen.”

Murla und Borix schlenderten zum Dorfplatz, der von einigen Fachwerkhäusern umgeben war. Überall herrschte noch geschäftiges Treiben. Wenn die beiden Angroscho die Bewohner nach dem Edlen fragten, bekamen sie immer wieder unterschiedliche Antworten. “Der Herr Friedewald, der war vorhin noch im Gasthaus nach dem Rechten sehen.” “Seine Wohlgeboren? Er war gerade zurück auf dem Weg zum Gut, dort müsstet Ihr ihn finden.” “Der Edle? Der müsste doch eigentlich … nanu, gerade war er noch hier.” Die Anzeichen verdichteten sich jedoch, dass Friedewald zuletzt tatsächlich zum Gutshaus zurückgekehrt war. Also liefen Murla und Borix den kurzen Weg bis zum Tor des Gutshof, das an jenem Tag durchgängig offen stand. Und da erblickten sie schließlich Friedewald von Weissenquell, der gerade im Gespräch war mit seinem Knecht Bernhelm, der Friedewald auch nach Ishna Mur begleitet hatte und den Borix deshalb bereits kannte.

“Und dem Herrn von Sturmfels konnte wirklich kein Zimmer mehr im Herrenhaus zugewiesen werden?” fragte Friedewald leicht verärgert.

“Nein, Herr Friedewald, leider nicht. Die Mersinger sind mit mehr Begleitung angereist, als wir gedacht hatten. Den Zwerg hatten wir nicht mit eingerechnet, und der hat auf ein eigenes Zimmer im Herrenhaus bestanden.”

“Na, Meister Friedewald und Bernhelm”, begrüßte Borix die beiden als sie den Hof betraten. “Soviel Aufregung seid ihr hier sonst nicht gewohnt, was?”

“Schön euch wiederzusehen”, meinte Murla. “Es ist ja auch etwas Besonderes wenn die Kinder flügge werden und den Bund eingehen, nicht wahr?”

Friedewald drehte sich zu den beiden Angroschim um und grinste bereits freudig, denn er hatte die beiden schon an der Stimme erkannt. “Murla, Borix! Welch eine Freude, euch zu sehen! Ja, es ist viel los. Und leider gab es einige Missverständnisse bei der Zimmerzuweisung. Wie das halt so ist auf so einem großen Fest. Hattet ihr eine gute Reise?”

Bernhelm hielt sich im Hintergrund und grüßte nur mit einem Kopfnicken die neuen Gäste.

Bevor die Angroschna wieder mit dem Donnerwetter beginnen konnte, sagte Borix: “Eigentlich war es gut, aber wir sind ein wenig spät …”

“Ein wenig … pah!”

“... zu spät”, fuhr er fort, “aufgebrochen. Aber sonst sind wird recht gut durchgekommen. Unsere Begleitung hat auch schon die Zelte aufgebaut.”

“Wir wollten Dich auch nicht groß bei den Vorbereitungen stören”, ergänzte Murla. “Wir wollten eigentlich nur Hallo sagen und uns für die Einladung bedanken. Ich denke, dass Du genug zu tun hast.”

“Genau!” meinte nun auch Borix. “Aber Du solltest es wissen, dass wir rechtzeitig angekommen sind.”

“Ihr stört doch nicht! Bernhelm kann euch, falls ihr wollt, ein wenig durch das Dorf führen. Wobei, viel verändert hat sich nicht seit damals.” Friedewald schmunzelte leicht wehmütig. “Vielleicht haben sich die Gesichter verändert, alte sind gegangen, junge dazugekommen und die anderen gealtert. Aber das kennt ihr ja von den Gigrim.”  

Borix musste bei der Verwendung der Rogolan-Vokabel grinsen.

“Ach lass mal, ich glaube Meister Bernhelm hat genug zu tun, Dir bei den Vorbereitungen zur Hand zu gehen.”

Murla nickte und fügte noch hinzu: “Und wie Du schon gesagt hast, es hat sich nicht viel verändert.”

“Gut, wie ihr meint. Aber nachher auf dem Fest sehen wir uns und trinken gemeinsam ein Bier. Erlwulf hat extra frisches Sauerbier gebraut. Erinnert ihr euch noch an Erlwulf? Er war damals noch grün hinter den Ohren. Aber sein Vater ist inzwischen verstorben, und Erlwulf führt das Brauhaus weiter.”

“Aber natürlich sehen wir uns!” freute sich Borix, aber eher auf einen Plausch als auf das Sauerbier. “Bis später Friedewald! Meister Bernhelm!”

Murla verabschiedete sich ebenfalls von den beiden und dann gingen sie noch einen Schlenker durchs das Dorf, bevor sie sich am Zeltplatz auf das Fest vorbereiteten.

~*~

Der Magier im Gutshaus

(Merle, Gudekar, später Vormittag)

Gudekar von Weissenquell war in Eile. Den Morgen und den halben Vormittag war er schon unterwegs. Nach dem Aufwachen war er direkt zur Jagdhütte geritten. Dafür hatte er sich das Pferd von Meta ausgeliehen. Dort hatte er endlich seine Schwester Mika wiedersehen können. Bei einem gemeinsamen Frühstück hatten sie sich über das Erlebte der letzten Monde ausgetauscht, doch gab es so viel zu berichten, dass die Zeit nicht reichte. Denn schon bald drängte Leodegar Häsler, die Details der Nachtwanderung abzusprechen. Denn auch dessen Zeit war knapp bemessen. Auf dem Rückweg in das Dorf hatte Gudekar den Weggefährten Nivard von Tannenfels getroffen. Es erstaunte Gudekar, wie oft sich ihre Wege in den letzten beiden Götterläufen gekreuzt hatten.

Nun musste der Magier sich waschen und umkleiden, denn er trug noch immer seine Reisekleidung. Seine Taschen waren im Gutshaus geblieben, als er am Abend vorher mit Meta ins Dorf aufbrach. Als er den Hof betrat, sah er bei den Stallungen Marno Bächerle sich um die Pferde der Gäste kümmern. Bernhelm Lützelfisch, der Knecht seines Vaters Friedewald – oder sollte ihn besser dessen Leibdiener und Berater nennen? – ging gerade in das Herrenhaus. Und aus der Tür zum Gesindehaus, in dem die Familie Weissenquell während der Feierlichkeiten umgezogen war, trat Merle Dreifelder, Gudekars Frau. Ausgerechnet jetzt musste er ihr begegnen!

Merle, mit einem Korb Wäsche unter dem Arm, kniff die Augen zusammen. Sie trug eine helle langärmlige Bluse, darüber ein dunkelrotes Mieder und einen graublauen Rock mit Schürze. Anders als sonst hatte sie nur die vorderen Strähnen ihres dunkelblonden Haars zusammengeflochten, der Rest war offen und wehte leicht im Wind. Trotz ihrer lieblichen Erscheinung war die Miene der jungen Frau fast ausdruckslos. Sie trat ihrem Gemahl ein paar Schritte entgegen. "Gudekar", sagte sie ernst.

“Guten Morgen, Merle. Ähm, ich…” Der Magier stockte. Er wusste nicht, was er seiner Frau sagen sollte nach dem letzten Abend. Er wusste, dass er vieles falsch gemacht hatte, und dass nichts, was er sagen konnte, es besser machen würde. Deshalb kam er gleich zum Punkt. “Merle, weißt du, wo Bernhelm meine Taschen hin geräumt hat? Ich würde mich gerne umkleiden.”

“Natürlich in unser Zimmer”, antwortete sie mit sichtlicher Verwirrung. “Hier im Gesindehaus. Du bist gestern weg, bevor ich’s dir zeigen konnte.” Sie musterte ihn; er trug immer noch die Reisekleidung von gestern. “Wo hast du geschlafen?”

“Ja”, Gudekar kratzte sich verlegen den Hinterkopf, “der Aufbruch gestern war etwas plötzlich. Dafür muss ich mich wohl entschuldigen. Es war dann schon so spät, als ich”, ihm fehlten die passenden Worte, “als ich mit meiner Untersuchung fertig war. Ich wollte dich und Lulu nicht mehr stören und da bin ich beim Rodenbach untergekommen.”

Wieder zog sie kurz die Augenbrauen hoch, ging dann aber zur Türe des Gesindehauses und bedeutete ihm, ihr in das Gemach zu folgen, das für sie hergerichtet war. "Da ist dein Zeug", sagte sie in müde klingendem Tonfall und wies auf seine auf dem Boden stehenden Taschen. Dann setzte sie sich abwartend auf das Bett und schaute ihn an, mehr fragend als vorwurfsvoll.

Erschöpft ließ sich auch Gudekar auf der Bettkante nieder. “Die letzten Wochen waren anstrengend. Ich wünschte, ich könnte bald wieder zur Ruhe kommen.” Sein Blick war ausdruckslos auf die Fußbodendielen vor dem Bett gerichtet. Seine Stimme klang kraftlos. Seine Schultern hingen nach unten. Merle hatte fast den Eindruck, er wirkte älter als sonst, gealtert. Doch ein genauerer Blick verriet, dass dies nur täuschte und durch seine Müdigkeit provoziert war.

"Ach Gudekar…" Ihre Stimme und ihr Blick waren wärmer geworden, auch wenn sie keine Anstalten machte, die körperliche Distanz zwischen ihnen zu überbrücken. "Du hast dir schon immer zu viel der Last des Dererunds auf deine Schultern geladen", sagte sie zärtlich. “Du opferst so viel, damit wir sicher leben können… Dafür bewundere ich dich. Und ich verstehe, wie schwer es für dich ist, wirklich… Was glaubst du, warum ich’s immer noch mit dir aushalte?" Auf Merles hübschem Gesicht erschien ein mildes Lächeln. "Aber hier bist du zu Hause. Hier kannst du loslassen, zur Ruhe kommen… ganz du selbst sein.” Ihre Stimme wurde zu einem sanften, beruhigenden Wispern, das ihn einzuhüllen schien. “Hier bei uns wartet immer eine sichere Zuflucht auf dich. Das weißt du doch, oder, mein Herz?”

Ach, wenn Merle doch wüsste… Der Magier hatte nicht das Gefühl, dass er sich schon immer zu viel Last auferlegt hatte. Im Gegenteil, in den letzten beiden Jahren war ihm bewusst geworden, dass er viel zu lange die Ruhe und Gemütlichkeit der Klostermauern genossen hatte. In der Welt da draußen gab es viel mehr, das sich zu entdecken lohnte. Dinge, die er verpasst hatte. Dort konnte er sich nützlich machen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Oder wenigstens um zu verhindern, dass die falschen Mächte die Welt zu einem schlechteren Ort machten. Doch dafür musste er noch viel lernen. Und das konnte er weder hier noch im Anconiterorden. Dafür musste er neue Wege beschreiten. Was könnte er dann wohl alles erreichen? Dann erst konnte er er selbst sein.

“Merle, du irrst leider. Hier in Lützeltal bin ich zwar geboren, doch mein Zuhause ist es schon lange nicht mehr, war es eigentlich noch nie. Und wenn ich mich hier verstecke, ist keinem geholfen. Das Tal ist für mich kein sicherer Zufluchtsort. Und wenn ich hier bleibe, für euch auch nicht länger. Ich muss fort. Ich werde gehen. Es gibt keinen anderen Weg.”

“Ach, ich glaube, ich weiß, was du meinst.” Mit ihren großen braunen Augen schaute sie ihn gedankenverloren an und nickte verständnisvoll. "Um ehrlich zu sein, mir geht es auch so… dass sich Lützeltal zwar heimelig, aber nicht wie mein Zuhause anfühlt.” Merles Mund verzog sich zu einem wehmütigen Lächeln. Nun rückte sie auf dem Bett doch ein bisschen näher, so dass er den vertrauten Duft ihres Haars und ihrer Haut wahrnehmen konnte, mit einem nur unterschwellig auszumachenden Hauch des kostbaren Öls, das er ihr geschenkt hatte. “Aber das meinte ich eben gar nicht… Gudekar, überall, wo wir drei als Familie zusammen sind - du und ich und Lulu - da ist Zuhause. Ob das nun Albenhus ist oder irgendein anderer Ort auf dem Dererund, ist eigentlich gleichgültig - bei mir bist du daheim. Ich meine, wenn Liudbirg etwas größer ist… zeigst du mir irgendwann mal ein bisschen was von der Welt? Vielleicht bestreiten wir dann sogar eine Queste zusammen und ich werde noch zur richtigen Abenteurerin!” Merle grinste kess, mit einer gespielt-verwegenen Grimasse, dann wurde sie schnell wieder ernst. “Und damit du es weißt - selbst wenn wir getrennt sind, auch für längere Zeit, bin ich immer für dich da, an deiner Seite… bist du stets in meinem Herzen.” Hingebungsvoll lächelte sie ihn an. “Also lass’ dich nicht betrüben, mein Liebster, ja? Wir werden das schon hinkriegen. Glaub mir.”

“Ich weiß”, antwortete Gudekar, doch er glaubte selbst nicht daran. Es tat ihm weh, Merle das Herz brechen zu müssen. Doch irgendwann musste es sein. Warum konnte er nicht einfach weggehen, ohne eine Erklärung abzugeben? Es wäre so einfach. Aber Meta wünschte sich, dass er seine Liebe endlich offenbarte und er wollte ihr diesen Wunsch erfüllen. Aber erst, wenn Gwenn und Rhodan den Bund geschlossen hatten. Dann könnte er es offenbaren und danach sofort losziehen. Vielleicht würde er doch noch vor dem Winter nach Tälerort aufbrechen. Der Magier blickte ernst zu seiner Frau. “Merle, ich habe Angst um euch! Ich habe Angst um dich und Lulu.”

"Das musst du nicht", beschwor sie ihn. "Auch wenn hier - wie überall - Gefahren drohen - man kann nicht immerzu Angst haben, oder? Mika ist schon ein Jahr fort - hast du um sie auch solche Angst? Hey, lass’ dir das Herz nicht schwer werden! Das Schicksal liegt am Ende ohnehin in der Macht der Götter." Merle streckte vorsichtig ihre Hand aus und ließ ihre Fingerspitzen ganz zart, wie einen Hauch, über sein Gesicht streichen, vom Ohrläppchen über die rauen Bartstoppeln an seiner Wange bis zum Kinn.

Gudekar schloss seine Augen und atmete tief ein. Die vertrauten Liebkosungen ließen ihn sacht erschaudern. Ein wohliges Kribbeln lief ihm eiskalt den Rücken herunter.

Behutsam drehte sie Gudekars Gesicht in ihre Richtung und zwang ihn sanft, in ihre sehnsüchtigen, vertrauensvollen Augen zu schauen.

Er schlug die Augen auf, sah den Blick, den er seit Jahren kannte. Der Blick, den ihn schon jungen Adepten schwach werden ließ.

“Und irgendwann muss ich eh zurück nach Albenhus… Lass' uns lieber die kurze Zeit genießen, die wir zusammen haben! Lass’ uns das schöne Hochzeitsfest, dieses kostbare Geschenk Satinavs nicht mit Angst und Grübeleien verschwenden.”

Schlagartig war der Magier wieder in der Gegenwart. Erschrocken stand er auf. “Merle, du verstehst es nicht! Er hat es auf mich abgesehen. Er hat es auf uns alle abgesehen. Auf jeden von denen, die ihm auf der Spur sind. Er hat schon seine Familie geopfert. Seine Frau, sein Kind, seinen Vater. Alle, die ihm im Weg stehen könnten, sind in Gefahr. Und wie könnte er uns am meisten treffen, als indem er uns die nimmt, die uns am wichtigsten sind. Was denkst du, warum ich dich mit Lulu hierher geschickt habe und für zwei Geleitschützer für euch gesorgt habe? Solange ich bei dir bin, wirst du zum Ziel seiner Umtriebe. Deshalb werde ich die Nordmarken verlassen, bis ich einen Weg gefunden habe, ihn zu erledigen.”  

"Die Nordmarken verlassen?" wiederholte sie verwirrt. "Wo willst du denn hin?"

“Weit genug weg, so dass ich hoffen kann, dass er mich nicht findet. An einen Ort, wo ich hoffe, einen Weg zu finden, den Paktierer zur Strecke zu bringen. Wo ich meine Studien voranbringen kann.”

"Gehen die anderen aus deiner Ermittlergruppe denn mit dahin?" fragte sie sichtlich verstört nach. "Der Eoban, der hat doch auch Frau und Kinder, oder?"

Gudekar schüttelte wortlos den Kopf.

“Aber warum du? Die anderen aus deiner Gruppe sind doch genauso in Gefahr, wenn sie gegen den Frevler vorgehen. Warum musst nur du dich verstecken?”

“Es geht mir nicht darum, mich zu verstecken. Ich muss fort von euch. Das ist der einzige Weg. Außerdem muss ich mehr über solche Paktierer und das Dämonengezücht lernen, um erfolgreich dagegen vorzugehen. Und wo könnte ich das besser als in der Rabenmark?” Gudekar biss sich auf die Unterlippe, denn versehentlich hatte er das Ziel seiner Reise verraten.

"Ich lebe lieber in Gefahr an deiner Seite, als hier in Sicherheit", erklärte Merle mit todernster Entschlossenheit. "Oder in scheinbarer Sicherheit. Woher willst du denn wissen, dass der Paktierer uns nicht in Lützeltal auflauert, während du weit weg in der... Rabenmark weilst?" Sie schwieg einen Moment und blickte ihn nachdenklich an. "Und ist es nicht das, was einen Ehebund ausmacht - sich gemeinsam allen Schrecken und Gefahren zu stellen?"

“Nein, Merle.” Gudekars Widerspruch klang endgültig und ließ kein Infragestellen zu. “Du weißt nicht, von welchen Gefahren ich spreche. Es ist zu gefährlich für unser Mädchen. Tälerort ist nicht der richtige Ort für Kinder. Und Lulu braucht ihre Mutter.” Außerdem hoffte er, ohne es auszusprechen, würde Pruch seine Aufmerksamkeit von Merle und Lulu nehmen, wenn sich Gudekar von ihnen trennte.

Merle schluckte bei seinen hart klingenden Worten. "Tälerort..." murmelte sie leise. Insgeheim nahm sie sich vor, während der Festlichkeiten einmal Eoban oder einen anderen von Gudekars alten Mitstreitern zu diesen Plänen anzusprechen. "Und da willst du allein hin, wenn es doch so gefährlich ist?"

Die Stimme des Magiers wurde wieder sanfter und gleichzeitig unsicherer. Er kratze sich am Ohr. „Nein, Meta, die Ritterin Croy, wird mich begleiten. Der Baron von Tälerort hat sie ebenfalls in seinen Dienst genommen, damit wir ihm helfen können, sein Land zu befrieden und die letzten Spuren des Dämonengezüchts zu beseitigen. Auf der Reise wird sie mein Schwertarm sein.“

"Dann ist es schon beschlossene Sache...", seufzte Merle resigniert und runzelte die Stirn. Diese Ritterin Croy war ihr auf den ersten Eindruck unsympathisch gewesen und es lag ihr auf der Zunge, Gudekar zu sagen, dass sie diese für unprofessionell und goldgierig hielt. Sie schluckte die Bemerkung hinunter; was sollte es bringen außer schlechter Stimmung. Es war ja alles bereits entschieden. Gudekar traf solche Lebensentscheidungen allein, ohne mit ihr als seiner Ehefrau darüber zu sprechen. "Aber du kommst uns von Zeit zu Zeit besuchen?" fragte sie mit schwacher, tonloser Stimme. "An Lulus Tsatag vielleicht? Sie wächst ja so schnell..."

“Ich werde kommen, wenn mein neuer Herr es mir gestattet. Ich werde ihn begleiten, wenn er in die Nordmarken reist, und dann komme ich euch besuchen.” Gudekar nahm seine Frau in den Arm und drückte sie tröstend. “Merle, du bist so eine wundervolle Frau! Du bist so gut zu mir, ich habe dich überhaupt nicht verdient.”

Merles Herz zerfloss, als er sie in den Arm nahm. Wie eine Verdurstende versank sie in seiner tröstlichen Nähe und Wärme, in der Vertrautheit seines Herzschlags und seines Dufts. “Du musst uns bald besuchen kommen”, murmelte sie mit schwacher Stimme in den Stoff seines Reisegewandes hinein. “Sonst kennt Lulu ihren Papa am Ende ja gar nicht mehr. Und ich vermiss’ dich doch auch…” Ein Schluchzen unterdrückend und fast unmerklich zitternd presste sie ihre Wange und ihren schmalen Körper eng an seine Brust.

So blieb Gudekar regungslos stehen. Auch er genoss ihre Nähe. Er hatte sich immer wieder eingeredet, nichts mehr für Merle zu empfinden. Denn das machte es ihm leichter, sich von ihr trennen zu wollen und Meta zu folgen. Doch das war nicht wahr. Er empfand sehr wohl noch immer etwas für sie, eine unendliche Vertrautheit. Eine Vertrautheit, wie er sie für seine Schwestern empfand. Nur intensiver.

Sie hob das Kinn und blickte, noch immer in der Umarmung, eindringlich zu ihm auf. Merles Augen waren feucht, doch ihr Blick wirkte wach und gefasst. “Gudekar, ich bleibe dabei, was ich eben sagte… Lass’ uns Gwenns schönes Fest nicht durch Zwist und Traurigkeit trüben”, bat sie ihn mit sanfter und ruhiger Stimme. “Selbst wenn du bald wieder weg gehst - wir haben immerhin ein paar gemeinsame Tage. Wollen wir die Zeit nicht nutzen, um uns zu vertragen und gut zueinander zu sein?”  

“Du hast Recht!” Gudekars Stimme klang fest und bestimmt, aber nicht unfreundlich. “Wir sollten nicht weiter über so betrübende Dinge reden, sondern dafür Sorge tragen, dass Gwenns großes Fest ein Erfolg wird.” Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und löste die Umarmung. “Das erinnert mich daran, dass ich mich umkleiden und losgehen sollte. Es sind noch so viele Vorbereitungen für die Nachtwanderung zu treffen. Du kommst doch mit, oder? Morgen wird es dann etwas ruhiger. Wenn die anderen auf der Jagd sind, habe ich etwas Zeit zum Entspannen und mit der Familie zu reden.” Gudekar bückte sich zu seinem Gepäck und hob es auf, um die Taschen auf das Bett zu legen und nach seiner Festrobe zu sehen.

Merle nickte gelassen. "Ja, ich würde gern auf die Wanderung mitkommen. Ich bin zwar schon eine ganze Weile hier, aber viel von der Umgebung hab ich noch nicht gesehen." Sie wies auf den Waschtisch gegenüber des Bettes, auf dem eine Schüssel, ein großer Krug mit Wasser, Seife und trockene Tücher bereit lagen. "Das Wasser ist frisch", informierte sie ihn, während sie selbst einen kurzen Blick in den Spiegel warf, um ihre Frisur zu richten. "Diese Quelle muss ja unheimlich schön sein... Aber so richtig weiß ich nicht, wie ich’s mir vorstellen soll."

Gudekar hatte seine Robe und das Hemd darunter ausgezogen und stand nun mit nacktem Oberkörper vor der Waschschüssel. Der Duft der frischen Seife war belebend. Er wusch sich gründlich Gesicht, Hals, Achseln, Brust und schließlich die Haare. Beiläufig überlegte er: “Ich war nie mit dir an der Quelle, wenn wir hier zu Besuch waren? Eigenartig! Ist es so lange her, dass ich dort war?”

"Nein, hast du nie", beschwerte sich Merle mit einem gespielten Schmollmund. "Du hast immer wieder davon gesprochen, ja, aber irgendwie ist jedes Mal was dazwischen gekommen..." Sie hatte sich zurück auf das Bett gesetzt, flocht in ihren Haaren herum und beobachtete ihn mit einem leichten, unergründlichen Lächeln. Nach all den Jahren gefiel er ihr noch immer, so wie damals, als sie dem jungen Adepten so hartnäckig hinterher gerannt war. "Genausowenig wie du nie mit mir zum Meer gereist bist..." Ein verträumtes, melancholisches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. "Weißt du noch, wie ich mich als blutjunges Ding danach gesehnt hab, einmal Havena zu sehen und im Meer der Sieben Winde zu schwimmen?" Abtuend zuckte sie mit den Schultern und seufzte leise. "Na, vermutlich ist es eh nicht so spektakulär, wie ich's mir vorstelle."

“Am Meer war ich auch noch nie, nur am Neunaugensee. Aber das ist ja auch ganz was anderes als die Quelle im Lehen meines Vaters. Naja, zumindest die siehst du dann heute endlich. Das andere wird sich sicherlich irgendwann ergeben.” Da war er sich aber nicht so sicher. Gudekar warf sich seine grüne Tunika über.

"Ich freu mich so drauf!" Merle sprang auf, machte einen kleinen Hüpfer auf der Stelle und strahlte ihn voll unschuldiger Vorfreude an. Sie stellte sich ihm direkt gegenüber und musterte ihn in seiner grün-weißen Festtunika. "Sieht gut aus", befand sie mit mit anerkennendem Blick und streckte den Arm aus, um mit einem vertrauten, schnellen Handgriff einen winzigen Fussel von seinem Kragen zu lesen. Dann schaute sie ihm fragend ins Gesicht. "Willst du dich noch rasieren?" Sie ließ ihre Fingerspitzen, eigentlich nur die Spitzen ihrer kurz geschnittenen Nägel, langsam und federleicht über die Bartstoppeln an seiner Wange kratzen. "Nein, steht dir so besser…" murmelte sie mit dunkel-kehliger Stimme. "Ein verwegener Kampfmagier, ein galanter, schneidiger Held.” Keck und ein bisschen herausfordernd zwinkerte ihm zu.

“Dafür wäre jetzt auch gar nicht mehr die Zeit. Das muss bis zu Gwenns Hochzeitstag warten.” Er schaute kurz zu Merle, und für einen winzigen Augenblick, kaum merkbar, verzog er traurig die Mundwinkel nach unten. Seine Augen schillerten, als wollten sich Tränen in ihnen sammeln. Dann gab er Merle einen Kuss auf die Wange. “Ich muss los!” Gudekar drehte sich um und ging zur Tür. “Wir sehen uns später! Genieß das Fest. Ich glaube, das Volk hat sich viel Mühe gegeben, alles schön zu machen für Gwenn und die Gäste.”

"He, warte!" hielt sie ihn auf. "Hast du Mika schon getroffen? Wie geht’s ihr denn?" Wieder machte Merle einen enthusiastischen kleinen Hüpfer auf der Stelle. "Ich kann's kaum erwarten, die Kleine wiederzusehen!"

Gudekar blieb in der Tür stehen und blickte strahlend zu Merle. “Ja, ich habe sie heute früh kurz gesehen, leider viel zu kurz. Es scheint ihr gut zu gehen, sie wirkt sehr glücklich. Aber sie hat sich verändert, sie wird langsam erwachsen. Ich glaube, es tut ihr gut, seine Gnaden als Lehrer an ihrer Seite zu haben. Er ist streng, aber ein guter Lehrmeister. Ich hoffe, wir sehen sie heute Abend noch einmal kurz. Sie ist sehr eingebunden in die Vorbereitungen der morgigen Jagd. Firumar hält sie an der kurzen Leine.“ Gudekar lachte mit seinem herzigen Lachen. “Und das ist wohl auch besser so.”

Merle fiel schallend hell in sein Lachen ein. “Kann mir vorstellen, dass das mit der kurzen Leine bei unserem Wildfang nicht ganz einfach ist!” Der Blick aus ihren lachenden, vergnügt funkelnden Augen traf kurz auf seinen. “Hoffe, dass Mika nachher ein bisschen Zeit für uns hat und mal zum Erzählen kommt.” Sie grinste und wedelte gespielt ungeduldig mit ihrer Hand in Richtung der Tür. “Na los, gelehrter Herr, so hebt Euch von dannen und waltet Eures Amtes!”

Doch statt aus der Tür zu gehen, kam Gudekar noch einmal auf Merle zu und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Danke, Merle!“ Nun ging er schnell hinaus, bevor seine Frau etwas erwidern konnte. Nachdem er die Tür zur Kammer geschlossen hatte, legte er sich kurz an die Wand des Flures, schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Dann verließ er das Haus und den Hof seines Vaters.

Merle nickte Gudekar bestätigend zu. Nachdem er weg war, starrte sie für einen Moment auf die geschlossene Tür, dann wandte sie sich um, um den Waschtisch wieder herzurichten.

~*~

Die Spielzeugtombola

Die Familie von Klingbach hatte in ihrem Reisegepäck eine göttergefällige Zahl von zweimal zwölf unterschiedlichen Holzspielzeugen aus ihrem Heimatort Poluik als Gastgeschenk mitgebracht. Zunächst wurde für die Kinder der Familie Weissenquell jeweils ein Spielzeug ausgesucht. Madalin von Weissenquell und Hildegard von Weissenquell zu Darrenbruck erhielten jeweils ein Holzpuppe, während Hildegards Bruder Godefried sich einen Kreisel auswählte, der mit einer Peitsche angetrieben werden konnte. Für die kleine Liudbirg Rotrude wählte ihr Großvater Friedewald eine geschnitzte Gans aus, die so gefertigt war, dass sie von selbst eine schräge Rampe hinunter watscheln konnte.

Anschließend wurden die restlichen Spielzeuge in einer Tombola unter den Kindern verlost. Zunächst erhielt jedes anwesende Kind der Hochzeitsgäste (außer die der Klingbachs, die stattdessen ein Geschenk aus Lützeltal erhielten) vom Scholaren Morgan von Weissenquell ein Los mit einer Gewinnnummer, wobei Morgan die Eltern der Kinder darum bat, eine Münze als Spende für die Aussteuerkasse der Braut in den Schlitz einer Spendenkiste zu werfen.

“Mögt ihr eurer lieblichen Tochter nicht ein Los für die Tombola überreichen, Eure Wohlgeboren?”; “Hoher Herr, nimmt Eurer Sohn bereits an der Verlosung der unglaublich schönen Spielzeuge aus Klingbach teil? Ach, und es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr eine Münze in diese Kiste werfen könntet, die ich dann meiner Schwester Gwenn zu ihrem Traviabund überreichen möchte!”; “Ach, was ist Euer Sohn doch für ein niedlicher Fratz! Meint ihr nicht, er würde sich über eine Kiste mit Holzbauklötzen freuen, wenn er etwas größer ist? Ja? Dann erwerbt doch einfach ein Los für unsere Tombola zu Gunsten der Braut!”; „Habt Dank für diese großzügige, traviagefällige Spende für die Braut! Die gute Mutter möge es euch vergelten!“ So und so ähnlich konnte man Morgans Anpreisungen vernehmen, sobald eine neue Familie die Straße vor dem Tor des Gutshofs erreichte.

Schließlich wurden die übrigen Lose mit ausreichend Nieten vermischt und unter den Kindern des Dorfes verteilt.

(Bitte tragt zu den Losnummern die Namen des Kindes ein, das dieses Los zieht. Jedes Kind nur ein Los! Und gebt an, welche Spende die Eltern für die Aussteuerkasse geben.)

Die Lose sind alle verkauft, die Verlosung erfolgt dann am nächsten Tag.

  1. Kind: Raxa Runkler Spende: 2 Kreuzer
  2. Kind: Daria Runkler Spende: 2 Kreuzer
  3. Kind: Waisenkind Hlutharsruh  Spende: 1 Silbertaler
  4. Kind: Raginhard von Tannenfels   Spende: 1 Silbertaler
  5. Kind: (Ulmengard) von Tannenfels Spende: 1 Silbertaler
  6. Kind: Basilissa Spende: 2 Dukaten
  7. Kind: Maura Wohlgedei Spende: 1 Kreuzer
  8. Kind: Waisenkind Hlutharsruh   Spende: 1 Silber
  9. Kind: Waisenkind Hlutharsruh   Spende: 1 Silber
  10. Kind: Lindwin Rodenbach Spende: 2 Heller
  11. Kind: Amiel Bertenschlag Spende: 1 Heller
  12. Kind: Siegmund von Kalterbaum   Spende: 3 Silbertaler
  13. Kind: Meingard von Darrenbruck   Spende: 2 Silbertaler
  14. Kind: Tsasal Beeltzer Spende: 5 Kreuzer
  15. Kind: Waisenkind Hlutharsruh  Spende: 1 Silber
  16. Kind: Siric Wohlgedei Spende: 1 Kreuzer
  17. Kind: Raul von Darrenbruck Spende: 2 Silbertaler
  18. Kind: Leofric Wohlgedei Spende: 1 Keuzer
  19. Kind: Travina Häsler Spende: 1 Heller
  20. Kind: Waisenkind Hlutharsruh   Spende: 1 Silber

“Ach, Lys, wie gerne würde ich den Kindern unserer Gastgeber auch ein Los schenken. Aber sicher wären sie enttäuscht, wenn dann nicht alle ein Spielzeug erhielten.”

Lys küsste seine Frau auf die Stirn. “Du bist so gut, aber du hast auch so Recht. Siegmund ist noch klein, er wird es nicht mitbekommen, wenn er kein Spielzeug erhält.” Bei einem Blick in Tsalindes traurige Augen legte er eine Hand um ihre Schultern und führte sie weg. “Komm, schauen wir uns um. Vielleicht finden wir etwas für die Rasselbande.”

(Das Ehepaar Kalterbaum und Kargenstein)

“Schau, Liebster, die Edle und ihre Familie in unserem Haus haben uns Glück gebracht! Drei Gewinnlose und nur zwei Nieten!” – “Ja, Traviana, aber die fünf Kreuzer müssen wir uns wieder aus den Rippen schneiden.”

(Die Bauern Traviana Wohlgedei und ihr Mann, deren Kinder solange gequengelt haben, bis die Eltern ihnen auch Lose gekauft haben.)

 

“Nur zu, nur zu, meine Dame! Ein Gewinnlos ist für die Kinder doch besser als kein Gewinnlos!”

(Morgan von Weissenquell)

“Leander, es hat geheißen für die Kinder.”

“Aber wir sind doch alle Kinder unserer Mutter. Ach Rajalind, schau doch mal, das ist alles so putzig…”

“Jaa, aber es ist für Kinder. Kin-der. Kleine Kinder. Schau, wie die beiden da!”

“Ooch.”

“Weißt du, was, ich denke, wir nehmen doch auch ein paar Lose. Vielleicht gewinnen wir ja ein paar Spielzeuge für Bruder Vieskars Waisenkinder. Er hat 5 kleine Kinder dort, du darfst uns also 5 Lose aussuchen.“

(ihre Gnaden Rajalind und der sie begleitende Novize Leander)

„Basilissa, du darfst selbstverständlich auch ein Los ziehen. Die Familie Mersingen wird sich natürlich an den Kosten der Aussteuer beteiligen.“

„Bitte was? Ähm….Euer Wohlgeboren, das schickt sich nicht. Schließlich bin ich doch kein Kind mehr, sondern Eure Pagin! Auch wäre Spielzeug an mich verschwendet. Eine neue Reitgerte oder die Lederriemen für die Armschienen, die bald angefertigt werden müssen. Das müsste ich gewinnen! Ich…“

„Na dann: Wir spenden selbstverständlich auch ohne Los.“

„Also…ähm…wenn Ihr eh…ja, dann wäre es ja undankbar, kein Los zu ziehen…“

(Basilissa von Keysserring mit ihrem Schwertvater Lares von Mersingen)

“Welcher Ausbildung gehst du eigentlich nach, Morgan? Es scheint du hast in ein Phex-Noviziat gewechselt.”

“Nein, Tante Eilada, es ist doch alles für Tante Gwenn und ihren Gatten, wenn sie dann auch ein Baby bekommen!”

(Eilada von Weissenquell zu Darrenbruck im Gespräch mit ihrem Neffen Morgan von Weissenquell über seine Sammelaktion)

‘Elvrun und die Kinder würde es freuen! Da sind ja Sachen dabei, die man bei uns gar nicht bekommt. Und wenn ich nicht gewinne, spreche ich die Klingbacher an… ’

(Nivard von Tannenfels beim Bewundern der Preise)

Und dann sprach die Gans zum Pferd: “Meister Pferd, ich möchte gern auch so eine Mähne haben wie ihr. Sie ist so herrlich schwarz und weich.” Das Pferd fühlte sich geehrt und beugte seinen Kopf, damit die Gans ihm ein Haar aus der Mähne ziehen konnte. “Ich denke so hat Sumu dies gedacht. Die Erdenmutter hat mir Haare gegeben, damit sie im Winde fliegen können, wenn ich über die Wiese trabe. Doch wenn es dir nach einem Haar verlangt, so nehme dir eines aus meiner Mähne. Es soll dir Fuchsens Glück bringen.” Die Gans war gerührt und zog als Dank eine Feder aus ihrem Gefieder. “Liebes Pferd, du bist wild und ungestüm, aber hast dein Herz am rechten Fleck. So will auch ich dir etwas geben. Wenn du diese Feder im Fallen betrachtest soll sie dich erinnern wie Storchens Flug ihn immer wieder zurück führt zu seinen angestammten Nestern. So hat Sumu dies erdacht und so ist es gut.”

So kommt es, dass Pferd in seiner Lebenslust manchmal innehält und sich an Gans erinnert, sowie Gans manchmal unerwartet losrennt und sich an Pferd erinnert.

(Corwyn von Dürenwald, zwei Holzfiguren aus Poluik in den Händen auf dem Platz neben der Tombola sitzend, von einer Gruppe Kinder umringt)

Das Fest zum Tag der Treue

Eröffnung des Volksfestes (Rondrastunde)

Bis in die Praiosstunde hinein wurde im Dorf und besonders auf dem Dorfplatz weiter gearbeitet. Mit den ankommenden Gästen, die teilweise zuerst die Aufwartung auf dem Gutshof machten und anschließend ihre zugewiesenen Quartiere aufsuchten, teilweise jedoch zunächst ihr Gästezimmer belegten, um sich dann im Dorf umzusehen, war der gesamte Ort von einem wilden Gewusel geprägt. Für den Herren Praios, so er das Treiben von seinem güldenen Thron aus beobachtete, muss das Lützeltal ausgesehen haben wie für uns ein Ameisenhaufen, in den ein feister Junge einen Stock geschlagen hat.

Doch mit einem Mal, zu Beginn der Rondrastunde, löste sich das geschäftige Treiben wie von selbst auf. Der Dorfplatz war gerichtet, die Tische gedeckt. Von aufgestellten Marktständen, die ebenfalls mit orangenen Wimpeln, aber auch mit Zweigen und Getreideähren geschmückt waren, duftete es herrlich nach allerlei Speis und Trank. Es gab gebratenes und gesottenes Fleisch, in einem über einem Feuer aufgehängten Kessel kochte eine dampfende Wurstsuppe, daneben in einer Pfanne geschnetzelte Rahmpilze. Es gab geschmorte Rüben und mit geschmelzten Zwiebeln und geschmolzenem Käse bedeckte Teigfäden. Mit Honig gesüßtes Backwerk war besonders bei den Kindern beliebt.

Langsam füllten sich die Tische mit schwätzenden Dorfbewohnern und konversierenden Adligen. Kinder rannten durch die Tischreihen und wer nicht aufpasste, lief Gefahr, durch ein mittels Stecken improvisierten Schwertes getroffen zu werden.

Auf der ebenfalls reichlich geschmückten Bühne spielte eine kleine Gruppe Spielleute fröhliche Volksweisen

Der Auftritt der Gauklerin

Angesichts der Zahl der Gäste und der Größe - oder vielmehr Kleinheit - des Dorfes Lützeltal hatte Doratrava diesmal mit einem Zelt als Unterkunft vorliebnehmen müssen. Das war ihr nicht ganz so recht, hatte sie doch eine ordentliche Menge Gepäck dabei, meist Kleider und einige Utensilien, die für das ein oder andere Kunststück gebraucht wurden. Doratrava war keine Freundin von langer und ausgefeilter Planung, und obwohl sie sich natürlich ein Programm zurechtgelegt hatte, welches sie im Dorf aufführen wollte, so kannte sie sich doch selbst gut genug, um zu wissen, dass spontane Einfälle dieses jederzeit über den Haufen werfen konnten. Allerdings war es leichter, spontanen Einfällen zu folgen, wenn man die dafür notwendigen Dinge dabei hatte, daher das viele Gepäck.

Dass sie sich diesmal wohl im Bach würde waschen müssen und eher nicht an einen Zuber herankommen würde, störte Doratrava dagegen weniger. Zwar war ihre Bekanntheit in den letzten Jahren gestiegen und daher auch die Anzahl der Einladungen zu mehr oder weniger gehobenen Anlässen, so dass sie einen gewissen Luxus mittlerweile durchaus zu schätzen wusste, aber sie war immer noch oft genug einfach so auf Wanderschaft und ließ sich treiben, wohin der Wind sie blies, so dass sie auch mit den einfachsten und rustikalsten Umständen zurecht kam.

Wie auch immer. Sie war nun hier und würde die Leute mit ihrer Kunst erfreuen, was wiederum sie selbst glücklich machte. Der erste Teil der Festlichkeiten sollte heute am frühen Nachmittag stattfinden, auf dem Dorfplatz, und eher dem Volk allgemein gewidmet sein. Um nicht gleich alle Karten auf den Tisch zu legen, hatte sie sich dafür ein für ihre Verhältnisse eher zurückhaltendes Programm ausgedacht. Und so stand sie nun hier auf dem Platz, auf dem geschäftiges Treiben herrschte. Das Licht des Praiosmals, das es heute mal wieder gut mit den Menschen meinte - ein wenig zu gut, wie Doratrava fand - ließ ihre weißhaarige, weißhäutige, leicht spitzohrige Gestalt erstrahlen. Sie trug ein bunt kariertes, luftiges, ärmelloses Hemd, einen kurzen, ebenso bunten Rock und leichte Sandalen, die Haare hatte sie im Nacken mit einem dunkelgrünen Tuch zusammengebunden. Um die Fußknöchel und die Handgelenke hatte sie dünne Bänder mit ein paar Schellen daran geschnallt, die bei jeder Bewegung lustig klingelten. Um warm zu werden, begann sie mit einfachen Jonglage-Kunststücken. Dazu hatte sie sich extra ein paar neue Bälle machen lassen, in verschiedenen Farben und besetzt mit spiegelnden Metallplättchen, so dass sie im Sonnenlicht glitzerten und gleißten, wenn sie die Bälle in die Luft warf. Sie jonglierte mit drei, dann vier, dann fünf Bällen, erst einfach im Stand, bis genügend Leute auf sie aufmerksam geworden waren, dann begann sie zu variieren, warf Bälle unter den Beinen hindurch, hinter dem Rücken vorbei, fing sie wieder ein, warf drei auf einmal in die Luft, schlug ein Rad, fing sie wieder, warf sie höher in die Luft, schlug einen Salto, fing sie wieder und so fort.

Von Zeit zu Zeit machte Doratrava eine kleine Pause und genoss den Beifall der Zuschauer, während sie einen Schluck Wasser trank und sich ein wenig im Schatten eines Baumes erholte. Wenn besonders viele Kinder unter den Zuschauern waren, dann rief sie diese auch mal zu einem Spiel auf: Sie gab ihnen ihre Bälle und forderte sie auf, nach ihr zu werfen. Wenn sie es schafften, sie zu treffen, dann sollten sie einen Kreuzer von ihr bekommen. Wenn nicht, mussten sie die Bälle wieder einsammeln und ihr zurückbringen. Einige Kinder stellten sich der Herausforderung, aber den wenigsten gelang es, tatsächlich einen Treffer zu landen. Als könne sie Gedanken lesen, bewegte sich die Gauklerin meist im allerletzten Moment fast wie ein Geist zur Seite oder machte eine halbe Körperdrehung, duckte sich oder sprang in die Luft, so das sie am Ende nur dreimal einen Kreuzer auszahlen musste. Dennoch hatten die Kinder und sie viel Spaß dabei.

Zur Mitte zwischen Efferd- und Traviastunde aber verlegte Doratrava ihre Wirkungsstätte zu einem anderen Platz. Und zwar hatte sie dort ein vier Schritt hohes Gerüst in Form eines Bockes aufbauen lassen, welches lediglich aus je zwei gekreuzten Stangen bestand, welche eine mehrere Schritt lange, sehr stabile Querstange hielten. Von der Mitte dieser Querstange baumelte ein Seil bis fast zum Boden herab. Einige Schritt vor dem Gerüst hatte man auf dem Boden eine Fläche von drei mal drei Schritt mit Schnüren abgespannt, ein Knecht passte auf, dass keine Kinder (oder Erwachsenen) diesen Bereich betraten. Zudem hatte die Gauklerin sich umgezogen und trug nun ihr Bänder-"Gewand", welches sie zum ersten Mal bei der hinterher sogenannten "Bluthochzeit" von Hlûtharsruh dem Publikum vorgeführt hatte. Jedesmal, wenn sie es anlegte, überkam sie ein halb wohliges, halb erschrecktes Kribbeln, war diese Hochzeit doch ihr erster, zudem erfolgreicher, Auftritt vor adligem Publikum gewesen, aber gleichzeitig erinnerte es sie an die Schrecken, denen sie dort knapp entgangen war.

Das "Gewand" bestand aus schwarzen, im Licht der Sonne glitzernden Stoffstreifen, welche sich von ihren nunmehr nackten Füßen die Beine hinauf verhüllend um ihre Hüften wanden und von dort hoch um ihren schlanken, fast knabenhaften Oberkörper, so dass alle wichtigen Stellen verdeckt waren, aber der Großteil ihrer weißen Haut dennoch zwischen den Lücken der Bänder hervorlugte. "Liebe Leute, liebe Kinder, verehrte Hochzeitsgäste", sprach sie die Umstehenden mit erstaunlich weit tragender Stimme an, "mein Name ist Doratrava, die Weiße Rose, die Eisprinzessin, wie man mich schon andernorts nannte, aber ich überlasse es euch, einen eigenen Beinamen für mich zu finden. Ich lade euch ein, Zeugen meiner Kunst zu werden, wie ich versuchen werde, Sumus Griff zu trotzen, damit es euch ein Wohlgefallen ist, auf dass ihr morgen etwas erzählen könnt, um dessen Erleben euch andere beneiden werden. Und nun genug der Worte, schaut und staunt!"

Mit diesen Worten machte sie einen Salto rückwärts und ergriff das Seil im Flug, so dass es weit nach hinten ausschwang. Im Schwung brachte sie ein Bein nach oben, verhakte es in das Seil und ließ es mit den Händen los, um die Arme wie Flügel elegant zur Seite zu strecken. während der Rückschwung des Seils sie nach vorne knapp über die Köpfe der Zuschauer hinweg führte. Dann begann sie, durch seitliche Bewegungen den linearen Schwung langsam in eine Drehung zu verwandeln und die Auslenkungen nach vorne und hinten schwächer werden zu lassen, bis sich Doratrava in allerlei Figuren am Seil hängend mehr oder weniger schnell im Kreis drehte. Mal hielt sie sich mit beiden Händen fest, während ihr Körper sich waagrecht in der Luft hängend um das Seil drehte, mal hielt sie sich nur mit einer Hand, das Seil um das Handgelenk gewickelt, während ihre anderen drei Glieder in eleganter Pose vom Seil abstanden, oder sie verwickelte das Seil um ein Bein und wiederholte das Ganze in dieser Weise. Dann wiederum begann die Gauklerin, die nun eine Akrobatin war, nach vorne und hinten zu schwingen, während sie gleichzeitig am Seil ein Stück nach oben kletterte, bis fast zur Stange hinauf. Und wie auch immer sie das bewerkstelligte, stieß sie sich ab, hoch in die Luft, ließ das Seil los, bog sich über die Stange, fiel auf der anderen Seite herunter und bekam das Seil im Rückschwung gerade noch mit einer Hand zu fassen, um es sich gleich darauf in rasender Geschwindigkeit um den Bauch zu wickeln und dann loszulassen, so dass sie nun tatsächlich fast wie ein Vogel mit allen Vieren von sich gestreckt am Seil schwang - und durch wiegende Bewegungen dafür sorgte dass es sie weit hinauf in die Luft trug, sogar ein Stück über die Höhe der Querstange hinweg. Und dann ... machte sie irgendetwas mit den Händen, dem die Zuschauer nicht folgen konnten, und sie war frei von dem Seil, in fünf Schritt Höhe über dem Boden. Ein großes "Ah" und "Oh" ertönte, von den teils erstaunten, teils erschreckten Zuschauern, während Doratrava die Beine anzog und in einem dreifachen Salto zielsicher nahe der Mitte des abgespannten Bereichs auf dem Boden aufkam, elegant, sicher, ohne zu stolpern, sich herumdrehte und die Arme triumphierend in die Luft riss, den Applaus des Publikums erwartend.

Nach ihrem Auftritt, als sie gerade anfing, ihre Utensilien wieder einzusammeln, kam eine Frau, so um die dreißig Jahre alt, auf Doratrava zugelaufen. Es war offensichtlich, dass es sich hier um eine Dame von Rang handelte, denn ihr großer, kräftig gebauter Körper war in ein vornehmes Kleid gekleidet, ihr langes, dunkelblondes Haar elegant hochgesteckt und mit Bändern verziert. Verzückt klatschte die Dame in die Hände und strahlte Doratrava an.

“Ausgezeichnet! Das war ja wundervoll! Ihr seid eine Meisterin Eures Faches! Darf ich mich vorstellen? Ich bin Gwenn von Weissenquell. Und ich denke, die vielen Gäste sind wohl aus irgendeinem Grund meinetwegen hier.” Gwenn lächelte verlegen. “Doch dabei wäre wert gewesen, allein für Euren Auftritt hierher zu reisen! Sagt, habe ich euch letztes Jahr beim Flussfest in Albenhus gesehen? Seid Ihr dort nicht auch aufgetreten?”

Doratrava lächelte erfreut über die Begeisterung der Dame, brauchte aber einen kurzen Moment, um in ihr die Braut zu erkennen, denn wenn sie ihre Kunst aufführte, dann tat sie das voll und ganz, dann war kein Platz mehr für den Rest der Welt, und es dauerte immer ein wenig, bis dieser Zustand sich wieder gegeben hatte. “Äh, ja, danke, äh … hohe Dame?”, stotterte sie daher etwas unbeholfen. “Ja … ja, beim letzten Flussfest bin ich auch gewesen, in der Tat, da mögt Ihr mich gesehen haben.” Langsam schüttelte die Gauklerin ihre Trance ab, ihre Stimme wurde fester und sicherer. “Es freut mich wirklich, wenn die Vorführung Euch gefallen hat … und ich habe noch mehr zu bieten.” Sie zwinkerte Gwenn zu, mit Schalk in den Augen, vielleicht ein wenig zu vertraulich, aber das war ihr gerade egal.

“Dann habe ich Euch wirklich richtig wiedererkannt. Ich war damals schon beeindruckt von Eurer Kunst, obwohl es auf dem Fest immer so viele verwirrende Eindrücke gibt. Aber sagt, ich wusste gar nicht, dass eine Gauklerin zu unserem Fest geladen ist. Wer hat Euch eingeladen?”

Doratrava fiel auf, dass die beiden während des Gesprächs von einer anderen Frau beobachtet wurden, die in einigem Abstand in Deckung stand, ihren Blick jedoch immer wieder von Gwenn auf die Umgebung schweifen ließ. Die Frau war gerüstet und bewaffnet und trug einen Wappenrock, den ein blaues Wappen zierte. Auf dem Wappen war eine weiße Brücke abgebildet, die sich über einen goldenen Fisch spannte.

Kurz überlegte Doratrava, was sie sagen sollte, aber dann entschloss sie sich zur Offenheit. “Euer … zukünftiger Gemahl”, antwortete sie daher wahrheitsgemäß. “Vielleicht … sollte es eine Überraschung sein, wenn er Euch nichts davon erzählt hat?”

“Rhodan? Ach, Ihr kennt ihn? Da drüben ist er. Ich rufe ihn gleich mal herbei, dann kann ich mich bei ihm bedanken. RHODAN! RHODAN, KOMM MAL RÜBER!” rief sie und winkte ihren Bräutigam herbei. Während sie darauf wartete, dass der Herrenfels sein Gespräch mit anderen Gästen beendete und zu ihnen kam fragte sie weiter: “Ich hoffe, Ihr seid gut untergebracht? Habt ihr ein angenehmes Quartier?”

“Ich habe ein angenehmes Zelt”, antwortete Doratrava mit leicht ironischem Unterton. “War ja nichts mehr frei sonst.”

“Was? Ein Zelt?” Gwenn war schockiert. “Man hat euch kein anständiges Quartier organisiert? Ach, wenn man nicht alles selber macht! Der Zeltplatz, das ist doch nur was für gestandene Rittersleut und ihr Gesinde. Aber nicht für eine so zarte Person, wie Ihr es seid.Ihr müsst wissen, auch wenn Praios das Tal am Tag noch angenehm erwärmt, bei Nacht zieht eine feuchte Kälte vom Bachlauf herüber in das Dorf und die Auen. Wir wollen doch nicht, dass Ihr Euch die blaue Keuche holt. Na, dann hätte mein Bruder wenigstens was zu tun”, lachte sie.

Doratrava war wohl bewusst, was das Wetter mit sich brachte, und bei der Titulierung als “zarte Person” musste sie ein Schmunzeln unterdrücken. Das Zelt hätte ihr am Ende nichts ausgemacht, aber sie würde den Namenlosen tun und eine bessere Unterkunft ablehnen. “Ich ziehe gerne um, wenn Ihr etwas anderes für mich habt”, sagte sie daher in durchaus erfreutem Tonfall.

“Da könnt ihr aber sicher sein! Nun, bedient Euch erst einmal beim Essen und Trinken. Ich kümmere mich gleich um ein Quartier, wenn ich mich endlich bei Rhodan bedanken konnte. Und heute Abend könnt Ihr Euch sicherlich in ein warmes Federbett einkuscheln.”

“Habt Dank”, lächelte Doratrava und winkte zum vorläufigen Abschied. Das fing zumindest vielversprechend an. Der Gedanke an ein Federbett erzeugte wohlige Vorfreude in ihr, wenn auch angereichert mit einem kleinen Stich, dass sie dieses mit niemandem teilen konnte. Aber das hätte sie die Matte im Zelt auch nicht, insofern war das keine Verschlechterung.

Sie legte sich den bereitgelegten Umhang um die Schultern, da ihr Kostüm nun erstens nassgeschwitzt war und zweitens nur zur Aufführung gehörte, und nicht, um Leuten, die sie außerhalb derselben sahen, mehr oder weniger rahjagefällige Gedanken in den Kopf zu setzen, dann machte sie sich auf zu ihrem Zelt, um sich frisch zu machen, umzuziehen und schon mal zusammenzupacken in Erwartung des Umzugs.

Der dicke Händler eilte dem Ruf seiner zukünftigen Gemahlin hinterher. So groß gewachsen wie er war, konnte er die Gäste überblicken und sah ihr freudig entgegen, bis er der spitzohrigen Erscheinung neben ihr gewahr wurde, die gerade davoneilen wollte. Davon ließ er sich nichts anmerken, sondern konnte sie gerade noch stoppen. „Ach hallo!“, grüßte er und fasste seiner Verlobten zärtlich an die Schulter. „Ich hätte mich darum kümmern müssen, dass Ihr Euch nicht sofort trefft. Verzeiht! Es sind so viele Leute hier, die unsere Aufmerksamkeit beanspruchen, da muss ich Euch übersehen haben, Doratrava. Naja, jetzt ist die Katze - oder besser - die Gauklerin aus dem Sack. Meine Liebste, darf ich vorstellen: Eine der begnadetsten Schaustellerinnen des Landes mit dem wohlklingenden Namen Doratrava. Sie hat sich bis in höchste Kreise einen guten Namen gemacht; deshalb darf sie auf unserer Hochzeit keinesfalls fehlen!“, erklärte der Rodaschqueller stolz.

„Ach Liebster, was für eine wundervolle Idee von dir! Tatsächlich durfte ich ihre Künste bereits im letzten Jahr bewundern, wenn auch nur kurz. Um so schöner ist es, dass sie uns bereits heute verzaubern konnte. Und eine Überraschung, von der man zwei Tage früher erfährt, ist doch eine Überraschung, über die man sich zwei Tage länger freuen kann!“ Gwenn gab Ihrem Bräutigam einen liebevollen Kuss. Dann verfinsterte sich jedoch ihr Blick leicht, und sie stieß ihren Ellenbogen in seine Rippen. „Aber sag, Rhodan, wieso soll diese Künstlerin in einem Zelt schlafen? Warum wurde ihr kein ordentliches Zimmer organisiert?“

„Bitte was? Nein, nein! Das ist tatsächlich ein Missverständnis. Die Dame weiß wahrscheinlich noch nicht, dass ich ihr ein Zimmer im Jagdschlösschen vorbereiten ließ. Da kann sie sich vor den Vorstellungen etwas zurückziehen. Berühmte Künstlerinnen wollen manchmal auch etwas Kontemplation und Privatsphäre, heißt es doch!“ Der Großgewachsene schien tatsächlich etwas aufgebracht. Für den Schlafplatz hatte er tatsächlich vor mehreren Tagen gesorgt, wusste er doch selbst, wie es war, als Bürgerlicher auf Feierlichkeiten des Adels eingeladen zu sein. Man wurde übersehen - sofern man nicht zur Erheiterung der feinen Gesellschaft beitrug. Dieser Fehler würde ihm nicht unterlaufen.

Doratrava war beim Klang von Rhodans Stimme stehengeblieben und hatte sich wieder herumgedreht. Sie neigte den Kopf und deutete einen Knicks an. “Danke nochmal für die Einladung”, sagte sie schlicht, aber mit erfreutem Lächeln, “und für die Überraschung, die ich Eurer Frau - also, Fast-Frau - bereiten durfte.” Ihr Lächeln vertiefte sich. “Aber tatsächlich hat mir niemand etwas von einem Zimmer gesagt, auch nicht, als ich angekommen bin. In der Tat ist es sehr angenehm, wenn man vor einem Auftritt ein wenig Ruhe und Frieden zur Vorbereitung hat, und ich bestreite nicht, dass es sich in einem ordentlichen Bett besser schläft als auf dem harten Erdboden.”

Rhodan breitete die Arme aus. „Na dann: Seid willkommen und unser Gast! Wenn Ihr wünscht, zeige ich Euch den Weg zu Eurer Unterkunft.“

“Gern”, erwiderte Dortrava und nickte. Umziehen konnte sie sich auch später noch, und es war jetzt noch mehr als warm genug, so dass sie sich wohl nicht erkälten würde.

“Na, wunderbar! Dann ist ja doch alles gut. Rhodan, ich finde es lieb von dir, dass du die Dame zu ihrem Quartier begleitest. Ich gehe inzwischen Bernhelm suchen, damit er sich darum kümmern kann, dass Doratravas Gepäck hinterhergebracht wird. Dann bis später!” Gwenn drehte sich um schaute suchend nach Bernhelm.

Rhodan griff kurz zum Abschied nach ihrer Hand und deutete dann Richtung des Waldes, der sich unmittelbar vor dem Dorf erstreckte. „Bitte sehr, hier entlang“, versetzte er zuvorkommend.

Doratrava nickte erneut und setzte sich in die angegebene Richtung in Bewegung. “Und, wie ist es Euch ergangen in der letzten Zeit?”, fragte sie dann leichthin. “Ist ja schon eine Weile her, dass wir uns gesehen haben.”

„Ach, wie Ihr seht: Ausgezeichnet!“ Der Händler rieb sich über seinen Bauch und strahlte eine tiefe, innere Zufriedenheit aus. „Ich bin froh, in letzter Zeit nicht so häufig zu Reisen gezwungen gewesen zu sein. Die Geschäfte in Rosenhain laufen blendend. Unser Rosenöl findet reißenden Absatz - da muss ich nur noch selten persönlich Werbung machen. Sicherlich habt auch Ihr von den besonderen Flächschen gehört, die wir in der letzten Ernte haben abfüllen können. Die Lande meines Herren sind gerade wie von den Göttern berührt. Da hat man zwar alle Hände voll zu tun, doch nicht etwa, um Unheil abzuwenden, sondern vielmehr, um aus dem Vollen zu schöpfen. Was kann sich unsereiner mehr wünschen? Ja natürlich, eine liebende Frau - und die soll mir ja nun alsbald angetraut werden. Kurz gesagt: Mir geht es blendend. Euch? Ihr wirkt, als würde es Euch momentan ebenso nicht am Wesentlichen mangeln.“ Rhodan setzte ein gewinnenden Lächeln auf. „In den sonst nicht allzu kunstversessenen Nordmarken ja keine Selbstverständlichkeit!“

Doratrava schmunzelte. “Ich komme zurecht und kann mich nicht beklagen”, erwiderte sie. “Im Gegensatz zu Euch bin ich viel unterwegs und nicht an die Grenzen der Nordmarken gebunden, sollte hier einmal eine Flaute herrschen, was den Wunsch nach Unterhaltung angeht. Aber stimmt schon, mancherorts ist es recht schwer, auf meine Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Doch nicht zuletzt dank solcher Gelegenheiten, wie Ihr sie mir gerade bietet, kann ich solche Durststrecken doch recht gut überbrücken. Und zwischendurch noch ein wenig Unheil abwenden.” Ihre hellbraunen Augen blitzten selbstironisch. “Aber wenn Euch meine Aufführungen gefallen, dann sprecht ruhig an der ein oder anderen Stelle eine Empfehlung aus, denn Tanzen und sich durch die Lüfte schwingen macht mir ehrlicherweise mehr Spaß als Dämonen jagen, auch wenn meine Art der Kunst zuweilen ebenfalls Verletzungen mit sich bringt.” Nun senkte sie die Stimme und hielt eine Hand seitlich an den Mund, während sie sich leicht zu Rhodan hin beugte. “Und, wenn man dem einen oder der anderen Travia-Geweihten glaubt, meine Seele oder wahlweise die meiner Zuschauer in Gefahr bringt.” Sie zwinkerte Rhodan schalkhaft zu.

Just in diesem Moment kam ihr ein wohlvertrautes Gesicht aus Richtung Jagdschloss entgegen. ihr Freund Nivard, zu dessen Hochzeit sie im Herzogenfurter Traviatempel durch eine Tanzdarbietung und in bester Absicht einen mittelschweren Eklat ausgelöst hatte. "Doratrava! Wie schön Dich zu sehen!" eilte ihr dieser freudestrahlend entgegen.

Rhodan musste schallend lachen - als wäre es das Stichwort des jungen Ritters gewesen, gerade jetzt aufzuschlagen. Sein dröhnender Bass beschallte den gesamten Platz und ließ einige Leute aufschauen und sich nach dem Ursprung des Lachens umdrehen. “Heute wird kein Seelenheil gefährdet!”, erklärte er, als er wieder einigermaßen Luft schnappen konnte. “Nicht wahr, Herr von Tannenfels?”

"Seelenheil? Wessen Seelenheil sollte denn durch wen oder was in Gefahr sein?" Nivards Gesichtsausdruck verriet, dass ein Teil von ihm in einem ersten Impuls bereits wieder die Umtriebe Pruchs wittern wollte, doch sagte ihm das schallende Lachen und die gelöste Stimmung, dass der wohl nicht gemeint sein konnte. Sofort wich der Anflug der Besorgnis erleichterter Entspannung. "Gewiss doch nicht hier und heute, am Tag der Treue? Oder habe ich etwas verpasst?"

“Klar hast du was verpasst”, bestätigte ihm Doratrava und stieß ihm einen spitzen Ellenbogen zur Begrüßung in die Seite - nicht zu fest, sie wollte ihm ja nicht wehtun, außerdem trug er am Ende irgendwo Eisen. “Ich hab’ nur gerade gesagt, es gibt Leute, die fürchten bei meinen Aufführungen um das Seelenheil - entweder meins, ihrs oder anderer Zuschauer. Habe ich nicht recht? - Schön dich zu sehen, übrigens!”

Rhodan wieß auf die schmale, bleiche Erscheinung. „Wir wollen doch die Probe auf‘s Exempel nicht wagen. Sonst fällt meine Trauung noch aus! Wenn das meine Verlobte erführe, würde ich mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt. Das wollen wir dann doch nicht, oder?“

“Niemals!”, stimmte Doratrava Rhodan augenzwinkernd zu und blickte Nivard erwartungsvoll an.

"Ich kann Euch aus eigener Erfahrung beruhigen - das Seelenheil hat bei den atemberaubenden Darbietungen der Dame an Eurer Seite - ganz gleich, ob im adligen Festsaal oder im Tempel der gütigen Mutter - schlussendlich noch niemand verloren, und es ist daran auch noch kein Traviabund gescheitert oder gar nicht erst zustande gekommen." ging Nivard auf das Scherzen Rhodans ein. "Allenfalls um die innere Ruhe manch, sagen wir, in der jeweiligen Situation gar zu sehr verblüfften Zuschauers war es geschehen, aber auch das nur vorübergehend. Vielleicht müsst Ihr Eure Verlobte einfach nur vorwarnen... und sicherheitshalber auch den Geweihten bereits im Vorfeld einweihen... dann wird schon alles gutgehen, nicht wahr, Doratrava?" Das Zucken um Nivards Mundwinkel war nur schwer zu übersehen.

Ach du Schreck: Im Tempel? Na das konnte ja heiter werden. „Nun, am Besten bieten wir den ältlichen Herrschaften, allen voran natürlich den Geweihten der Treue und Zweisamkeit keinen Anlass, um vom Schlag getroffen vom Stuhl zu fallen. Wie sagt mein Zahlmeister Erbosch so schön? Alles hat seine Zeit. Wenn ich es so Recht bedenke, könnte der Spruch auch von Herrn Lares gewesen sein… Naja. Wie ergeht es Euch, Herr Nivard? Ihr habt doch kürzlich ebenfalls das Ja-Wort gesprochen, wenn ich mich recht entsinne?!“

Das Grinsen Doratravas nahm nun einen eher zerknirschten Ausdruck an, als Nivard sie - nicht unprovoziert, wie sie zugeben musste - an die Episode im Traviatempel bei seiner eigenen Hochzeit erinnerte. Sie wollte bei aller Flachserei nicht, dass Rhodan ein falsches Bild von ihr bekam. Aber da er nun Nivard angesprochen hatte, schwieg sie erst einmal.

In diesem Moment sah Doratrava Liana, und ihr Gesicht nahm für einen kurzen Moment einen seltsamen Ausdruck an, irgendwie halb zwischen Freude und Bedauern. Aber dennoch machte sie eine unbestimmte Handbewegung zu den beiden Männern, die man als “ich muss kurz was erledigen, komme aber gleich wieder” interpretieren könnte, dann eilte sie zu der Elfe.

Der Herrenfelser blinzelte, blickte ihr hinterher und erkannte die Baronin von Rodaschquell. War sie wirklich gekommen? Na das kam unerwartet. Die hohe Dame aus dem Volk der Auelfen war unberechenbar; aber eine faszinierende Bereicherung jeder Zusammenkunft.

Kurz sah Nivard der jäh davoneilenden Tänzerin hinterher - so war sie eben, Doratrava, impulsiv wie eh und je... aha, die Herrin von Rodaschquell also. Er beschloss, noch einen Augenblick zu warten, bis er auch die elfische Baronin begrüßte, und wandte sich stattdessen wieder Rhodan und dessen Frage zu: "Meine eigene Hochzeit liegt tatsächlich zwei Götterläufe zurück, meine Gemahlin Elvrun und ich haben schon im Travia 1043 in Schweinsfold geheiratet, einen Tag vor der Baronin und meinem Schwager. Uns wurde seither bereits unser erstes Kind geschenkt, und in wenigen Wochen wird, mit der gütigen Segen, unser zweites das Derenrund erblicken." Obgleich er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, war Nivard anzusehen und zu hören, dass letzteres ihn beschäftigte. "Ihr seht also, dass TRAvia uns die tänzerische Bereicherung unserer Hochzeit alles andere als krumm zu nehmen scheint." lenkte er wieder ins Scherzhafte ab.

Das brachte Rhodan zum Lachen. „Das klingt wunderbar. Ich freue mich sehr für Euch und Eure liebe Frau. Drücken wir ihr und Eurem zweiten Kind die Daumen. Ist die Schwangerschaft gut verlaufen?“

"Bislang gibt es keinen Anlass zu größerer Sorge - Tsat...s Segen” - fast hätte Nivard sich verplappert - “kam sehr schnell wieder in unser Haus, bereits wenige Monde, nachdem uns erst unser erstgeborener Sohn Raginhard geschenkt worden ist. Ich bewundere Elvrun, mit welcher Stärke und Sicherheit sie das alles meistert. Selbst die Hebamme lobte, wie gut und einfach sie bereits ihre allererste Geburt bewältigt hat... als hätte sie bereits viel Übung darinnen. Insofern bin ich mir sicher, dass auch die zweite gut gehen wird. Auch wenn in dieser Schwangerschaft keine besonderen Himmelserscheinungen zu beobachten waren, wie damals, im Frühling 1043. Meine Schwester berichtete mir, dass Ihr auch nach diesem Stern gesucht hättet, richtig?"

Die Augen des Händlers rollten. „Allerdings, ja. Mühsam, lästig und von bleibendem Schaden könnte man sagen.“

Schnellen Schrittes schloss Doratrava wieder zu Nivard und Rhodan auf. “Da bin ich wieder”, erklärte sie überflüssigerweise und ohne etwas von den letzten gesprochenen Sätzen der beiden mitbekommen zu haben.

Nivard lächelte Doratrava an - seine Neugier war aber geweckt. "Bleibender Schaden?" fragte er Rhodan weiter. Relindis hatte ihm viel von den damaligen Ereignissen berichtet. Allerdings hatte die Reise für sie selbst ein versöhnliches, ja geradezu schönes Ende gehabt. Er hatte aber durchaus auch vernommen, dass es nicht allen Sternensuchern gleichermaßen ergangen war. "Wart Ihr auch mit dem Junker von Lipsteyn unterwegs?"

“Was? Bleibender Schaden?”, fiel Doratrava ein. “Habe ich etwas verpasst?”

“Nein, diesen Herrn von Lipsteyn, den kenne ich nicht näher. Aber ich meine mich zu entsinnen, dass er ebenfalls auf die Suche nach dem Stern gegangen war.” Rhodan lächelte. “Die Sterne lassen mich seitdem nicht mehr los”, formulierte der Dicke vage.

"Die hoch droben, am nächtlichen Firmament, oder die am Boden, die gefallenen?" interessierte sich Nivard.

„Die hell Scheinenden“, antwortete er ausweichend.

“Ja, die Sterne …”, murmelte Doratrava daraufhin gedankenverloren, da sie ja auch Teil der Sternsucher gewesen war. Laut sagte sie: “Ich glaube, in der Regel ist es besser, wenn die Sterne da oben bleiben.” Sie machte eine vage Handbewegung gen Himmel.

"Ja, dem ist wohl so." pflichtete Nivard bei. "Bevor noch so etwas passiert wie in Arivor. Aber Eurer war auch alles andere als ohne, nachdem was ich gehört habe..."

Auch Doratrava sah nun Rhodan gespannt an.

“Nein, die Sterne waren alles andere als harmlos.” Wider Erwarten glitt ein kurzes Lächeln über das Gesicht des Händlers, das er jedoch sofort wieder in den Griff bekam, um sich nicht zu verraten. “Auch hier haben sie beim Einschlag erheblichen Schaden angerichtet.” ‘Und danach erst…’, verkniff er sich.

"Hat der noch soweit südlich gestreut? Ich dachte, praktisch alles sei noch im Gratenfelser Becken eingeschlagen?" zeigte Nivard sich nun erstaunt.

“Also, der Stein, den ich verfolgt habe, ist irgendwo nicht weit von Berg heruntergekommen”, ließ sich Doratrava nun vernehmen.

„Moment Moment, ein Missverständnis! Berg ist zutreffend - mit hier meinte ich in den Nordmärkischen Landen. So weit ab von Arivor.“

“Ach, ist ja jetzt auch nicht so wichtig”, meinte Doratrava leichthin. “Lasst die Vergangenheit ruhen, freuen wir uns jetzt lieber auf das Fest!”

Nivards Blick eilte mehrfach zwischen Doratrava und Rhodan hin und her. Er hatte das merkwürdige Gefühl, dass beide zu dem gefallenen Stern nicht alles offenbaren wollten, nicht voll und ganz offen sprachen, vor allem Rhodan. Aber wer war er, dem Bräutigam hier auf den Zahn zu fühlen, noch dazu zu einer Fragestellung, die er selbst nur aus den Erzählungen seiner Schwester kannte.

"Ja genau, freuen wir uns auf das Fest!" ging er deswegen auf Doratravas Themenwechsel ein. Er musste zugeben, dass er Rhodan bewunderte, wie gut gelaunt, aufgeräumt und kein bisschen aufgeregt wirkend er die Gäste begrüßte. "Ihr strahlt bereits eine solche Vorfreude aus, dass sie einen selbst richtiggehend ansteckt."

„Oh das erfreut mich aufrichtig! Auf diese Feier habe ich mich schon lange gefreut. Meine Verlobte endlich meine Frau und Angetraute nennen zu dürfen, das lässt mein Herz springen und vertreibt alle meine Sorgen.“

“Na, so soll es doch auch sein”, stimmte Doratrava ihm zu. “Und uns, den anderen Gästen und der Dorfbevölkerung bringt es ein schönes Fest ein. Was will man mehr?”

~*~

Ohne viel Aufhebens oder gar Gefolge trat auch die Herrin von Rodaschquell auf den Dorfplatz, um das Treiben zu beobachten und die Stimmung, die hier herrschte, aufzunehmen. Dennoch blieb es nicht aus, dass die Dame Morgenrot allein durch ihre Erscheinung Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie kannte es, und es ließ sich nicht anmerken, wenn der ein oder andere Bauer oder die ein oder andere Krämerin oder andere Leute aus dem Dorf schauten oder gar tuschelten.

Sie trat in die Mitte, um die Festlichkeiten näher zu sehen, und blieb dann stehen, während sie sich einmal mehr umsah.

“Schau an, wen der Wind ebenfalls nach Lützeltal geweht hat”, sagte sie heiter.

“Liana!”, rief sie schon aus ein paar Schritt Entfernung. Ihre Stimme klang nun rein erfreut, zumal sie die Zofe Eduina nirgends entdecken konnte. “Schön, dich zusehen!”, begrüßte sie die Elfe, als sie heran war. Ihr Umhang war von den schnellen Schritten auseinandergetrieben worden, so dass Liana darunter das Bänderkostüm erkennen konnte, das die Gauklerin bei ihrer Vorführung gerade getragen hatte. “Wie geht es dir?”, plapperte Doratrava gleich drauf los. “Wir haben uns ja lange nicht gesehen. Wir sollten mal wieder miteinander tanzen, meinst du nicht?”

Die überschwängliche Begrüßung erinnerte an einen kleinen Wirbelwind. Und Liana ließ sich gerne treiben. “Ich bin wohlauf - und sehe mit Freuden, dass du es auch bist”, gab sie wohl gelaunt zur Antwort. “Schön, dass dich der Wind diesmal in dieses freundliche Dorf getragen hat. Ich hätte mir ohnehin denken können, dich hier zu sehen. Und ich bin sicher, dass wir die Gelegenheit haben werden, an einem solchen Fest auch wieder einmal miteinander zu tanzen, das wäre sicher sehr schön.”

Die Elfe merkte kurz auf und sah Doratrava über die Schulter, als eine kleine Gruppe sich näherte.

“Schau, ich glaube, da haben dich noch mehr erkannt und freuen sich, dich zu sehen.”

Doratrava drehte sich um und schaute, was Liana meinte, dann drehte sie sich nochmal zurück. “Puh, die Freuden der Bekanntheit”, grinste sie, “wenn ich da an früher zurückdenke … aber so ist das halt. Wie auch immer, amüsiere dich noch gut, wir sehen uns bestimmt später nochmal.” Schon wollte sich die Gauklerin den Neuankömmlingen zuwenden, aber dann fiel ihr noch etwas ein. “Bist du denn allein hier? Oder ist … Eduina auch hier?” Kurz stockte Doratrava bei der Frage, da ihr fast noch etwas mehr herausgerutscht wäre, was Liana sicher nicht gefallen hätte, so, wie sie ihre Zofe zu schätzen schien.

Die Elfe wartete einen Augenblick mit ihrer Antwort. Sah Doratrava an mit einer Mischung aus Güte, ehrlicher Freundlichkeit, und zugleich wissend.

“Nein, ich bin nicht allein angereist. Eduina und Darian begleiten mich. Sie würden mich auch kaum alleine ziehen lassen wollen”, fügte sie heiter hinzu.

Kurz runzelte Doratrava die Stirn, aber sie hatte eigentlich nichts anderes erwartet. Adlige reisten ja selten allein, und auch die Elfe machte da wohl keine Ausnahme. Aber schnell nahm ihre Miene wieder einen freundlichen, wenn auch ganz leicht ironischen Ausdruck an. “Ist es nicht lästig, immer auf andere Leute … aufpassen zu müssen?”, konnte sie sich nicht verkneifen zu fragen. Eigentlich hatte sie ‘Rücksicht nehmen’ sagen wollen, aber ein kleiner Dämon in ihrem Kopf hatte schnell die Worte ausgetauscht, bevor sie sie sprechen konnte, da das zu brav geklungen hätte.

Die Baronin neigte ein wenig ihr Haupt. “Nun, sie sehen es als ihre Aufgabe, auf mich … aufzupassen.”

Doratrava entging nicht dieser kurze Augenblick eines amüsierten Zögerns. So, als habe Liana im selben Zug fragen wollen, ob Doratrava nicht vielleicht gemeint haben könnte, dass sie selbst, Liana, auf die beiden anderen Acht geben müsse.

Das leicht herausfordernde Blitzen in den Augen der Elfe sprach Bände davon, dass Liana es nicht aussprach, sie aber sehr wohl wusste, dass Doratrava in ihrem Antlitz lesen konnte, was sie dachte - zumal sie sich nicht verstellte.

Ganz kurz zuckten Doratravas Brauen, als sie die Regungen in Lianas Gesicht verfolgte, und ihr leicht ironisches Grinsen vertiefte sich. Doch bevor sie das Spiel weitertreiben konnte, näherten sich weitere Personen.

Tsalinde von Kalterbaum, den kleinen Siegmund auf dem Arm, ihr Mann Lys von Kargenstein und ihre Zofe Isavena näherten sich Doratrava. Man sah Mutter und Sohn die Verwandtschaft deutlich an. Beider Haare leuchteten feuerrot in der Sonne und beider Augen strahlten im Tannengrün der Wälder um die Wette. Der kleine Junge lachte und klatschte in die Hände, als sie sich Doratrava näherten.

Noch ein bekanntes Gesicht! Doratrava winkte Tsalinde zu und näherte sich, um sie zu begrüßen, allerdings ein wenig zurückhaltend, da sie die Familie der Edlen nicht kannte. Dennoch setzte sie ein freundliches Gesicht auf und sprach Tsalinde gewohnt locker an. “Sei gegrüßt, Tsalinde. Wie geht’s?” Sie deutete auf den Kleinen in ihrem Arm. “Aha, das ist wohl aus deinem dicken Bauch geworden.” Sie hielt inne und merkte erst jetzt, dass das jetzt vielleicht arg respektlos klang gegenüber dem Mann. “Verzeiht, mein Name ist Doratrava”, stellte sie sich etwas verspätet und leicht verlegen vor, wobei sie auch der Zofe zunickte. “Ich kenne Tsalinde von … ein paar gemeinsamen … nun, nennen wir es Ausflügen”. Die Gauklerin klang ein wenig unsicher, da sie nicht wusste, was Tsalinde ihrem Mann erzählt hatte.

“Seid gegrüßt Doratrava. Eure Vorstellung war atemberaubend und wie ihr seht hatte auch mein Sohn sehr viel Spaß an eurer Darbietung. Darf ich euch meinen Gatten Lys von Kargenstein, meine Zofe Isavena Tochter der Orima und natürlich meinen Sohn Siegmund von Kalterbaum vorstellen?”

Doratrava verbeugte sich elegant und formvollendet auf das Lob hin. “Freut mich, euch kennenzulernen”, gab sie lächelnd zurück und musterte Tsalindes Mann und die Zofe ein wenig genauer. Auch den Kleinen streifte sie mit einem Blick, aber bei Säuglingen gab es nicht so viel zu sehen, die sahen irgendwie alle gleich aus für sie. Kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass das bei ihr ja nicht der Fall gewesen sein konnte in diesem Alter, ihre Haut war schon immer weiß und ihre Ohren leicht spitz, aber so schnell der Gedanke gekommen war, verflog er auch schon wieder. “Du brauchst übrigens nicht so förmlich sein, wir haben ja immerhin schon etwas zusammen erlebt”, fügte sie dann hinzu.

“Das ist wohl wahr”, lachte Tsalinde. “Schön euch wiederzusehen und vielen Dank für diese wundervolle Vorstellung. Das war wirklich atemberaubend.”

“Es mag ja möglicherweise nicht die letzte gewesen sein”, lächelte die Gauklerin und neigte erneut dankend den Kopf.

Die Vorstellung hat Eurem Sohn zweifellos außerordentlich gut gefallen, warf Liana mit einem leisen, freundlichen Lachen ein und blickte den Jungen an.

“Ich bin Liana von Rodaschquell”, sagte sie dann in die Runde. “Und es ist mir eine Freude, Euch ebenfalls kennenzulernen.”

“Es ist mir eine Ehre euch kennen zu lernen.” sagten Tsalinde, Lys und Isavena unisono und lachten dann aus vollem Herzen. Siegmund stimmte mit ein, lachte und klatschte in die Hände.

Bei dieser simultanen Antwort, die dann gekrönt wurde von der Begeisterung des Kindes, musste auch Liana lachen.  

“Sagt, woher stammt Ihr?”, fragte sie dann, als sich alle wieder gefangen hatten. Dabei musterte sie interessiert den kleinen Jungen auf dem Arm und lächelte ihm zu.

Siegmund war gleich Feuer und Flamme für die junge Frau und lachte sie an. “Wir kommen aus der Baronie Gernebruch. Dort haben wir ein kleines Lehen an an den Ausläufern der Koschberge.” antwortete Lys. “Und ihr? Woher kommt ihr und wie seid ihr, wenn ich fragen darf, mit dem Haus Weissenquell verbunden?”

Doratrava fiel ein, dass Rhodan ja noch auf sie wartete, um sie zu ihrer neuen Unterkunft zu führen, daher winkte sie schnell Liana, Tsalinde und ihrer Familie mit einem heiteren “Bis später!” zu und kehrte zu ihren ursprünglichen Gesprächspartnern zurück.

“Und schon ist sie wieder weitergezogen”, sagte Liana kurz und hob ihre Hand zum Abschied. “Auf bald dann.”

Dann wandte sie sich wieder der kleinen Familie zu.

“Sie scheint mir wie eine Wolke, die der Wind einmal hierhin und einmal dorthin trägt…” noch einmal blickte sie amüsiert in Richtung der weitergezogenen Gauklerin.

Dann ging sie wieder auf das Gespräch und die Frage ein, wobei sie hin und wieder ihren Blick auch auf den Jungen richtete. Langsam und sachte streckte sie ihm ihre zarte Hand entgegen, so dass er nach ihr greifen und mit ihr spielen konnte, wenn er es denn wollte.

Siegmund war sofort begeistert und betrachtete und jeden Zentimeter ihrer Hand, als wäre es ein Buch aus dem er liest.

“Ich bin die Baronin von Rodaschquell. Das liegt inmitten der Ingrakuppen im Herzogtum Nordmarken. Und obwohl ich es schon eine geraume Weile bin, so komme ich ursprünglich aus Donnerbach und der Sippe Morgentauglanz. Der Kontormeister des Junkers von Rosenhain, das inmitten von Rodaschquell liegt, ist der Bräutigam dieser Hochzeit, und so wurde ich eingeladen in das schöne Lützeltal. Und ich gebe zu, dass ich es etwas bedauere, diesen Ort nicht schon vorher einmal besucht zu haben.”

“Mit gefällt es hier auch. Die Leute sind auch sehr nett. Wir sind bei einer Bauernfamilie untergekommen, die so gastfreundlich und liebenswert ist, wie ich es mir von allen Wesen wünschen würde. Verzeiht bitte meine Neugierde, Euerwohlgeboren, mögt ihr mir von eurer Heimat erzählen? Wie ist es dort? Ganz anders als hier bei uns ?”

“Sprecht Ihr von meiner jetzigen Heimat, Rodaschquell, oder von Donnerbach -

jener, aus der ich stamme?”, fragte sie vorsichtig nach, während sie hin und wieder wie selbstverständlich nach dem Jungen schaute und ihm einen Teil ihrer Aufmerksamkeit widmete, während sie mit seinen Eltern sprach.

“Wenn ich ehrlich bin,” antwortete Tsalinde, “interessiert mich beides. Ich habe noch nicht viel vom Dererund gesehen und bin daher sehr neugierig auf die Welt.”

Die Elfe nickte verständig.

“Manches ist sehr ähnlich. Die Wälder mit ihren Tannen, Eichen und Buchen. Die schroffen Hügel und Berge am Horizont…

Im Isenhag, in dem Rodaschquell liegt, sind es die Ingrakuppen. In Donnerbach sind es die Salamandersteine, in denen noch immer viele Angehörige meines Volkes leben. Abgeschieden vom Rest der Welt - und dankbar dafür.

Anderes wiederum ist sehr verschieden. Es gibt einen Tempel der Rondra in Donnerbach, doch habe ich mir sagen lassen, dass die Priesterinnen und Priester, die dort leben, oftmals spiritueller eingestellt sind als viele andere. In Donnerbach ist der Anblick einer Elfe keine Besonderheit. Menschen und Elfen leben dort schon seit vielen, vielen Jahren zusammen und schützen ihre Heimat gemeinsam. In Rodaschquell indes bin ich die einzige Elfe. Und vielleicht bin ich gar die einzige im Isenhag.”

“Es wäre mir ein Vergnügen euch dort zu besuchen. Wie ich so von euch höre unterscheidet sich zumindest die Landschaft nicht groß von meiner Heimat. Bitte nehmt es mir nicht übel, doch würde mich interessieren, ob ihr Verbindungen zum Seminar der elfischen Verständigung und natürlichen Heilung zu Donnerbach habt.”

“Ihr seid mir willkommen in Rodaschquell. Wann immer Ihr mögt. Und Ja, ich habe durchaus Verbindungen zu der Akademie in meiner Heimatstadt. Meine Familie, Morgentauglanz, hat seit jeher einen guten Kontakt dorthin, und ich selbst war mehrere Male dort und habe dort gleichermaßen gelernt und gelehrt. Wenngleich nicht in der Art, wie die meisten Magier es vermutlich von einer Akademie erwarten. Ihr habt ein besonderes Interesse an Donnerbach?”

Tsalinde wurde etwas verlegen, senkte den Blick und streichelte Siegmund über den Rücken. “In meinem Sohn fließt das Blut eines Magiers und während meiner Schwangerschaft mit ihm war ich einer Menge Magie aus unterschiedlichen Quellen ausgesetzt. Daher vermute ich sehr, dass mein Sohn ebenfalls Magier werden könnte. Normalerweise würde ich ihm die Entscheidung der Akademie überlassen, doch vermute ich, dass er dazu noch zu klein ist. Ich habe mich über einige Akademien schlau gemacht und Donnerbach klang für mich nach einem Ort an dem mein Kind gut aufgehoben ist und auch keine Schwierigkeiten bekommt sollte sich herausstellen, dass er, zum Beispiel, auch Koboldmagie in sich trägt.” Sie sah Liana wieder an. “Vielleicht habe ich auch eine falsche Vorstellung von den Akademien. Ich kenne nur die in Elenvina persönlich und kann mir einfach nicht vorstellen, meinen kleinen Sohn an einem solchen Ort zu lassen.”

Liana neigte sich ein wenig zurück, streckte dabei jedoch ihren Arm aus und strich sehr sanft mit dem Rücken ihres Zeigefingers über die Wange des Knaben. Eine spielerische Bewegung voller Anmut und doch auch Schwere zugleich, denn sie sah den Jungen nun sehr nachdenklich an.

“Ihr wisst nicht, ob Euer Sohn Mandra in sich trägt?”

Fast klang die Frage ein wenig traurig, jedoch ohne Vorwurf, sondern eher mit einer Spur von Erstaunen.

“Wenn Ihr es wünscht, so vermag ich dies sehr leicht für Euch in Erfahrung zu bringen”, sagte Liana dann. “Ja, mehr noch, ich würde es Euch empfehlen.”

Dann sah Sie Tsalinde und auch Lys abwechselnd an, und in ihrem Blick lag eine große Tiefe.

“Wenn Euer Kind Mandra in sich trägt, so wäre es gut für ihn, wenn er alsbald damit vertraut gemacht würde. Denn so sehr ich Euren Wunsch und Euer Ansinnen, die Wahl ihm selbst zu überlassen, nachvollziehen kann und begrüße, so sehr rate ich Euch dennoch, diese erste und vielleicht wichtigste Entscheidung für ihn zu treffen. Denn je länger ihr wartet, desto schwieriger würde es für ihn werden.”

Sie hielt einen Moment inne, ehe sie fortfuhr.

“Vor mehreren Jahren war ein Kind eines Barons mein Mündel, und ich begleitete sie auf ihrem Weg nach Donnerbach und sah mit Freuden, wie eine Zauberin und Freundin aus ihr wurde. Für mich ist diese … Akademie .. wie Ihr sagen würdet, so viel anders als jene, die ich ansonsten kennenlernte.”

Tsalinde und Lys schauten sich an und schienen ohne Worte zu einer Einigung zu kommen. Lys antwortete: “Es wäre uns eine Ehre, wenn ihr Siegmund auf Mandra prüfen würdet, dann hätte die Ungewissheit ein Ende.” Tsalinde fügte hinzu: “Das wird ihm doch nicht schaden, oder?”

Die Elfe lächelte. Nicht erheitert, sondern fürsorglich. Gütig. Verstehend.

“Nein”, sagte sie dann leise.

“Ich würde Eurem Kind niemals schaden wollen”, fügte sie etwas ernster hinzu und wandte sich dem Jungen zu, um auch ihm ein Lächeln zu schenken.

“Es wird nicht lange dauern, nur einen Augenblick.”

Sie schloss kurz ihre großen, amethystfarbenen Augen. Als sie sie wieder öffnete, vermeinten Tsalinde und Lys, ein kurzes Aufleuchten darin zu sehen, und Liana sprach einige leise Worte, nein, vielmehr war es ein leiser, kurzer Singsang …

Tsalinde und Lys schauten sie erwartungsvoll an und Siegmund lachte, als habe jemand ihn gekitzelt.

Die Elfe erwiderte das Lachen mit einem vergnügten Lächeln, das zunehmend breiter und heiterer wurde. Ihre Augen blitzten vor Freude, und erneut hielt sie dem Jungen ihre Hand hin, wenn er damit spielen wollte.

Siegmund, der sich immer freute, wenn er Hände gereicht bekam, nahm die Hand der Baronin, hielt sie ganz fest und betrachtete sie von allen Seiten, als könne er etwas daraus lesen.

Dann wandte sie sich den Eltern zu. Sie sagte kein Wort, sondern nickte nur langsam einmal und durchaus feierlich.

Tsalinde lächelte stolz, wurde aber auch ein wenig blass um die Nase. “Also hat unser Sohn Mandra?”

Aufmunternd legte Lys seinen Arm um Tsalinde.

“Ja, so ist es.” Die Baronin strahlte.

“Und zum Teil eine … noch recht wilde Form, nach allem, was ich zu erkennen vermag. Ich empfehle Euch, ihn ausbilden zu lassen, sobald er nur ein wenig älter geworden ist.”

Entsetzt starrt Tsalinde sie an. “So früh? Er ist doch gerade erst einen Götterlauf alt.” Verzweifelt schaut sie zu Lys. “Ich will ihn nicht wegschicken.”

Tröstend nahm er sie in die Arme. “Ganz ruhig. Wir werden eine Lösung finden.”

Dann wandte er sich an die Baronin. “Nehmen die Akademien so kleine Kinder auf? Einen Magier speziell zur Ausbildung unseres Sohnes werden wir uns nicht leisten können. Oder gibt es andere Möglichkeiten? Ein Geode vielleicht, der ihm die Grundlagen lehrt bevor er in eine der Akademien geht?”

“Ich verstehe Euch”, sagte die Elfe beruhigend.

“Es wäre grausam, ein so junges Kind von seinen Eltern zu trennen, wenn es nicht die Not erfordert. Je eher er jedoch lernt, mit seiner Gabe richtig umzugehen, desto leichter wird es ihm später fallen. Es ist gut, dass sie früh erkannt wurde.”

Sie dachte kurz nach und legte ihre Hand an ihr Kinn.

Ein Kind so früh wie möglich mit der Gabe vertraut zu machen, war genau richtig.

Es aber von seinen Eltern zu trennen, wiederum nicht.

Schwierig.

“Es gibt in den Ingrakuppen sicherlich Geoden. Ob indes ein Geode die richtige Wahl wäre …?”, fuhr sie fort.

“In den Wäldern leben auch einige Duridia … Druiden.

Eine schwere Entscheidung, die ihr treffen müsst, denn das Kind kann sie noch nicht treffen.

Ich bin jedoch der Ansicht, dass es vielleicht klug wäre zunächst einmal zu sehen, wie er sich entwickelt. Ob er bestimmte Begabungen für das ein oder andere hat. Wenn ihr ihn zu den Druiden gebt, wird er ein Weiser des Waldes und dem Leben, wie Ihr es kennt, entfremdet. Sein Weg wäre dann vorgezeichnet.”

So, wie sie es sagte, klang Letzteres allerdings nicht so, als sähe sie darin einen Nachteil. Es klang einfach feststellend.

“Wenn Ihr es wünscht …”

Sie blickte nun beide abwechselnd und tief an …

“... dann vermag auch ich nach ihm zu sehen. Rodaschquell ist nicht so weit weg, und ich habe bereits ein anderes Kind aus den Reihen der Nordmärker unterwiesen und ihm geholfen, seinen Weg zu finden. Antwortet mir nicht gleich. Denkt einfach darüber nach, wenn Ihr wollt.” Ihren letzten Satz schloss sie mit einem heiteren Lächeln. Einladend. Unverfänglich.

Tsalinde wirkte erleichtert. “Danke, das ist ein sehr großzügiges Angebot und wir werden es in Betracht ziehen.”

Lys fügte hinzu: “Und wie ich sehe, versteht ihr euch gut mit ihm. Wir werden euch informieren, wie wir uns entscheiden. Habt dank.”

Das kam sehr schnell alles, das wusste Liana nur zu deutlich. Und keinesfalls wollte sie, dass die Eltern sich in irgendeiner Form gedrängt fühlten.

“Mir ist klar, welch’ bedeutsame Entscheidung es ist, die Ihr nun treffen müsst”, sagte sie bedächtig.

“Ihr habt gerade eben erst erfahren von den erwachenden Kräften des Kindes, und Ihr kennt mich ja auch erst seit gerade eben.”

Sie blickte beide abwechselnd an.

“Nehmt Euch die Zeit, die Ihr benötigt. Und wenn ich Euch in irgendeiner Weise beistehen kann oder Ihr weiteren Rat oder weitere Auskünfte benötigen solltet, so lasst es mich bitte wissen. Ich wünsche Euch in jedem Fall ein angenehmes Fest, und wir werden uns sicher noch begegnen.”

Sie nickte den beiden noch einmal freundlich zu und strich zum Abschied kurz über Siegmunds Arm.

~*~

Die Baroness

Etwas abseits, doch mit gutem Blick auf das ganze Geschehen, saß die Baroness Caltesa von Immergrün an einem Tischchen, das nur für sie gedeckt war. Auf einem gepolsterten Stuhl thronte die Frau, die sicherlich schon ihre 70 Götterläufe gesehen hatte, und trank aus einem Porzellantässchen ihren Tee. Nur Eingeweihte wussten, dass die alte Dame ihren Tee gerne mit einem Schnäpschen verfeinerte. Auch hier trug sie ein voluminöses Kleid, Grün mit Spitze, Handschuhe und aufgetürmten, fliederfarbenen Haar. Die grelle Schminke durfte natürlich nicht fehlen. Jedesmal wenn eine junge Edeldame vorbeikam, nickte sie dieser freundlich zu.

Die hohe Dame sorgte mit ihrem extravaganten Auftreten für Aufmerksamkeit besonders unter den Dorfbewohnern, die so edel gekleidete Herrschaften eigentlich nie zu Gesicht bekamen. So blieben Vorbeilaufende stehen, versuchten einen unauffälligen Blick auf die Dame zu werfen und gingen dann schnell weiter. Vor allem die jungen Mägde musterten die Dame besonders intensiv und neugierig. Immer wieder war ein Tuscheln unter den jungen Frauen zu hören.

Als Caltesa ihre Tasse absetzte, schaute sie in die Runde. “Du da, Kindchen. Komm doch einmal her.” Mit einem forschen Blick schaute sie eine der Mägde an.

Die junge Frau, die gerade ins Dorf gekommen war, um einige Besorgungen zu machen, blieb zögernd stehen und schaute sich verlegen um, nicht sicher, ob sie gemeint war. Merle trug ein weinrotes Mieder über einer hellen Bluse und einen graublauem Rock, am Gürtel eine dunkelbraune Ledertasche. Ihr hüftlanges dunkelblondes Haar fiel ihr fast offen über den Rücken; nur die vorderen Haarsträhnen hatte sie zu kleinen Zöpfen verflochten und am Hinterkopf festgesteckt. Als sie die Baroness erkannte, trat sie mit unsicherem Blick näher und knickste ehrerbietig. "Euer Wohlgeboren, wie kann ich Euch behilflich sein?"

“Dein Gesicht kommt mir bekannt vor. Wer bist du?”, fragte sie. “Übrigens ein sehr schönes.”

"Merle Dreifelder… von Weissenquell, Euer Wohlgeboren", antwortete sie hastig und schien leicht zu erröten. "Ich... ich, äh… diene im Anconiter-Kloster zu Albenhus. Vielleicht habt Ihr mich dort schon einmal gesehen?" Sie lächelte die elegante Dame freundlich an. "Was kann ich für Euch tun?"

Vorsichtig musterte die alte Dame die junge Frau. “Die Gemahlin von meinem Großneffen Gudekar. Setz dich zu mir.” Sie deutete auf einen Stuhl neben sich. “Verrate mir einmal, warum Gudekar dich in solch einem Kleid rumlaufen läßt.”

"Oh, habt Dank, Wohlgeboren..." Auf Merles blassem Gesicht breitete sich nun deutliche, verlegene Röte aus. Zögerlich setzte sie sich an den Tisch, strich ihr langes Haar zurück und legte die Hände im Schoß zusammen. "Mein Kleid? Bitte entschuldigt vielmals, ich habe heute noch so viel zu tun... Hochzeitsvorbereitungen, das Herrichten des Gutshauses... die Ankunft der Gäste..." Sie senkte verlegen den Blick und brach ab, da sie sich sicher war, dass sich eine Baroness nicht für die Details ihres Tagwerks interessieren würde. "Ihr hattet hoffentlich eine angenehme Reise? Ist Euch Eure Unterkunft genehm oder fehlt es an etwas?"

Caltesa zog eine ihrer dunklen, nachgemalten Augenbrauen hoch. “Du scheinst nicht besonders informiert. Mich, die Baroness, hat man ins Gasthaus gesteckt und nicht ins Gutshaus.” Doch zu Merles Überraschung tätschelte sie ihre Hand und lächelte. “Ich vergelte es dir nicht, ich wusste auch nicht, in was für ein ´Haus´ ich damals eingeheiratet hatte. Walram von Weissenquell stellte sich als … Versager heraus. Doch Götterseidank, hielt es ihn nicht lange auf Dere.” Dann schaute sie ihr tief in die Augen. “Gut arbeiten, kannst du? Und hilfst im Anconiter-Kloster? Dann kennst du dich sicher mit dem Wehwehchen von den Leuten aus.”

"Oh, es tut mir leid, Euer Wohlgeboren, dass die Unterkunft nicht Eurem Stand entspricht! Das Gasthaus „Zur Weißen Quelle" ist wirklich ein gutes und sauberes Haus, das versichere ich Euch! Aber ich kann Vater Friedewald gleich fragen, ob wir noch etwas umorganisieren können", schlug Merle diensteifrig vor. Überrascht zuckte sie leicht zusammen, dass die Dame ihre Hand tätschelte, bemühte sich aber um ein freundliches und offenes Lächeln. "Ja, Wohlgeboren, ich helfe bei der Versorgung der Kranken und Siechen. Ein wenig kenne ich mich mit Heilkräutern aus", berichtete sie stolz. Während sie sprach, merkte sie, wie sehr sie das Kloster und das vertraute Leben dort vermisste. Auch wenn die Familie Weissenquell sie unsagbar freundlich aufgenommen hatte - richtig zu Hause fühlte sie sich in Lützeltal nicht. "Besonders gerne arbeite ich in unserem Klostergarten. Und natürlich mache ich alle Hausarbeiten, die sonst im Kloster anfallen."

“Das würdest du für mich tun, Kindchen? Ich wäre äußerst dankbar!” Fast hatte Merle den Eindruck, dass die Augen der Baroness feucht schimmerten. “Du bist mir in der Menge aufgefallen, ein ungeschliffener Edelstein sozusagen. Doch es betrübt mich, dass du hier im Lützeltal verkommen wirst.” Mit einem Blick ließ die Baroness Merle wissen, dass sie ihr wieder ein wenig Tee nachschenken durfte.

Merle ergriff sogleich die Teekanne und goss der Baroness ein. Anbietend reichte sie ihr dann Zucker und das Milchkännchen. "Ich werde meinen Schwiegervater umgehend informieren, wie gerne Ihr im Gutshaus übernachten würdet. Der Herr von Mersingen und die Baronin von Rodaschquell sind ja schon angereist...", überlegte sie murmelnd, "...aber die Vögtin der Gräfin trifft erst in zwei Tagen ein, bis dahin..." Die junge Frau biss sich auf die Unterlippe und nickte Caltesa bekräftigend zu. "Wir schauen, was wir tun können." Auf die letzte Bemerkung der eleganten Dame senkte Merle erneut schüchtern die Lider. "Ach nein, Wohlgeboren, es gefällt mir wirklich sehr gut in Lützeltal! Es ist ein sehr gastfreundlicher Ort."

“Phex stehe mir bei, was für ein Glück. Es muss genau dieser sein, der dich zu mir geschickt hat.” Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee. “Sicherlich ist das Lützeltal … gastfreundlich. Doch eine Frau von deinem Format gehört hier nicht her. Wie ich schon sagte, ein ungeschliffener Edelstein, der geschliffen werden muss.” Wieder schaute die Baroness die junge Frau an. “Du solltest wissen, dass ich auf der Suche nach einer neuen Zofe bin. Die letzte hat sich einen reichen Edlen geangelt und ist nun selbst Herrin schöner Güter. Ich könnte mir gut vorstellen, eine junge Frau wie dich an meiner Seite zu wissen. Jemand , der hübsch ist, arbeiten kann und auch die Wehwehchen einer alten Frau lindern könnte.” Dann hob sie ihre behandschuhte Hand. “Bevor du was sagst, Merle. Du würdest immer schöne Kleider haben, ein komfortables Zuhause und die beste Gesellschaft. Ich bin Botschafterin für die Reichskanzlei und oft am Reisen, auch wenn es nun in meinem Alter nunmehr die Nordmarken sind. Der Lohn ist gut und es muss nicht für ewig sein. Könntest du dir so etwas vorstellen … oder kennst du eine junge Frau, der so etwas gefallen könnte?” Dann senkte sie ihre Hand wieder.

Am anderen Ende des Dorfplatzes erblickte Merle ihren Schwiegervater Friedewald, der gemächlich das Treiben im Dorf inspizierte.

Überrascht und sehr zaghaft lächelte Merle die Baroness an. "Oh, habt vielmals Dank für das Angebot... Und Euer Vertrauen. Aber ich... ich bin ja auch verheiratet und habe eine kleine Tochter... und Elenvina ist schrecklich weit weg, oder?" Bevor sie weitersprechen konnte, fiel ihr Blick auf Friedewald. "Oh, schaut, da ist ja Vater! Dann können wir ihn gleich mal fragen wegen des Zimmers." Sie stand auf und winkte ihren Schwiegervater heran. "Herr Vater! Vater Friedewald! Hast du einen Moment Zeit?"

Caltesa lehnte sich zurück und konnte ihr Lächeln kaum verbergen. Dann faltete sie ihre Hände zusammen. “Wie schön, Friedewald”, begrüßte sie ihn mit honigsüßen Worten.

Friedewald hatte Merle zugelächelt, als sie ihn rief, doch als er seine Tante erblickte, gefror sein Lächeln ein. “Tante Caltesa, welch eine… Ehre, dass Ihr uns mit Eurer Anwesenheit beglückt. Es ist ja schon so unglaublich lange her, dass wir uns zuletzt gesehen haben.” Doch noch lange nicht lang genug, ergänzte der Edle in Gedanken. “Wann war das noch einmal?”

Kurz tat die Baroness, als ob sie überlegen würde. “Ich kann mich nicht erinnern. Doch diesmal schien sich die Verwandtschaft an einen zu erinnern. Hab Dank dafür.” Dann hielt sie ihm die beringte Hand zu einem Begrüßungskuss hin.

Merle lächelte ihren Schwiegervater liebreizend an. "Die Baroness bat mich soeben, wenn möglich noch einmal zu überprüfen, ob wir Ihrer Wohlgeboren nicht vielleicht doch ein Zimmer im Herrenhaus anbieten könnten", trug sie schüchtern die Bitte der Dame vor.

“Wie ich hörte, steht das Zimmer für die Vögtin noch leer, wohl ein Versehen eurer Diener, eure geliebte Tante und Baroness nicht dort einzuquartieren”, setzte sie dazu. Noch immer wartete sie auf ihren Begrüßungskuss.

Als Friedewald Caltesas Geste richtig deutete, beugte er sich zu ihr, um ihr einen sachten Kuss auf die Hand zu geben. Dabei blickte er verzweifelt und abwehrend zu Merle. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, antwortete er kategorisch: “Nein, es tut mir leid. Das Herrenhaus ist voll. Mein Zimmer, ähm, das Zimmer, das für die Vögtin hergerichtet wurde, muss unbedingt frei bleiben, falls sie doch schon früher kommt. Und Ihr wollt doch nicht nach einer Nacht wieder umziehen? Glaubt mir, das Gasthaus ist von höchster Qualität.”

Zufrieden zog sie ihre Hand zurück. “Höchste Qualität? Nun, für Lützeltal vielleicht. Das Bett ist unbequem und das Zimmer ist zugig. Aber mach dir keine Sorgen, liebster Neffe. Ich ziehe wieder um, wenn die Vögtin kommt. Nur eine Nacht in einem besseren Bett, als das in dieser Kaschemme, ist es mir wert.” Sie griff wieder zur Teetasse und schaute Merle an.

Sichtlich peinlich berührt bemühte sich Merle um ein versöhnliches Lächeln. "Nun ja, wenn Ihre Wohlgeboren bei Ankunft der Vögtin wieder umziehen möchte..." Sie zuckte hilflos mit den Achseln. "Im Moment steht das Zimmer ja tatsächlich leer."

Friedewald blickte zu Merle und verdrehte die Augen. Doch er wollte seine Schwiegertochter nicht bloßstellen, indem er ihr widersprach. Deshalb bot er an: “Liebe Tante, wenn es Euch wirklich nichts ausmacht, für lediglich EINE Nacht das Quartier hin und her zu wechseln, dann werde ich Bernhelm darum bitten, Euer Gepäck zu holen.”

Merle blickte strahlend zwischen Caltesa und ihrem Schwiegervater hin und her. “Danke, Herr Vater! Ist das nicht wundervoll, Euer Wohlgeboren?” Die junge Frau war glücklich, dass sich nun doch eine Lösung gefunden hatte. Fragend schaute sie zu der alten Dame, deren Eleganz und Grandezza sie bemerkenswert fand. “Soll ich Euch beim Umzug behilflich sein?”

Nun lächelte auch die Baroness und tätschelte Merles Hand. “Ach, wie fein, mein Kindchen. Das würde ich sehr begrüßen.” Dann schaute sie Friedewald mit einem überlegenen Blick an. “Was Ihr für ein Glück mit dieser jungen Dame hier habt. Ungewöhnlich viel Glück wage ich gar zu sagen.” Dann schob sie die Tasse von sich. “Dann sollten wir nicht warten. Holen wir mein Gepäck.”

“Ja, Merle ist ein wahres Goldstück.” Friedewald tat so, als hätte er Caltesas Bemerkung tatsächlich als Lob für Merle und nicht als Kritik an ihm selbst gesehen. “Ihr wollt doch Euer Gepäck nicht selbst tragen? Bernhelm und Marno können die Sachen holen. Ich gebe ihnen Bescheid.”

Die alte Dame lachte trocken. “Deine Scherze waren nie gut. Aber diesen lass ich dir durchgehen, Friedewald. Ich erwarte mein Gepäck in der Schlafkammer, wenn ich mit Merle diese erreicht habe." Dann schaute sie Merle an. “Mein Goldstück, lass uns gehen. Ich verspreche auch, mir Zeit zu lassen.” Sie schenkte der jungen Frau ein ehrliches Lächeln.

‘Fliegen können die beiden nun auch wieder nicht’, dachte Friedewald, doch seiner Tante antwortete er: “Es wird so schnell gerichtet, wie nur irgend möglich.” Dann wandte er sich an seine Schwiegertochter. “Merle, zeigst du Tante Caltesa alles, was im Dorf gerichtet wurde? Vielleicht mag sie ja einige der Spezialitäten probieren.”.

“Oh ja, gerne!”, rief Merle eifrig. “Ich zeige Euch gerne das Dorf, Wohlgeboren! Viele der Stände haben gar Köstliches an Speis und Trank anzubieten.” Merle bemerkte durchaus den Widerwillen ihres Schwiegervater und hoffte, ihm dadurch dienlich zu sein, die alte Dame so schnell wie möglich aus seinen Augen zu schaffen. “Bis später, Vater!” Sie verneigt sich kurz und hielt sich bereit, die Baroness zu begleiten.

Tonlos formten Friedewalds Lippen das Wort ‚Danke‘ in Merles Richtung, so, dass Caltesa es fast nicht sehen konnte.

~*~

Der Edle auf dem Fest

Friedewald von Weissenquell lief gemächlich über den Dorfplatz und inspizierte das Ergebnis der Bemühungen seiner Untertanen. Er wirkte zufrieden. Alle hatten mit angepackt, und so entstand etwas Großes, en Fest, wie es Lützeltal seit Jahren nicht gesehen hatte, Hier und da grüßte er die Dorfbewohner, erkundigte sich nach dem Wohlergehen, probierte an den Ständen die verschiedenen Köstlichkeiten, reißte einen Witz, oder hörte sich verständnisvoll die Sorgen der Bauern an.

Eine andere Famile suchte sich gerade einen freien Tisch und beim Rückwärtsgehen stieß der Edle fast mit den Gästen zusammen. Es waren Tsalinde von Kalterbaum mit ihrem Mann Lys von Kargenstein und dem kleinen Sohn Siegmund. Begleitet wurden sie von Isavena, der Zofe der Edlen.

Beim Anblick des Edlen strahlte Tsalinde über das ganze Gesicht. “Euer Wohlgeboren von Weissenquell, wie schön euch zu sehen.”

Bei der Reaktion seiner Mutter lachte auch Siegmund und begrüßte den Herrn mit einem Lachen. Er hatte die roten Haare seiner Mutter, wenn auch mit mehr Locken, und deren grüne Augen geerbt.

Friedewald drehte sich um. Zunächst wusste er nicht recht, wer ihm dort gegenüberstand, doch dann erkannte er die Dame. “Eure Wohlgeboren von Kalterbaum! Es freut mich, dass Ihr es einrichten konntet, zu kommen!” Friedewald schaute Ihrer Begleiter an. “Dann nehme ich an, dies ist Euer werter Gemahl?”

“Darf ich vorstellen? Dies ist Lys von Kargenstein, mein Gemahl und dies ist Friedewald von Weissenquell, der Herr, dem wir die Einladung zu diesem wundervollen Fest zu verdanken haben.”

“Es ist mir eine Ehre, euer Wohlgeboren, euch kennen zu lernen.”

“Die Freude ist ganz auf meiner Seite!” Es wirkte jedoch, als ob sich der Edle nicht sicher war, ob er sich wirklich freuen sollte. Das verworrene Beziehungsgeflecht machte Friedewald zu schaffen.

Dann deutete Tsalinde auf ihre Isavena. “An meine Zofe Isavena, Tochter der Omir könnt ihr euch sicher noch erinnern, oder?”

Isavena machte eine brave Verbeugung.

“Aber selbst verständlich erinnere ich mich. Es ist mir eine Freude, euch wieder zusehen.” Dann beugte er sich zu dem Jungen und tätschelte ihm auf den Kopf. “Und du musst dann wohl der kleine Siegmund sein, mein…” Friedewald verkniff sich, das Wort in Lys’ Gegenwart auszusprechen. “Euer Sohn. Er kommt ja ganz nach der Mutter!”

Lys lächelte. “Ja, er kommt nach der Mutter, aber mir scheint, er hat auch viel von seiner väterlichen Seite.”

Siegmund strahlte, als Friedewald ihm den Kopf tätschelte und hielt ihm dann eine kleine Puppe hin. “Guka!” Die Puppe trug eine grüne Robe.

Friedewald schaute etwas zweifelnd und kratzte sich mit der Linken durch sein ergrautes Haar. Doch dann lächelte er. “Na sowas, da hast du ja eine feine Puppe!” Friedebald richtete sich auf und blickte Tsalinde fragend an. “Und Ihr seid sicher, dass Ihr das eine gute Idee findet?”

Tsalinde wurde knallrot im Gesicht. “Nein, eine gute Idee war das sicher nicht. Das mit der Puppe ist ein längere Geschichte. Wie ihr vielleicht wisst, male ich gerne und habe einige meiner Abenteuer zu Papier gebracht. Abends, zum Schlafengehen lese ich Siegmund stets eine Geschichte vor, oder erzähle eine. So erzählte ich auch von meinen Abenteuern mit meinen Gefährten, zu denen auch euer Sohn gehörte und zeigte ihm dabei meine Bilder. Siegmund war gleich vernarrt in Gudekar. Vielleicht, weil dessen Robe grün ist und grün unsere Hausfarbe ist. Jedenfalls hat Lys’ Mutter das mitbekommen und wollte dem Jungen eine Freude machen. Sie nähte ihm die Puppe und Siegmund schloss das Geschenk sofort in sein Herz. Alle Versuche, ihm die Puppe abzunehmen oder dieser etwas anderes anzuziehen, endeten mit herzzerreißenden Tränen. Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht.”

Innerlich musste der Edle schmunzeln, doch ließ er sich dies nicht anmerken. “Nun, da kann man wohl nichts machen, Er ist wohl eben solch ein Sturkopf, wie sein Vater es als Kind war.” Der alte Gutsherr wandte sich an Tsalindes Ehemann. “Wie habt Ihr Euch in eure neue Rolle als treuer Ehemann und liebender Familienvater eingefunden? Vermisst Ihr nicht die aufregenden Zeiten Eurer Anstellung bei den Plötzbogenern?” Es war ziemlich deutlich eine Provokation.

“Es ist eine Umstellung.” Dann schaute Lys zu seiner Gattin, “Und eine Herausforderung. Ehrlich gesagt, war Gut Kalterbaum bisher kaum geschützt und es ist interessant mit den Mitteln die mir zur Verfügung stehen meine Familie abzusichern. Was den liebenden Ehemann und Vater angeht, so fällt es mir deutlich leichter, bei solch einer wundervollen Familie.” Bei diesen Worten legte er seinen Arm um Tsalinde und Siegmund und machte damit deutlich, dass er zu seinem Traviabund und der kleinen Familie stand.

Friedewald nickte. Lys hatte einen wunden Punkt angesprochen. Den Schutz mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu gewährleisten. Nach Gudekars Warnung Ende 1043 wurde Lützeltal für einen halben Götterlauf vorübergehend von zwei zusätzlichen Wachen beschützt. Doch aus Kostengründen musste diese Maßnahme auf eine Person rationalisiert werden, nach dem bis dahin nichts geschehen war. “Ja, wir haben ebenfalls für die Sicherheit des Guts Sorge geleistet. Eine Eurer ehemaligen Schwertgesellinnen, Herlinde von Kranickau, sorgt für unsere Sicherheit. Ihr müsstet sie kennen.”

“Ja, ich kenne Herlinde von Kranickau, in ihr habt ihr eine gute Beschützerin gefunden. Wir haben alles etwas umorganisiert und die treuen Bewohner des Gutes und der nahegelegenen Häuser herangezogen, sofern diese ein gewisses Kampfgeschick bewiesen haben. Nun haben wir zwar wenige ausgebildete Soldaten, doch eine große Anzahl tapferer Männer und Frauen, die bereit sind, ihr und unser Gut mit allen Mitteln zu verteidigen. Einen solchen Willen darf man niemals unterschätzen. Darüber hinaus konnte ich mit Angroschim der Gegend gute Vereinbarungen treffen, die uns allen zugute kommen.”

Tsalinde bemerkte eine junge Frau, die mit einer Schale eines exotisch aussehenden Essens hinter Friedewald stand und schüchtern wartete. Der Edle bemerkte Tsalindes fragende Blicke und drehte sich dann um. Dort stand Merle Dreifelder von Weissenquell.

“Ach Merle, warum stehst du so einsam rum, gesell dich doch zu uns!” Erst jetzt fiel Friedewald sein Fauxpas auf. Das war vielleicht nicht die beste Idee, die er heute hatte. Er senkte den Kopf, kniff die Augen zu, biss sich auf die Oberlippe und kratzte nervös hinter seinem Ohr. Aber es war ausgesprochen.

Merle blieb kurz zögernd stehen, dann gab sie sich einen Ruck und trat näher. Sie wusste, dass sie ihrem Schwiegervater vorhin schon mit den Wünschen der alten Baroness auf die Nerven gefallen war. Mit unsicherem Blick musterte sie die fremden Herrschaften, deutete einen Knicks an, murmelte “Sehr erfreut” und neigte den Kopf vor Friedewald. Die junge Frau trug eine einfache, helle Bluse, darüber ein grobes, weinrotes Mieder mit graublauem Rock, am Gürtel eine dunkelbraune Ledertasche. Ihr fast hüftlanges dunkelblondes Haar fiel ihr heute fast offen über den Rücken und die Schultern; nur die vorderen Haarsträhnen hatte sie zu Zöpfen verflochten und am Hinterkopf zusammengesteckt. Sie wusste, dass Gudekar es mochte, wenn sie ihre Haare offen trug, auch wenn es bei der Arbeit entsetzlich unpraktisch war.

"Ich wollte wirklich nicht schon wieder stören, Herr Vater", begann Merle sichtlich befangen zu erklären, "...der Borkmund", sie wies mit dem Kopf zu einem der bäuerlichen Marktstände, "...der hat mir das hier in die Hand gedrückt und wollte unbedingt, dass du es jetzt gleich verkostet. So lange es heiß ist... Er sagte…", sie dachte kurz nach und versuchte sich an den genauen Wortlaut zu erinnern, "...es ist 'Wurstragout mit scharfer Tunke und in Öl gesiedeten Streifen der Itok-Knolle'." Merle, die während des Sprechens etwas lebhafter geworden zu sein schien, lächelte freundlich und drückte ihrem Schwiegervater die Probierschale auffordernd in die Hand. Nach einer kurzen Pause reichte sie ihm noch eine kleine Gabel aus Holz hinterher, die sie in der anderen Hand gehalten hatte. "Der Borkmund möchte unbedingt wissen, was du davon hältst. Ob die Tunke noch würziger sein müsste und so.” Interessiert beobachtete sie, wie Friedewalds Urteil zu der neuen Spezialität aussehen würde.

“Aber Merle, du störst doch nicht. Ja, ja, der gute Borkmund, der lässt sich immer wieder neue Merkwürdigkeiten mit seinen Produkten einfallen. Na, dann lass mal probieren!” Friedewald nahm die Gabel und spießte zunächst ein Stück Wurst und dann einen Knollenstreifen auf. Das ganze tunkte er in die rötliche Flüssigkeit. Genüsslich kaute er auf dem Bissen. “Gar nicht mal so schlecht … für den Borkmund. Ich glaube, wenn er noch einen Schuss Essig in die Tunke mischt, wird das ganz gut.” Dann reichte er die Schale zu Tsalinde. “Was meint Ihr, Wohlgeboren von Kalterbaum?”

Ihr Schmunzeln wurde breiter, da es Friedewald so gut zu schmecken schien. Sie wollte ihn gerade fragen, ob seiner Meinung nach auch helle Soße zu dem Gericht passen würde, da sprach ihr Schwiegervater den Namen der edlen Dame aus und Merle entglitt das Lächeln, als hätte eine Ohrfeige sie getroffen. Unfähig, ein Wort rauszubringen, presste sie die Lippen zusammen und musterte mit großen braunen Augen die kleine Familie, die da vor ihr stand. Die elegante, rothaarige Edle, ihr stattlicher Gemahl, die hübsche Angroschna-Zofe... der kleine Junge, ebenfalls rothaarig, nur ein wenig jünger als Liudbirg... Ja, die Ähnlichkeit mit Gudekar war zu sehen, wenn man danach schaute. Als Merle spürte, wie ihr Herz wild zu rasen begann, atmete sie ein paar Mal tief ein und aus. Sie hatte diese Begegnung gewollt, hatte sich bestimmt tausendmal gedanklich darauf vorbereitet - jetzt würde sie das auch durchstehen. Auch wenn ihre Hände sich krampfhaft in den Stoff ihres Rockes klammerten, zwang sie sich zu einem gelassenen Gesichtsausdruck und wartete still auf Tsalindes Antwort.

Mit einem dankbaren Lächeln nahm Tsalinde die Schale entgegen, wandte sich dann aber an die junge Frau. “Merle Dreifelder von Weissenquell? Dann seid ihr Gudekars Gattin? Ich freue mich sehr, euch kennen zu lernen. Gudekar hat viel von euch erzählt.”

In dem Moment wurde Tsalinde klar, dass sie einen Fehler beging. Siegmund streckte seinen Arm mit der Puppe in der grünen Robe Merle entgegen und sagte lachend: “Guka!”

Merle hielt befangen inne, wollte sich gerade eine angemessene Antwort zurechtlegen, als der Kleine ihr die etwas krude aussehende Puppe entgegen hielt. Sie stutzte, schaute 'Guda' mit gerunzelter Stirn an... und plötzlich brach, ohne dass sie es aufhalten konnte, ein helles, fast befreites Lachen aus ihrer Kehle heraus. War das hier nicht eine unsagbar absurde, seltsame Situation? Sie fing sich wieder, strich sich das Haar zurück und nickte dem Jungen mit bemüht ernsthafter Miene zu. "Ja, du hast Recht! Das ist der Guda, wie er leibt und lebt, genauso sieht er aus!" Wieder musste sie ein Grienen unterdrücken, dann blickte Merle peinlich berührt in die Gesichter der Erwachsenen um sich herum und biss sich auf die Unterlippe. Oh nein, was für einen überspannten, merkwürdigen Eindruck musste sie auf die Edle und deren Familie jetzt nur machen? Verlegen deutete sie eine Verbeugung an. "Wohlgeboren von Kalterbaum, es freut mich auch sehr. Wirklich! Es ist schön, dass Ihr hergekommen seid", sagte sie mit einem aufrichtigen, offenen Lächeln und hoffte, dass ihr Gesichtsausdruck noch mehr als ihre Worte vermitteln würde, dass sie es ernst meinte.

Sofort war Tsalinde erleichtert und schloss die junge Frau in ihr Herz. Dieses herzliche Lachen tat in der Seele gut. Umso mehr macht ihr das schlechte Gewissen zu schaffen. Sie hatte mit dem Gatten dieser Frau ein Kind, hatte ihren Teil dazu beigetragen, dass Gudekar seiner Frau untreu war.

Sie stutzte. Warum fand Merle es nicht befremdlich, dass Siegmund eine Gudekar-Puppe hatte? Wusste sie etwa, dass dieses Kind ein Sohn ihres Mannes ist? Geistesabwesend probierte sie die Knollenstreifen und wandte sich dann an Friedewald. “Das ist wirklich köstlich. Bitte richtet eurem Herr Borkum aus, dass dieses Gericht wirklich vorzüglich schmeckt.”

Friedewald entspannte sich in dem Moment, in dem Merle zu lachen begann. Dennoch war ihm nicht wohl, als der Kleine – sein Enkel – das Gespräch auf Gudekar brachte. Doch Merle behielt die Beherrschung. Erstaunlich. Was für eine charakterstarke Frau seine Schwiegertochter doch war, auch, wenn dies oftmals auf den ersten Blick nicht so schien. Gudekar hatte damals wirklich eine gute Wahl getroffen. Wäre da nicht der Ausrutscher mit Tsalinde gewesen… Schließlich holte Tsalindes Lob für die Speise ihn aus seinen Gedanken. “Ähm, ja, das werde ich sehr gerne ausrichten.” Er war sich unsicher, ob er den beiden Frauen, die sich scheinbar trotz der Umstände gut zu verstehen schienen, Raum für ein Gespräch geben sollte, oder ob er dieses hier abbrechen sollte. Er entschied sich, erst einmal abzuwarten.

Merle schwieg für einen längeren Moment und überlegte, ob sie sich lieber empfehlen sollte, dann besann sie sich und nahm ihren Mut zusammen. “Wohlgeborene Dame, ich wollte Euch noch etwas sagen…”, begann sie vorsichtig. “Ich… äh… ich weiß, dass Gudekar nicht so… glücklich ist, dass Vater Euch eingeladen hat, aber…”, für einen quälenden Moment begann sie sich vorzustellen, wie es zwischen dieser sympathisch lächelnden Dame und Gudekar gewesen sein mochte, was sie wohl getan hatten; suchte in ihrer Fantasie nach Bildern, die zu den Gefühlen passten, die sie empfangen hatte… Krampfhaft versuchte Merle, sich innerlich zusammenzureißen und Tsalinde direkt und fest in die Augen zu schauen. Sie hatte sich vorgenommen, stark und tapfer zu sein und das würde sie jetzt auch sein. “Ich wollte Euch sagen, dass ich den Groll meines Mannes, worum auch immer es da geht, nicht teile”, brachte sie deutlich selbstbewusster heraus. “Ich bin froh, dass Ihr hier seid. Mit Eurem Sohn.” Sie schaute den bezaubernden kleinen Jungen mit einem undefinierbaren Ausdruck an, der sich in ein trauriges, sanftes Lächeln verwandelte. “Also, ich hätte nichts dagegen - natürlich nur, falls Ihr das möchtet! - wenn Euer Sohn und unsere Liudbirg Rotrude sich kennenlernen. Ich glaube, dass es in Travias Sinne wäre.”

Tsalinde setzte ihren Sohn auf den Boden zu ihren Füßen. Woraufhin Siegmund gleich zu seinen Großvater krabbelte und sich an seinen Beinen hochzog.

Friedewald kniete sich zu seinem Enkel und versuchte, ihn mit ein paar Späßchen zu beschäftigen.

Lachend fiel Siegmund auf seinen Po zurück, strahlte seinen Großvater an und ließ sich bespaßen.

Unterdessen verschlug es Tsalinde kurz die Sprache. Das war genau, was sie sich gewünscht hatte. “Ja, das wäre wundervoll. Ich bin euch sehr dankbar für diese freundlichen Worte und ehrlich gesagt auch sehr erleichtert, dass ihr uns so herzlich willkommen heißt.” Niemals hätte sie auch nur zu hoffen gewagt, dass Merle so freundlich zu ihr war, obwohl sich der Verdacht immer mehr erhärtete, dass Gudekar ihr alles erzählt hatte. Sie hoffte nur, dass Gudekar zu dieser wundervollen Frau herzlicher und wärmer war als zu ihr selbst.

Merle musste lachen, als sie den goldigen kleinen Siegmund mit seinem Großvater beobachtete, dann wandte sie sich wieder Tsalinde zu. "Gut, dann machen wir es so!" nickte sie freudig und betrachtete mit sichtlicher Verwunderung ihr Gegenüber. Wie konnte es sein, dass sie diese Frau, der sie eigentlich mit Verachtung begegnen sollte oder nach Gudekars Aussage zumindest mit Argwohn, auf den ersten Blick so liebenswert fand? Es fühlte sich an, als würden sich die verkrampften, verkrusteten Knoten aus düsterer Grübelei und Traurigkeit, die seit zwei Götterläufen ihr Herz schmerzhaft zusammen zogen, ganz plötzlich auflösen - als könnte sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder befreit aufatmen. Sie strahlte Tsalinde mit leuchtenden Augen an und musste gleichzeitig schlucken, um die Tränen zurückzuhalten. "Also, ich könnte meine Kleine jederzeit holen, Euer Wohlgeboren. Wann immer es Euch gut passt. Ich will mich aber auch nicht aufdrängen oder so..."

Tsalinde freute sich, dass es sich ganz offensichtlich nicht nur um ein leeres Angebot handelte, schaute dann aber zu Lys und Isavena. “Wenn ihr mögt, könntet ihr euch gerne ein wenig umsehen. Ich bin ja in guter Gesellschaft und Siegmund wird es gut tun, mal ein wenig vom Trubel wegzukommen."

Lys nickte. “Gute Idee, dann schaue ich mal, ob auf dem Hof Wohlgedei alles in Ordnung ist. Ich bin gespannt, ob sich der Hausherr durchsetzen konnte.” Er wandte sich an Merle. “Der Bauer Wohlgedei war nämlich der Meinung, für ein edles Ross wie unseres gehöre es sich nicht, einfach auf der Koppel zu stehen, es müsse in einen Stall. Da waren unser Hengst und unser Kutscher jedoch gänzlich anderer Meinung.” Lachend stimmte Isavena ihm zu. “Gute Idee, da komme ich mit. Ich wollte ohnehin unsere Kleider aus den Truhen holen und ich glaube unser kleiner Racker sollte sich etwas frisch machen. Ich bringe ihn dann gleich wieder zurück.” Sie verabschiedeten sich von den beiden Damen und gingen gemeinsam zum Hof zurück, während Siegmund zum Abschied winkte.

Dann wandte sich Tsalinde an Merle: “Ich würde mich freuen, wenn ihr eure Tochter holen würdet. Dann suche ich für uns derweil ein schönes Plätzchen, etwas Abseits, wo die beiden in Ruhe spielen und wir uns vielleicht unterhalten können.” Sie schaute Merle hoffnungsvoll an.

Merle nickte Lys und Isavena zum Abschied lächelnd zu. Sie war überrascht, wie glücklich sie sich plötzlich fühlte, wie dankbar, so freundliche Leute kennen zu lernen. "Wollen wir vielleicht zum Lützelbach gehen?" wandte sie sich lebhaft an Tsalinde. "Firunwärts gibt's da eine breitere Stelle mit einer kleinen Wiese. Im Sommer kann man dort gut baden, aber jetzt um die Jahreszeit ist es auch hübsch." Verlegen zuckte sie mit den Achseln. Sie wusste ja nicht, ob sie die Edle mit ihrem Geplapper langweilte. "Ähm, dann hole ich mal schnell die Kleine vom Gutshof. Ciala passt gerade auf sie auf... ähm, das ist meine Schwägerin. Ich werd' ihr wohl besser nicht erzählen, was ich vorhabe. Sie ist lieb und meint es gut, aber sie mischt sich auch gerne in alles ein..." erklärte sie freimütig, biss sich dann aber auf die Unterlippe und warf einen schnellen Seitenblick zu Friedewald, ob dieser ihre letzte Bemerkung mitbekommen hatte.

Das hatte er, musste aber lachen. „Oh ja, mein Liebes, das tut sie. Aber sie meint es doch nur gut.“ An Tsalinde gewandt erklärte er: „Ciala nennt das ‚sich um alles kümmern‘. Aber auf Kalmans Frau ist schon Verlass. Ich habe ein ungeheures Glück mit meinen beiden Schwiegertöchtern. Merle, sag Ciala lieber wirklich nichts über Euren Plan. Ich könnte mir vorstellen, sie…, sie,…, sie könnte gewisse Vorbehalte haben. So, wenn die Damen sich nun so gut zusammen unterhalten können, dann empfehle ich mich und schaue mal nach den anderen Gästen.“

Erleichtert nickte Merle ihrem Schwiegervater zu und blickte ihn liebevoll und dankbar an. Vor allen Weissenquellern war er vielleicht derjenige, der sie am allermeisten als ‘richtiges’ Familienmitglied aufgenommen hatte. In einem Anflug plötzlichen Gefühlsüberschwangs drückte sie ihn in eine kurze Umarmung. “Nein, hatte ich nicht vor”, erwiderte sie leise. “Und dem Gudekar sag ich erstmal auch nichts.” Dann schenkte sie Tsalinde ein flüchtiges Lächeln. “Spätestens in einem halben Stundenglas bin ich wieder hier! Habt Dank nochmal!”

Friedewald erwiderte die Umarmung und drückte seine Schwiegertochter kräftig an sich. “Es wird schon wieder, meine Tochter! Es ist gut, wenn ihr euch aussprecht.” Es war nicht offensichtlich, mit wem sich Merle in seinen Augen aussprechen sollte.

Merle nickte erneut dankbar, lächelte ihm warm zu und eilte in raschen Schritten, mit wehendem Haar, in Richtung des Gutshofes.

~*~

Am Tisch des Angroscho

Limrog Kupferblatt, der hügelzwergische Dorfschmied war endlich zur Ruhe gekommen. Die letzten Tage waren von Arbeit erfüllt, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Doch natürlich war auf ihn Verlass, und so waren alle Aufträge für das Hochzeitsfest rechtzeitig fertig. Das ist der Vorteil, wenn das Feuer das eigene Arbeitswerkzeug ist: man kann auch bis spät in die Nacht arbeiten, auch wenn es bereits dunkel war. Immer wieder kamen Beschwerden der großen Dorfbewohner, die sich in ihrer Nachtruhe gestört fühlten, doch wie hätte die Arbeit sonst rechtzeitig fertig gebracht werden? Das Schlimmste jedoch war, dass der Herr ihm nun auch noch eine ungestüme, junge Frau vom großen Volk ins Haus geschickt hatte. Er hatte nichts gegen Menschenfrauen, aber diese Dame, die Ingra-Geweihte Imelda von Hadingen, hatte ihn versetzt. Sie sollte schon längst bei ihm aufgeschlagen sein, doch wurde lediglich ihr Gepäck gebracht. Von ihr selbst war keine Spur. Fast hätte er vor Warten das Fest verpasst. Sollte sie doch ihn suchen, wenn sie an ihr Gepäck wollte. Wenigstens hatte sie wohl den richtigen Glauben, wie ihm gesagt wurde, wenn auch in einer ungewohnten Auslegung.

Nun konnte Limrog endlich in Ruhe das Essen und das Bier genießen. Dazu hatte er sich einen der noch leeren Tische gesucht, weit ab von der Bühne. Er ließ seinen Blick über das feiernde Volk schweifen, da fiel ihm ein Paar von Angroschim auf, das er schon lange nicht mehr im Tal gesehen hatte: Borix und Murloschtaxa. Zuletzt waren die beiden wohl damals hier, nachdem die Edle Dame verunglückt war. Doch er glaubte seinen Augen kaum: aus Richtung des Gutshofs näherte sich ein weiterer Zwerg, Erbosch, Sohn des Kalax, dem Festplatz. So viele Angroschim hatte er in Lützeltal noch nie gesehen.

Der Zahlmeister des Rosenhainer Kontors war bei Leibe nicht bester Laune. Mehrere Tage auf dem Rücken eines Ponys hatten sie verschwendet, um der Hochzeit des Kontormeisters beizuwohnen. Die kurzen Leben der Großen war es ja schon kaum wert, eine Hochzeit zu feiern. Kaum hatten sie sich ewige Treue geschworen, flogen schon die Fetzen. Und dann auch noch die des Herrenfelsers? Dann würde der ja gar nicht mehr zu ordentlicher Arbeit kommen. Immer nur rumschmusen und die vielen Kinder der Menschen hüten. Dafür musste er sich seinen Allerwertesten aufscheuern? Entsprechend sauertöpfisch brummelte Erbosch in seinen langen, dichten Bart. "Wo bekomme ich ein ordentliches Bier hier?", grollte über den Festplatz.

Die Köpfe der umstehenden Menschen schauten den Zwerg verwundert oder verärgert an, doch kaum jemand hatte Lust, diesem Griesgram zu antworten. Dann hörte Erbosch jedoch eine rauhe, kehlige Stimme.

“Ein ordentliches Bier sucht Ihr? Das werdet ihr in diesem Tal nicht finden. Da solltet Ihr lieber gleich nach Ferdok weiter reisen”, raunte ihm Limrog zu, der an dem Tisch in unmittelbarer Nähe saß.

“Bei Angroschs flammendem Bart, das habe ich mir schon gedacht”, grollte der Erzzwerg. Er war in die typische, schwarze Lodentracht seines Volkes gehüllt und machte dem Ruf dieses Zwergenschlags, durchwegs in Gedanken bei Wichtigerem zu sein, alle Ehre. “Da ist wirklich nichts zu machen?”

Limrog musterte den Gast neugierig. Dann entschied er, dass es befriedigend wäre, endlich einmal wieder ein Gespräch in der Sprache seines Volkes zu führen. So wechselte der Schmied ins Rogolan. „Nicht hier auf dem Dorfplatz, nicht vor all den Gigrim.“

Das ließ Erbosch inne halten. Seine buschigen Augenbrauen wanderten nach oben, während er sich schwerfällig auf die Bank gegenüber Limrog niederließ. „Aha! Also doch ein Lichtblick. Wo verwahrt Ihr den geheimen Schatz, Bruder?“

Nachdem der Bergvogt von Ishna Mur mit seiner Frau erst am heutigen Tag angekommen waren und sie auf dem Zeltplatz ihr Quartier aufgeschlagen und Friedewald ihre Aufwartung gemacht hatten, waren beide Arm in Arm durch das Dorf zum Festplatz flaniert.

Wie meist wenn sie ihre Bergwacht verließen, waren sie hier fast nur von Kurzlebigen umringt, doch in diesem Moment drangen Gesprächsfetzen in ihrer Muttersprache in ihre Ohren.

“Borix, Liebster, hörst Du das auch?”

“Ja, klar, hier geht es um etwas zu trinken!”

Er lauschte kurz und zog dann seine Gemahlin in die Richtung eines etwas abseits stehenden Tisches, an dem sich zwei Angroschim unterhielten.

Mit “Garoschem! Ihr redet von gutem Bier?” begrüßte Borix die beiden Sitzenden.

Murla, die die beiden diskutierenden Angroschim erst einmal musterte, während ihr Mann, wie üblich, lospolterte, erkannte den alten Schmied.

“Limrog? Limrog!” freute sie sich und lief auf den Schmied zu und streckte ihm beide Arme entgegen. “Schön Dich zu sehen.”

“Murla! Borix!” Der Dorfschmied, versuchte von der Bank, auf der er Platz genommen hatte, aufzustehen, was ihm jedoch etwas Mühe bereitete, da die Menschen beim Aufbau der Festreihen mal wieder nicht gedacht hatten, dass er deutlich kürzere Beine und dafür einen kräftigeren Körperumfang hatte als Ihresgleichen. Freudig umarmte er die ehemalige Hebamme aus Albenhus. “Setzt euch doch zu uns! Das ist …”, dann fiel ihm auf, dass sich sein Gegenüber gar nicht vorgestellt hatte.

„Erbosch, Sohn des Kalax“, brummte dieser. Die Wahrscheinlichkeit eines guten Humpens Bier sanken rapide. Er fummelte ein Monokel aus seiner Brusttasche, dem einzigen ‚Ornament‘ der Lodenjacke, und kniff es sich in die rechte Augenhöhle. Damit musterte er die beiden Neuankömmlinge.

„Das ist Erbosch, Sohn des Kalax”, wiederholte Limrog den Namen. “Wir sprachen gerade über das schlechte Bier vom Rodenbach. Das schmeckt selbst den Gigrim so schlecht, dass sie gesüßte Fruchtsäfte hineinschütten, um es trinken zu können! Ekelhaft!“

“Das ist meine Gemahlin, Murloschtaxa, Tochter der Mokloscha”, stellte Borix erst seine Frau vor. “Und mein Name ist Borix, Sohn des Barax.”

“Du darfst aber, wie alle, ruhig Murla zu mir sagen”, verbesserte sie ihren Mann. Dann blinzelte sie Limrog zu. “Wenn Du so über das Bier herziehst, dann hast Du doch noch bestimmt ein oder zwei Fäßchen in der Schmiede.

Oder müssen wir etwa das Fass aufmachen, dass wir für unsere Rückreise dabei haben?”

“Aber nein, Murla, also noch nicht heute zumindest!” Limrog winkte eifrig ab. “Ich wollte eh’ gerade Erbosch den Keller meiner Schmiede zeigen gehen. Kommt mit. Aber lasst uns vorher noch etwas von dem Braten dort vorne holen, wir wollen ja nicht so dürr werden, wie die Weiber der Großen. Der Dankhuld macht den Krustenbraten ganz annehmlich. Man könnte den fast genießen, wenn es wenigstens eine ordentliche Biersoße dazu gäbe.” „Dazu ist ordentliches Bier unverzichtbare Voraussetzung“, jammerte der Erzzwerg.

Als die vier Angroschim aufbrechen wollten, kam ihnen eine weitere, junge Angroscha namens Isavena, Tochter der Orima entgegen. Sie lief einem quirligen Menschenjungen mit leuchtend roten Haaren über den Weg.

Isavena, Tochter der Orima, ging mit Siegmund von Kalterbaum an der Hand über den wuseligen Dorfplatz, als dieser sich plötzlich losriss und auf die Zwerge zulief. “Schim! Schim!”

Blitzschnell griff sie nach ihm und konnte ihn gerade noch erreichen, bevor er sich auf den Schmied stürzte. Verlegen nahm sie das kleine Kind auf den Arm und wandte sich an die Angroschim. “Ich bitte um Verzeihung meine Herren, ich wollte sie nicht stören.”

Währenddessen streckte der Junge beide Arme nach den Zwergen aus und lachte herzlich. “Schim!”

“Meine Herren?” Murla zog empört eine Augenbraue hoch. “Garoschna, hast Du ein Problem mit den Augen?”

Dann wandte sie sich dem Jungen zu und streckte ihm die Arme entgegen. “Du bist wohl auf Bärtejagd? Na, komm her, ich hebe Dich hoch und dann kannst Du den alten Grummlern in die Bärte fahren.”

Siegmund lachte und ließ sich auf den Arm nehmen.

Verlegen schaute Isavena zu Murla: “Bitte verzeiht mir, ich bin etwas konfus heute. Diese vielen Menschen und das Gewusel machen mich ganz hibbelig. Darf ich mich vorstellen? Ich bin Isavena, Tochter der Orima und der kleine Racker dort auf eurem Arm ist Siegmund von Kalterbaum.”

„Aha“, war das Einzige, was Erbosch hierauf zu erwidern hatte. Dass gleich zwei Angroschna auf einem Fleck, so mitten unter Großlingen, zu finden waren, das wollte ihm auch nach vielen Jahren unter den Menschen nicht einleuchten. Eine ordentliche Erzzwergenfrau gehörte in den Stollen, viel zu wertvoll waren die Wenigen! Aber noch viel verstörender war die Aussicht, einen Menschenjungen in seinem wohlgepflegten, aufwendig geflochtenen Bart herumziepen zu lassen. Na schönen Dank auch! Argwöhnisch blickte er durch sein Monokel, sein rechtes Auge für den Betrachter dadurch ungleich größer, zwischen den beiden Zwergenfrauen und den Menschenjungen hin und her. Seine Körperhaltung verriet dezent: Kommt mir ja nicht zu nahe.

Auch Limrog war von dem weiteren Besuch nicht angetan, aus zweierlei Gründen. Zum ersten mochte auch er keine dreckige kleine Menschenfinger in seinem Bart. Es war schlimm genug, dass der Funkenflug beim Schmieden vor wenigen Tagen seinen Bart angesengt hatte, weil er vor Hektik, alles fertig zu machen, einen Moment unachtsam war. Wenn nun auch noch die Haare verklebten und verknoteten, würde er womöglich noch das Haupthaar waschen müssen vor der Hochzeitsfeier der hohen Dame. Zum anderen bedeutete eine fünfte Trinkerin eine weitere Reduzierung seines eh schon viel zu geringen Biervorrats.

Dennoch fragte er aus Höflichkeit. „Ich wollte den Herrschaften gerade meine Schmiede und den Gewölbekeller zeigen. Ich würde Euch ja bitten mitzukommen. Aber das ist für dieses Ding dort viel zu gefährlich! Er könnte sich die zarten Fingerchen verbrennen oder die steile Treppe hinabstürzen.“ „Oder einfach Unheil anrichten“, ergänzte Erbosch unverblümt.

Wut kochte in Isavena hoch. “Ich weiß ja, dass Angroschim und besonders die männlichen Exemplare meiner Gattung, manchmal grummelig und nicht besonders aufgeschlossen den Menschen gegenüber sind, doch einen kleinen Jungen als Ding zu bezeichnen ist doch ein starkes Stück. Bei uns im Stollen sind die Kinder wertvoll und geliebt, egal welcher Gattung.” Sie deutete auf Siegmund. “Darüber hinaus weiß Siegmund bereits, dass Feuer heiß ist und man sich daran verbrennen kann.” Dabei schaute sie unverblümt auf die versengten Stellen in Limrogs Bart.

Dieser entgegnete: “Besser ist es! Es gibt halt Orte, da haben Groschagigrim nichts zu suchen. Was kümmert Euch eigentlich dieses Kind?”

Murla hob sich den kleinen Menschenwurm vor das Gesicht, damit die beiden Angroschim nicht merkte, wie sie die Augen verdrehte.

Sie hatte in den Jahren, in denen sie in Albenhus gelebt hatten, nicht nur den Angroschna geholfen, ihre Kinder an das Licht Deres zu bringen, sondern auch vielen Frauen der Menschen - und aus diesem Grund waren sie damals auch mit Friedewald oder besser Rotrude zusammengekommen.

“Isavena, lassen wir die Herren doch einfach alleine den Keller der Schmiede erkunden, wir beide bleiben hier und amüsieren uns.”

Erfreut nickte Isavena Murla zu. “Sehr gerne.”

Erbosch zuckte die Achseln. „Na dann.“ Auch hierzu musste der Zahlmeister nicht viele Worte verlieren. Mochte sie sich entscheiden - gegen Bier und für den kleinen Racker, na, wenn sie wollte.

“Eine Angroschna, ein Wort!” bekräftigte Limrog Murlas Vorschlag. “Folgt mir, Dor’angraschim!” Der Schmied lief los in Richtung der Dorfschmiede, schaute aber nicht zurück, wer ihm folgte.

Die Aufforderung ließ sich Borix nicht zweimal sagen, nachdem er seiner Frau noch einen Kuss auf die Stirn gegeben hatte, folgte er dem Schmied.

Zurück auf dem Festplatz blieben die beiden Angroschax und ein kleines Menschenkind.

“So ein Racker erinnert mich an meine Zeit als Hebamme in Albenhus”, erklärte sie Isavena. “In unserer Bergwacht haben wir bislang keine Geburten gehabt. Aber was will man schon unter Angroschim erwarten …”

Isavena blickte an Murla vorbei und sah dort Tsalinde auf sie zukommen.

“Wie ich sehe hat mein kleiner Sprößling neue Freunde gefunden.” Sie lächelte die Angroschna freundlich an. “Bitte verzeiht die Unterbrechung, mein Name ist Tsalinde von Kalterbaum und dieser kleine Mann hat eine Verabredung mit einem jungen Fräulein zum Spielen, da wollen wir doch nicht zu spät kommen.”

Isavena lacht: “Entschuldige bitte, er hat die Angroschim vor mir entdeckt und sich losgerissen.” Dann fügte sie schmunzelnd hinzu: “Wir müssen unbedingt herausfinden, warum er glaubt, alle Angroschim wären ihm wohlgesonnen. Eines Tages könnte das mal ins Auge gehen.”

Murla zog kurz eine Augenbraue hoch. “Wie kommt Ihr nur darauf, dass es Angroschim gibt, die ihm nicht wohlgesonnen seien könnten?”

Isavena und Tsalinde wandten sich Murla zu und Tsalinde antwortete: “Meine Sohn ist im Allgemeinen eher ein offenes Wesen und stürmt gerne mit offenen Armen und offenem Herzen auf Fremde zu. Dabei scheint er zu den Angehörigen eures Volkes noch einmal eine besondere Vorliebe entwickelt zu haben. Ich versuche immer, ihm ein wenig Vorsicht in derlei Dingen beizubringen, bin, wie ihr seht, allerdings nicht sehr erfolgreich damit. Es gibt, davon bin ich überzeugt, in jeder Gattung Angehörige, die nicht guter Gesinnung sind. Das würde ich meinem Sohn gerne beibringen, ohne dass er schlechte Erfahrungen machen muss.” "So wie ich”, fügte sie in Gedanken hinzu.

Murla nickte und reichte der Mutter ihren Sohn. “Wenn er sich weiterhin so artig verhält, dann wird er sicher viel mehr Freunde als Feinde im Leben haben.”

Tsalinde lächelte. “Danke. Dann werde ich den kleinen Mann mal zu seiner Verabredung bringen. Habt noch einen schönen Tag.” Damit nahm sie ihren Sohn und machte sich auf den Weg.

Isavena winkte Siegmund zum Abschied zu, dann wandte sie sich an Murla. “Ich danke euch für die lieben Worte und wünsche euch noch ein schönes Fest.”

“Euch auch! Fortombla hortomosch!”

~*~

Im Keller der Schmiede

Der Lützeltaler Schmied Limrog führte die beiden Hochzeitsgäste Erbosch und Borix durch das Gewimmel der großen Kurzlebigen. Er würde sich das ja niemals anmerken lassen, doch er freute sich, nach so langer Zeit einmal wieder Angroschim zu Besuch zu haben. Er freute sich so sehr, dass er bereit war, sein geheimes Refugium für sie zu öffnen und gemeinsam das gute Ferdoker zu genießen.

So erreichten sie die Schmiede am Rande des Dorfplatzes. Limrog schloss die Tür auf und ließ die beiden Besucher hinein. Obwohl die Fensterläden geschlossen waren und von außen kein Tageslicht in den Raum eindrang, war der Raum erleuchtet. Die Reste einiger Holzscheite loderten noch immer im Kamin. Obwohl Limrog nicht vorhatte, am nächsten Tag das Schmiedefeuer zu entfachen, hielt er den Ofen und den Kamin warm, denn so würde er schneller wieder auf Betriebstemperatur gebracht werden können, sollten seine Künste unverhofft gebraucht werden. Erbosch und Borik konnten im Schein der Flammen die typische Ausstattung einer Schmiede erkennen: Den Amboss, die Wassertröge, die Kohlebecken. Eisenbarren und -stangen unterschiedlicher Größe lagen bereit und an der Wand hingen allerlei Werkzeuge ordentlich sortiert aufgereiht. Der ganze Raum wirkte sehr ordentlich und aufgeräumt. Es war offensichtlich, dass Limrog viel Wert auf die Pflege seiner Wirkungsstätte legte. Nachdem alle drei im Schmiederaum standen, schloss der Hausherr die Tür und sperrte sie wieder ab.

“Herzlich willkommen in meinem kleinen Reich! Schaut Euch ruhig um, ich muss nur schnell ein paar Laternen holen!” Seine Stimme klang noch immer grummelig, obwohl sein Willkommen ernst gemeint war.

“Man merkt, dass Du es hier im Dorf nur mit Gigrim zu tun hast”, meinte Borrix lächelnd. “Wir Angroschim können doch auch bei diesem Licht gut genug sehen, als spar Dir das Öl für die Kurzlebigen auf.”

Der Schmied lächelte verschwörerisch. “Du denkst doch nicht, dass ich das gute Ferdoker hier oben lagere, wo es viel zu warm wird und die Lützeltaler ein- und ausgehen. Kommt mit!” Limrog ging zu einer Holztür im hinteren Bereich der Schmiede neben dem Aufgang ins obere Stockwerk und öffnete diese. Hinter der Tür befand sich eine Treppe aus glatt gehauenen Feldsteinen, die steil nach unten führte. Von dort kam ihnen eine kühle Luft entgegen und es herrschte Dunkelheit. “Da unten ist mein Refugium, wenn ich es leid bin, wie die Gigrim direkt unter dem Sternenzelt zu schlafen.” Er verteilte an jeden eine Laterne und zündete die kleinen Öllämpchen darinnen an. “Seid vorsichtig, wenn ihr die Treppe runter geht”, gab er den unnötigen Ratschlag, während er begann, die Stufen hinabzusteigen. “Ich möchte nicht, dass ihr auf mich drauf fallt, oder ich Ärger bekomme, wenn sich die Gäste den Hals brechen.”

Erbosch brummte erfreut. Das war ein Keller wie ein Stollen. Und wenn er eines schätzte, dann waren es Stollen. “Keine weiteren Worte verlieren, mein Hals ist schon ganz trocken!” Mit plötzlich erwachsenem Elan stapfte er die Treppe hinunter. Die Zwerge konnten anhand seiner leicht nach oben gekräuselten Bartspitzen erkennen, dass sich der Grimmige plötzlich wohlfühlte.

Tatsächlich endete die Treppe in einem geräumigen Gewölbekeller, der teilweise in den Fels unterhalb des Talbodens geschlagen, teilweise durch kunstfertig gehauene Steinblöcke gestützt worden war. Die selbst für Gigrim hohe Gewölbedecke war mittig des Kellerraums durch zwei Steinsäulen abgestützt, zwischen denen ein grob geschreinerter Holztisch und zwei Sitzbänke standen. Die Bänke waren mit hellen Schaffellen gepolstert. An der gegenüberliegenden Wand waren drei Holzfässer aufgereiht, wobei in eines ein messingfarbener Zapfhahn eingeschlagen war. Neben dem Fass standen sechs Holzkrüge zu einer kleinen Pyramide aufgetürmt. Auch in dem Kellerraum vertrieb der schummrige Schein einer langsam erlöschenden Glut nicht nur die Dunkelheit, sondern auch die Feuchtigkeit aus der Luft. Ein verstecktes Belüftungssystem sorgte für einen feinen Zug frischer Luft. In der Wand neben dem Treppenabsatz war eine grob aus Holzbrettern gezimmerte Tür eingelassen und verbarg so einen Durchgang in nördliche Richtung.  

Limrog ging zielstrebig auf das Fass zu. Im Vorbeigehen am Tisch forderte er seine Gäste kurz auf: “Setzt euch!”, bevor er begann, drei Humpen mit Bier zu füllen.

“Das ist aber ein sehr gemütliches Refugium, dass Du Dir hier geschaffen hast, alter Freund!” lobte Borix den Schmied und ließ sich auf einer der Sitzbänke nieder. “Erlaubst Du hier ein Pfeifchen?” wollte er dann noch wissen.

„Es wäre keine gemütliche Zromix, wenn das nicht erlaubt wäre!“ Limrog knallte die drei Krüge auf den Tisch, sodass ein Teil des Bieres überschwappte. „Baroschem, die Herren!“ Nachdem die drei angestoßen hatten, fragte Limrog: „So, Borix, du bist also inzwischen zum Bergvogt aufgestiegen, wie ich gehört habe. Nicht schlecht! Aber du, Erbosch, was treibt dich zu den Gigrim?“

“Ja”, erwiderte der Angesprochene, “so ist das. Nachdem wir Haffax besiegt hatten, habe ich meinen Dienst quittiert und ein Häuschen in Senalosch bekommen.

Da war ich eigentlich schon recht zufrieden, aber irgendwie muss ich dem Rogmarog in guter Erinnerung gewesen sein und so bin ich zu der Bergwacht gekommen.

Aber wir wollten ja ein Schlückchen trinken, also: Baroschem!”

„Baroschem“, erwiderte Erbosch und stieß an den anderen Humpen an. Nach einem großen Schluck aus dem Humpen ließ er einen Laut der Erfrischung fahren. Der Schaum hing ihm noch im Bart, als er antwortete: „Naja, auf Umwegen. Ich bin der Zahlmeister des Kontors in Rosenhain geworden. Die Lande liegen nicht weit von Ingras Kuppen, wo meine Familie mit einigen anderen eine kleine Binge betrieb. Doch wir hatten großes Pech, bei Angrosch! In einer besonders kalten Winternacht barst eine Erzader und der Stollen brach ein. Meine Angehörigen wurden alle unter dem Fels begraben. Bei seinem glühenden Bart, ich konnte nichts tun. Deshalb führte mich mein Weg hinab ins Tal - und ich landete in dem kleinen Ort, dessen Kontor noch einen Mann mit Zahlengeschick suchte. Naja. Das wird nichts dauerhaftes sein, schätze ich.“

“Na, das habe ich auch einst gesagt. Und jetzt sitze ich schon viel zu lange hier fest. Und so unangenehm mir das zu sagen ist: man gewöhnt sich an den Zustand. Sonst hätte ich mir nicht die Arbeit gemacht, das hier zu schaffen.” Limrog deutete mit einer weit ausholenden Geste auf das Kellergewölbe.

“Man gewöhnt sich? An die Langbeinigen? Na das will ich bezweifeln”, murrte Erbosch, doch fürchtete er, dass Limrog Recht hatte. An Rhodan Herrenfels jedenfalls würde er sich nicht gewöhnen. Wer so unsorgfältig mit Geld umging…

“Hm, manchmal sind sie ja schon recht drollig, so einfältig wie sie sind.” Einige der großen Nachbarn hatte Limrog im Lauf der Jahre ins Herz geschlossen, auch wenn er das nie zugeben würde. Der Edle und seine jüngste Tochter Mika gehörten dazu. Die anderen Kinder des Edlen waren dagegen nur nervig.

“Das Problem ist doch meistens, dass die Gigrim in viel zu kurzen Zeiträumen denken und ihnen die Geduld fehlt, Dinge bis zum Ende zu erleben”, gab Borix seine Meinung zum Besten.

“Und zu durchdenken”, ergänzte Erbosch. “Wenn sie sich nur einmal vorher mit den Risiken auseinandersetzen würden, bevor sie aus dem Bauch heraus den wahnsinnigsten Ideen nachgingen!”

“Und dann geben sie einem einen Auftrag, lassen aber keine Zeit, es ordentlich zu machen!” bestätigte auch Limrog. “Dabei sag ich immer, gut Ding will Weile haben. Xorlosch wurde auch nicht an einem Tag aus dem Fels geschlagen!”

“Das stimmt alles! Baroschem!” fasste Borix zusammen und nahm einen tiefen Zug aus dem Krug.

Plötzlich erklang ein Klingeln in dem Gewölbe. Erst jetzt fiel den Gästen auf, dass an der Decke, vermutlich unterhalb der Eingangstür der Schmiede, eine Seilzugkonstruktion mit einer kleinen Glocke verbunden war. Limrog, der die fragenden Blicke von Borix und Erbosch sah, erklärte knapp: “Falls Kunden etwas wollen, wenn ich hier unten bin. Vielleicht ist das die Gigrimna, die bei mir wohnen soll. Würde ja auch langsam Zeit!” Limrog stand auf und ging gemächlich die Treppe hinauf. ‘Du hast mich warten lassen, jetzt lasse ich dich warten!’ dachte er.

“Was mag das wohl für eine Xomaschna sein, die bei einem Angroscho wohnen will?” war die eher rhetorisch gemeinte Frage.

„Manche sind eben anders. Keine Tradition, diese jungen Leute“, bestätigte der Erzzwerg.

“Sie haben ja auch noch keine Geschichte!”, meinte Borix und füllte noch schnell den Krug am Fass, während Limrog auf dem Weg nach oben war. Daraus schenkte er Erbosch und sich nach. “Baroschem!”

“Baroschmmm”, brummelte dieser, die Lippen schon im Bier. Bei Angrosch, schmeckte das gut!

Es dauerte ein paar Minuten, bis sich die Tür der Schmiede öffnete, nachdem Imelda von Hadingen, die Ingrageweihte, an der Klingelkette gezogen hatte. Vor ihr stand Limrog, der Schmied des Dorfes, ein Angroscho im besten Zwergenalter. Seinen langen, rotbraunen Bart hatte er mit einem Band unterhalb des Kinns zusammengebunden. Dies verdeckte jedoch nicht die ausgefransten Stellen, wo der Funkenflug vor ein paar Tagen die Haare angesengt hatte. Die große kahle Stelle in der Mitte seines schulterlangen, strähnigen Haupthaares verdeckte eine braune Lederkappe. Über einer Lederhose und einem einfachen Leinenhemd trug er - trotz des feierlichen Anlasses - eine leicht abgewetzte Lederschürze, die an Bauch und Brust schon sehr glattgerieben und mit Fett und Kohlestriemen verschmiert war. Er schaute die junge Frau fragend an. “Wer seid Ihr und was wollt ihr?” kam seine grummelige Frage aus seiner rauen Kehle.

"Garoschem!", rief Imelda lauthals und sichtlich angeheitert, als dieser ihr die Tür öffnete. "Imelda von Hadingen. Angaruschoromdrosch!" In fast akzentfreiem Rogolan fuhr sie fort: "Im Namen des Feuergottes freue ich mich, dass ich die nächsten Tage Eure werte Gastfreundschaft genießen darf!"

“Garoschem, Xomaschna!” grüßte der Schmied. “Ich dachte schon, Ihr kommt gar nicht mehr. Kommt rein!” Als Imelda eingetreten war schloss er die Tür. Dann befahl er: “Legt Eure Sachen da ab und dann folgt mir!” Zielstrebig ging er auf die Treppe nach unten zu, ohne weiter auf Imelda zu achten.

"Ähh...", gab Imelda von sich, legte ihren Umhang ab und folgte gespannt dem Angroscho in den Keller.

Unten angekommen lief Limrog direkt zu dem Bierfass, nahm einen weiteren Humpen und zapfte ein frisches Bier. Damit ging er zurück zum Tisch und stellte den Krug hin. Dann winkte er Imelda zu. “Wenn Ihr bei mir wohnen wollt die nächsten Tage, dann müsst Ihr auch trinken wie eine Angroschna! Setzt Euch und trinkt. Ach, das sind übrigens Borix aus Ishna Mur und Erbosch aus Rosenhain. Und die Große, das ist Imelda aus Hadingen. Setzt Euch endlich!”

Imeldas Blick fiel bei ihrem Eintreten sofort auf den Vogt, welcher ihr bereits gut bekannt war. "Es ist mir eine große Freude, Euch wiederzusehen, Meister Borix! Ist schon einige Zeit her, dass wir uns gesehen haben. Habt Ihr mich vermisst?", fragte sie mit einem Schmunzeln nach. "Und Meister Erbosch - es freut mich, Euch kennenzulernen.”

‘Sie kennt Borix?’, dachte Limrog. ‘Dann kann sie so schlimm nicht sein.’

Borix grinste die Geweihte an. “Euer Gnaden Imelda, wie könnte ich Euch vergessen. Ich hätte mir aber fast denken können, dass Euch der Geruch von gutem Bier direkt hierher führen würde.”

"Ach, es gibt nichts Besseres!", rief sie und sah mit leuchtenden Augen, wie das Bier für sie eingegossen wurde. Mit einem breiten Lächeln umarmte sie den Vogt und drückte ihn kurz, aber fest an sich, dann setzte sie sich folgsam vor den für sie bereitgestellten Bierkrug.

Borix erwiderte die Umarmung. Die Geweihte stand für einen Gigrim schon den Angroschim sehr nahe. Und die bisherigen Begegnungen waren immer sehr vergnüglich (und feucht-fröhlich) gewesen.

Erbosch fand diese Verbrüderung allerdings mehr als befremdlich. Was wollte der Vogt auch mit einer so groß gewachsenen Frau? Da kam man ja gar nicht … er verwarf den unkeuschen, traditionswidrigen Gedanken und lugte skeptisch über seinen Bierkrug.

Beim Anblick des prächtigen Bierfasses und des frischen Humpens war Imelda begeistert. In ihrem Herzen fühlte sie sich oft wie eine Angroschna und während der Feierlichkeiten hier zu wohnen, ließ umgehend ihr Herz höher schlagen. "Trinken wie eine Angroschna - das sollte kein Problem darstellen!", rief sie in einwandfreiem Rogolan und prostete den Anwesenden mit einem fröhlichen "BAROSCHEM!" zu. Sie probierte zunächst den leckeren Schaum und dann das Gebräu selbst. Da sie sich mit den Bieren der Angroschim gut auskannte, fragte sie interessiert nach: "Das ist doch nicht etwa Ferdoker!?" Gierig leerte sie ungefähr den halben Humpen und wischte sich mit einem begeisterten Strahlen den Schaum vom Mund.

Ein stolzes Grinsen erschien um Limrogs Mundwinkel. “Doch, doch! Ferdoker! Eine Xonaschma, die das zu schätzen weiß, seid Ihr also? Dann seid willkommen in meinem Haus.” Der Schmied hob seinen Humpen und wünschte ebenfalls “Baroschem!”

„Baroschem“, brummte auch Erbosch, der weit nicht so begeistert von menschlicher Gesellschaft war. Und erst Recht nicht, dass sie ihm jetzt auch noch das Bier wegsoff …

“Baroschem!” prostete nun auch Borix den anderen zu, dann wandte er sich an Imelda: “Habt Ihr Murla auch schon begrüßt?”

"Ach, Murla ist auch hier? Das ist ja schön!" Die Geweihte sah sich flüchtig im Raum um. "Wo ist sie denn?"

“Wir haben uns vorhin bei dem Volksfest getrennt”, antwortete der Bergvogt. “Sie freut sich immer so, wenn sie ein kleines Kind bemuttern kann. Egal ob es ein Großling oder ein Angroscho ist.”

"Ja, so ist sie, unsere Murla!", gab sie vergnügt von sich und nippte an ihrem Krug. Dann sah sie zu Erbosch. "Ähm, schmeckt Euch Euer Ferdoker nicht, Meister Erbosch? Ihr macht ein Gesicht, als wäre ...", Imelda überlegte, wie sie auf Rogolan eine Redewendung wie 'sieben Tage Regenwetter' übersetzen sollte. Nach den richtigen Worten suchend fuhr sie, weiterhin auf Rogolan, langsam fort: "Äh…, wie als ob Euch eine... Gruftassel über die Leber gelaufen wäre?" Unsicher biss sie sich auf die Unterlippe und sah zu den anderen am Tisch.

Borix, der gerade einen Schluck Bier trinken wollte, hätte sich fast über den Vergleich verschluckt. ‘Treffend festgestellt’, musste er aber zugeben.

“Am Bier liegt es nicht”, erwiderte der Erzzwerg einsilbig.

"Wollte ich auch meinen; das Ferdoker ist ganz ausgezeichnet!", bestätigte sie gegenüber Limrog und nahm genüsslich einen weiteren kräftigen Schluck aus dem Krug. Als sie diesen wieder abgestellt hatte, faltete sie ihre Hände zusammen und legte ihren Kopf darauf. Ausführlich musterte sie mit ihren blauen Augen den Erzzwerg und zog einen gespielt mitfühlenden Flunschmund: “Und? Wo drückt der Schuh, Meister Erbosch?”

Der Zahlmeister versuchte, den komischen Blick der Menschenfrau zu ignorieren. Dies gelang ihm jedoch nicht ausreichend lang. Wie penetrant und störend diese Langbeinigen sein konnten. Schrecklich. „Ich möchte eigentlich einfach nur hier trinken“, brummte es nach einer Weile.

“Das ist Grund genug! Baroschem!”

Imelda nickte einverständlich. "Ja, Baroschem!", rief sie laut und trank noch einen Schluck. "Dann genießt mal in Ruhe das schöne Ferdoker, Meister Erbosch."

Die Geweihte nahm noch einen Schluck vom Becher, ließ dabei murmelnd ein genüssliches "Ach lecker", erklingen und sah sich im Raum um. Plötzlich schlug sie sich gegen die Stirn. "Achje, das hätte ich ja fast vergessen", sagte sie nun in Garethi. Sie stand auf und begann in der Tasche neben sich zu kramen. "Wo habe ich es denn ...", murmelte sie, bis sie schließlich eine große Flasche herauszog und triumphierend in die Höhe hielt. "Tadaaa!", rief sie lauthals aus und fuhr im Rogolan fort, als sie die Flasche auf den Tisch knallte: "Angbarer Bockbier", verkündete sie stolz und zog dabei vielsagend die Augenbrauen zweimal hoch.

Limrogs Miene hellte sich nun noch weiter auf. “Na, solche Gäste heiße ich gerne Willkommen, die gutes Bier nicht nur zu schätzen wissen, sondern es gleich mitbringen. Leert die Krüge, auf dass wir das Gastgeschenk gleich gemeinsam genießen können!”

“Sehr guter Vorschlag!” kommentierte Borix. “Aber es wird ja nur ein Tröpfchen für jeden!”

Erbosch blinzelte verwirrt und sah einen Moment von der Menschenfrau zu der Bierflasche. Sollte es wahr sein? Konnte diese Hochgeschossene wirklich einen fruchtbaren Beitrag leisten - gar mit einer Flasche Angbarer Bock? “Das lob ich mir”, pries der grimmige Erzzwerg diese Überraschung - mit so wenigen Worten wie für ein ordentliches Lob angemessen.

Borix hielt seinen leeren Becher in die Richtung der Ingra-Geweihten. “Nun schenkt schon aus, sonst kann ich den Geschmack nicht mehr vergleichen!”

Die Ingrageweihte sah mit einem zufriedenen Schmunzeln zu Erbosch. Die viele Zeit, welche sie auf ihrer Walz bei den Angroschim verbracht hatte, schien sich auszuzahlen. Eilig öffnete sie die Flasche und goss der Runde ein. "Na dann!" hielt sie zuprostetend den Becher in die Mitte. "BAROSCHEM! Auf einen fröhlichen Abend!"

“Baroschem!”, stimmte auch Limrog ein.

“Baroschem!” kam es auch von Borix, während er mit seinem Bierkrug an Imeldas anstieß.

Es wurde noch ein feucht-fröhlicher Abend, an dem sich Limrogs Bierfass gefährlich leerte. Irgendwann verabschiedete sich die Ingrageweihte Imelda, da sie noch eine Verabredung mit ihren Freundinnen hatte und auf die Nachtwanderung wollte. Limrog wies ihr noch eine Schlafkammer unter dem Dach der Schmiede, durchaus bequem, wie sie feststellen durfte, und gab ihr einen Schlüssel, damit sie ihn nicht störte. Bevor der Zwerg zurück in den Keller ging, organisierte er noch bei Dankhuld Eichholz eine ordentliche Portion Schweinebraten für die drei Angroschim.


~*~

Unten am Fluss

Merle Dreifelder hatte ihre Tochter Lulu auf dem Gutshof abgeholt und spazierte zusammen mit Tsalinde von Kalterbaum und deren Sohn Siegmund zur Obstbaumwiese an den Auen des Lützelbachs. Die Ehefrau und die Kurzzeitgeliebte des Magiers vereint, zusammen mit den Produkten seiner Leidenschaft…

An einem kleinen Wiesenstück, im Schatten eines Baumes, blieb Tsalinde stehen. Ein Baumstamm lag dort auf der Wiese und bot ihnen einen Platz zum Sitzen an, wärend die Kinder spielten. “Was meint ihr, hohe Dame? Hier scheint im weichen Gras können die Kleinen spielen ohne zu viel Sonne abzubekommen und wir haben die Möglichkeit, uns dort auf den Baumstamm zu setzen und zu reden, während wir die Kinder im Auge behalten.”

"Ähm, einfach nur 'Merle' reicht", murmelte die junge Frau verlegen, nickte aber zustimmend zur Auswahl des Platzes. "Ich hab noch eine Decke geholt, für die Kinder. Die Wiese ist hier manchmal ein bisschen nass", sie wies mit dem Blick auf die Tasche, die sie sich um die Schulter gehängt hatte, während sie die lustig vor sich hinbrabbelnde Liudbirg auf dem Arm trug. Ihrer Schwägerin Ciala hatte sie aufgetischt, sie würde Lulu den Stand der Spielzeugtombola zeigen wollen, dann hatte sie schnell noch die Decke gesucht und ein Körbchen mit frischen Zimtschnecken aus der Küche stibitzt. Sie wusste selbst nicht, warum sie sich so beschwingt, fast aufgekratzt fühlte. Vielleicht wegen des Gefühls, zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit etwas selbst zu entscheiden, selbst in die Hand zu nehmen.

“Dann nennt mich gerne Tsalinde.” Sie half Merle die Decke auszubreiten und setzte dann Siegmund darauf.

“Schau mal, Siegmund, das ist Lulu. Magst du mit ihr spielen?” Sofort nickte der Kleine enthusiastisch und zeigte Lulu seinen Guka.

Lächelnd wandte sich Tsalinde ab, setzte sich auf den Baumstamm, zog ihre Schuhe aus und strich mit den bloßen Füßen über das kühle Gras. “Es ist schön hier.”

Auch Merle streifte ihre Schuhe ab und beobachtete lächelnd die Kinder, während sie Tsalinde das Körbchen mit den Zimtschnecken anbietend hinhielt. "Die beiden scheinen sich zu vertragen, wie schön! Lulu hat hier im Lützeltal ja nicht oft die Möglichkeit, mit Kindern in ihrem Alter zu spielen. Ich freu mich, wenn sie sich gut mit ihrem kleinen... Bruder versteht." Forschend blickte Merle zu Tsalinde. Obwohl es ja auf der Hand lag, hatten sie es bisher nicht so deutlich ausgesprochen.

Tsalinde starrte Merle entgeistert an. “Ihr wisst davon?”

Dann fing sie sich wieder und fügte hinzu: “Bitte verzeiht, natürlich war es richtig, dass Gudekar es euch erzählt hat. Doch glaubte ich, nach meiner letzten Begegnung mit ihm, nicht ernsthaft daran.” Tränen glitzerten in ihren Augen. “Es ist schön, dass er so ehrlich zu euch ist und ich bin euch sehr dankbar, dass ihr mir nicht böse seid. Der Zauber hat mich damals zu einem Zeitpunkt getroffen, als ich sehr verletzlich war und ich mochte euren Gatten. Dennoch ist es unverzeihlich, was wir getan haben und es tut mir wirklich leid. Bitte, Merle, verzeiht mir.”

"Erzählt? Nein, nicht erzählt..." Merle schüttelte verwirrt den Kopf und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. "Ich hatte gedacht, Ihr wüsstet von der Kette?"

“Ja, ich wusste von der Kette, aber ich dachte, sie transportiert nur Gefühle. Versteht mich nicht falsch, ich mochte Gudekar damals, doch was in dem Park geschah, war für mich mehr eine körperliche Sache. Keine Liebe oder ähnliches.”

"Das glaube ich Euch!" Merle nickte mehrmals. "Ich hege keinen Groll gegen Euch, wirklich nicht. Gebt Euch bitte nicht die Schuld! Ich weiß ja, dass Ihr unter einem Zauberbann standet." Merle legte sanft den Arm auf Tsalindes Oberarm. "Trotzdem habe ich über das Amulett etwas empfangen von Gudekar", sie kniff die Augen zusammen, um sich an diese furchtbare, verunsichernde Zeit vor zwei Götterläufen zu erinnern, "...ähm, Leidenschaft, Lust... Begehren, später Verzweiflung und Schuldgefühle, dann wieder so etwas wie Liebe und Verlangen..." Sie schluckte, es war schmerzhaft, daran so genau zurückzudenken. "Er sagt, dieser Zauber hätte ihm die Gefühle nur vorgegaukelt."

Tsalinde zog die Stirn kraus. “Seltsam! Warum hat er nach den Schuldgefühlen erneut Liebe und Verlangen verspürt? Ich war nur eine Nacht mit ihm zusammen.”

Plötzlich weiteten sich ihre Augen. “Er wird doch nicht …”

Merle, die abwesend in ihrem langen Haar herumgespielt und eine dünne Strähne zu einem kleinen Zopf geflochten hatte, hielt darin aufmerksam inne. "Gestern habe ich versucht, ihn zu fragen, was die Ursache für seinen... Streit mit Euch ist”, erzählte sie. “Er hat vermutet, Ihr hättet Euch nach dieser Nacht mehr von ihm erhofft...", sie versuchte Tsalinde durch einen offenen Blick zu signalisieren, dass sie die Mutmaßung nicht teilte, "aber... vielleicht war es genau umgekehrt und er hat sich in Euch verliebt?" Ihre Stimme war sehr leise, fast tonlos geworden.

Tsalinde lachte auf. “Enttäuschte Liebe würde zumindest sein Verhalten mir gegenüber erklären.” Sie dachte kurz nach. “Das glaube ich aber nicht. In dem Fall hätte er sich mir gegenüber anders verhalten.”

Langsam drehte sie sich zu Merle um. “Haltet Ihr es für möglich, dass noch eine weitere Frau im Spiel ist?”

Sie schüttelte den Kopf, wirkte aber nachdenklich. “Aber er würde nicht… er kann doch nicht…” MIt mit gerunzelter Stirn dachte sie nach. “Die erste Welle der… Gefühle war nachts, dann tagsüber die Reue… und in der nächsten Nacht hab ich wieder so etwas gespürt wie Schwärmerei und Verliebtheit… Wo soll denn, nachdem er eben noch so starke Schuldgefühle hatte, ganz plötzlich aus heiterem Himmel eine andere Frau hergekommen sein?”

“Hat er euch denn nicht erzählt, wo wir waren? Wir waren auf einer Hochzeit. Da waren jede Menge Frauen.” Um Verzeihung heischend schaute sie Merle an. “Bitte verzeiht mir, aber Euer Gatte war bei unserem letzten Treffen alles andere als nett und freundlich zu mir. Inzwischen traue ich ihm alles zu. Vielleicht täusche ich mich ja auch.” Sie versuchte das Thema zu wechseln. “Ich habe von Eurer Sitte gehört, dass Paare einmal im Jahr ihren Bund vor Travia mit einem Treueschwur erneuern. Das werdet Ihr doch sicher auch tun, oder?”

Merle fühlte sich, als wäre sie schlagartig aus einem viel zu langen, betäubenden Dämmerschlaf erwacht. Sie biss sich gedankenvoll auf die Unterlippe. "Ich habe ihm immer vertraut”, sagte sie mehr zu sich selbst. “Er war meine erste Liebe. Aber gestern Abend… da hab ich ihn direkt gefragt, ob er mich anlügen würde. Er hat nicht geantwortet.” Sie presste die Lippen zusammen und merkte, wie aus Leugnen und Verdrängung so etwas wie Wut wurde. Nach einem kurzen Durchatmen schaute sie Tsalinde in die Augen und schüttelte auf deren Frage hin den Kopf. “Ich hab ihm gesagt, dass ich ihn mit diesem Treueschwur nicht unter Druck setzen will. Seine ganzen Missionen, die Bedrohung durch den Frevler - Ihr wisst sicher besser darüber Bescheid als ich - dazu der Ärger wegen… ähm, Euch und dem Siegmund… Ich wollte, dass er erstmal in Ruhe zu Hause ankommt.” Ihr Antlitz ließ erkennen, dass es hinter ihrer Stirn arbeitete und sie vieles von dem, was ihr Mann gesagt hatte, nun auf die Waagschale legte. Für einen Moment verdrängte sie das Grübeln und lächelte Tsalinde freundlich an. “Aber Ihr werdet bestimmt?”

Verlegen senkte Tsalinde den Kopf. “Nein, ich denke nicht. Meine Beziehung zu Lys ist anders. Nicht ganz im Sinne Travias. Das bedeutet nicht, dass wir einander nicht lieben. Wir lieben nur nicht ausschließlich einander, sondern auch noch jemand anderen.” Bei den letzten Worten hob sie den Kopf und schaute Merle an, damit ihr auch nicht das kleinste Anzeichen einer Reaktion entging. “Wir sind einander in Treue und Liebe verbunden, allerdings nicht nur Lys und ich, sondern ebenso meine Zofe und Freundin Isavena.”

Merle blickte Tsalinde mit großen, erstaunten Augen an. Sie dachte an den gutaussehenden Krieger und die hübsche Angroschna, die sie vorhin kennengelernt hatte und errötete leicht, als sie sich vor ihrem geistigen Auge vorzustellen versuchte, wie diese Beziehung rein praktisch funktionierte. Neugierig und mit leichter Bewunderung musterte sie die sympathische junge Frau. Dann breitete sich auf ihrem Gesicht ein offenes und warmes Lächeln aus. "Das muss schön sein", sagte sie sanft. "So sehr geliebt zu werden... Ich freue mich für Euch."

Sanft legte Tsalinde ihre Hand auf Merles Arm. “Ja, es ist schön. Tut mir leid, dass du dich nicht ebenso geliebt fühlst. Hast du denn niemanden, mal von Lulu abgesehen, der dich mal in den Arm nimmt und dich tröstet wenn du traurig bist?”

Die junge Frau seufzte und musste schlucken, um nicht in Tränen auszubrechen. "Meine Schwägerinnen vielleicht...", sie hob hilflos die Schultern, "...aber im Grunde gehöre ich ja gar nicht so richtig dazu. Ich bin eigentlich nur ein Waisenmädchen, wisst Ihr."

Tsalinde, der die zurückgehaltenen Tränen nicht entgingen, sagte: “Oh Merle, das tut mir leid. Ich dachte, ihr wäret glücklich und habe euch früher gar beneidet.” Sie blickte rüber zu den Kindern, die friedlich auf ihrer Decke spielten, dann bot sie an: “Wie wäre es, wenn ihr uns mit Lulu einmal besucht? Sicher kann unser Gut nicht mit dem der Familie Weissenquell mithalten, es ist sehr abgelegen und eher schlicht und einfach. Doch ihr seid herzlich willkommen und könntet dort Ruhe und Frieden finden. Den Kindern würde der Kontakt sicher auch gut tun.” Dann beschloss sie, Merle nicht mehr mit Samthandschuhen anzufassen und sagte ihr direkt ins Gesicht. “Verzeiht bitte meine direkten Worte, aber möchtet ihr weiter so leben wie bisher? Gudekar behandelt euch nicht so, wie man die Frau behandelt, die man liebt. Auch ich habe Geheimnisse vor Lys und Isavena, keine Frage, aber dabei geht es um Details, die ich nicht verraten darf. Ich schließe sie nicht komplett aus meinem Leben aus. Wenn ihr so, wie es jetzt ist, glücklich wärt, würde ich nichts sagen, aber das seid ihr nicht. Ihr müsst für euch und für eure Tochter entscheiden, ob ihr weiterhin das Leben führen möchtet, wie es jetzt ist oder ob es Zeit wird etwas zu ändern.”

Merles Herz floss vor Dankbarkeit und Zuneigung über, auch wenn sie abwehrend den Kopf schüttelte. "Tsalinde, ich will Euch doch nicht zur Last fallen oder in Eurem Heim stören und mit meinen dummen Sorgen belasten! Für Euch muss alles ja viel, viel schlimmer gewesen sein, ich meine, als Ihr entdeckt habt, dass Euer Leib von Tsa gesegnet ist... Und es tut mir so leid, dass mein Mann Euch so schlecht behandelt hat! Aber trotzdem sind Gudekar und ich im Traviabund und ich hab geschworen, für immer treu an seiner Seite zu bleiben - und was würde seine Familie sagen, wenn ich plötzlich mit Liudbirg weggehe... außerdem hab ich ja meine Pflichten im Orden und..." Sie merkte, dass sie zu viel und zu wirr zu plappern begann, presste die Lippen zusammen, hielt für einen Moment inne und ließ diesen neuen, unerhörten Gedanken zu. Den Gedanken, dass sie Lulu nehmen und an einen anderen Ort gehen könnte als das Lützeltal oder den Anconiterorden in Albenhus - einfach so, weil sie es selbst für sich entschied… Sie hatte keinerlei Vorstellung, wo genau Kalterbaum lag und wie es dort aussah - aber es war etwas anderes. "Ja", kam wie von selbst aus ihrem Mund. "Ja, das würde ich gerne machen." Sie lachte, selbst erstaunt über ihren Mut. "Das werde ich."

Tsalinde freute sich sichtlich. “Das ist wunderbar. Wir werden eine schöne Zeit haben. Lulu und Siegmund können viel spielen und vielleicht hört meine Schwiegermutter dann auf mich jeden Mond zu fragen, ob ich schwanger bin, wenn zwei kleine Racker das Haus unsicher machen.” Sie lachte, dann gab sie ihrem Impuls nach und bot Merle eine Umarmung an.

“Ich freu mich auch!” Glücklich erwiderte Merle die Umarmung und drückte Tsalinde freundschaftlich an sich. Es erstaunte sie selbst, wie sehr sie die andere Frau mochte, obwohl sie diese gerade erst kennengelernt hatte. Und es tat unendlich gut, nicht einfach hinzunehmen, was Gudekar und die Weissenqueller für sie entschieden, sondern eigene Pläne zu machen. “Gudekar wird das nicht gutheißen”, überlegte sie und kaute an ihrer Unterlippe. “Er will unbedingt, dass ich mit Lulu in Lützeltal bleibe, weil ich hier sicherer wäre. Aber er wird ja wieder fortgehen… Und wie soll er mich hindern, zu Euch zu kommen, wenn er weit weg ist?” In diesem Moment flog ‘Guda’, der auf Lulus neuem Spielzeugpferdchen ‘geritten’ war, offenbar aus dem Sattel und wurde von Siegmund von der Decke geschleudert. Merle stand kurz auf, bückte sich lächelnd nach der Puppe und reichte sie den Kindern zurück, woraufhin auch Lulu voller Begeisterung “Guda!” krähte. Merle lachte, ließ sich wieder auf den Baumstamm sinken und zwinkerte Tsalinde spitzbübisch zu. “Ich fürchte, jetzt muss ich für Lulu auch so einen ‘Guda’ anfertigen lassen.”

Tsalinde lachte: “Meine Schwiegermutter wird sich freuen, wenn sie noch so eine Puppe machen und damit einem kleinen Mädchen ein Lächeln ins Gesicht zaubern kann.” Sie wurde wieder ernst und fügte hinzu: “Wenn Gudekar sich solche Sorgen macht, warum geht er dann von euch weg? Ich verstehe diesen Mann einfach nicht. Ständig sendet er verschiedene Signale und kaum habe ich die vage Hoffnung, wir fänden einen friedlichen Weg miteinander auszukommen, da macht er alles wieder zunichte.” Tränen schimmerten in ihren Augen. “Ich hatte so sehr gehofft, wir fänden einen Weg, dass Siegmund und Gudekar sich zumindest ab und an mal sehen, aber so wie sich Euer Mann aufführte, kann ich ihn nicht in die Nähe meines Kindes lassen. Ich bin unendlich dankbar, dass Friedewald den Kontakt mit mir nicht abbricht, obwohl ich mit Gudekar gebrochen habe.”

"Gudekar sagt, wir wären eine Zielscheibe, wenn er bei uns bleibt…”, sagte sie gedehnt, mit einem düsteren Klang in der Stimme. “Er müsste in der Rabenmark gegen Dämonengezücht kämpfen und seine Studien fortsetzen, um einen Weg zu finden, den Feind zu besiegen.” An Merles Gesichtsausdruck war abzulesen, dass es sich für sie, jetzt wo sie es laut aussprach, noch unglaubwürdiger anhörte. “Ich fürchte, dass er vieles vor mir zurückhält… Aber nicht nur vor mir, auch vor Vater Friedewald und dem Rest seiner Familie.” Sie schluckte, um das ungute Gefühl aus ihrer Kehle herauszubekommen. Es tat ihr so leid, die Tränen in Tsalindes Augen zu sehen und so nahm sie vorsichtig deren Hand, um sie sanft zu drücken. “Gestern hab ich zu ihm gesagt, dass er sich bemühen soll, eine vernünftige Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen. Und er hat immerhin versprochen, es zu versuchen. Trotzdem hat er darauf beharrt, dass Ihr einen ‘unerklärlichen Groll’ gegen ihn hegen würdet und ihm ganz schlimme Dinge vorgeworfen hättet… Aber er wollte mir nicht erklären, was.” Beherzt blickte sie Tsalinde in die Augen. “Könnt Ihr mich aufklären, worum es in Eurem Streit mit Gudekar ging? Ihr… Ihr braucht mich nicht zu schonen. Ich habe das Gefühl, dass die ständige Unwissenheit mir mehr wehtut als die blanke Wahrheit.”

“Über unsere Mission und die damit verbundenen Gefahren darf ich euch nichts erzählen, da bin ich zu Stillschweigen verpflichtet. Doch will ich euch gerne erzählen, was sich zwischen Gudekar und mir zugetragen hat. Vielleicht könnt ihr mir helfen, ihn besser zu verstehen.” Sie ließ ihren Blick zu den friedlich spielenden Kindern schweifen und erklärte: “Ich weiß nicht, wieviel man euch erzählt hat, deshalb beginne ich am Anfang. Gudekar und ich lernten uns bei unserer Mission kennen. Anfangs mochte ich euren Gatten. Er hat den Menschen geholfen und Gutes getan, wo er konnte. Deshalb fiel der Zauber eines magischen Wesens auf fruchtbaren Boden, als wir eines Abends in einem kleinen Park aufeinander trafen. Wir kamen uns näher und opferten Rahja. Hinterher sprachen wir miteinander und ich war überzeugt, er liebte euch. Für uns beide war klar, so glaubte ich damals, dass wir nicht mehr als Freunde waren und zwischen uns keine Liebe, sondern lediglich eine tief empfundene Freundschaft war. Erst Wochen später, wir besuchten damals einen Tempel der Tsa, erfuhr ich, dass aus diesem Treffen ein Kind entstanden ist. Diese Enthüllung kam für mich damals so unerwartet, dass ich erst nicht darüber reden konnte. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich es Gudekar sagen sollte oder nicht. Weder wollte ich, dass er sich zu irgendetwas verpflichtet fühlt, noch wollte ich, dass er mich drängt, das Baby zu Boron zu schicken oder es weg zu geben. Im Zuge unseres Abenteuers kam es, dass Gudekar …”, sie zögerte kurz, “vorübergehend sehr mächtig wurde. Damals hatte ich das Gefühl, diese Macht stiege ihm zu Kopf. Ich bekam regelrecht Angst vor ihm. In Panik um mein Kind schrie ich ihm entgegen, er solle aufhören, weil er sonst vielleicht unserem Baby etwas tun könnte. Er hielt sofort inne und schaute mich entgeistert an.” Traurig senkte sie den Kopf. “Von diesem Tag an ging es mit meiner Freundschaft zu Gudekar bergab. Er warf mir vor, dass ich es ihm nie gesagt hätte, wäre ich nicht in Panik gewesen, bedrängte mich, ich solle das Kind weggeben und manchmal gar, ich wollte ihm das Kind nur unterschieben. Es war einfach schrecklich. Als wir uns dann kurz nach meiner Hochzeit mit Lys auf der Eilenwïd trafen, hat er mir eine Szene gemacht, die ihresgleichen sucht. Er fragte mich, ob Lys wüsste, dass ich ihm einen Bastard untergeschoben habe und noch viele andere Dinge.” Sie schluchzte und Tränen rannen ihr über die Wangen. “Merle, es war so schrecklich. Vor all unseren Gefährten hat er mich angeschrien und mir Vorwürfe gemacht, mich übelst beleidigt.” Einen Moment war Tsalinde still, dann holte sie tief Luft und fuhr in ruhigerem Ton fort: "Daraufhin musste ich, um mein Kind zu schützen, leider die Entscheidung treffen, mit ihm so weit es geht zu brechen. Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass er unser Kind behandelt, wie er mich behandelt hat.”

Mit ruhigem, nach außen unbewegten Antlitz hatte Merle der Erzählung zugehört. Als Tsalinde die Tränen herunterliefen, rückte sie näher und strich ihr sanft und beruhigend über den Rücken. Sie zögerte, etwas zu sagen, wog erst Tsalindes Darstellung gegen die wenigen Bruchstücke ab, die sie aus ihrem Mann herausbekommen hatte - und ja, sie glaubte Tsalinde... "Für mich klingt das so, als wäre er wütend, keine oder nicht genug… Kontrolle über sein Kind zu haben", vermutete sie schließlich mit leiser Stimme. “Es scheint ihn verrückt zu machen, dass Ihr es ihm nicht sofort gesagt habt und Ihr selbst entscheiden wolltet, was Ihr macht… Aber ich kann Euch gut verstehen! Wenn ich mir vorstelle, wie es für Euch war, so plötzlich schwanger zu sein...” Sie nahm Tsalindes beide Hände in ihre und streichelte diese sanft; ihr Blick war von Wärme und aufrichtigem Mitgefühl erfüllt. ”Selbst für mich war es ein Schock, zu bemerken, dass mein Leib von Tsa gesegnet war - und ich war in einem Travienbund; wir hatten all' die Jahre auf ein Kind gehofft.” Sie lächelte voller Liebe für ihre kleine, perfekte Lulu. “Nur weil Gudekar durch einen Zufall an Siegmunds… Entstehung beteiligt war, hat er kein Recht, so herrisch über die Art zu bestimmen, wie Ihr Euer Leben zu führen gedenkt! Was geht es Gudekar denn an, mit wem Ihr Euch vermählt?” Merle runzelte die Stirn und dachte über die Art und Weise nach, mit der ihr Gemahl darüber bestimmte, wo und wie sie mit Lulu zu leben hatte, weil es angeblich sicherer war… Sie erinnerte sich an die unerklärliche zweite Gefühlswelle, die sie damals empfangen hatte, an Tsalindes Verdacht, eine andere Frau könnte im Spiel gewesen sein. Unwillkürlich ging ihre Hand zu dem Amulett unter ihrer Bluse, das sie aus Treue oder Sentimentalität noch immer trug, auch wenn er seines längst abgelegt hatte. "Früher hab ich immer gedacht, dass er in allem Recht haben muss, weil ich ein ungebildetes Waisenmädchen bin und er ja ein gelehrter Herr. Aber inzwischen scheint es mir, als sollte ich ihm nicht mehr alles glauben…” Voller Bewunderung schaute sie Tsalinde an. So eine liebenswerte, gebildete und wunderschöne Dame, die sich noch dazu auf zahlreichen Questen unvorstellbaren Schrecken gestellt hatte - eine echte Heldin, wie aus einer Geschichte. Dazu lebte Tsalinde frei und nach ihren eigenen Vorstellungen und ließ sich vom möglichen Gerede der Leute nicht schrecken. “Auf jeden Fall bin ich unendlich glücklich und dankbar, Euch kennengelernt zu haben”, sagte sie mit einem schüchternen Lächeln. “Und dass unsere Kinder sich so gut verstehen. Trotz allem sind wir am Ende ja doch irgendwie… Familie, oder?”

“Ja, wir sind Familie.” Tsalinde lächelte unter ihren Tränen. Nach all den Wunden die ihr durch ihre Blutsfamilie zugefügt wurden, fand sie in den letzten Monaten und Jahren immer mehr Freunde, die in ihrem Herzen zur Familie wurden. “Wenn ich's recht bedenke, könnte die mangelnde Kontrolle tatsächlich Gudekars Problem sein. Ich bin es gewohnt, mein Leben alleine zu regeln. Meine Eltern leben beide nicht mehr und ich musste sehr früh auf harte Weise erwachsen werden.” Sie schaute die junge Frau freundlich an. “Merle, auch ich bin nicht als edle Dame geboren. Mein Lehen habe ich als Dank für eine große Queste erhalten. Dank meiner Baronin bin ich eine Rechtsgelehrte, doch macht mich das in meinen Augen keineswegs zu einer intelligenten oder überlegenen Person. Mein Lehen ist sehr klein und eher bodenständig, weshalb Lys Probleme hatte, ein gutes Sicherheitskonzept aufzubauen. Dann erinnerte er sich an ein Erlebnis bei einem Überfall. Da hat ein einfacher Bauer seine Familie mit so viel Mut und Entschlossenheit verteidigt, dass es jedem Ritter zur Ehre gereicht hätte.” Sie machte eine kurze Pause. “Worauf ich hinaus will, ist, dass du dich nicht so klein machen solltest. Ich bin sicher, du kannst eine Menge Dinge, von denen Gudekar keine Ahnung hat. Ihr habt unterschiedliche Stärken und Wissen, aber keine davon ist wichtiger oder besser als eine andere.”

Merle zog die Augenbrauen hoch. Tsalinde hatte ihr Lehen als Belohnung für ihre Taten in einer Queste erhalten? Merles Hochachtung für diese ungewöhnliche, bewundernswerte Frau stieg noch weiter an. Und mit großer Dankbarkeit registrierte sie, dass Tsalinde zum 'du' übergegangen war - etwas, das Merle trotz aller Zuneigung und freundschaftlicher Gefühle nie gewagt hätte, einer Edlen anzubieten. Nun winkte sie schüchtern ab. "Ich weiß und kann wirklich nicht viel, fürchte ich! Etwas Hauswirtschaft, etwas Kochen, Kinder- und Krankenpflege… Das ist es auch bereits. Wenn ich einen Brief schreiben soll, brech' ich mir schon einen ab." Sie lächelte Tsalinde traurig, fast entschuldigend an. "Jedenfalls bin ich nicht interessant genug, als dass es mein Mann längere Zeit in meiner Nähe aushalten würde."

“Was wohl mehr an Gudekar liegt, als an dir. Verzeih mir bitte die harten Worte, aber es ist nicht dein Verschulden, wenn sich Gudekar nicht für die Dinge interessiert, die dich beschäftigen.” Sie schaute auf Merles Hände. “Wie sieht es zum Beispiel mit Handarbeiten aus? Sticken, Nähen, Nadelbinden oder Weben, kannst du etwas davon? Was machst du in deiner Freizeit?”

Sie lächelte und hob unsicher die Schultern. "Natürlich mach' ich Handarbeiten, aber das ist doch nichts besonderes... Also, Häkeln macht mir schon Spaß. Lulus grünes Jäckchen hab ich zum Beispiel gemacht. Und Sticken mag ich gern." Merle zeigte Tsalinde die Manschetten ihrer hellen Bluse, die mit zartgestickten, bunten Blumenranken verziert waren. "Das sollen Ringelblumen, Fingerhut und wilder Thymian sein… alles Heilpflanzen." Auf ihrem Antlitz machte sich ein leichtes, versonnenes Lächeln breit. "Unser Kloster in Albenhus hat einen kleinen Heilpflanzengarten. Früher hat mir Gudekar immer viel über die verschiedenen Pflanzen und ihre Wirkung erklärt…" Merle seufzte leise. "Ja, Gärtnern und Kräuterkunde, das macht mir Freude." Sie dachte kurz nach, legte ihr Kinn aufs hochgezogene Knie und verzog melancholisch den Mund. "Aber was ist das schon gegen weite Reisen und abenteuerliche Questen? Ich hab immer nur ein kleines, unbedeutendes Leben geführt; so wird es wohl bleiben bis ans Ende meiner Tage. Und vielleicht ist das auch gut so - irgendjemand muss ja auch diese kleinen, langweiligen Leben leben, meinst du nicht?"

“Möchtest du denn ein anderes Leben führen? Ich finde es faszinierend und zutiefst beeindruckend, was du mit Wolle und Garn zauberst. Meine Schwiegermutter ist schon schier verzweifelt, weil ich es nicht einmal geschafft habe, eine schlichte Decke für mein Kind zu stricken. Dafür habe ich schlichtweg kein Händchen.” Sie betrachtete neidisch die Handarbeiten ihrer neuen Freundin. “Wenn du dich mit Heilkräutern auskennst und mit Nadel und Faden, wärst du eine Bereicherung für jede Abenteuergruppe. Was glaubst du, wie oft wir zerrissene Kleider flicken müssen oder eine Wunde verarzten, ohne zu wissen, welche Pflanze wir verwenden können? Ehrlich gesagt, habe ich bei meiner ersten Queste auch gedacht, ich wäre eher nutzlos. Was sollte eine Abenteuergruppe mit einer Rechtsgelehrten anfangen, die weder reiten noch kämpfen konnte? Aber ich konnte schreiben und ganz gut zeichnen, was uns dann doch geholfen hat, unsere Aufgabe zu meistern. Was würdest du denn gerne tun?”

"Ich in einer Abenteuergruppe?!" kicherte Merle vergnügt. Sie stellte sich vor, wie sie, bewaffnet mit einem spitzen Säbel - oder vielleicht Pfeil und Bogen - gegen böse Raubritter, garstige Riesenratten oder sogar leibhaftige Dämonen ins Feld ziehen würde - gegen all’ die unvorstellbaren Gefahren, mit denen Gudekar tatsächlich zu tun hatte. Ihr Lachen wich schnell wieder einer ernsten, sehnsuchtsvollen Miene. “Eigentlich wünsche ich mir nur, dass alles wieder wird wie zuvor. Ich möchte im Kloster in Albenhus leben, wo ich meine Aufgaben habe, meinen Platz, vertraute Leute um mich rum. Und wenn Gudekar wieder dort wäre, bei mir… Wir haben immer so gut zusammengearbeitet…” Sie seufzte, lächelte traurig und zwirbelte gedankenverloren an einem kleinen Faden herum, der sich aus der Stickerei an ihrem Ärmel gelöst hatte. “Früher hab ich oft gesagt, wie gerne ich das Meer der Sieben Winde sehen würde… Havena. Oder zumindest den Neunaugensee. Damals hatten Gudekar und ich gemeinsam vom großen, weiten Dererund geträumt. Aber dann ist er irgendwann ohne mich weggegangen.” Mit einem leichten, resignierten Augenrollen zuckte sie mit den Achseln. “Ach, eigentlich weiß ich selbst nicht recht, was ich will. Jetzt mit einem kleinen Kind sind solche Phantastereien ohnehin ganz absurd. Mit Lulu zu dir nach Kalterbaum zu reisen, das wäre für mich schon ein riesengroßes Abenteuer!”

Als Merle den Neunaugensee erwähnte, fiel Tsalinde ihr Gespräch mit Liana von Rondraschquell ein. “Ich habe mich heute mit der Baronin von Rondraschquell unterhalten. Habt ihr eigentlich geprüft, ob Lulu Mandra besitzt?”

Merle zwirbelte nachdenklich in ihrem Haar und schüttelte den Kopf. “Nein, bisher wurde es nicht gemacht. Gudekar meinte, dass man das sowieso erst ab einem Jahr oder so herausfinden kann. Ich denke, er wird es die Tage prüfen wollen.” Sie biss sich auf die Unterlippe und schaute Tsalinde fragend an. “Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, welches Ergebnis ich mir für Lulu wünsche… Wurde es bei Siegmund denn schon festgestellt?”

“Ja, Siegmund besitzt Mandra. Ob ich das gut finde oder nicht weiß ich noch nicht. Ich hatte es vermutet und vorhin wurde er von der Baronin von Rodaschquell getestet. Nun müssen wir uns entscheiden, wie es weiter geht.” Sie schaute zu ihrem Sohn, der auf dem Rücken lag und lachend das Schattenspiel der Blätter in den Bäumen betrachtete. “Gerne würde ich ihn ganz nah bei mir behalten, doch damit täte ich ihm keinen Gefallen. Seine Magie muss geschult werden, damit er sie in die richtigen Bahnen lenken kann. Ohne die Probleme mit Gudekar wären die Anconiter sicher ganz oben auf der Liste der Akademien, doch nun …” Sie schluckte schwer. “Wahrscheinlich werden wir uns für Donnerbach entscheiden.” Schluchzend schlug sie sich die Hände vors Gesicht. “Aber das ist so schrecklich weit weg.”

"Eigentlich ist es auch egal, ob Lulu Mandra hat. Ich liebe sie so oder so. Aber wenn ja, würde ich mir natürlich wünschen, dass sie eine gute und achtsame Ausbildung bekommt, um ihren Platz im Leben zu finden. Auch wenn sie dafür weit fort müsste..." Für einige Momente betrachtete Merle nachdenklich die spielenden Kinder, dann lächelte sie sanft. "Gudekar hat ja auch in Donnerbach studiert. Vermutlich könnte er seine Kontakte spielen lassen, damit Siegmund dort angenommen wird. Und bei Lulu genauso, wenn es so wäre... Dann würden die beiden gemeinsam lernen und wären nicht so allein dort."

Entgeistert schaute Tsalinde Merle an. “Gudekar hat in Donnerbach studiert? Das wusste ich nicht.” Flüsternd fügt sie hinzu: “Vielleicht sollten wir dann eine andere Akademie wählen.”

Merle nickte bestätigend. "Er erzählt immer recht gerne von seinen elfischen Lehrmeistern... Ähm, darf ich fragen, warum die Schule dann nicht mehr für Siegmund in Frage käme?" Sie schaute Tsalinde unsicher in die Augen. "Ich meine, ich weiß ja, dass euer Verhältnis nicht gerade freundschaftlich ist... Aber ich glaube schon, dass Donnerbach eine gute Akademie ist. Und Gudekar ist ja nicht mehr dort."

“Ich kann Gudekar nicht einschätzen, deshalb möchte ich Siegmund nicht seinem Einfluss aussetzen. Was, wenn er ihn mir weg nimmt, sobald er herausfindet, dass Siegmund Mandra besitzt?”

Merle schluckte, deutlich schockiert, als sie merkte, wie ernst Tsalindes Sorge war. Sanft legte sie den Arm um die Schultern ihrer neuen Freundin und drückte diese beruhigend. "Also, ich kann mir eigentlich kaum vorstellen, dass er so etwas tun würde...", sagte sie langsam, während sie über Tsalindes Oberarm strich. Doch in ihrer Miene war ein Keim des Zweifels zu erkennen. Gerade eben hatte sie selbst vermutet, Gudekar würde schlecht verkraften, keine Kontrolle über dieses Kind zu haben. "Gudekar hat doch eigentlich überhaupt kein Anrecht auf Siegmund; du bist schließlich im Traviabund mit Lys." Sie dachte kurz nach und nickte Tsalinde dann bekräftigend zu. "Ich werde nicht zulassen, dass mein Mann derartiges versucht, das versichere ich dir! Auf jeden Fall werde ich ihm nicht erzählen, dass Siegmund Mandra hat. Und wenn du es für nötig hältst, helfe ich dir auch, den Kleinen von Gudekar fernzuhalten."

“Danke, Merle, ich weiß deinen Einsatz zu schätzen. Dennoch werde ich es Gudekar sagen. Er hat wohl ein Recht darauf, es zu wissen, auch wenn er nicht mit entscheiden darf.” Entschieden straffte sie die Schultern.

“Ich werde nicht zulassen, dass er Siegmund schadet. Egal wie.”

Merle drückte bestätigend Tsalindes Hand. "Das verstehe ich so gut! Genauso werde ich Lulu beschützen, koste es, was es wolle." Sie betrachtete die beiden Kinder voller Zärtlichkeit. "Zum Glück ist ja noch etwas Zeit, bis diese Dinge entschieden werden müssen... Die Kinder kommen erst mit neun oder zehn Jahren auf so eine Akademie, oder?"

“Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Die Baronin sagte allerdings, je früher er lernt, damit umzugehen, desto besser. Lys und ich werden uns also schon jetzt darüber Gedanken machen müssen.” Sie seufzte. “Am liebsten wäre es mir, wir fänden einen Magier, der ihn in den ersten Jahren noch bei uns auf Gut Kalterbaum unterrichten könnte, sodass wir mit der Wahl der Akademie noch etwas Zeit haben.”

"Das hört sich doch gut an. Obwohl Gudekar auch nicht die besten Erinnerungen an seinen ersten Lehrmeister hat..." Merle seufzte schmerzvoll. Schon die Vorstellung, ihre kleine Lulu in fremde Hände zu geben, zerriss ihr das Herz. "In meiner Vorstellung klingt Donnerbach immer noch... freundlicher als andere Magierakademien", überlegte sie. "Und selbst wenn Gudekar da studiert hat, glaub' ich nicht, dass er sich groß in Siegmunds Ausbildung einmischen kann. Die Elfen werden sich doch nicht die Butter vom Brot nehmen lassen." Sie zuckte mit den Achseln. "Groß Ahnung hab ich davon nicht, wie du merkst. Ich hoffe immer noch, dass Liudbirg kein Mandra hat, das würde vieles leichter machen", murmelte sie, dann schaute sie Tsalinde lächelnd an. "Aber wenn's so wäre, dann tut’s gut zu wissen, dass du da im gleichen Boot sitzt.”

Das brachte auch Tsalinde zum Lächeln. “Ja, dann wären beide Kinder nicht allein.”

"Allein sind sie ohnehin nicht", sagte Merle sanft, aber bestimmt. "Auch wenn Lulu kein Mandra hat, wünsche ich mir, dass die beiden sich als Bruder und Schwester lieb haben und unterstützen." Sie schaute Tsalinde ernsthaft und offen in die Augen. "Und ich stehe dir immer zur Seite, das verspreche ich." Mit einem Seufzen streckte die junge Frau die Beine aus und blickte auf den plätschernden, glucksenden Lützelbach. "Es ist wunderschön hier. Aber ich fürchte, wir müssen so langsam zurück ins Dorf, oder? Lulu wird irgendwann unleidlich, wenn sie hungrig ist."

“Danke, Merle, ich würde mich wirklich freuen, wenn unsere Kinder als Geschwister groß werden könnten, auch wenn ich fürchte, dass Gudekar uns da einen Strich durch die Rechnung machen wird. Eines verspreche ich dir jedoch. Ich werde dir beistehen und immer für Lulu und dich da sein. Für euch wird auf Gut Kalterbaum immer ein Platz sein, zu dem ihr kommen und wo ihr bleiben könnt so lange ihr es wünscht.” Dann sah sie zu den beiden Kindern herüber und beobachtete Siegmund dabei, wie er sich die Augen rieb. Lächelnd fügte sie hinzu: “Hier ist es wirklich wunderschön, aber ich fürchte auch, dass wir so langsam aufbrechen sollten. Wenn Siegmund nicht bald etwas isst und sein Schläfchen hält wird er ungemütlich.”

"Ja, brechen wir auf", seufzte Merle und begann ohne Hast, sich die Schuhe wieder anzuziehen und ihre Sachen zusammenzusuchen. "Das wird sicher nicht das letzte Mal sein, dass die beiden zusammen spielen. Ich glaub' auch nicht, dass Gudekar das verhindern kann - dafür werde ich schon zu sorgen wissen. Zumal...", sie zuckte resigniert mit den Achseln und betrachtete die Kinder liebevoll, "er bisher ja auch nicht viel Zeit mit Liudbirg verbracht hat und bald wieder weg will. Wenn er sich so wenig für seine Tochter interessiert, treffe ich halt die Entscheidungen."

“So sollte es sein, Merle. Und vergiss nie, dass auf Gut Kalterbaum immer Platz für euch sein wird. Wenn du Hilfe irgendeiner Art benötigst, melde dich und ich werde dir helfen so gut ich kann.” Sie kletterte vom Baumstamm, zog ebenfalls ihre Schuhe wieder an und half Merle alles zusammen zu packen.

"Ich bin dir unendlich dankbar", sagte Merle ernsthaft und drückte Tsalinde kurz an sich. "Vorher hätte ich nie erwartet, in dir eine Freundin zu finden - und jetzt bin ich so froh, dich getroffen zu haben. Also fürchte ich, musst du dich drauf einstellen, dass ich das Angebot tatsächlich annehme. Dann kann es sein, dass Lulu Gut Kalterbaum bald mehr aufmischt, als dir und deiner Familie vielleicht lieb ist..." Merle grinste leicht, nahm ihre Tochter auf den Arm und strich dieser sanft übers Haar. "Sie ist nämlich nicht immer so lieb und ruhig wie jetzt."

Tsalinde lachte. “Sehr gut. Vielleicht hört Lys’ Mutter dann auf, mir mit dem Wunsch nach einem weiteren Kind in den Ohren zu liegen.”

"Da würde ich vermutlich nicht drauf wetten", fiel Merle in das Lachen ein und machte sich mit Tsalinde und den Kindern geruhsam auf den Rückweg ins Dorf. Ihr Herz fühlte sich für den Moment wie befreit an und sie atmete glücklich die frische, klare Herbstluft ein.

~*~

Der Treueschwur wird erneuert (Traviastunde)

Nach etwa zwei Stunden, zu Beginn der Traviastunde, verklang die Musik von der Bühne. Eine erst leiser, dann immer lauter werdender Trommelwirbel setzte ein, um die Aufmerksamkeit der Feiernden auf ein Paar zu lenken, das gerade die Bühne betrat. Dort standen nun ein Mann und eine Frau. An den feisten Bäuchen und grau melierten Haaren konnte man erkennen, dass sie die 50 Jahre bereits überschritten hatten. Sie trugen edle, jedoch nicht vornehme Kleider. Die Frau trug ein orange und grün gefärbtes Praiostagskleid, das vom Schnitt her typisch für albenhuser Bauersfrauen war. Der Mann hatte ein oranges Leinenhemd in seine schwarze Kniebundhose gesteckt und eine braune Wollweste darüber gezogen. Ein ausladender, schwarzer Federhut zierte seinen Kopf. Die Daumen seiner Hände hatte er in den Hosenbund gesteckt, während die Frau die Hände vor ihrem Schoß gefaltet hielt.

Als die Aufmerksamkeit des Volkes auf ihnen lag und der Trommelwirbel verklang, holte der Mann, es war Praiogrimm Waldgrun, der Dorfschulze, tief Luft, während seine Frau Perainehulda ihm einen kurzen Kuss auf die Wange gab, und fing dann an zu sprechen.

“Liebe Lützeltaler, liebe Nachbarn, werte Gäste! Im Namen der Familie Weissenquell”, Praiogrimm deutete auf Friedewald von Weissenquell, der mit seiner Familie an einem langen Tisch in der Nähe der Bühne saß, “aber auch im Namen aller Lützeltaler heiße ich Euch alle herzlich Willkommen. Ist der Anlass des Besuchs der Hohen Herrschaften auch sicherlich die anstehende Vermählung des Herrn Rhodan von Herrnfels mit unserer geschätzten Tochter des Dorfes, Gwenn von Weissenquell”, nun erhoben sich die beiden zukünftigen Brautleute, “in zwei Tagen, so ist der heute Tag jedoch der Tag des Volkes. Jedes Jahr am 12. Tag der Travia ist es in Lützeltal Sitte, dass wir den Tag der Treue ehren und gleichzeitig ihrer Schwester Peraine für die Gaben zu danken, die sie uns in dieser Erntesaison beschert hat. Einige Paare nutzen diese Gelegenheit, um Ihren Schwur vor der guten Mutter zu erneuern. In diesem Jahr möchten meine holde Gattin und ich den Anfang dazu machen, denn wir können in diesem Jahr auf die göttergefällige Zahl von dreimal zwölf glücklichen Ehejahren zurückschauen und möchten Travia um die Gnade bitten, uns viele weitere gemeinsame Götterläufe bitten.”

“Sechsunddreizig Götterläufe”, flüsterte Borix seiner Gemahlin ins Ohr. “Erinnerst Du Dich noch, wie es damals war?”

“Aber sicher doch, das ist doch erst zweiundzwanzig Götterläufe her.” antwortete sie ebenso leise und küsste ihren Mann auf die Wange.

„Oh, das ist ja zauberhaft.“ hörte man in der Menge eine junge Frau rufen: Ihre Gnaden Rajalind erhob sich rasch und kam zur Bühne vor. Der Rahjageweihten schien es nichts auszumachen, dass sie in ein Ritual platzte. Verzaubert von so viel Liebe, die diese beiden Menschen noch füreinander empfanden, trotz eines entbehrungsreichen Lebens, konnte sie einfach nicht anders, als dies zu bekunden. Mit beherzten Schritten erklomm sie die Bühne, wobei sie ihr rotes Kleid raffte und man sah, dass sie darunter offenes Schuhwerk trug, aber auch, dass ihre Fußknöchel mit Ranken- und Blütenmalerei verziert waren. „Bitte, es wäre eine große Freude, wenn ich euren Schwur segnen darf. Wer so viel Liebe füreinander empfindet und wer der Heimherrin so lange Jahre so treu an der Seite des anderen dient, darf wissen, dass es auch der Lieblichen zum Gefallen ist.“ erklärte die junge Geweihte ohne Scheu, was sie dazu bewogen hatte, auf die Bühne zu steigen. Es waren tatsächlich eher ungewöhnliche Worte, die man sie womöglich nicht unbedingt aus dem Munde einer Rahjapriesterin erwartet hätte. Aber sie schienen der jungen Frau direkt aus dem Herzen zu kommen und ihre Ehrfurcht vor der langen Zeit, die das Paar miteinander schon durchs Leben schritt, war sichtbar, als sie ganz aufgeregt ein kleines Fläschchen aus ihrer kleinen Umhängetasche zog. Es enthielt eine rosafarbene Flüssigkeit - Rosenöl - die sie sich erst auf ihren Zeigefinger tropfte, um damit dann die Stirn der beiden Liebenden zu zeichnen, zuletzt ihre Lippen, während sie das Ehepaar Waldgrun aufmunternd und huldvoll anlächelte. Dann sprach sie für alle gut hörbar:

„Heitere Herrin Rahja, dieses Paar trägt deine Liebe in ihrem Herzen. Und deine Liebe trug beide durch die Hochs und Tiefs ihres Bundes. Aber nichts hat sie entzweien können, weil du ihre Herzen und Seelen vereinst. Höre ihre Worte, denn sie sind wahr gesprochen und mit Liebe.“ Zufrieden trat Rajalind sodann zurück und überließ dem Paar alle Aufmerksamkeit.

Das Paar, das zunächst von dem Eingreifen den Rahjageweihten überrascht war, kniete sich dann aber wie geplant auf der Bühne einander gegenüber hin, so dass sie sich in die Augen schauen konnten, und hielten ihre Hände. Dann begannen sie, gemeinsam zu sprechen: “Travia, gute Mutter! Wir danken dir, dass du unsere Wege so geleitet hast, dass wir uns finden konnten. Wir danken dir für deine Gnade, dass du stets deine schützenden Hände über unser Haus und unsere Familie gehalten hast! So, wie auch du stets zu uns gehalten hast, geloben wir, auch stets zu dir, zueinander und zu unseren Schutzbefohlenen zu halten. Wir geloben, uns stets treu zur Seite zu stehen, in der Liebe und in der Güte. Wir werden gemeinsam unsere Verantwortung für unser Heim, unsere Kinder und Kindeskinder, unsere Dorfgemeinschaft und für alle, deren beschwerlicher Weg in unser Tal führt, wahrnehmen. Gib uns bitte stets die Kraft, dies in deinem Sinne zu tun! Darum bitten wir dich!” Dann standen sie, noch immer die Hände haltend, auf und Praiogrimm sprach: “Ich, Praiogrimm Waldgrun, gelobe dir, Perainhulda Waldgrun, ewige Treue und Liebe.” Ebenso antwortete seine Frau: “Ich, Perainhulda Waldgrun, gelobe dir, Praiogrimm Waldgrun, ewige Treue und Liebe.”

Nach einem innigen Kuss, der nach dem kostbaren Öl der Rose schmeckte, lösten sich die beiden voneinander und Praiogrimm verließ die Bühne. Perainehulda jedoch drehte sich zum Dorfplatz und forderte nun ihrerseits andere Paare auf, es ihnen gleichzutun. “Meine lieben Freunde, liebe Gäste, wer von Euch den Wunsch verspürt, ebenfalls der guten Mutter zu huldigen, ist eingeladen, dies hier und jetzt zu tun, damit unsere Gemeinschaft Zeuge dieses segensreichen Aktes sein kann.”

Die junge Rahjani übernahm dabei gerne die Aufgabe, den Schwur der Paare zu bezeugen. Sie träufelte jedem Paar von dem Rosenöl auf Stirn und Lippen, sprach ihren Segen - und freute sich. In Gedanken war sie dabei auch bei ihrem guten Freund Vieskar, von dem sie glaubte, dass er, ein Traviapriester, wohl mächtig stolz auf sie sein würde, würde er von ihrem guten Werk hier erfahren. Sie konnte es kaum erwarten, ihn davon zu erzählen und plante schon ihre nächste Reise nach Hlutharsruh, wo ihr Freund der Vorsteher des dortigen Traviatempels war.

Nacheinander folgten einige Paare des Dorfes der Aufforderung und gaben sich gegenseitig den Schwur.

Perainehulda, die dankbar für die Unterstützung der Rahjani war, da sie sich nun wahrlich des göttlichen Beistands gewiss war, (und ebenso dafür, dass sie nun nicht mehr im alleinigen Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand), stand bei allen an der Treppe und nahm noch einmal zur Bekräftigung die Hände der Liebenden in ihre Hände, so wie sie hoffte, dass auch Travia ihre Hände um die Hände der Gläubigen legte.

Nachdem acht Paare von Bäuerinnen und Bauern ihren Schwur erneuert hatten, wandte sich Perainehulda an das Publikum. “Möchte noch jemand seinen Schwur erneuern? Dann tretet doch bitte vor!”

AdelmannXI und seine Gattin, diesmal in einem nach horasischer Mode exzentrisch geschnittenen, roten Kleid, das viele Falten warf und bei der richtigen Bewegung den Blick auf ihr rechtes Bein fast bis zur Hüfte freigab, hatten der Zeremonie interessiert gefolgt. “Na, meine Dame?” Adelmann XI knickste und verbeugte sich, worauf Ativana herzlich lachen musste. Er räusperte sich und erhob sich wieder. “Willst nochmal unseren Schwur vor Travia oder ist es Rahja, des is a Durcheinand da, ablegen?” Beide prusteten los. “Geh weida, Oida. Wenn, dann Rahja, aber auch des muss ned sein. Travia nimmt uns eh koana ab. Des ist halt Pflicht." AdelmannXI lachte vergnügt. So lief ihre Ehe. Frei aber irgendetwas vereinte dennoch. “Hast recht. Schaung ma uns a weng um. Sicher find ma an hübschen Bursch und a braves Madel, da kannt ma ja zu viert...” Weiter kam er nicht, da Ativana sehr zielsicher mit dem Ellbogen an eine schmerzhafte Stelle unterhalb der Rippen gestoßen hatte. Seine Frau lächelte verschmitzt. “Erst der Wein, dann schaugn ma rum. Aber jeder bleibt bei seinem. Zu viert! Des verzähl ich glei dem Traviageweihtem da.” Harmonie wahrend hakte Ativana sich bei ihrem Mann unter und beide steuerten auf den nächsten Weinstand zu.

Eoban von Albenholz und seine Gattin Margalin von Klingbach schauten sich zunächst etwas irritiert an, dass der Treueschwur ausgerechnet von einer Rahjani abgenommen wurde, doch schließlich traten auch sie vor und gaben sich vor den Augen ihrer Kinder gegenseitig das neuerliche Gelübde.  

Nachdem also auch einige wenige Gäste aus dem Albenhusischen ihren Treueschwur erneuert hatten, traten zum Abschluss Kalman von Weissenquell, der Erbe des Edlen Fiedewald, und seine Frau Ciala nach vorne. Kalman ergriff zuerst die Hand seiner Frau, der er dabei in die Augen schaute, und dann das Wort.

„Travia, gute Mutter, wir danken dir, dass wir heute hier zusammen sein können, um mit Freunden und Familie dein Fest zu feiern und das Gelübte zu erneuern. Es ist mir eine große Freude, dass so viele Paare sich aneinander gebunden fühlen und meiner geliebten Schwester Gwenn und ihrem Verehrer Rhodan ein gutes Vorbild sind. Und so gelobe auch ich, Kalman von Weissenquell, dich, mein geliebtes Weib Ciala von Adelmannhausen, zu lieben, zu ehren, dir stets treu zur Seite zu stehen, mich um dein Wohl und das unserer Kinder zu sorgen. Niemals möge ich begehren die Fleischeslust mit einer anderen, auch wenn mich die liebliche Rahja dazu verführen mag. Ich gelobe, Familie und Freunde stets willkommen zu heißen und allen Seelen, die dir, Mutter Travia treu folgen, stets einen Platz an meinem Feuer und an meinem Tisch freizuhalten. Ich gelobe, allen Seelen, die sich verloren haben”, bei diesen Worten schweifte Kalmans Blick über die Menschenmenge auf der erfolglosen Suche nach seinem Bruder Gudekar, “und die nun den Weg zurück in deine Arme suchen, stets die Hand zu reichen, auf dass die Gestrauchelten sich wieder erheben können. Mögest du deine schützende Hand stets über unser Haus halten, damit wir in Frieden leben können!”  

„Auch ich danke Travia für die Jahre, die sie mich mit meinem geliebten Gatten geleitet hat. Mögen unter ihrem Schutze noch viele folgen. So gelobe ich, nie die Gastfreundschaft zu vernachlässigen, meinen Mann und keinen anderen zu lieben oder fleischliche Lust auszuleben. Keiner, der bedürftig ist, soll unter uns, die wir nach Travias Geboten leben, leiden. Er wird Platz an unserem Herdfeuer finden.“ Ciala vermied, nach Gudekar zu sehen.

~*~

Lys von Kargenstein und Tsalinde von Kalterbaum sahen einander an und waren sich schnell darüber einig, dass ihre kleine Familie etwas besonderes war und nicht gerade dem üblichen traviagefälligen Bund entsprach. Sie setzten sich neben der Bühne an einen Tisch und warteten, bis auch der letzte Traviabund bestätigt wurde.

Als ihre Gnaden Rajalind von der Bühne kam sprach Lys sie an. “Rahja zum Gruße, euer Gnaden. Bitte verzeiht, dass wir euch aufhalten. Dürfen auch wir um euren Segen bitten? Zwar sind nur meine Gattin Tsalinde und ich vor der Herrin Travia miteinander verbunden, doch auch Isavena gehört zu unserem Bunde und hat einen gleichwertigen Platz in unser lieben Familie.”

Bei diesen Worten machte Isavena große Augen. Eine solche Bestätigung ihrer Liebe und Gleichwertigkeit in dieser Familie tat ihr wirklich gut und sie war gespannt, wie die Geweihte auf diese Bitte reagieren würde.

Die junge Geweihte sah alle drei mit freundlichen Augen an, bei der Vorstellung der einzelnen Personen hatte sie alle nacheinander angelächelt und dann bei der Frage des Mannes das Gesicht zu einem breiten Grinsen verzogen. „Wisst ihr, es ist nicht Frau Travia, die unsere Herzen entflammen lässt…,“ antwortete sie schließlich und ließ eine kurze Pause, bevor sie beherzt mit einer Hand nach Tsalindes Hand griff, diese für den Augenblick hielt, dann mit der anderen nach der von Isavena griff, auch dann kurz innehielt, bevor sie mit der, welche sich um die Hand der Edlen geschlossen hatte, öffnete, um die Hand von Lys zu ergreifen. „Liebe hat viele Formen. Viele vergessen das oft nur.“ Sie seufzte bedauernd. „In euch aber spüre ich das schlagen dreier verbundener Herzen. Ich segne euren Bund gerne, doch würde ich vorschlagen, dass wir das nicht an diesem Ort tun. Wir wollen hier niemanden brüskieren, nicht wahr?“ Sie zwinkerte und lachte. „Wollt ihr nicht mit mir ins Brauhaus kommen? Dort habe ich der Herrin einen Schrein aufgebaut. Es ist der bessere Ort.“

“Sehr gerne.” antworte Tsalinde ihr auf die Einladung hin und die kleine Familie folgte der Geweihten zum Schrein der Herrin.

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Nivard wohnte dem Ritual nur aus dem Hintergrund bei. Gerne hätte auch er mit Elvrun gemeinsam den vor ziemlich genau zwei Jahren geleisteten Schwur erneuert, doch weilte seine hochschwangere Gemahlin zu Hause. So beobachtete er die anderen Paare und war in Gedanken und mit dem Herzen bei Elvrun. Er wusste nicht warum, aber irgendwie war er sich sicher, dass seine Liebste gerade dasselbe fühlte und dachte. Ein entrücktes Lächeln legte sich auf sein Gesicht.

Im Hintergrund stand auch Merle mit ihrer Tochter Liudbirg auf dem Arm und beobachtete mit nachdenklicher Miene, wie die einzelnen Paare ihre Schwüre erneuerten. Kurz schaute sie zu Tsalinde hinüber, die mit ihrer Familie an einem Tisch neben der Bühne saß, und lächelte melancholisch. Das Gespräch am Fluss hatte ihr gutgetan, auch wenn es vieles in ihr aufgerührt hatte, was sie erst noch für sich ordnen musste. Als Liudbirg die halbe Zimtschnecke, an der sie gemümmelt hatte, geringschätzig auf den Boden warf, beugte sich Merle seufzend danach, ließ aber selbst die Decke und die Tasche fallen, die sie über den anderen Arm gelegt hatte. Mit dem schweren, zappelnden Kind auf dem Arm ging sie leise fluchend in die Hocke, um ihre Sachen wieder aufzusammeln, als ihr auch noch die restlichen Zimtschnecken aus dem Körbchen purzelten. Hilfesuchend blickte sie zu dem jungen Mann auf, der ganz in ihrer Nähe stand. “Ähm, hoher Herr, könntet Ihr…?” bat sie mit eher leiser, verzagter Stimme.

Überrascht fuhr Nivard aus seinen Gedanken. "Ohjemine...!" Sofort packte ihn das schlechte Gewissen, die Nöte der Frau in seiner Versunkenheit nicht bereits zuvor wahrgenommen zu haben. "Aber selbstverständlich helfe ich Euch, werte Dame! Lasst die Sachen einfach liegen, ich sammle sie rasch für Euch auf. Ihr habt schon schwer genug und sehr viel wichtigeres zu tragen." Sofort ging er in die Hocke und begann alle Zimtschnecken aufzulesen. "Nivard von Tannenfels, im Übrigen!" stellte er sich dabei vor. "Mit wem habe ich denn das Vergnügen?"

"Habt Dank!" Die junge Frau lächelte den galanten Helfer so strahlend an, dass die Grübchen an ihren Wangen hervortraten. Ihre Kleidung wirkte eher bäuerlich; von dem hüftlangen dunkelblonden Haar war nur der vordere Teil zusammengeflochten, der Rest fiel offen ihren Rücken hinunter. "Merle Dreifelder", stellte sie sich vor, "ähm... von Weissenquell. Und das hier", sie präsentierte leise ächzend das vielleicht anderthalbjährige, blondgelockte Mädchen auf ihrem Arm, "...das ist Liudbirg Rotrude!" Merle verneigte sich, so gut es mit dem Kind ging, und streckte dann den freien Arm aus, damit er ihr ihre Sachen zurückgeben konnte. Mit dem Blick wies sie anbietend auf das Körbchen mit den Zimtschnecken, die er gerade aufgelesen hatte. "Ähm, wenn Ihr vielleicht eine wollt? Sie lagen ja nur ganz kurz auf dem Boden."

"Nicht doch." Statt den dargereichten Arm mit den aufgelesenen Dingen zu belasten, streckte er seinen Ellenbogen hin - die Hände waren noch voll Zimtschnecken - um Merle aufzuhelfen. Er wollte nicht, dass die schon so schwer beladene Frau und noch dazu Gemahlin eines inzwischen mehrjährigen Mitstreiters sich vor ihm verbeugte. "Oh ja, ich probiere gerne eine davon - sie sehen verlockend aus und duften auch so!" Dass sie kurz am Boden lagen, störte ihn nicht im geringsten. Rasch legte er alle Gebäckstücke bis auf eines in den Korb zurück und biss herzhaft in das letzte hinein. "Und der Geschmack hält beide Versprechen!" lächelte der Krieger Merle und Liudbirg an. "Wohin wollt Ihr denn damit? Darf ich Euch tragen helfen? Ich kann gerne den Korb nehmen oder auch Euer Töchterlein… natürlich nur wenn Du es zulässt", zwinkerte er dem Mädchen zu. “Weißt Du schon, wie die Goblins reiten?”

"Oh, vielmals sei Euch gedankt!" Merle schaute Nivard offen und freundlich in die Augen. "Ich komme vom Fluss... also vom Lützelbach. Da hatte ich mich mit einer, ähm... Freundin getroffen", sie zog, wie von sich selbst überrascht, mit einem versonnenen Lächeln die Augenbrauen hoch, "...wir haben unsere Kinder zusammen auf der Wiese spielen lassen." Ihr wurde bewusst, dass sie dem fremden Mann viel zu viel, für ihn uninteressantes Zeug erzählte und besann sich auf seine eigentlichen Fragen. "Wohin? Ähm... eigentlich wollte ich mit ihr bloß zum Gutshof zurück, sie hatte heute ja keinen Mittagsschlaf... Aber dann hab ich noch ein bisschen den Treueschwüren zugeschaut..." Sie seufzte leise und musterte den Krieger mit einem gespielt-skeptischen Seitenblick. "Wollt Ihr Lulu wirklich tragen? Sie ist recht schwer. Ein Troll-Kind, könnte man sagen." Die so bezeichnete Kleine schaute Nivard hingegen mit unschuldiger, gelassen abwartender Miene an.

"Keine Sorge, auf meinen Schultern sind schon größere Kinder geritten. Wenn man Dich ein Trollkind nennt, so darf ich mich rühmen, bereits das arme Lasttier ausgewachsener Riesinnen gewesen zu sein... Und so wild wie dereinst meine jüngste Schwester wird Du mich doch nicht antreiben, hoffe ich wenigstens..." grinste Nivard. "Außerdem muss ich langsam wieder in Übung kommen. Mein ältester Sohn kommt bald ins reitfähige Alter... also... wollen wir?" Auffordernd hielt er Arme und Hände bereit, das Mädchen aufzunehmen, so dieses aus freien Stücken dazu bereit wäre.

"Na, probieren wir's... Ich garantier' für nichts", lachte Merle und reichte ihre Tochter bereitwillig zu Nivard hinüber; Lulu gluckste erfreut und streckte interessiert ihre Ärmchen nach ihm aus. Die junge Frau reckte, von der Last des kleinen Trolls befreit, ein wenig die Schultern und verstaute die Decke in ihrer Umhängetasche. "Sie scheint Euch zu mögen. Wie alt ist denn Euer Sohn, hoher Herr, wenn ich fragen darf?"

"Genau 10 Monde... und den Jahreswechsel." antwortete Nivard. "In ein paar Wochen bekommt er Verstärkung!" Mit Schwung und einem gespielten, aber von einem Grinsen begleiteten Ächzen hob Nivard Lulu in die Höhe und schwang sie auf seine Schultern. "Du bist ja tatsächlich schon ganz schön groß! Weißt Du auch schon, wie der Goblin macht?- So macht der Goblin:

Hoppel-di-hoppel-di-hoppel-di-hopp,

reitet der Gobeli-Gobeli-Gobelin-Gob,

auf der Wildsau Galopp, Galopp."

Dabei ging er zur Gewöhnung erst einmal an Ort und Stelle in eine sanft hüpfende Bewegung über, im Rhythmus des alten Kinderreims. Er wollte zunächst erspüren, ob die kleine Lulu an so etwas ihre Freude oder doch zu viel Angst hatte. Außerdem musste er die Körperspannung des Kindes kennen, bevor er sich wirklich an einen Schweinsgalopp machen durfte. "Und, gut? Nochmal? Wilder?"

Lulu blickte zunächst ein bisschen unsicher und skeptisch von seinen Schultern hinunter, schließlich war sie nun sehr, sehr weit oben... Doch schnell arrangierte sich das Mädchen mit ihrem neuen "Reittier", hielt sich mit ihren kleinen Händen an Nivards Kopf fest und begann erst leise und dann fordernder mitzulallen: "Gob, Gob... Gob! Gopp!!"

Grinsend nahm sich Merle nun auch eine der ramponierten Zimtschnecken aus dem Körbchen und biss hinein, während sie belustigt den übermütigen Ritt beobachtete - sie war glücklich, dass ihre kleine Tochter das Spiel aufgeweckt und scheinbar ohne Angst mitmachte und dankbar, dass der Tannenfelser sich so lustig und liebevoll darauf einließ. Als Lulu Nivards Ohren packte und daran zog, um ihn offenbar zu einem noch wilderen Schweinsgalopp anzutreiben, brach ein helles, schallendes Lachen aus der jungen Frau heraus. "Ihr macht das recht gut, hoher Herr", rief sie zu ihm rüber. "Kann man Euch auch zur Kinderbelustigung engagieren?"

"Inzwischen fast nur noch zu besonderen und seltenen Anlässen. Wie Festen, auf denen weder meine Schulter bereits besetzt ist noch ich die Aufgabe habe, für die Sicherheit der Anwesenden zu sorgen. Wie heute also." rief Nivard grinsend zurück, während er eine kleine Schleife nahm, um mit Schwung und unter dem Jauchzen Lulus über eine 'Achtung, Matschsuhle!’ (es war nur eine kleine Pfütze) zu springen.

Jedenfalls hoffte er, dass es heute so sein möge. Dass sein Schwert und seine Kampfkraft nicht gefordert wären. Er einfach nur Gast auf einem schönen Fest sein durfte - ohne Anschläge eines Paktiereres und seiner Schergen, ohne Freveltaten an Geweihten oder Stätten der Götter, ohne Feen oder andere Kreaturen, die nicht von dieser Welt waren und schlimme Dinge verkündeten, ohne unerklärliche Durchfallepidemien und ohne Umsturzversuche.

Kurz deutete das menschliche Reitschwein unter wonnigem Kreischen von seinem Rücken an, sich nach dem Sprung darüber doch noch samt Reiterin in ganzer Länge in die Suhle zu werfen, dann hielt er wieder auf Merle zu. "Ich glaube, Ihr müsst Euch einfach ein Reitschwein halten. Eure Tochter ist ein Naturtalent." In etwas gemächlicherem Sautrab ging er nun neben Gudekars Gemahlin her. "Werdet Ihr eigentlich auch noch Euren Treueschwur erneuern?" fragte er ganz unschuldig nach.

Merle freute sich daran, wie begeistert die Kleine sich auf Nivards Schultern amüsierte und ging beschwingten Schrittes neben ihm her. “Ein Reitschwein, was? Dass Ihr Lulu da mal keine Flausen in den Kopf setzt… Nachher will sie zum Tsatag wirklich eins haben.” Sie lachte wieder, ehrlich und freundlich, während sie ihre Zimtschnecke verputzte und sich anschließend dezent die Finger abzulecken versuchte. Bei Nivards Frage nach dem Treueschwur fror ihr Lächeln für einen winzigen Moment ein, doch fing sie sich schnell und winkte gelassen ab. “Nein, nicht dieses Jahr. Gudekar ist ja gestern erst spät abends nach Hause gekommen. Und er hat gerade soviel um die Ohren, macht sich so viele Sorgen, dass etwas Schlimmes passieren könnte, Ihr wisst schon… Ich wollte ihn damit nicht auch noch belasten.” Sie zuckte mit den Schultern und lächelte Nivard munter ins Gesicht. “Aber Ihr, junger Mann, müsst Euch ja auch sputen, nach den Festlichkeiten heim zu eilen, wenn die Niederkunft Eurer Holden in ein paar Wochen bevorsteht… Habt Ihr schon bei der Spielzeugtombola mitgemacht?”

Nivard registrierte durchaus Merles Zögern bei der Antwort auf seine Frage nach dem Treueschwur und auch ihre Begründung dafür. Ahnte Gudekar etwas? Rechnete er etwa damit, dass Pruch hier zuschlagen würde? Sofort wollte der Krieger in ihm die Kontrolle an sich reißen. Am liebsten wäre Nivard sofort zu Gudekar gelaufen und hätte ihn ins Gebet genommen, erfragt, was dieser wusste. Mühsam zügelte sich der junge Ambelmunder. "Wahrscheinlich sorgt Gudekar sich umsonst. Aber falls an seinen Sorgen etwas dran sein sollte, kann ein erneuerter Treueschwur und Travias Segen darauf nicht schaden..." Nivard schüttelte seinen Kopf und korrigierte sich: "Travias Segen kann grundsätzlich niemals schaden. Ich glaube nicht, dass Ihr Euren Gemahl damit belastet." Aufmunternd sah er Merle an, um dann auf ihren Themenwechsel einzugehen. "Ja, es wird ein schneller Ritt werden. Ich hoffe, unser Kind hat es nicht allzu eilig, das Derenrund noch im Travia zu erblicken, und wartet auf meine Rückkehr. Die hoffe ich in der Tat mit einem mitgebrachten Gewinn von der Tombola zu versüßen. Habt Ihr Euch denn auch daran beteiligt? Ich kann mir vorstellen, dass die junge Goblindame auf meinem Rücken daran ebenfalls ihre Freude hätte."

"Ich bin überzeugt, dass Travias Gnade und Gunst unseren Bund seit jeher und auch in Zukunft behüten", erwiderte sie mit einem frommen Lächeln. "Aber wenn Mutter Liudbirg und Vater Reginbald aus Albenhus hier eintreffen, um das Brautpaar zu trauen... vielleicht können sie dann auch über Gudekar und mich noch einen Segen sprechen…" Aus ihrer Mimik war flüchtig eine Mischung aus Unbehagen und Hoffnung abzulesen, dann wurde ihre Miene wieder entspannter. "Die beiden sind meine Zieheltern, wisst Ihr. Ich verdanke ihnen so unendlich viel." Die junge Frau versank für einige Schritte in tiefen Gedanken und starrte auf den Boden, dann blickte sie wieder zu dem Tannenfelser. "Ach so, die Tombola. Unserer kleinen Goblinprinzessin hat ihr Großvater schon vorab ein Spielzeug gesichert... eine ganz reizende Holzgans, die selbstständig einen Berg runter watscheln kann, könnt Ihr Euch das vorstellen? Die Sachen der Klingbachs sind so zauberhaft, finde ich!"

"Ja, ich habe auch gesehen, wie lebensecht die nicht nur aussehen, sondern sich sogar bewegen! Und das alles nur aus Holz! Hätte ich mich vorhin nicht mit eigenen Augen überzeugt, hätte ich gedacht, es sei zwergische Feinmechanik versteckt." teilte Nivard Merles Begeisterung für das Spielzeug. "Besonders die Gans. Die watschelt genau wie Akka und Bakka... oh, verzeiht. Akka und Bakka, das sind die beiden Wildgänse, die sich meiner Gemahlin und meiner Schwester vor zwei Jahren, am Tag unserer Vermählung angeschlossen haben.” Merle konnte spüren, wie dankbar und beeindruckt Nivard noch immer von diesem Zeichen Travias war. “Beide dienen der Gütigen Mutter als Geweihte. Ihr seid ja auch im Schoße Travias aufgewachsen? Direkt im Tempel zu Albenhus?"

Mit ihren großen braunen Augen blickte Merle den Tannenfelser erstaunt an. "Zwei Wildgänse?! Bei Eurer Hochzeit? Wie einzigartig, ein wahrhaftiges Wunder der Gütigen Mutter!" Sie strahlte begeistert, als sie sich die beiden watschelnden Gänse vor ihrem geistigen Auge vorstellte. "Ich würde Akka und Bakka ja so gerne einmal kennenlernen! Und du auch, Lulu, was?" Merle streckte den Arm nach ihrer Tochter auf Nivards Schultern aus und strich dieser liebevoll über den Rücken. "Und ja, ich... ähm, ich bin... war ein Waisenkind. Mutter Liudbirg und Vater Reginbald haben mich, so wie viele andere Kinder, im Waisenhaus des Tempels aufgenommen und adoptiert. Der Göttin und den Tempeleltern versuche ich diese Güte, die mir zuteil wurde, durch meine Arbeit im Anconiterkloster zu vergelten. Und ich glaube, da ist auch mein Platz...", ihre Stimme wurde nachdenklich und leise, als würde sie mehr zu sich selbst sprechen, "...auch wenn Gudekar nicht will, dass ich nach Albenhus zurückgehe..."

"Ich glaube, Gudekar macht sich große Sorgen um Eure Sicherheit. Alleine die Dinge, die wir gemeinsam gesehen haben... sehen mussten... seit wir uns damals, vor zwei Jahren erstmals begegnet sind, lassen mich verstehen, dass er Eure Tochter und Euch bestmöglich schützen will." Nivard sah Merle nachdenklich an. Auf einmal glaubte er zu erspüren, dass sie sich hier, so weit abseits ihrer Bestimmung, weg von ihren Zieheltern und ihrem Gemahl, fehl am Platze fühlte. Kurz zögerte er, dann fasste er sich ein Herz: "Es steht mir ja nicht zu und ich will mich auch nicht in Euer beider Angelegenheiten einmischen, aber um ehrlich zu sein, glaube ich, dass Gudekar sich darin irrt, dass Ihr in Albenhus, noch dazu in einem Anconiter-Kloster, nicht weniger sicher seid als hier. Wenn Ihr wollt, kann ich Gudekar darauf ansprechen." bot Nivard sich an. Er fühlte nicht nur mit Merle, sondern auch mit Gudekar, der sich in seiner Sorge um seine Lieben sogar selbst der schönen ersten Jahre mit seiner Familie beraubte. Er hatte hohen Respekt vor so viel Opferbereitschaft, aber er glaubte, dass dieses Opfer umsonst war.

Merle nickte ihm dankbar zu. "Nur, wenn Ihr ohnehin mit ihm redet und es sich vielleicht so ergibt..." Unsicher kaute sie auf ihrer Unterlippe. Sollte sie diesem jungen Mann so freimütig ihr Herz öffnen? Andererseits hatte sie praktisch sofort Vertrauen zu Nivard gefasst - genauso wie Lulu offenbar - und er war ja auch einer der Mitstreiter ihres Mannes. Sie seufzte und verzog den Mund zu einem müden Lächeln. "Ich weiß wenig von diesen Dingen und kann schlecht beurteilen, wie gefährlich es für mich und Lulu in Albenhus wäre. Oder ob wir wirklich eine... Zielscheibe wären, wenn Gudekar bei uns bleibt. Und inwiefern es der Sache hilft, wenn er auf unbestimmte Zeit in die Dienste des Barons von Tälerort tritt." Sie blickte Nivard forschend ins Gesicht, als würde sie sich aus seiner Reaktion einen Anhaltspunkt erhoffen, wie durchdacht Gudekars Pläne wirklich waren.

"Tälerort? Er will nach Tälerort? In der Rabenmark?" Nivard sah Merle überrumpelt an. "Das höre ich zum ersten Mal. Ich wusste nicht, dass er sich... aus der Sache... zurückziehen will." Der junge Krieger atmete tief aus. "Ich kann sie ja verstehen, seine Sorge um Euch und Lulu... Aber warum will er dazu ausgerechnet in die Rabenmark? Und warum lässt er Euch beide hier zurück?" Das ‘alleine auf dem Präsentierteller’ verkniff er sich. "Wenn, würde ich mit meiner Familie versammelt in eine der friedlicheren Provinzen gehen, wie Garetien oder Almada. Außerdem bin ich der Überzeugung, dass das einzige, das uns vor der Rache unseres Feindes sicher schützen wird, sein wird, ihn endlich zur Strecke zu bringen... ich dachte bislang, auch Gudekar wäre entschlossen dazu."

Merle schluckte, erwiderte Nivards Blick jedoch erstaunlich gefasst. "Nun ja, er hat schon gesagt, dass er dort, also in der Rabenmark, weiterhin einen Weg suchen will, um den Feind zur Strecke zu bringen. Indem er seine Studien fortsetzt und in den Diensten dieses Barons mehr über Dämonengezücht, Paktierer und dergleichen herausfindet." Sie zuckte ratlos mit den Achseln und schaute Nivard mit besorgter Miene an. "Seid bitte ehrlich mit mir, hoher Herr - was haltet Ihr davon? Müsste man, um einen Feind zu besiegen, nicht eher dessen Spuren verfolgen, solange sie… frisch sind?"

Nivard atmete tief aus - einerseits wollte er Gudekar nicht in den Rücken fallen, andererseits aber auch dessen Frau nicht anlügen - so kurz er sie erst kannte, so mochte er sie doch und fand, dass diese Unehrlichkeit nicht verdiente. Schließlich nickte er langsam. "Um ehrlich zu sein, ist Eure Meinung auch die meine - ich wüsste nicht, was es bringen soll, in der Ferne vor sich hin zu forschen - wir müssen hier an den Fersen des Feindes bleiben, um zuzupacken, sobald er sich wieder zeigt. Es wäre etwas anderes, wenn es ganz konkrete Hinweise darauf gäbe, dass in Tälerort eine wirksame Waffe gegen diesen Pruch zu finden wäre oder ein Geheimnis gelüftet werden könnte, das uns konkret weiterhilft. Aber einfach nur mehr über Dämonengezücht und Paktierertum zu studieren, wie es klingt, erscheint mir viel zu unspezifisch und wird uns am Ende kaum helfen." Für ihn klang Gudekars Plan nach Flucht, doch das sprach er vor Merle nicht aus. Zumal er nicht verstehen konnte, warum er dann Frau und Kind hier in den Nordmarken ließ.

Merle kniff leicht die Augen zusammen. Was Nivard sagte... in Verbindung mit den Vermutungen und Zweifeln, die vorhin im Gespräch mit Tsalinde aufgekommen waren... Log Gudekar ihr die ganze Zeit ins Gesicht? Nein, das konnte und wollte sie nicht glauben. Aber irgendwas stimmte nicht... Sie presste kurz die Lippen zusammen, straffte sich und schaute Nivard mit offenem und sichtlich dankbaren Blick in die Augen. "Wenn sich vielleicht die Möglichkeit ergibt, dass Ihr einmal mit ihm redet... Aber nur, wenn es keine Umstände macht..." Inzwischen hatten sie den Gutshof des Edlengutes erreicht und Merle lächelte den Tannenfelser aufgeräumt an. "So, da wären wir! Dann würde ich unsere verwegene Goblin-Dame jetzt wieder in Empfang nehmen und Euch endlich von Eurer schweren Bürde erlösen", sie zwinkerte ihm betont heiter zu, "...und nochmals vielen Dank! Für alles."

"Keine Ursache. Es war mir eine Freude, Euch und Eure Tochter kennengelernt zu haben." Nivard sah Merle mit einem ernsten Lächeln in die Augen, das deutlich verriet, dass seine Worte nicht nur eine schnell dahingesagte Floskel waren, sondern von Herzen kamen. Dann hob er Lulu vorsichtig von seinen Schultern und übergab sie mit einem Augenzwinkern an Merle: "In ein paar Jahren lernen die Goblin-Jäger von Dir das Reiten, Du kleiner Wildfang!" Er wartete ab, bis die Kleine wieder bei ihrer Mutter war, ehe er sich noch einmal mit leiser Stimme an Merle wandte: "Ich rede mit ihm. Und macht Euch keine Gedanken wegen irgendwelcher Umstände. Es ist mir selbst ein Anliegen."

"Ich kann nicht sagen, wie dankbar ich Euch bin", gab Merle ebenso leise zurück. "Falls wir uns während des Festes nicht noch mal länger sprechen - was ich aber doch stark hoffe - wünsche ich Euch und Eurer Holden schon einmal alles Gute für die Geburt Eures Jüngsten!" "Habt bereits meinen Dank”, erwiderte Nivard. “Aber wir werden uns auf jeden Fall noch einmal länger sprechen, ehe dieses Fest vorbei ist, das verspreche ich Euch." Sie schaute ihm warm und herzlich in die Augen. "Auch wenn ich Eure Frau nicht persönlich kenne, bin ich mir sicher, dass ich sie sehr mögen würde. Wenn sie schon eine Wildgans zur Freundin hat!" "Sie würde Euch ganz gewiss ebenfalls sehr mögen”, war sich auch Nivard sehr sicher. “Wir müssen unbedingt einen Anlass finden, dass ihr uns einmal besuchen kommt." Sie strahlte und wuschelte ihrer Tochter liebevoll durchs Haar. "So, Lulu, dann werden wir mal schauen, womit wir deinen unersättlichen Hunger heute stillen können..." Zu Nivard neigte Merle noch einmal lächelnd den Kopf und schickte sich dann an, mit Lulu in Richtung des Hauses zu eilen. "Gob! Gob!!!" rief die Kleine dem Tannenfelser laut und durchdringend zu. "Gollop!"

Nivard erwiderte Merles Geste, ehe er auf Lulus Abschiedsgruß hin lachen musste. Kurz sah er den beiden noch nach, bis sie im Haus verschwunden waren. Gudekar sollte bloß keinen Unfug treiben, mit zwei so wunderbaren Menschen an seiner Seite.

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Ruhepause (Boronstunde)

Nachdem auch das letzte Paar seinen Treueschwur erneuert hatte, löste sich das Festtreiben zunächst ein wenig auf. Die Tische wurden abgeräumt, das Geschirr gewaschen. Dann wurde vor der Bühne Platz geschaffen, damit am Abend getanzt werden konnte.

Viele Lützeltaler und Gäste zogen sich für eine Weile zurück, entweder um dringende Angelegenheiten zu erledigen, oder um sich vor der Feier am Abend noch ein wenig auszuruhen und frisch zu machen.

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Rahjasegen für Familie Kalterbaum (Boronstunde)

Rajalind hieß die drei Liebenden auf der Decke vor dem Schrein Platz nehmen. Gemütlich sollten sie es sich machen, ablegen, was sie nicht benötigten, was einengte oder störte. Taschen, Gürtel, Schuhe, Rüstung, Waffen,…nichts sollte bleiben, was nicht notwendig sei in den nächsten Augenblicken.

Gerne folgten Tsalinde, Lys und Isavena der Aufforderung und legten alles ab, bis Lys nur noch in Wams und einer leichten Hose, die Damen jeweils nur noch in ihren Unterkleidern auf der Decke saßen. Zwischen ihnen saß Siegmund und beobachtete alles still und mit großen Augen.

Rajalind selbst entzündete ein Räucherklötzchen in einer flachen Kupferschale, dessen Duft sich sogleich schwer über die kleine Gruppe legte, wie eine warme samtene Decke. Die Geweihte füllte drei Kelche mit dem Inhalt einer der Flaschen und reichte jedem einen davon.

„Wenn ihr einen Rahjabund wünscht, dann besucht mich im Rosentempel! Denn hier vermag ich nicht alle Segnungen zu sprechen. Aber ich werde das, was euch verbindet, segnen, das kann ich.“ erklärte Rajalind ihren Besuchern. Dann schmunzelte sie noch etwas mehr. „Und wenn ihr darüber hinaus die Hingabe der Heiteren für das Erlebnis einer wunderschönen gemeinsamen Nacht möchtet - auch das kann ich für euch tun.“ Sie ließ das Angebot einfach so stehen, denn eine Antwort erwartete sie nicht gleich, Stattdessen deutete sie Isavena, Tsalinde und Lys an, die Kelche zu erheben und sie sprach:

„Seht euch immer zu zweit an, seht euch in euer Gesicht, spürt, was ihr einander empfindet. Ergründet, was es ist, das ein Band zwischen euch weht. Liebe? Freundschaft? Vertrauen? Wisset ein jedes Gefühl von Zuneigung ist richtig und gut. Dann trinkt ohne den anderen dabei aus den Augen zu lassen, und dann gebt euch einen sanften Kuss. So stimmen wir uns ein auf euren Segen. Habt bitte keine Scheu voreinander.“

Isavena und Tsalinde begannen, schauten einander tief in die Augen. Sie beiden kannten sich seit Jahren und Isavena war die einzige aus der Zeit ihrer Kindheit, die Tsalinde noch geblieben war. Ihre Zuneigung und Liebe zueinander war aus einer Kenntnis voneinander gewachsen, die bis tief in ihrer jeweiligen Seele ging. Ihre Liebe begann als Schwestern im Geist und war nun eine Liebe zweier Frauen ggf. zueinander, die bereits eine Menge guter und schlechter Zeiten gemeinsam erlebt hatten. Sie tranken und küssten sich.

Dann wandte sich Tsalinde an Lys. Ihre Geschichte begann als Lehrer und Schülerin und ihr Bündnis mit einer Vereinbarung aus der Not. Daraus erwachsen waren Liebe und Respekt füreinander, für das Leben des anderen, dessen Leistungen, aber auch für die Entscheidungen, die getroffen wurden und die Art, die Dinge anzugehen. Durch ihren sehr rational geschlossenen Traviabund bildete sie dennoch nun eine Familie, zu der auch Isavena und Siegmund gehörten. Sie tranken und küssten sich.

Isavena und Lys blickten einander an. Erst etwas unsicher ob es überhaupt ein Band geben würde, ob nicht allein Tsalinde sie verband. Doch dann sahen sie es. Ein Strang, geflochten aus Pflicht und Hingabe, aber durchwirkt von Zuneigung und Liebe verband sie und so tranken auch diese beiden und küssten sich.

Während dessen hatte die junge Geweihte Siegmund ein Kekschen zugesteckt, damit seine Eltern ungestört waren. Das Zögern in den Gesten von Isavena und Lys war ihr aufgefallen, aber die beiden hatten sich selbst völlig ohne zutun überwunden, also gab es für Rajalind keinen Anlass zur Sorge. Jetzt sah sie auf zu den dreien und sprach: „Legt nun eure Hände ineinander, aufeinander, ganz gleich. Vielleicht wollt ihr sie auch auf den kleinen Mann legen?“ schlug sie vor. „Immerhin scheint er in eurem Bündnis einen großen Platz einzunehmen.“ Sie schmunzelte wissend.

Die drei lachten, rutschten näher zu Siegmund, der das für ein neues Spiel hielt und vor Vergnügen laut lachte. Lys streckte seine Hände in die Mitte und legte sie dort auf den Kopf des Jungen. Isavena und Tsalinde folgten seinem Beispiel, doch gerade, als die Rahjani fortfahren wollte ließ sich der Junge fallen und streckte alle Viere hoch zu den Händen über ihm. Nun waren sie alle miteinander verbunden.

Die Rahjani zog von irgendwo jene kleine Phiole hervor, mit deren Inhalt sie schon die anderen Paare auf dem Marktplatz gesegnet hatte. Sie träufelte etwas auf ihre Fingerspitzen und zeichnete nacheinander jedem von ihnen mit dem Rosenöl auf Stirn und Lippen. Zum Schluss bedachte sie nicht nur Siegmund mit einem verzückten warmherzigen Schmunzeln, sondern tupfte auch auf die Stirn des Buben etwas von dem Öl.

Als allerletztes legte Rajalind ihre eigene Hand auf die der Gläubigen. „Rahja, die Heitere, die Schöne, die Genießende, die Leidenschaftliche, die Patronin aller Liebenden lehrt uns: Seid nicht scheu voreinander, und schämt euch nicht, zu sein, wer ihr seid, zu fühlen, wie ihr fühlt. So euch nicht nur Pflicht, sondern auch Liebe gefunden hat, dann haltet sie fest in euren Herzen, ganz gleich, was andere denken. Denn das, was ihr durch jenes Band aneinander habt, wird für euch Feuer sein in kalten Tagen, ein Licht in dunkler Nacht, eure Seelen bewahren, und euch erheben über alle Urteile dieser Welt.“ dabei blickte sie Isavena, Tsalinde und Lys nacheinander mit glutvollem Blick - der von ihrer Entrückung kündete - in die Augen, bevor sie ihre Lider schloss, tief ein- und ausatmete, und mit warmer, weicher Stimme fortfuhr, ihren Segen über die kleine Familie auszusprechen.

„Heitere Herrin Rahja, diese drei Seelen tragen deine Liebe in ihrem Herzen. Sie sind dein, weil du ihre Herzen und Seelen vereinst. Schenke Isavena, Tsalinde und Lys Freude, erfülle sie mit innerer Harmonie und lasse ihre Herzen und Seelen erklingen wie eine einzige Melodie. Erfülle ihr Sein mit Hingabe für ein Leben miteinander, so dass sie gemeinsam bestehen können, gegen die Fährnisse dieser Welt und lass sie im Namen deiner Schwester Travia füreinander sorgen. Lass ihre kleine Gemeinschaft gedeihen wie Ranken an deinem Rebstock und Früchte tragen. Und erfülle sie, wann immer sie es wünschen, mit deiner göttlichen Leidenschaft.“

Dann rückte die Geweihte näher, und küsste jedem von ihnen zum Abschluss des Rituals auf die Stirn und war dann im Begriff aufzustehen. Vorher aber sagte sie:

„Ihr dürft gerne noch bleiben. Austrinken. Genießen. Vielleicht wollt ihr miteinander sprechen. Tut, was immer ihr möchtet, hier darf jeder bleiben, so lange er oder sie möchte.“ Die Geweihte schmunzelte, wirkte aber etwas müder als noch eben. Sie würde sich gleich etwas zurückziehen, das viele Segenspenden erschöpfte dann doch, wie es gleichermaßen die große Zufriedenheit in ihr nährte, zu sein, was sie sein sollte.

Die beiden Frauen konnten nur nicken, waren so gerührt von diesem Ritual und der Berührung der Göttin.

Lys räusperte sich kurz, dann sprach er für sie alle. “Wir danken dir von ganzem Herzen, dass du in Ihrem Namen zu uns gesprochen und uns den Segen gewährt hast.” Dann schaute er zu den anderen und fügte hinzu. “Wir würden gerne noch ein wenig bleiben.”

Die Geweihte nickte. „Gerne. Ich lasse euch dann mal Zeit füreinander.“ Dann zog sie sich zurück.

Die drei Erwachsenen nahmen Siegmund in ihre Mitte und kuschelten sich aneinander, genossen ihre Verbundenheit und ihre Liebe füreinander. Innerhalb weniger Sekunden schlief Siegmund friedlich und auch die Erwachsenen ruhten friedlich im Segen der Liebenden.

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Die einsame Ritterin

Nachdem Mika von ihrem Lehrmeister Firumar eingesammelt und Imelda ihr Quartier bei dem zwergischen Schmied aufgesucht hatte, fühlte sich Meta allein und verlassen in diesem fremden Dorf, in dem sie ihrem Geliebten zuliebe nicht die sein durfte, die sie eigentlich war. Wie ein schwerer Stein lag die Sorge auf ihrem Herzen: würde Gudekar – ihr Gudekar – wirklich standhaft bleiben? Oder würde er der Verlockung folgen und zu seiner Ehefrau zurückkehren, die ihn scheinbar immer noch abgöttisch liebte? Mit trüben Gedanken schaute sie sich an den aufgebauten Ständen um, doch keine der dargebotenen Köstlichkeiten oder Waren konnte sie wirklich reizen. Plötzlich spürte sie einen Kuss auf der Wange und ein vertrauter Geruch stieg ihr in die Nase. Es war Gudekar, der sie an einem Stand vor der Bäckerei entdeckte.

“Grüß dich Meta! Hast du einen guten Vormittag gehabt? Willst du eine Zimtschnecke? Ulfried macht ausgezeichnete Zimtschnecken! Stimmt’s nicht Ulfried?” richtete der Magier seine letzte Frage an den Bäcker Runkler.

Meta zuckte erst überrascht zusammen, dann strahlte sie vor Glück und seufzte erleichtert. „Mann! Pass auf, doch nich hier vor allen.“ Sie lachte Gudekar gelöst an. „Gerne und dann lass uns irgendwo hingehen, wo man uns nicht belauschen kann. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwierig und nervig, nein, nervenaufreibend das für mich ist. Ich bin ich, so hast du mich gern. Jetzt bin ich die Karikatur einer Ritterin, die von potentiellen Feinden umgeben ist.“ Trotzdem griff sie versteckt nach Gudekars Hand und drückte sie.“Ich bin stolz auf dich. Es war lieb, dass du geblieben bist.“

Ulfried blickte skeptisch zu Meta und Gudekar, antwortete dann aber auf Gudekars Frage. “Selbstverständlich, gelehrter Herr, das sind die besten Zimtschnecken im ganzen Albenhusischen. Ich habe frischen Zimt aus Maraskan dafür verwendet. Extra für diese Feier.” Noch einmal schaute der Bäckermeister fragend zu Meta.

Misstrauisch äugte sie nochmals um sich. „Der Bäcker da, bei dem du diese Schnecken kaufen willst. Der hat uns glaub ich beobachtet. Du kaufst bei ihm, ich regele den Rest.“ Ihre Rechte strich fast liebevoll über den Knauf ihres Schwertes.

Gudekar lachte. “Lass gut sein, Meta. Der gute Ulfried wird doch nichts dagegen haben, wenn ich eine alte Freundin begrüße.” Grinsend schaute er zu dem Bäcker.

“Was die hohen Herrschaften tun oder lassen, geht mich nichts an!” gab Ulfried von sich und reichte zwei Gebäckstücke an Meta und Gudekar.

“Das will ich wohl meinen. Du weißt ja Ulfried, sonst verwandle ich dich und deine Familie in warzige Kröten”, scherzte Gudekar mit einem Augenzwinkern.

„Sehr geschickt gelöst mein Herr“, antwortete Meta und biss genüsslich in die Zimtschnecke. „Lass uns nun ein ruhiges Plätzchen suchen und reden, was so passiert ist.“ Meta war unglaublich neugierig.

“Gut, lass uns zum Bach gehen und uns da ein wenig ans Ufer setzen.” In die Zimtschnecke beißend schlug er den Weg in Richtung der Brücke ein. Dort angekommen suchte er einen Pfad entlang des Ufers, bis sie einen größeren Felsen erreichten, auf dem sich Gudekar gemütlich niederließ.”Schmeckt’s?”

„Hmmmhmm“, nickte Meta mit vollem Mund. So etwas hatte sie noch nie gegessen, aber das Rezept musste sie nach Linnartstein mitnehmen. Auf jeder Schnecke noch eine aufgestellte, verzuckerte runde Frucht, das würde denen dort gefallen. Sie wusch sich die klebrigen Hände und das Gesicht. „Gudi, du bist heute so viel ruhiger, als gestern. Dabei hattest du unübersehbar anderswo als bei deiner Frau geschlafen. Wie hat sie reagiert?“

Gudekar warf ein paar Krümel von dem Gebäck einer Entenfamilie zu, die auf dem Bachlauf schwamm. „Ach, sie war erstaunlich gefasst. Ich denke, sie wird akzeptieren, dass ich nicht mehr der ihre bin, dass ich nichts mehr für sie empfinde.“

Meta gab Gudekar einen Kuss auf die Lippen. „Ich bin stolz. Es ist sicher schwer, aber da musst du leider durch, wenn du wirklich der Meine bist. Das schaffst du. Du bist doch heute wieder bei mir. Ach noch was. Wie schaffst sie es denn, dich so zu verunsichern? Wenn man euch beide sieht, merkt man genau, wie du kämpfst.“

Gudekar atmete tief ein. “Weißt du, es ist wirklich nicht leicht für mich. Ich habe mich an sie gewöhnt. Merle ist ein Teil von mir. Sie ist für mich fast so etwas wie meine Schwester. Es fällt mir schwer, ihr weh zu tun. Verstehst du das?”

“Ich kann es nachvollziehen, selbst, wenn es mir nach dem, was du mir geschrieben hast, schwerfällt.” Er wurde schwach, das merkte sie. Hoffentlich nicht zu schwach.

Gudekar schaute Meta an. Sie schaute fesch aus, in ihrer ritterlichen Gewandung, mit ihrem eigenen Schwert an der Seite. Er verstand, was Meta ihm vorwarf. Ja, er war schwach geworden in der Gegenwart von Merle. Seine Frau machte es ihm auch wirklich nicht leicht. Obwohl er sich seit zwei Jahren immer mehr von ihr zurückgezogen hatte, schien sie es sich in den Kopf gesetzt zu haben, noch einmal um seine Gunst zu kämpfen. Und sie kämpfte mit allen Waffen, die sie aufzubieten hatte. Doch Gudekar war standhaft geblieben, hatte sich von Merle nicht verführen lassen, obwohl die Verlockung groß war. Nein, er wollte nicht zurück in sein altes Leben. Er freute sich auf die Veränderungen, die er in seinem Leben geplant hatte. Und der zentrale Baustein dieser Veränderung war das Zusammensein mit Meta. Er wollte nicht riskieren, sie zu verlieren. Das würde sein Herz zum Bersten bringen. “Komm her, mein Schatz, komm zu mir.” Der Magier zog seine Geliebte näher an sich ran und erwiderte ihren Kuss, den sie ihm eben gegeben hatte. Hast du mit den Rahjani sprechen können? Können wir morgen unseren Schwur erneuern?”

„Kurz, aber er meinte, es wäre alles in Ordnung. Bleib heute Nacht wieder bei mir. Wenn es geht. Bitte.“

„Nichts lieber als das!“, lächelte Gudekar sie an.

Meta, die so genannte Liebe seines Lebens, lächelte voller Glück. “Gudi, du ahnst gar nicht, was mir das bedeutet.“ In ihre Züge schlich sich Unsicherheit. „Mein Schatz, du bist so gestresst. Ich hab Angst, dass es dir zuviel wird und du am Ende verfälltst du Merle und gibst auf.“ Auch Meta lockte nun Enten herbei, welche sich schnatternd auf das Futter stürzten. „Du weißt, dass ich dir völlig vertraue. Das ist die Basis unserer Beziehung.“ Sie lächelte verschmitzt, aber Gudekar sah, wie ernst es ihr war. „Ich bleibe, wie ich bin. So hast du mich gewählt. An Schönheit ist Merle mir überlegen. Bei Rahja, uns verbindet mehr.“ Einem Impuls folgend, küsste sie ihn voller Leidenschaft, spielte etwas mit seiner Zungen und ließ dann errötend von ihm ab. „Tut mir leid, Gudi, es überkommt mich einfach. Ich will dich nicht zu sehr belästigen. Auch sexuell nicht. Ich liebe es einfach. Aber es soll dir nicht zu viel werden.“

Der Magier genoss Metas Kuss und erwiderte das Spiel ihrer Zunge. Ob sie jemand sah in diesem intimen Moment sah? Es war ihm egal! Er liebte Meta. Und am liebsten hätte er es in die Welt hinaus geschrien. Sollte es doch jeder wissen. Dann müssten sie sich nicht mehr verstecken. Und doch, sie müssten sich verstecken vor den Häschern der Traviakirche. Aber das wäre es wert. „Es muss dir nichts leid tun. Ich freue mich, dass du so empfindest. Wir warten noch kurz. Wir haben zwei Götterläufe gewartet, dann schaffen wir es auch noch zwei Tage. Und dann verlassen wir Lützeltal Hand in Hand, Arm in Arm. Und ich meine nicht nur den Ort, sondern ich meine all das, wofür Lützeltal für mich steht.“

„Ach mein Kleiner. Du musst lernen, meine Fragen richtig zu beantworten. Du redest und redest, am Ende bin ich auch nicht schlauer.“ Sie lachte und schüttelte den Kopf. „Na? Du schläfst heute bei mir und wir können uns einfach nur wärmen, wenn dir danach ist, ja?“ Liebevoll nahm sie seine Hand. “Bleib einfach noch etwas bei mir.“

“Ich habe dich vermisst.” Gudekar hob ihre beider Hände und küsste ihren Handrücken. “Einfach nur deine Nähe.”

„Ich vermisse dich dauernd. Lass uns die Wanderung hinter uns bringen und dann etwas lästern. Das gehört auch in schweren Zeiten dazu.“ Schelmisch kniff sie Gudekar in die Backe und bot ihm die Hand. Um ihm beim Aufstehen zu helfen.

Gudekar nahm Metas Hand an und stand auf. “Pass auf, Meta, ich muss dir was zeigen. Folge mir!” Er zog sie, immer noch an der Hand haltend, zurück in Richtung Dorf.

Sie musste grinsen. Linny hätte sich von ihr nie aufhelfen lassen. Jetzt war sie aber neugierig. „Im Dorf? Pass auf, dass du nicht über deinen Sack von Kutte stolperst.“ Sie lachte fröhlich, er würde es schon als Scherz verstehen und es musste irgendwas spannendes sein.

“Ich werde mich bemühen”, lachte Gudekar. Er führte Meta bis vor das Brauhaus, in dem Meta ein Zimmer bezogen hatte, und in dem die Rahjanis ihr Refugium aufgebaut hatten. “Was kennst du von diesem Haus?” fragte er Meta.

„Ahm, den Frühstücksraum und mein Zimmer.“ Gespannt wartete sie, auf was Gudekar hinauswollte.

Der Magier führte Meta zu dem Eingang, den sie schon in der letzten Nacht genommen hatten, um in Metas Zimmer zu kommen. Doch statt die Treppe hochzugehen, ging Gudekar den Flur entlang zu einer unscheinbaren Tür. Als er feststellte, dass die Tür verschlossen war, griff er auf den Türrahmen, der einen Fingerbreit aus der Wand hervorstand. Und tatsächlich ertastete er einen Schlüssel, mit dem sich die Tür öffnen ließ. Die beiden traten in einen dunklen Raum ein. Gudekar ließ seinen Magierstab aufleuchten. Nun sah Meta, dass sie in einem großen Raum standen, in dem auf der einen Seite eine Apparatur aus einem großen Kupferkessel und zwei Zylindern, verbunden durch mehreren Röhren, stand. Auf der anderen Seite war ein Regal mit mehreren Regalen aufgebaut, in dem einige Glasballons sowie mehrere kleinere Holzfässchen gelagert wurden. In den Glasballons sah man mit verschiedenen Füllständen unterschiedliche Flüssigkeiten in verschiedenen Farben.

Gudekar sah Meta wortlos strahlend an.

Wortlos sah auch Meta das Gebilde an. “Oh… ist das?” Sie vermutete etwas, um Schnaps herzustellen, aber als sie Gudekar sah, wusste sie es besser und klatschte freudig in die Hände. “Ist das dein, dein Labor oder? Wie hast du das hergebracht, das ist ja fantastisch.”

Gudekar lachte. „Beides, vielleicht. Nein, es ist die Brennstube des Rodenbachs. Aber als ich noch ganz klein war, bevor mich Vater und Mutter zu meinem Lehrmeister gegeben haben, da habe ich hier ganz oft dem alten Ulbert beim Destillieren geholfen. Ich hab dann bei der Jagdhütte, wo wir nachher hinwollen, die Kräuter gesammelt und mit Ulbert den Sud gekocht, aus dem dann der Albenbluth gebrannt wird.“ Der Anconiter schaute stolz.

Seine Begleiterin fand Gudekar in diesem Moment einfach nur unglaublich liebenswert besonders. Lächelnd und staunend betrachtete sie den Raum genauer. Ihr war bewusst, und das erfüllte sie wohlig, dass er ihr ein Stück seiner Kindheit offenbart hatte. Er musste damals schon sehr intelligent gewesen sein. Dann umarmte sie ihn ganz fest und flüsterte in sein Ohr. „Danke. Danke, dass du mir das gezeigt hast. Du bist ein ganz arg lieber, intelligenter und spezieller Mann.“

Gudekar zog Meta ganz fest zu sich heran und flüsterte zurück: “Du bist berauschender als jeglicher Branntwein!” Mit seinen Lippen knabberte er liebevoll an ihrem Ohr.

Sie kicherte und bekam eine Gänsehaut. „Zeig mir das heute Nacht und bleib wieder bei mir. Und wenn du mich nur festhältst.“ Meta entwand sich ihm. „Wir müssen gehen, die Ruhezeit wird bald enden. Sollte ich Merle treffen, werde ich mich ihr gegenüber normal verhalten. Ach, sie ist auf ihre natürliche Art und mit den langen Haaren wirklich sehr schön. Aber wir haben ja auch noch andere Werte.“ Sie nahm Gudi bei der Hand, bereit, zu gehen.

“Das weiß ich doch. Das musst du mir nicht extra beteuern. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. Und ja, wir sollten jetzt gehen. Es wird bestimmt langsam dunkel.” Er führte sie zur Tür hinaus, schloss wieder ab und legte den Schlüssel zurück an seinen Platz. Mit einem gespielt strengen Ton belehrte er Meta, schmunzelte dabei jedoch: “Aber Meta, nicht heimlich herkommen und die Vorräte pründern! Erlwulf weiß genau, was hier alles gelagert ist!”

Keck sah sie ihn an. „Wir vertrauen uns doch.“ Dann gingen sie zum Fest zurück.

~*~

Gesang und Tanz am Abend (Firunstunde)

Die Praiosscheibe war bereits hinter den Baumwipfeln der Haderholzes versunken und die Dunkelheit zog auf, als sich der Dorfplatz langsam wieder füllte. Überall waren Feuerschalen angezündet, um den Platz zu erleuchten. Daneben waren kleine Stapel mit weiteren Brennholzscheiten errichtet. Ein wohliger Geruch nach Rauch lag in der Luft, zumal die vom Bach aufziehende Feuchtigkeit die Luft nach unten drückte.

Die Mitte des Dorfplatzes war für den Tanz und künstlerische Darbietungen freigeräumt worden, doch am äußeren Rand standen noch immer einige Tische und Bänke bereit für Gäste, sich noch einmal an den restlichen Speisen stärken oder bei einem Becher Wein oder einem Humpen frisch gezapften Sauerbiers einer gepflegten Konversation nachgehen wollten.

Der Gesang des Barden

Als schließlich die meisten Gäste auf dem Platz angekommen waren, betrat die Rahjageweihte Rajalind von Zweibruckenburg die Bühne und bedeutete den Musikern, eine Pause einzulegen. Diese beendeten mit einem fröhlichen Tusch ihr Spiel, so dass die Aufmeksamkeit der Gäste zur Bühne gerichtet war.

„Liebe Feiernden, bevor der Abend fortschreitet und wir uns der Sangeskunst des edlen Herrn von Dürenwald erfreuen dürfen, kommt mir nun die besondere Freude zuteil, alle frohen Herzen, die sich an den schönen Dingen unserer Welt erfreuen können, zu einem ganz besonderen Spaziergang einzuladen. Wir wollen gemeinsam zur späten Stunde mit Fackeln zur” sie verlieh ihren Worten etwas Geheimnisvolles, “sagenumwobenen Quelle des Lützelbachs pilgern, und, sofern uns die Herrin Hesinde hold ist, wird sie sich uns im Schein des vollen Madamals in all ihrer von den Göttern gegebenen hinreißenden und möööglicherweise geheimnisvollen Schönheit zeigen.” verkündete die Geweihte, selbst freudig aufgeregt, bevor ihr auffiel, dass ihre letzten Worte vielleicht missverständlich waren. “Also die Quelle, nicht die Herrin Hesinde!” berichtigte die junge Frau herzlich lachend, bevor sie Praiogrimm Waldgrun einen prüfenden Blick zuwarf, ob sie nichts vergessen hatte. Immerhin hatte der Dorfvorsteher sie erst vorhin gebeten, ob sie diese Verkündigung übernehmen würde. “Ach ja, wer mitkommen möchte: wir treffen uns zu Beginn der Phexenstunde an der Brücke über den Lützelbach.”

Nebendran nickte der Dorfvorsteher, schaute aber mit Sorgen auf den Himmel, der sich mit leichten Wolken zuzog, und das volle Madamal verdeckte.

Die Rahjani hatte jedoch noch nicht ausgesprochen. “U-huuuund morgen früh lädt Bruder Firumar zur firungefälligen Jagd auf eine…Gruppe?” Ihr Blick ging wieder zu Praiogrimm, der ihr liebenswürdig mit “Rotte” aushalf, “...Jagd auf eine Rotte Wildschweine ein. Ein gefährliches Unterfangen und nur etwas für wahre Jäger! Wer dies einer ist und mitgehen möchte, sollte heute lieber nicht mehr so viel trinken!” Die Geweihte schmunzelte belustigt bei diesem dann doch für Rahjanis untypischen Ratschlag, “Denn es geht schon früh in den Wald. Nun ja.” Rajalind zuckte mit den Schultern und überließ es den Zuhörer zu interpretieren, wie sie das fand. “Alle anderen sind eingeladen, hier im Dorf zahlreichen Vergnügungen nachzugehen. Es wird für Kurzweil und Freude für Jung und Alt wohl gesorgt sein.” Dann hob sie die Hände und breitete sie liebevoll über die Anwesenden aus und sprach mit liebevoller Stimme: “Bis dahin, Heitere Göttin, beherrsche deine Harmonie und deine Freude in unseren Herzen, schmeichlen Genüsse aus Küchen und Kellern unsere Kehlen und möge dein Segen auf uns allen liegen, die wir weiten, frohen Herzens sind, bis zur deiner lieblichen Morgenröte!” rief sie den Feiernden hingebungsvoll zu. Sie schien auf einmal innerlich zu leuchten, die Blumen in ihrem Haar wirkten lebendig, ebenso ihre Hautbilder und für den Moment schloss sie genießend die Augen. Wärme und Zufriedenheit strömte in die Herzen der Anwesenden. Als die Geweihte die Augen wieder öffnete sah sie müde aus.

Sie wollte sich allerdings eines nicht nehmen lassen: “Und nun lassen wir uns von den Klängen des Barden Corwyn verzaubern!”

Zuletzt machte die Rahjageweihte eine ausladende Armgeste, mit der sie zur Seite trat.

Und Corwyn von Dürenwald konnte seine Ballade vortragen, begleitet von den Klängen einer Laute:

"Ich gebe euch zu Ohren einen Sang des Barden von Munichhausen, dem ich einst lauschen durfte. Er nannte sie "Ballade vom Brennesselbusch" was fürderhin nicht travianisch anklingt. Doch am Tag der Treue mag dies alveranweit gesehen werden. Nicht immer deutet diese Tugend auf das Glück gerade Lebenswege hin."

Liebe fragte Liebe: „Was ist noch nicht mein?“

Sprach zur Liebe Liebe: „Alles, alles dein!“

Liebe küßte Liebe: „Liebste, liebst du mich?“

Küßte Liebe Liebe: „Ewig, ewiglich!“—

Hand in Hand hernieder stieg er mit Maleen

von dem Heidehügel, wo die Nesseln stehen,

eine Nessel brach er, gab er ihrer Hand,

zu der Liebsten sprach er: „Uns brennt heißrer Brand"

Lippe glomm auf Lippe, bis die Lust zum Schmerz,

bis der Atem stockte, brannte Herz auf Herz,

darum, wo nur Nesseln stehn am Straßenrand,

wolln wir daran denken, was uns heute band!“

Spricht von Treu die Liebe, sagt sie „ewig“ nur,-

ach, die Treu am Mittag gilt nur bis zwölf Uhr,

Treue gilt am Abend, bis die Nacht begann –

und doch weiß ich Herzen, die verbluten dran.

Krieg verschlug das Mädchen, wie ein Blatt verweht,

das im Wind die Wege fremder Koppeln geht,

und ihr lieber Liebster stieg zum Königsthron,

eine Königstochter nahm der Königssohn.-

Sieben Jahre gingen, und die Nessel stand

sieben Jahr an jedem markschen Straßenrand,

wer hat Treu gehalten? Travia nur weiß,

ob nicht wunde Treue brennet doppelt heiß!

Bei der Jagd im Walde stand mit schwerem Sinn,

stand am Knick der König bei der Königin,

Nesselblatt zum Munde hob er wie gebannt,

und die Lippe brannte, wie sie einst gebrannt:

„Brennettelbusch,

Brennettelbusch so kleene,

wat steihst du so alleene!

Brennettelbusch, wo is myn Tyd‘ eblewen,

un wo is myn Maleen?“

„Sprichst du mit fremder Zunge?“ frug die Königin,

„So sang ich als Junge“, sprach er vor sich hin.

Heim sie ritten schweigend, Abend hing im Land,-

seine Lippen brannten, wie sie einst gebrannt!

Durch den Garten streifte still die Königin,

zu der Magd am Flusse trat sie heimlich hin,

welche Wäsche spülte noch im Sternenlicht,

Tränen sahn die Sterne auf der Magd Gesicht:

„Brennettelbusch,

Brennettelbusch so kleene,

wat steihst du so alleene!

Brennettelbusch,

ik hev de Tyd ‚eweten,

dar was ik nich alleen!“

Sprach die Dame leise: „Sah ich dein Gesicht

unter dem Gesinde? Nein, ich sah es nicht!“

Sprach das Mädchen leiser: „Konntest es nicht sehn,

gestern bin ich kommen, und ich heiß Maleen!“-

Viele Wellen wallen weit ins graue Meer,

eilig sind die Wellen, ihre Hände leer,

eine schleicht so langsam mit den Schwestern hin,

trägt in nassen Armen eine Königin.—

Liebe fragte Liebe: „Sag, weshalb du weinst?“

Raunte Lieb zur Liebe: „Heut ist nicht mehr wie einst!“

Liebe klagte Liebe: „Ists nicht wie vorher?“

Sprach zur Liebe Liebe: „Nimmer – nimmermehr.“

Die Klänge der Laute verstummten mit dem Ende des Gesangs des Barden.

Tsalinde war gerührt, eine kleine Träne kullerte über ihre Wange, die Lys ihr zärtlich wegküsste. Dann nahm er sie in den Arm und hielt sie noch ein bisschen fest.

So saßen sie da, inmitten einer Menschenmenge und doch für sich.

Doratrava hatte sich für ihren eigenen Auftritt bereit gemacht, aber natürlich hatte sie sich die Ballade nicht entgehen lassen. Nun saß sie da, die Hände vor das Gesicht geschlagen und schluchzte hemmungslos, so eindringlich waren die Verse gewesen, so mitreißend die Stimme des Barden, und zu nah traf sie der Inhalt ins eigene Herz, so dass sie sich fühlte die die Königin gefühlt haben musste … oder Maleen.

Sie brauchte eine ganze Zeit, um sich wieder zu fangen und sich innerlich wieder auf die eigene Vorführung einzustimmen, aber zum Glück gab es ja die Musikanten, die sollten einfach ein Lied mehr spielen.

Ihre Augen waren geschlossen. Jeden Klang, jedes Wort nahm die Herrin von Rodaschquell in sich auf, als die Ballade vorgetragen wurde. Musik, das war für sie nicht einfach nur Zeitvertreib. Musik war auch mehr als Sprache, mehr als Kunst. Musik, das war für sie … Mandra. Zauber, wie die Menschen sagen würden.

Zwar gab es solche Musik, die eher “profan” sein mochte. Zum Tanz, zum Verbreiten guter Laune vielleicht. Aber das hier war etwas anderes. Sie spürte es. Die Tiefe, die darin lag.

Als sie ihre Augen schließlich wieder öffnete, waren sie voller Dankbarkeit.

Nivard, selbst der Dichtkunst und dem Minnesang sehr zugetan, hatte dem Vortrag Corwyns ebenfalls andächtig gelauscht. Obgleich sie sich bereits einige Male begegnet waren, hatte er noch nie das Glück, in den Genuss eines Vortrages des Ritters zu kommen. Umso mehr war er heute Abend angetan und zutiefst von der gehörten Weise berührt. Still ließ er diese noch einige Momente in seinem Inneren nachhallen, ehe er behutsam, doch nichtsdestoweniger von Herzen, applaudierte. Nivard hoffte, diese Melodie zu bewahren - den Text würde er später noch einmal erfragen und schriftlich festhalten - er war sich sicher, dass diese Ballade auch zu Hofe in Ambelmund großen Gefallen finden würde.

Rhodan ließ die Klänge verhallen, dann klatschte er überschwänglich in die Hände. “Gratulation! Gratulation!”, jauchzte er. “Das ist große Kunst!”, lobte er den Barden. “Ihr habt doch sicher nur tief gestapelt, Herr von Dürenwald. Das war doch sicher Eure Weise!”

Der Barde, erfreut über all die der Lebensfrohen angedachten wohlfeilen Reaktionen der Anwesenden, neigte den Kopf vor dem morgigen Bräutigam. “Ich wollt es wären meine Worte die ich hier zu Gehör gebracht habe. Doch sind sie es nicht. Sie stammen aus der Feder des Barden von Munichhausen. Hesindes Wollen gab mir die Segnung seine Worte vortragen zu können und Ihr und die Hiesigen die Gelegenheit dazu.” antwortete er dem zukünftigen Gemahl der früheren Haushofmeisterin des gräflichen Hofes der neuen albenhuser Gräfin. “Was bereits geschrieben, ist oft genau jenes was auch man selber fühlt und Sanges passend ist. Dass ihr mir zutraut, den alten Weisen der Schule des Aldifreid wohlfein selber folgen zu können ehrt mich.”

Rhodan stupste ihn freundschaftlich mit dem Ellenbogen an. “Na, na, da will doch niemand sein Licht unter den Scheffel stellen! Wer so schön singen kann, der ist des Dichtens doch auch mächtig. Die Vermutung liegt also nahe. Ihr seid mir auf dieser Feier herzlich willkommen.”

Die Elfe musste kurz lachen. Nicht laut, eher ein kurzes, heiteres Schmunzeln, das aber unüberhörbar war für die Umstehenden.

~*~

Die Verlockung der Gauklerin

Nachdem die Musiker einige fröhliche Lieder dargeboten hatten, setzte erneut ein Trommelwirbel ein und die Brautleute Gwenn von Weissenquell und Rhodan Herrenfels betraten die Bühne, während Doratrava ein paar letzte Vorbereitungen traf und ihre Requisiten anordnete. Als der Trommelwirbel endete, trat - zu Rhodans Überraschung, die er zu verbergen wusste - Gwenn hervor und ergriff das Wort.

“Meine lieben Freunde, liebe Gäste, liebe Lützeltaler! Ich heiße euch herzlich Willkommen! Es ist eine Ehre für mich, dass ihr so zahlreich zu unserem Fest zum Tag der Treue erschienen seid! Auch wenn dies der rechte Tag zu sein scheint, vor Travia das Gelübde abzulegen, haben mein Liebster Rhodan und ich”, sie schaute mit einem verliebten Lächeln zu ihrem Verlobten und streichelte sanft über seine Wange, ”entschieden, unseren Bund erst am zweiten Tag von heute an zu besiegeln. Dies soll euch allen zeigen, dass wir das heutige Fest als das sehen, was es sein sollte: Ein Fest des ganzen Volkes und nicht allein unser Fest. Und dennoch fühle ich mich gesegnet, diesen wunderbaren Mann an meiner Seite zu wissen, der mir und euch ein großzügiges Geschenk gemacht hat, denn er hat eine bezaubernde, eine VERzaubernde Künstlerin auf unser Fest eingeladen, deren guter Ruf von Ort zu Ort eilt, weit über die Grenzen unserer geliebten Nordmarken hinaus. Eine Künstlerin, um deren Vorführungen Barone und Gräfinnen buhlen. Und dennoch lässt sie uns die Ehre zuteil, ihre Darbietungen am heutigen Tag ebenso wie am Tag unseres Bundes zu bestaunen. Danke, mein Liebster, für diese zauberhafte Idee! Bitte, begrüßt nun mit mir die wunderbare, die einmalige Doratrava!” Gwenn trat in die Hände klatschend zur Seite, um die Bühne für die Gauklerin freizugeben.

Rhodan lächelte und überließ es seiner Frau zu sprechen. Das war ihr Ort, ihr Volk. Hier war sie Herrin - und er konnte sich entspannt zurücklehnen. Umso mehr freute er sich, dass seine Überraschung gelungen war und so fiel er begeistert in ihren Applaus ein.


Für ihren Auftritt hatte Doratrava darum gebeten, dass die Mitte des Marktplatzes freigeräumt wurde, um dort in einem Kreis von mehreren Schritt Durchmesser insgesamt neun Feuerschalen aufzustellen und eine große Feuerschale in der Mitte dieses Kreises zu platzieren. Alle Feuerschalen sollten mit ölgetränktem Stroh gefüllt werden und darunter etwas nachhaltiger brennendes Holz, aber zu Beginn sollte keine davon angezündet sein.

Und dann war es soweit. Alles war vorbereitet, in der Menge war nach den ankündigenden Worten des Brautpaars erwartungsvolle Stille eingekehrt, die Fackeln und Lichter erhellten lediglich den Rand des Platzes, nicht aber die Mitte mit den aufgebauten Feuerschalen. Plötzlich ertönte ein lauter Trommelschlag und eine der neun Schalen auf dem Rand des Kreises ging in Flammen auf, welche die Tänzerin jäh aus der Dunkelheit rissen. Doratrava trug dasselbe Bänderkostüm wie am Nachmittag, doch blieben die Arme und Beine nun gänzlich unbedeckt. An den Bändern, welche über ihren Körper liefen, waren dafür etliche bunte, glitzernde Tücher befestigt, welche den Feuerschein in einem farbigen Reigen reflektierten. Nur, wer genau hinsah, erkannte um ihre schmale Hüfte einen dünnen Gürtel, der eine Anzahl kleiner, hülsenförmiger Behältnisse aufwies. Die weißen Haare hatte die Tänzerin diesmal zu einem festen Knoten an ihrem Hinterkopf gebunden. Sehr aufmerksame Beobachter konnten erkennen, dass Doratravas Haare nass waren, wie auch ihr ganzer Körper und die Bänder des Bänderkostüms so aussahen, als habe sie gerade darin gebadet. Nur die daran befestigten bunten Tücher waren weitgehend trocken.

Doratrava hatte zusammengekauert auf dem Boden gesessen und sprang nun auf wie eine sich entfaltende Blüte, während die Musiker begannen, einen von leisen, aber akzentuierten Trommeln unterlegten, zunächst nur mäßig schnellen Tanz zu spielen, der hauptsächlich von einer Drehleier getragen und von zwei Flöten begleitet wurde.

Ih Doratravas Händen erkannten die Zuschauer eine langen Stab, welchen die Tänzerin herumschleuderte, so dass erst das eine Ende, dann das andere durch das brennende Feuer der ersten Schale fuhr - und sich dabei ebenfalls entzündete. Dann begann Doratrava sich einen tänzerisch-verschlungenen Pfad durch die Schalen, um sie herum, zwischen ihnen hindurch zu suchen, mit schnellen, präzisen Schritten, wiegenden Hüften und flirrenden Armen, während der an beiden Enden brennende Stab ein verwirrendes, zauberhaftes Muster um sie wob. Immer, wenn die Trommel einen kräftigen, peitschenden Ton schlug, zündete Doratrava eine weitere Schale an. Nach und nach wurde es so immer heller, beschienen die flackernden Flammen die Tänzerin immer intensiver, ließen ihre bunte, glitzernde Gestalt mit den reinweißen Armen und Beinen fast wie einen unwirklichen Geist wirken, wie sie so fast schwerelos zwischen den Schalen tanzte, fast zu fliegen schien.

Nun änderte sich der Charakter der Musik, diese wurde rhythmischer und treibender, entsprechend begannen sich auch Doratravas Füße immer schneller zu bewegen, in einer Weise, wie es einem normalen Menschen kaum möglich schien. In einem weiteren Wirbel entzündete sie die zentrale Schale, doch - oh Wunder! - schlugen aus ihr blaue und rote Flammen gen Himmel, es schien fast, als würden die Farben um die Vorherrschaft über die Schale kämpfen! Doratrava wirbelte ihren Stab durch das Feuer, und auch die Flammen an dessen Enden nahmen nun plötzlich zischend diese Farben an, eines rot und eines blau, was den Wirbel des Stabes um den Körper der Tänzerin in ein neues, aufregendes Licht setzte.

Und nun begann Doratrava, immer wieder zu knallenden Trommelschlägen Figuren und Sprünge in den Tanz einzuflechten. Sie schwang ein nacktes Bein schnell durch eine Flamme, oder in einer anmutigen Drehung beide Arme, aber das Feuer konnte ihr nichts anhaben. Dann sprang sie plötzlich in einer Flugrolle über eine der Schalen am Rand hinweg und fasste sich dabei in einer kaum sichtbaren Bewegung an den Gürtel. Die Flammen leckten nach ihr, doch schon war sie hindurch, und in diesem Moment verdoppelte das Feuer zischend seine Höhe, während es blassgrün aufloderte, um nach wenigen Augenblicken wieder normale Farbe und Größe anzunehmen. Doratrava setzte diesen Reigen fort, bestach die Zuschauer mit ihren anmutigen, schnellen, atemberaubenden Bewegungen und immer wieder Sprüngen, vorwärts, rückwärts, in Schrauben, über die Schalen, und jedesmal loderten dieselben in einer neuen Farbe auf: blassrosa, violett, hellrot, tiefblau. Der farbig entflammte Stab beschrieb unablässig seine Kreise um ihren Körper, als führe er ein Eigenleben, bis nach und nach die Flammen in den Schalen zu einem Glimmen herunterbrannten. Ein letztes Crescendo der Musik führte die Tänzerin aus dem Kreis der Schalen heraus direkt vor das Publikum, wo dieses die Kunstfertigkeit ihres Tanzes noch einmal aus allernächster Nähe bewundern durften, während sie den flammenden Stab einhändig über sich in der Luft wirbelte, bis sie schließlich mit dem letzten Trommelschlag wieder zu einer Knospe inmitten der Schalen zusammenfiel. So verharrte sie, bis der Beifall der Zuschauer aufbrandete. Da erhob sie sich wieder, löschte den Flammenstab in einem bereitgestellten Eimer und trat mit erhobenen Armen erhitzt und erschöpft, aber glücklich vor das Publikum.

Wie machte sie das nur? Nivard war heute Abend beileibe nicht zum ersten Mal Zeuge von Doratravas geradezu überderischer Kunst geworden - bereits einige Auftritte hatte er erleben dürfen. Jeder war ein Geschenk, immer wieder neu, jeder einzigartig, und jeder so faszinierend, dass er sich wünschte, er würde niemals enden (außer vielleicht dem im Herzogenfurter Traviatempel, als die Gauklerin mit ihrem Tanz das Ausbleiben der Braut überbrücken wollte, aber das war damals weniger Doratravas Kunst als vielmehr den begleitenden Umständen geschuldet). Überwältigt wie beim allerersten Mal stand er auch heute auf und spendete frenetisch seinen Applaus.

Imelda verfolgte sichtlich begeistert die feurige Darbietung der Tänzerin, mit welcher sie vor einiger Zeit gemeinsam gereist war. Sie sprang von dem Tisch auf, an dem sie saß, lief während der Aufführung nach vorn und drängelte sich in die erste Reihe. "Meta, Mika, das müsst ihr euch auch ansehen!", rief sie zu ihren Freundinnen hinüber. Mit großen, leuchtenden Kinderaugen sah sie den Flammen nach, welche um Doratrava herum gen Himmel hinaufflogen. Immer wieder verfiel sie in Applaus, gefolgt von jubelnden, anfeuernden Zwischenrufen. "Großartig, Doratrava!" Als die Gauklerin ihre Darbietung beendet hatte, hüpfte Imelda entzückt auf der Stelle herum: "Jubel!!!" schrie sie aus der Menge heraus. "Zugabe!!!"

Der frenetische Jubel der Ingra-Geweihten war nicht zu überhören und freute Doratrava sehr, wenn ihr auch bewusst war, dass das feurige Thema des Tanzes das seine zu Imeldas Begeisterung beigetragen haben dürfte - aber nicht nur, wie sie hoffte. Leider war eine Aufführung solcher Art nichts, worauf man eine sinnvolle Zugabe geben konnte, zudem war sie nun ganz schön geschafft. Nein, sie würde still und leise verschwinden, um sich ein wenig auszuruhen und sich im Gefühl des Erfolgs zu baden.

Auch Mika verfolgte die Vorführung fasziniert. Zugegeben, Feuer war nicht ihr bevorzugtes Element, aber sinnvoll eingesetzt war auch Feuervon Wert. Und diese betörende Schau war gewiss ein sinnvoller Einsatz des Feuers. Verträumt blickte sie auf die Gauklerin. Die junge Jägerin war so in Gedanken verloren, dass sie vergaß, ihr Wohlwollen durch angemessenen Applaus zu würdigen.

“Wahrlich Doratrava, ihr habt euch gerade wieder selbst übertroffen.” kam es anerkennend aus dem Munde des Barden Corwyn von Dürenwald.

Als Doratrava nach der Vorstellung an ihm vorbeiflatterte und sein Lob hörte, schenkte sie dem Barden ein Lächeln und eine Kusshand, und schon war sie wieder woanders.

Das Spiel mit dem Feuer gefiel der Herrin von Rodaschquell. Sie klatschte nicht wild oder stimmte mit ein in die Jubelrufe.

Stattdessen suchte sie den Blick der Gauklerin und wartete geduldig. Und als ihrer beider Blicke sich endlich trafen, neigte sie lächelnd ihr Haupt.  

Doratrava spürte den Blick der Elfe und suchte ihre amethystfarbenen Augen mit ihren kastanienbraunen. Mit einem strahlenden Lächeln und einer eleganten Verbeugung trank sie die Anerkennung Lianas, gleichzeitig stand ein Versprechen in ihrem Blick - aber nicht für jetzt.

~*~

Tanz auf dem Dorfplatz

Nach dem Auftritt der Gauklerin, dem zweiten an diesem Tag, wurde schnell der Platz vor der Bühne freigeräumt und die Musik setzte wieder ein. Die Melodien waren nun noch fröhlicher und beschwingter und luden zum Tanz ein. Rasch füllte sich der Platz mit Dorfbewohnern, die den Tanzreigen begannen und einen der örtlichen Schreittanz vorführten. Die Tänzerinnen und Tänzer legten die Arme über die Schultern des Nebenmanns oder der Nebenfrau und folgten einer gemeinsamen Abfolge von Schritten. Lediglich für gelegentliche Pirouetten trennten sich die Arme. Nach wenigen Wiederholungen der Schrittfolge forderten die Lützeltaler Einheimischen auch die Gäste auf, sich einzureihen und mitzutanzen.

Sie konnte gar nicht anders.

Anfangs stand sie noch an der Seite und schenkte den Dorfbewohnern, die da vergnügt ihren Reigen tanzten, ein strahlendes Lächeln. Vielleicht war es genau dieses Lächeln, das eine freundliche und rüstige ältere Frau dazu bewogen hatte, sie mit bestimmtem, aufforderndem Blick anzusehen und ihr kurz zuzuwinken. Eine Geste, die mehr als deutlich klar machte: Nur zu! So kommt doch auch hinzu!

Sie musste gar nicht erst nachgeben, sondern folgte nur zu gern der Einladung. Schritt in den Kreis und reihte sich ein. Neben sich die freundliche Muhme auf der einen Seite - und einen kecken jungen Burschen auf der anderen, der sofort errötete, als er in ihre strahlenden Augen sah.

Der Tanz war einfach. Ehrlich und unkompliziert. Dies war kein höfischer Tanz. Kein Tanz, bei dem es galt, zu glänzen. Kein Sehen und Gesehen werden. Dies waren einfache Leute, die Freude hatten an dem Treiben. Schnell hatte sie den Tanz erfasst - und mehr noch die Freude darin. Sie ließ sich von ihr anstecken. Ließ sich treiben. Und dann blickte Liana nun ihrerseits Aelfhelm an und lud ihn ein, ihre Hand zu ergreifen …

Der Bannerträger des Storchenflugers hatte den Abend frei bekommen und sich unter die Menschen gemischt. Es tat gut neue Geschichten zu hören, neue Gesichter zu sehen und neue Stimmen zu hören. Er amüsierte sich prächtig, als er plötzlich in amethystfarbene Augen blickte und eine feingliedrige Hand sich ihm erwartungsvoll entgegen streckte. Lächelnd erhob sich der rot-blonde Mann und neigte das Haupt zum Gruß. Nach wenigen Augenblicken hatte er sich die Tanzschritte abgeguckt, so dass er sich nicht mehr darauf konzentrieren musste und stattdessen ein Gespräch beginnen. “Ich bin Aelfhelm Leuw, Bannerträger des Hohen Herrn Rondrard Ingeras von Storchenflug. Mit wem habe ich die Ehre?”

Das Lächeln, welches sie ihm schenkte, hatte gleich zweierlei Grund. Es bereitete ihr Freude, dass er ihrer Einladung gefolgt war. Aber mehr noch, dass er offenkundig ein Tänzer genau jener Art war, von dem sie vorab angenommen hatte, dass er die Schritte schnell würde aufgreifen können. Mittlerweile hatte sie ein gutes Gespür dafür entwickelt, zu erkennen, ob Menschen sich gut darauf verstanden.

Sie ließ sich ein wenig Zeit mit ihrer Antwort. Folgte dem Takt der Musik. Schloss ihre Augen, um sie genau dann wieder zu öffnen und ihn direkt anzuschauen, wenn der Tanz beide zusammenführte, ehe sie sich in einer weiteren Drehung kurzzeitig wieder voneinander abwenden mussten, weil die Schrittfolge es gebot.

“Ich bin Liana Morgenrot”, sagte sie dann schlicht.

Eduina und Darian, ihre beiden Vertrauten, waren im Augenblick an anderen Stellen. Also gab es niemanden, der auf ihrem vollen Titel bestanden hätte.

“Und es freut mich, dass ich mich nicht getäuscht habe.”

`Götter! Ich tanze mit einer Baronin`, schoss es Aelfhelm durch den Kopf, doch ließ er es sich nicht anmerken. Entweder ging sie davon aus, dass jeder wusste, wer sie war, oder sie machte sich nichts aus Etikette. Zumindest hatte sie auf ihren Titel verzichtet und war dem Tanz der Gemeinen beigetreten. Also entschloss er sich, es dabei zu belassen. “Angenehm. Worin habt Ihr Euch nicht getäuscht?”

Anmutig machte sie einige Pirouetten um ihn herum. Eine gewagte Schrittfolge, mit der man Tänze dieser Art ausschmücken konnte.

Sie ließ sich - so, wie es der Tanz gebot - wieder von ihm heranziehen, als er ihre zarte Hand ergriff. Und als sie nahe bei ihm stand und ihm unmittelbar in die Augen sah, sagte sie leise: “Ich wusste gleich, dass Ihr ein formidabler Tänzer seid. Und ich tanze sehr gerne mit Menschen, die sich darauf verstehen.”

Seine dunkelbraunen Augen funkelten, als er sie an den Hüften packte, in die Höhe hob und sich einmal um sich selbst drehte, bevor er sie wieder absetzte. “Vielen Dank, doch komme ich wohl kaum an Eure Meisterschaft heran. Keine Dame, mit der ich bisher tanzen durfte, war dabei so elegant wie Ihr.”

“Doch sagt, wo hat ein Bannerträger gelernt, was Ihr zu meiner Freude so galant zu zeigen wisst”, fragte sie ihn.

“Ich kenne Euren Herrn nicht. Doch er scheint Wert darauf zu legen, dass sein Bannerträger sich darauf versteht …”

Derweil lud sie Aelfhelm durch die Art, wie sie die Schrittfolgen ausschmückte, dazu ein, es ihr gleich zu tun. Nicht plötzlich, sondern Stück für Stück. So, als wollte sie in Erfahrung bringen, wie gut er sich schlug.

Noch konnte er ihren Schritten folgen, obwohl ihm höfische Tänze eher zusagten. Sie konnte es sehen, denn seine Schritte und Figuren waren eleganter als die der Gemeinen. “Ich habe bei Hofe gelernt. Sowohl in Amleth, als auch in Gratenfels. Mein Herr legt Wert auf alle ritterlichen Tugenden und er möchte, dass seine Knappen die bestmögliche Ausbildung erhalten.”

Dies war ein Tanz der Freude und keiner von der Art, bei dem ein jeder bis aufs Äußerste sein Geschick unter Beweis stellen sollte, um Aufmerksamkeit zu erheischen. Sie ließ es nicht darauf ankommen und hatte Freude daran, einen Partner zu haben, der mit seinen Worten ebenso elegant war wie mit seinen Schrittfolgen. Gern ließ sie sich auf beides ein.

“Euer Herr scheint nur zu gut zu wissen, dass mehr zur Ritterschaft gehört, als ein scharfes Schwert zu schwingen. Und Ihr gereicht ihm zur Ehre. Auf dem Parkett ebenso wie auf dem Felde - woran ich keinerlei Zweifel hege.”

Die Schrittfolgen wurden etwas rasanter, weil sie sie gern ausschmückte. Doch achtete sie darauf, Aelfhelm in jeder Hinsicht einzubeziehen. Dies war ein Tanz, der Freude bereiten sollte …

Und Aelfhelm hatte Freude. Freude am Tanz, Freude an der Bewegung und Freude an der Gesellschaft. "Habt Dank, Edle Dame. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich Euch für das Vorbild aller Märchenprinzessinnen halten, doch könnt ihr es unmöglich sein, denn die mir bekannten Märchen sind allesamt älter, als zwanzig Lenze."

Die Heiterkeit in ihrem Lachen war geradezu ansteckend. Sie blickte ihn mit ihren strahlenden Augen an nach diesem charmanten Kompliment.

“Nun, eine Prinzessin bin ich nicht und war ich nie, sondern lediglich eine Baronin.” Ihre Stimme klang sanft und einladend. Sie ließ sich gern auf seine Galanterie ein.

“Aber Ihr wisst doch, dass die Angehörigen meines Volkes … anders … altern, oder? Vielleicht bin ich ja älter als Eure Großmutter.” Es klang ein wenig herausfordernd und neckisch zugleich.

~*~

“Komm Rhodan! Wir wollen auch ein wenig tanzen. Dann können wir schon mal für übermorgen üben, wenn wir unseren Hochzeitstanz vor allen Leuten tanzen.” Gwenn zerrte ihren Bräutigam förmlich auf den Platz und reihte sich in die Riege der Dorfbewohner ein. Sie brauchte ein paar Takte, sich an die Schritte zu erinnern, denn in Albenhus war sie eher die höfischen Tänze als die Volkstänze gewohnt. Aber schnell kam sie wieder hinein und tanzte mit den Dörflern wie früher.

Der dicke Händler freute sich. Schon viel zu lange hatte er nicht mehr tanzen können. “Bitte meine Liebste”, erwiderte er und bot ihr seine Hand an, die sie mit stürmischer Begeisterung ergriff. Sie hätte gar nicht so zerren müssen - schließlich war es mehr als willig, mit ihr das Tanzbein zu schwingen. Und schnell merkte sie, dass er ein geschickter Tänzer war. Der großgewachsene Mann erwies sich als geschickt und behände, zärtlich und leichtfüßig. Mit den örtlichen Tänzen war Rhodan zwar nicht im Einzelnen vertraut, doch gelang es ihm, die Schritte in Windeseile zu beherrschen. Auch wenn Gwenn die Initiative ergriffen hatte, war er es, der die Führung übernahm. Er wirkte gelöst und zufrieden und strahlte diese Zufriedenheit mit jedem Schritt aus.

Die Hofdame freute sich, so einen Spaß hatte sie schon lange nicht mehr beim Tanzen. Ihr Verlobter war ein weitaus besserer Tänzer, als sie ihm zugetraut hätte. Auch wenn nicht alle Schrittfolgen der Tradition folgten, waren es ausgesprochen kreative Figuren, die er führte. Bei so mancher Pirouette spürte sie ein Kitzeln im Bauch und musste herzhaft lachen. “Das sollten wir auf alle Fälle öfter machen!”

“Wenn dich das glücklich macht: jederzeit!” Ganz ersichtlich genoss er es, ihr zu beweisen, wozu er auf dem Tanzparkett in der Lage war. “Schauen wir mal, wie lange du mithalten kannst”, neckte er sie.

“Das”, erklärte Gwenn mit scharfer Zunge, “wirst du wohl selbst herausfinden müssen!” Gwenn lachte fröhlich.

Als die Musik zwischen zwei Stücken kurz verstummte, tauchte plötzlich wie aus dem Nichts Doratrava vor Gwenn und Rhodan auf. Sie hatte sich nach ihrem Auftritt kurz erholt, frisch gemacht und umgezogen, um dann schnell zum Fest zurückzueilen. Sie wollte nicht nur anderen einen unvergesslichen Abend bereiten, sondern auch selbst Spaß haben, wobei das eine das andere natürlich nicht ausschloss.

Die Gauklerin trug nun ein sehr luftiges weißes Kleid, das von der Hüfte zum Boden reichte, aber über beiden Oberschenkeln geschlitzt war. Von der Hüfte zu den mit einem schmalen, aber bei ihrer geringen Oberweite ausreichenden Tuch bedeckten Brüsten erstreckten sich lediglich dünne Bänder, die sich über ihrem Sonnenpunkt kreuzten und hinter dem Hals wieder zusammenfanden. Oberhalb der Brüste liefen zwei weitere, etwas breitere und leicht geraffte Bänder zu beiden Armen und umschlossen die Oberarme knapp unterhalb der Schulter. Um die Hüfte hielt ein goldener Gürtel das Kleid zusammen, dessen Schnalle wie zwei feinblättrige Blüten geformt war, die ineinander verhakt werden konnten. Von beiden Blüten lief eine schmale goldene Kordel nach unten, beide Kordeln trafen sich über ihrem Schritt und bildeten so ein Dreieck, das nach unten von einem goldenen Ring abgeschlossen wurde; nach unten bis zum Boden lief von dem Ring ausgehend ein schmales, ebenfalls goldenes Band. An beiden Seiten über den Hüften wies der Gürtel zwei weitere, kleinere Blütenapplikationen auf, von denen ebenfalls schmale goldene Bänder zum Boden liefen.

Im Sonnenpunkt, wo sich die weißen Bänder kreuzten, saß eine Brosche mit einem blauen Stein in der Mitte und weiteren milchig-weißen Steinen darum herum. Davon ausgehend schmiegten sich zwei dünne, goldene Metallbögen von unten an die Brüste, an denen mehrere, sich überlappende Goldkettchen befestigt waren, die verschieden weit herunterhingen und den nackten, weißen Bauch Doratravas anmutig verzierten.

"Darf ich bitten?", fragte Doratrava mit einem strahlenden Lächeln, dem man die Lebensfreude, aber, wenn man sich sehr gut auf die Menschenkenntnis verstand, auch einen Hauch von ironischer Herausforderung der Welt, ansah. Zu Rhodan gewandt, meinte sie, ein wenig entschuldigend: "Ihr bekommt den nächsten Tanz mit mir, wenn Ihr möchtet."

Gwenn lächelte Doratrava an. Sie war zwar überrascht, hatte sie eher erwartet, die Aufmerksamkeit der Herren auf dem Fest zu erregen. Aber umso mehr freute es sie, von einer solch begnadeten Künstlerin zum Tanzen aufgefordert zu werden. “Das wäre mir eine Ehre, auch wenn ich meine Füße nicht annähernd so anmutig bewegen kann, wie Ihr! Rhodan, du erlaubst doch?”

„Na selbstverständlich! Ich warte gespannt“, lächelte er und gab ihre Hand freundlich frei. Er war tatsächlich neugierig, wie dieser Tanz zweier Frauen aussehen würde. Dass er für Aufsehen sorgen würde, war zwar unvermeidlich, aber einer ‚Gauklerin‘ ließ das einfache Volk meist so einiges durchgehen. Angefangen bei diesem unzüchtigen Kleid.

Es lag natürlich nicht in Doratravas Absicht, sich einfach mit Gwenn zusammen in den Reigen einzugliedern, zumindest jetzt gerade nicht. Dazu hätte sie Gwenn ja nicht auffordern müssen, sondern sie wollte mit ihr allein tanzen, denn das lag ihr mehr, da sie dann frei agieren konnte. Gleichzeitig wollte sie ihre Tanzpartnerin auch nicht überfordern, zumal es die Braut war, daher ging sie es langsam an. Wie selbstverständlich übernahm Doratrava die Führung und leitete Gwenn durch ein paar zur Musik passende, einfache Schrittfolgen, um erst einmal zu sehen, wie sie sich schlug. Eventuelle Unsicherheiten würde sie mit ihren eigenen Fähigkeiten auffangen und überspielen, die Braut sollte ja gut aussehen auf ihrem eigenen Fest. Und die ganze Zeit sah sie Gwenn lächelnd in die Augen und hielt ihren Blick gefangen, denn eine geübte Tänzern musste sich nicht auf die Füße schauen, und eine ungeübte, die es tat, hatte schon verloren.

Überrascht war Gwenn zunächst von der Art, wie Doratrava hier die Initiative übernahm. Waren die ersten Schrittfolgen noch keine wirkliche Herausforderung für die Hofdame, die auch am Albenhuser Gräfinnenhof so manche Tanzveranstaltung meistern musste. Doch schon bald forderte die Gauklerin Gwenns volle Aufmerksamkeit und nicht nur einmal verhaspelte sich Gwenn bei den komplizierteren Schritten, doch bevor die Edlentochter stolpern konnte, fing Doratrava diese auf, nur um den Fehltritt sogleich eine Drehung zu verwandeln. Gwenn musste dabei fröhlich lachen, zauberten die Pirouetten doch ein Kitzeln in ihren Bauch, so wie sie es zuvor schon bei Rhodan gespürt hatte, nur diesmal deutlich intensiver. Dann trafen ihre graugrünen Augen wieder den Blick Doratravas und sie fühlte sich wie bezaubert. “Ihr seid eine wahrlich magische Künstlerin, Doratrava! Wie schafft Ihr es nur, einen solchen Rausch in einem zu erzeugen?”

“Tue ich das?”, lächelte Doratrava, und ihre hellgrünen Augen blitzten. “Das freut mich zu hören … vielleicht gelingt das, weil Ihr Euch ganz auf mich einlässt? Euch ganz Euren Gefühlen überlasst und alle Regeln und den Verstand hinter Euch lasst? Oder auch ‘nur’, weil Rahja und Tsa Euch berühren? Wer weiß das schon …”

Die Gauklerin konnte keine Gedanken lesen, also wusste sie tatsächlich nicht, was in Gwenn vorging, aber sie war ehrlich erfreut von ihrer Reaktion. Wäre sie nicht die Braut und hätte sie rote Haare … schnell schlug sich Doratrava diese Gedanken aus dem Kopf. “Noch eine Runde?”, fragte Doratrava betont heiter. “Oder wird Euer Fast-Gemahl dann eifersüchtig?”

“Ich denke, Rhodan bekommt noch genügend Gelegenheiten, mit mir zu tanzen, doch wie oft werde ich schon das Vergnügen haben, das mit jemandem die oder der das so beherrscht wie Ihr zu tun? Und auch für Rhodan kann es doch nur gut sein, wenn ich noch etwas von Euch lerne.” Gwenn schaute Doratrava mit ihren graugrünen Augen lächelnd an. Auf ihrer Stirn unterhalb des Haaransatzes hatten sich feine Schweißperlen gebildet, was aufgrund ihrer kräftig gebauten Figur nicht ganz überraschend war. Auch wenn man sie nicht als dick bezeichnen konnte, so war ihr doch anzusehen, dass sie gutem Essen nicht abgeneigt war. Dennoch bewegte sie sich beim Tanzen mit einer höfischen Eleganz, die man ihr nicht zugetraut hätte. Aus dem dunkelblonden, fast ins bräunlich scheinenden, hochgesteckten und mit Bändern durchwebtem Haar hatte sich eine Strähne gelöst. Ihr hellblaues Kleid war mit orangenen Verzierungen bestickt. “Vielleicht sollten wir den nächsten Tanz jedoch ein wenig ruhiger angehen, ich fange doch schon trotz der Kühle an, leicht zu transpirieren.”

“Dann soll es so sein”, grinste Doratrava und streckte erneut die Hand nach Gwenn aus. “Ich versuche, Euch zu schonen, aber ich verspreche nichts”, fügte sie nun mit deutlich spitzbübischem Gesichtsausdruck hinzu.

Als das nächste Musikstück begann, übernahm Doratrava also sofort wieder die Führung. Da sie nun wusste, dass sie Gwenn durchaus etwas fordern konnte, tat sie das auch. Obwohl die Musiker ein einfaches Volkslied spielten, flocht sie Schrittfolgen und Figuren ein, welche die Musik eigentlich nicht hergaben, doch so harmonisch darauf abgestimmt waren, als fehlten lediglich ein paar Instrumente und deren Stimmen. Gwenn überließ sich wie vorher schon der so zierlichen und doch so forschen Gauklerin und meinte bald fast, diese fehlenden Stimmen der Musik zu hören und ihre eigenen Schritte danach zu lenken.

Doratrava hielt sich aber auch an ihr Versprechen, soweit das möglich war, und reservierte die meisten komplizierten Drehungen und anstrengenden schnellen Schrittfolgen für sich selbst, damit Gwenn nicht zu sehr außer Atem kam, doch ganz ließ sich das nicht vermeiden, zumal ein guter Tanz auch fordern sollte. Wenn man hinterher spürte, dass man Energie in eine Sache gesteckt hatte, steigerte das doch die Zufriedenheit umso mehr.

Die bisherige Haushofmeisterin der albenhuser Gräfin ließ sich treiben, schaltete ihre Gedanken aus und folgte der Führung von Doratrava. Sie fühlte sich, als ob sie über den Boden des Dorfplatzes schwebte. Als das Lied zu Ende war, ließ sie sich erschöpft in die Arme ihrer Tanzpartnerin fallen, die vor Überraschung fast das Gleichgewicht verloren hätte. Gwenn musste herzhaft lachen. Es war ein vergnügtes Lachen, wie das lachen eines Kindes, das man kreisend durch die Luft gewirbelt hat. “Habt Dank für die beiden Tänze, doch nun muss ich mich wohl ein wenig ausruhen. Vielleicht sehen wir uns später noch einmal.”

Mit einer Verbeugung nahm Doratrava Gwenns Verabschiedung lächelnd zur Kenntnis. War das nun schade oder … rechtzeitig? Die Gauklerin hatte sich selbst von der Begeisterung der Braut mitreißen lassen und das Ende der Tänze fühlte sich nun irgendwie so an, als wäre etwas zerschnitten worden, was gerade in der Entstehung begriffen war, und sie wusste nicht, ob das nun gut oder schlecht war. Aber … es war gut … hoffentlich. Sie machte keine Anstalten, Gwenn aufzuhalten. “Wir sehen uns ganz sicher später noch einmal. Oder morgen. Schließlich ist das Euer Fest!” Die Gauklerin lächelte gewinnend und verbarg dahinter ihre Unsicherheit.

Gwenn eilte zum nächsten Stand mit Getränken und ließ sich einen Krug Sauerbier mit eingedicktem Himbeersaft geben. Mit dem Krug suchte sie sich einen freien Platz und ließ sich nieder, um sich auszuruhen.

Rhodan hatte die ganze Zeit zugesehen, wie seine Verlobte mit der spitzohrigen Gauklerin tanzte, wilde Kreise drehte und sich verausgabte. Der großgewachsene Mann konnte ein tiefes Lachen nicht verhehlen als er seine Zukünftige zum Getränkestand eilen sah. „Gwenn, kann es sein, dass du jetzt außer Atem bist? Dann muss ich mich ja wahrlich auf eine Ochsentour einstellen!“

Dann sah sich Doratrava nach Rhodan um, um ihr Versprechen einzulösen. Der hatte seine Braut die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen, wie ihr erst jetzt gewahr wurde. Schnell trat sie auf ihn zu. “Herr Herrenfels, darf ich bitten?”

Rhodan schenkte seiner Braut in spe eine Kusshand, während er ihr dieselbe der Gauklerin entwand. „Na dann bin ich ja mal gespannt, was Ihr mir noch so alles zeigen werdet“, meinte der Händler schelmisch und legte die zarten Hände der schmächtigen Schaustellerin so gut er konnte um seinen voluminösen Bauch. „Beherrscht Ihr den Neethaner Spellingsschritt? In etwa so“, frug er und schob sie mit respektvollem Nachdruck in eine erste ausladende Drehung. Mit Argusaugen achtete er darauf, keinen der anderen Tänzer zu touchieren, doch machte er sich und seiner Tanzpartnerin Raum auf dem Tanzboden.

“Nie gehört”, grinste Doratrava. “Ich war auch noch nie in Neetha, vielleicht sollte ich da mal hin, wenn es sich lohnt?” Sie wartete aber keine Antwort ab, sondern schloss die Augen und übergab sich ganz der Führung des … umfangreichen Kaufmanns. Auch, wenn sie den speziellen Tanz nicht kannte, kannte sie ähnliche, und ihre Spezialität lag im Gebiet der Intuition, sie ließ sich viel lieber von dieser leiten als von fest vorgegebenen Schrittfolgen. In diesem Fall aber nutzte sie ihre Fähigkeit, um von Rhodan zu lernen, und nach einigen Kombinationen und Drehungen ahnte sie bereits die nächsten Schritte voraus. Ab da begann sie, ihre eigene Interpretation des Tanzes einzubringen. Sie merkte aber, dass der Kaufmann es gewohnt war, zu bestimmen, außerdem war er ein verhältnismäßig guter Tänzer, also versuchte sie nicht, die Führung an sich zu reißen, sondern lediglich, hier und da ein wenig auszubrechen, um dem Tanz ihre eigene Note aufzudrücken, ohne seine Harmonie zu zerstören. Die Freiheit vom Korsett des vorgegebenen Tanzes, die sie dafür brauchte, forderte sie allerdings sehr wohl ein, dafür belohnte sie den Herrn Herrenfels mit anmutigen Drehungen und Wendungen, welche ihm bestimmt noch keine Tanzpartnerin geboten hatte und welche auch eventuellen Zuschauern ein Augenschmaus waren. Dabei war Rhodan immer ihr Anker und ihr Gegengewicht, der viele der Figuren erst ermöglichte, so dass nur beide zusammen ein Gesamtkunstwerk bilden konnten.

„Ha, das läuft ja wie geschmiert“, schnaufte der Händler, als die Musik aussetzte. „Wer muss schon Schritte kennen, wenn er - oder sie - Rhythmusgefühl hat?!“

“Sag’ ich schon immer”, grinste Doratrava. “Noch eine Runde? Ein anderer Tanz, den Ihr kennt? Oder … folgen wir der Intuition?”

Der große Mann setzte ein schelmisches Grinsen auf. “Vielleicht sollte ich es auch mal so probieren, wie Ihr zu tanzen pflegt. Nur Übung macht den Meister - und hier sind wir ja unter uns.” So verharrte er einen Moment, um auf die Musik zu lauschen, dann legte er los. Er stampfte mit den Füßen im Takt mit den Klängen auf. Seine Rechte deutete auf die Gauklerin: “Und jetzt Ihr!”

Ganz genau wusste Doratrava nun nicht, was Rhodan von ihr erwartete, aber da er nun begonnen hatte, allein zur Musik zu tanzen, stand ihm der Sinn vermutlich nach einem lockereren Paartanz ohne zu dichten Körperkontakt. Also setzte die Gauklerin ihr bestes Bühnenlächeln auf und begann ebenfalls, sich im Takt zu bewegen, gegenläufig zu Rhodan, mit präzise gesetzten Schritten, und alle zwei Takte flocht sie eine elegante Drehung mal in die eine, mal in die andere Richtung ein, flatterte anmutig wie ein schwereloser Schmetterling um ihn herum. Dann variierte sie den Abstand zu ihrem Tanzpartner, brachte etwas mehr Abstand zwischen sie, um eine kompliziertere Figur zu tanzen, um dann näher zu ihm aufzurücken, was ihm Gelegenheit gab, sie wieder einzufangen - wenn er denn wollte.

Davon machte der Großgewachsene nur selten Gebrauch. Er nutzte den Freiraum, um sich und seinen Körper weitläufig zu bewegen - und der Gauklerin ebenjene Möglichkeit zu verschaffen. Das kam auch bei den Umstehenden gut an, die statt zu tanzen, dem ungleichen Paar zusahen und über den Bräutigam in spe tuschelten.

Rhodan wollte nicht, aber das störte Doratrava keineswegs. Sie stellte sich auf ihn ein, als hätte sie schon hundert Mal mit ihm getanzt, und als ihr dann gewahr wurde, dass immer mehr der anderen Tänzer aufhörten, um ihnen zuzuschauen, konnte sie nicht anders, als eine Vorführung daraus zu machen und nicht nur für Rhodan, sondern für ihr gesamtes Publikum zu tanzen.

Doratrava nahm Rhodans Figuren auf und verfeinerte, verzierte, veredelte sie mit ihrer eigenen Kunst. Wo Rhodan einen Kreis tanzte, wob sie filigrane Blütenblätter darum herum, aus einem Rechteck machte sie einen von Efeu überrankten Turm mit Zinnen und einer Fahne, die wild im Wind flatterte, ein Dreieck wurde zu einem sich endlos wiederholenden Mosaik aus unterschiedlich gefärbten, glänzenden und glitzernden Steinen. Dabei ließ sie Rhodan niemals schlecht aussehen, im Gegenteil: seine ruhigen, kraftvollen, geradlinigen Bewegungen bildeten das Fundament und den Rahmen für ihre verspielten, feingliedrigen Muster und Bilder und bildeten erst die Grundlage für die stimmungsvollen Assoziationen, welche die fein abgestimmten Bewegungen von Tänzer und Tänzerin in den Köpfen der Zuschauer auslösten.

Als die Musik verklang, kam auch der Händler zur Ruhe. Mit einem Lächeln verbeugte er sich vor seiner Tanzpartnerin und wartete auf den zunächst zaghaften, dann lauten Applaus der Umstehenden. Ein Schweißtropfen rann über seine Schläfe, doch ließ er sich davon nicht beirren. “Habt Dank für diesen Tanz - und sicherlich für weit mehr Freuden auf unserer Feier”, erklärte er in feierlicher Stimmung.

Auch Doratrava verbeugte sich lächelnd vor Rhodan. “Gern geschehen. Ich denke, ich werde Euch nicht enttäuschen!”, erklärte sie durchaus selbstbewusst. “Jetzt brauche ich aber erstmal etwas zu trinken”, fügte sie hinzu. Auch ihr Brustkorb hob und senkte sich deutlich sichtbar, hatte sie doch für jeden Schritt Rhodans fünf gemacht - mindestens.

~*~

Der Tisch der lustigen Junggesellinnen

Der Besuch im Rahjaschrein mit der gemeinsamen Freundin Imelda von Hadingen hatte Meta Croy und Mika von Weissenquell einander näher gebracht, obwohl ihre Bekanntschaft nicht den besten Start hatte. Nun saßen sie jedoch zusammen an einem der Tische am Rand des Dorfplatzes, lauschten den Klängen des Barden und bestaunten die Künste der Gauklerin. Auf dem Tisch stand neben drei Bechern ein Krug Wein und ein Krug mit Wasser, die Mika gerade eben am Stand des Wirtshauses besorgt hatte.

“Imelda, ich denke, du möchtest etwas Wein? Und Meta, was magst du?” fragte Mika die Freundinnen.

"Ja, Wein klingt gut!" befand die Hadingerin und strich sich eine lockige, rötliche Strähne hinters Ohr. „Ich nehme auch einen, Mika. Vielen Dank.“ "Herrlich, nicht wahr? Ein schönes Fest, Mika! Also, was empfiehlst du uns denn an Essbarem? Es gibt hier ja einige Spezialitäten, wie ich auf den ersten Blick gesehen habe!"

Mika goss von dem Wein in Imeldas Becher, und auch Meta bekam einen Becher Wein von ihr. Sie selbst nahm sich jedoch lediglich etwas Wasser. “Also, ich werde mir dahinten von dem Pilzrahmragout holen. Das hat lecker gerochen.”

Imelda legte kritisch den Kopf schief: "Pilzpfanne… ist ein bisschen fleischarm, wie?” Meta kicherte. Gerade die Jägerin wollte heute kein Fleisch. Neugierig versuchte Imelda, sich umzuschauen und etwas Gutes zu erkennen. “Gegrillter Schweinekamm oder die Wurstsuppe klingen ganz lecker. Soll ich euch vielleicht was mitbringen?”

„Du willst was Besonderes mit Fleisch? Dann solltest du die Kaninchenpfanne beim Beeltzer probieren.“ Mika zeigte zu einem Stand, neben dem über einem Feuer eine große gusseiserne Pfanne dampfte. An dem Stand selbst gab es einen Stapel Felle und kleinere Pelzartikel. „Der züchtet die Karnickel selbst. Und bei ihm kannst du auch eine Mütze oder Handschuhe aus Karnickelfell kaufen, du Frostbeule!“

„Das mache ich. Imelda, soll ich dir was mitbringen? Die Handschuhe schaue ich mir nach dem Essen an.“ Verschwörerisch ließ sie ihren Blick über die anderen Gäste schweifen. „Wir wollten ja noch ein skurriles aber eigentlich einfaches Geheimnis lüften. Sag, Mika. Du wusstest ja bereits Bescheid. Mir war es ein besonderes Anliegen, sowohl für Merle, als auch für mich, reinen Tisch zu machen. Das ist nur fair. Hat Gudekar einmal mit dir darüber gesprochen?“ Sie lachte, da sie gerade nicht im öffentlichen Interesse stand. „Eine Knappin, deren bester Freund ein Bannstrahler ist und die nicht an die Liebe glaubt, findet sie genau in einem Magier im Traviabund, der auch noch ein Kind hat.“

“Oh, Meta! Das klingt nach einer Vinsalter Komödie, so wie du es sagst! Komm, ich begleite dich, das Essen holen!” Mika stand auf und hakte Meta unter, so als wären sie ganz alte Freundinnen. “Pass auf, Meta, ja, ich weiß von euch beiden. Imelda hatte es mir in Ishna Mur verraten. Na, eigentlich hatte sie sich damals versehentlich verplappert. Aber es wäre das erste Geheimnis, das ich nicht erfahren hätte!” Mika musste lachen und stieß ihren Ellenbogen in Metas Seite. “Ich hatte nicht viel Gelegenheit, mit Gudekar darüber zu reden. Genaugenommen habe ich ihn seitdem erst einmal gesehen. Aber, dass er mit dir hier zusammen auftaucht, zeigt mir, wie sehr er dich lieben muss, wie ernst es ihm ist. Denn für ihn ist das ein großes Risiko. Vater und Kalli würden ihn vermutlich dafür mit Schimpf und Schande aus dem Dorf jagen, wenn sie Wind davon bekommen. Aber du kannst sicher sein, bei mir ist euer Geheimnis sicher. Bei mir und Gwenn.”

„Ach. Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Danke, Mika.“ Sie legte die Hand auf Mikas Schulter. „Wir hatten es beide nicht darauf angelegt. Ursprünglich wollte ich irgendeinen freien Adeligen zum Traviabund, mit dem ich dann sozial aufsteigen könnte.“ Sie spielte mit ihrem Amethysten an der Kette und suchte nach Worten. “Aber ich stehe Rahja sehr nahe. Ein Rahjabund verbindet uns auch nur zeitweise, deshalb haben wir das versucht und wollen ihn erneuern lassen. Ich dachte nie, dass es Liebe in dieser Form gibt. Aber wir ergänzen uns da, wo der andere Schwächen hat. Und seit er mit mir zusammen ist, hat er gewaltige Fortschritte gemacht. Das war jetzt eine ganz grobe Kurzfassung. Ich bin genauso neugierig, wie alle Frauen und ganz anders, als die meisten.“ Meta lächelte versöhnlich. „Stell mir deine Fragen. Mit etwas Glück bekommen wir Gudi noch dazu.“

Mika lächelte die Ritterin an. “Weißt du, schon bevor mir Imelda euer Geheimnis verraten hat, hatte ich gewusst, dass da irgendwas ist. Gudekar war so anders. Er wirkte irgendwie glücklicher, als er damals von seiner ersten längeren Reise zurückkam. Als Schwester merkt man das, auch wenn ich sonst so wenig von solchen Rahja-Dingen verstehe. Und er war zu Merle ganz anders. Da tat mir Merle schon leid. Sie ist ja auch irgendwie eine gute Freundin für mich. Ach, weißt du, ich glaube, ich bin froh, dass ich das letzte Jahr da raus war. Im Wald ist doch alles viel, viel einfacher.” Mika schwirrte der Kopf. Eigentlich wollte sie doch alles über die Frau wissen, die ihrem Bruder das Herz geraubt hat. Und nun war sie da, zum Greifen nah. Und Mika fiel keine passende Frage ein. Meta liebte ihn. Er liebte sie. Punkt. War damit nicht alles gesagt? Was bedarf das vieler Worte? Die Tatsachen waren bekannt. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie sich schon fast wie Firumar anhörte. Nur hätte der es knapper ausgedrückt. Sie musste herzhaft über ihre Gedanken lachen, aber Meta verstand nicht warum.

Mika und Meta erreichten den Stand des alten Beeltzers. Nachdem zwei andere Dorfbewohner bedient wurden, kamen auch die Damen an die Reihe.

“Hallo Ludewich!” begrüßte Mika den bekannten Bauern.

“Oh, guten Tag, die hohe Dame von Weissenquell! Ich habe Euch schon lange nicht gesehen! Ich hoffe, Ihr seid wohl auf?”

“Danke, ich kann mich nicht beklagen. Es ging mir selten besser. Wir hätten gern drei mal das Kaninchenragout, wenn es noch so gut ist wie früher. Und etwas Brot dazu für die Tunke.”

“Besser, hohe Dame, viel besser!” versicherte der Beeltzer und füllte drei Schalen randvoll.

Als sie das Essen zu Imelda gebracht hatten, brach Meta das Schweigen zwischen ihr und Mika. „Das kann doch nicht alles sein. Ihr kanntet euren Bruder, Gwenn und du und ihr mögt Merle. Das sind Gefühle, die man schwer unter einen Hut bekommt.“ Meta war so in Erinnerung versunken, dass sie erstmal nichts essen wollte. „Er war die ganze Zeit unglücklich. Bevormundet und sein künftiges Leben war dort, wo er war, so absehbar. Als er dann auf der Feier war, eröffneten sich ihm so viele andere Perspektiven als Heiler. Mika, du kennst mich leider nicht richtig, da ich hier versuche, irgendwas zu spielen, aber ich bin etwas anderes.“ Sie kicherte und sah zu Imelda. “Imelda, was meinst du? Wir fallen beide nicht in das gängige Schema von Frau, wie es üblich ist. Imelda mehr, sie ist hübsch, wenn sie sich mal darum kümmert. Ich bin unscheinbar. Frech, respektiere oft keine Etikette oder nehme die Leute auf den Arm. Da ich meine Ausbildung bei einem badoc Elfen begonnen habe, interessiere ich mich für Magie. Und ich suche immer nach einer Möglichkeit, mein bescheidenes Vermögen zu vermehren.“

Mika schaute die beiden Freundinnen an. “Ich kenne Imelda. Nicht so gut, vielleicht, wie du sie kennst, aber ausreichend. Wenn du ihr nur annähernd ähnlich bist, dann weiß ich, was Gudekar an dir findet. Dann bist du interessant, aufregend, vielleicht unberechenbar. Da lockt ihn das Abenteuer bei dir. Etwas, was er nie hatte. Merle ist nett. Sicher, sie ist unheimlich hübsch und lieb. Halt nett. Aber ich denke, Gudekar möchte einfach mehr. Ich an seiner Stelle hätte mich auch nicht ein Dutzend Jahre in die Klostermauern einsperren lassen. Dazu ist Dere viel zu groß. Ach, ich rede schon wieder zu viel. Wen interessiert das?” Mika nahm einen Löffel und fing an, sich das Kaninchenragout reinzuschaufeln.

„Genau. Es gibt so viel zu erleben. Aber ungefährlich ist es nicht.“

Imelda stürzte sich gierig auf das heiße Kaninchenragout. "Mhhh, lecker und schön deftig!", rief sie mit halbvollem Mund, um sich umgehend den nächsten Löffel zu gönnen. Genüsslich griff sie zu dem Becher und versuchte mit einem Schluck Wein den Bissen herunterzuspülen. "Ach, herrlich!", erklärte sie. "Kaninchen und Rotwein, es gibt nichts besseres. Gute Idee, Mika." Dann sah sie zu Meta und fragte mit einem kecken Schmunzeln nach: "Was meinst du mit 'ich sehe gut aus, wenn ich mir Mühe gebe'? Ich trage den Ruß der Schmiede mit großem Stolz! Und was die Gefahr angeht, darf ich dich daran erinnern, dass ich dir in der Vergangenheit mehr als nur einmal den Arsch gerettet habe", flachste sie mit herausgestreckter Zunge.

Das Mika schaute neugierig fragend zu Meta, sagte aber kein Wort.

„Das stimmt. Aber wer hat dir damals auf dem Fest geholfen, als es zu viele, interessante Flüssigkeiten und Fleischbrot auf einmal gab? — Mika, das war auf dieser Schweinehochzeit, als ich Gudekar kennen gelernt hatte. Damals ging es rau und gefährlich zu. Mir ist immer noch ein Rätsel, wie ich das mit dem Dämonen überleben konnte. Imelda war damals die Heldin. Sie hat die Ringe für die Hochzeit wieder erschaffen.“ Gut, es entsprach nicht alles der Wahrheit, aber im Großen und Ganzen war es so gewesen.

Mika musste still schmunzeln. Sie glaubte der Ritterin nicht ein Wort. Aber es war sympathisch, wie Meta versuchte, Imelda in der Geschichte gut dastehen zu lassen.

"Ach was, Meister Karnak hat ja das eigentliche Ritual durchgeführt. Ich habe lediglich den Rohling vorbereitet. Wisst ihr, was Feuerschweißen ist?"

Mika schüttelte den Kopf. “Nee, was ist denn das?”

Imeldas Augen strahlten aufgeregt. "Mika, das ist so wie Kuchenbacken, nur noch viel heißer, viel spektakulärer - wenn du das erste Mal etwas feuerschweißt, dann wird dich das den Rest deines Lebens nicht mehr loslassen!" Die Geweihte überlegte, wie sie es ihrer Freundin am einfachsten erklären konnte. "Du hast quasi eine Form, in die tust du kleine Stücke, die du miteinander verbinden möchtest", beschrieb sie freudestrahlend. "Die Metalle in der Backform sollten ohne Lufteinschlüsse verbunden werden. Hierbei hilft ein Flussmittel, Borax-Pulver... Je mehr, desto besser! Und dann wird alles im Feuer erhitzt und unter Hammerschlägen - aber richtigen Schlägen - zu einer breiigen Masse geformt." Sie zuckte mit den Achseln. "Dann lässt man alles abkühlen und holt den Rohling heraus. Und es ist immer eine Überraschung, was einen da drin erwartet. Großartig, oder?"

Mit geröteten Wangen blickte Imelda in die Augen ihrer Freundinnen, sah jedoch, dass diese den Enthusiasmus nicht ganz zu teilen schienen. “Ähm, wo wir beim Thema Schmieden sind… Meta, nun zeig’ uns doch endlich mal dein Schwert!” forderte sie ihre Freundin auf und streckte auffordernd die Hand aus, um die Waffe zu begutachten.

Meta nestelte an ihrem Gürtel. „Bei den Göttern, Imelda, hier ist mein Schwert.“ Die Waffe selbst war bis auf einen im Schwertknauf eingelassenen Amethysten schmucklos, aber dafür sehr praktisch. „Es liegt erstaunlich gut in der Hand. Thymon hat es in Auftrag gegeben.“

Imelda nahm das Schwert neugierig entgegen und schwang es ein paar Mal prüfend durch die Luft, dann betrachtete sie ganz genau die Klinge und den Schwertknauf. “Ja, du hast Recht, es liegt gut in der Hand! Einfacher Stahl, doch sehr gut verarbeitet, das sieht man”, befand sie. “Insgesamt schwerer, als ich erwartet hatte, aber es ist auch eine etwas breitere Klinge und der Schwerpunkt liegt günstig Richtung Knauf - so kannst du mit voller Wucht draufhauen.” Sie zwinkerte ihrer Freundin zu. “Ich glaube, das Schwert passt zu dir. Und der Amethyst im Knauf ist wirklich hübsch!”

„Draufhauen, genau. Und der Pöbel soll gleich wissen, was ihm blüht.“ Meta steckte das Schwert wieder weg. „Weiter muss ich mich nicht zur Ritterin verkünsteln.“

Imelda runzelte die Stirn und schaute kritisch zu Meta. Hatte sie das gerade tatsächlich laut ausgesprochen? War dies nur ein dummer Scherz? Die Ingrageweihte war unter Rittern aufgewachsen und beim alltäglichen Abendmahl war es oft um die Tugenden gegangen, welche sich für einen Mann oder Frau von Stand schickten.

Gerade war Imelda noch kurz davor gewesen, ihrer Freundin das gleiche Angebot zu machen, welches sie auch Silvagild und Hardomar unterbreitet hatte, ein Schwert ganz nach ihren Bedürfnissen für sie zu schmieden. In den Partnerschwertern der beiden hatte sie einen Schriftzug im Erl eingelassen, dass sie es nutzen sollten, um die Armen und Schwachen zu schützen und stets uneigennützig für das Gute zu streiten. Doch Imelda war sich nicht sicher, ob dies auch auf Meta zutraf. Na ja, sicher war es nur ein Scherz gewesen. Hoffte sie.

Mika schaute zwar kurz auf das Schwert, das sehr hübsch aussah. Aber von solchen Waffen oder ritterlichen Tugenden verstand sie nichts, deshalb war sie auch nicht sonderlich interessiert an dem Schwert. Es war halt ein Schwert. “Aber erzählt doch mal, wie war das nun genau, damals in Schweinsfold mit dem Kampf? Wer hat da gegen wen gekämpft, und wer hat wem das Leben gerettet?”

"Na, im Sumpf war es jedenfalls Meta, die sich waghalsig dem Dämon entgegengestellt hat. Ich habe bloß gegen ein paar RVAGs den Kampf aufgenommen." Vielsagend hob sie zweimal kurz ihre Augenbrauen. Als sie den verdutzten Gesichtsausdruck ihrer Freundin sah, erklärte sie mit einem verschwörerischen, lauten Flüstern: "Das sind Ratten von außergewöhnlicher Größe!" Sie hob ein wenig die Schultern: "Also Riesensumpfratten! Bist du als Jägerin schonmal solchen Biestern begegnet?"

“Ich glaube nicht, dass die Jagd auf solche Biester firungefällig wäre.” Mika machte ein angewidertes Gesicht. “Und was soll das bringen. Wer will solche Biester schon essen, außer vielleicht ein paar stinkende Goblins?”

“Na ja, in dem Fall ging es eher darum, dass die Biester uns nicht essen”, behauptete Imelda und blickte mit dramatischer Miene in die Runde. “Die hatten mit ihren spitzen Zähnen schon Schwester Alenas halbes Bein abgerissen!”  

„Ich hab irgendwo in die ekelig weiche und doch kräftige Masse des Dämons mit meinem Langdolch gehauen. Dann wurde Gudekar von einem Tentakel erwischt und ich bin zu ihm, um zu helfen.“

„Dann konnte Gudekar die Alena gar nicht heilen? Wie schrecklich! Ich hoffe, die Arme hat es überlebt?“

“Na ja, ich hab ja vorgeschlagen, die Wunde richtig ausbrennen. Das ist schnell, sauber und wirkungsvoll. Aber diese Alena wollte nicht auf mich hören”, versuchte sich Imelda an die Ereignisse von vor zwei Jahren zu erinnern. “Da war dann aber noch diese in Ungnade gefallene Magier-Novizin, die hat das Bein letztendlich geheilt, während Gudekar beschäftigt war.”

“Das klingt alles wirklich aufregend, nach einem richtigen Abenteuer. Ich glaube, ich wäre da gerne dabei gewesen”, schwärmte Mika.

Imelda, Meta und Mika waren gerade dabei, ihr Kaninchenragout zu essen, als der Anconiter Gudekar sich dem Tisch näherte.

Der Magier trat an den Tisch heran. “Guten Appetit, die Damen! Mika, Meta! Schön euch zu sehen!” Gudekar lächelte die beiden Frauen an.

“Hallo Gudekar! Firun zum Gruße!” antwortete Mika und winkte ihrem Bruder zu.

Dann erkannte Gudekar die Ingrageweihte. “Imelda, welch eine Überraschung! Du bist auch hier? Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen! Was treibt dich hierher?”

Die junge Hadingerin schluckte den Bissen amüsiert runter. "Hallo Gudekar." Sie lehnte sich in Richtung des Anconiters zurück und sah ihn mit funkelnden Augen an. "Was meinst du, gelehrter Herr, weshalb könnte ich wohl hier sein?"

“Na, wahrscheinlich hat dich Mika eingeladen. Oder Meta hat dir von unserem Fest erzählt, und… “ Plötzlich fiel Gudekar etwas auf. “Mika? Meta? Ihr zusammen hier? Ihr habt euch schon kennengelernt?” Ein strahlendes Lächeln durchzog auf einmal sein Gesicht.

Meta errötete und lächelte erleuchtet und etwas schüchtern. „Setz dich doch. Ja, wir kennen uns und haben auch schon über das Thema gesprochen. Gerade jetzt kann ich normal sein, das tut so gut. Aber anfassen ist nicht erlaubt, es könnte jemand herschauen.“ Meta sah kurz zu Mika. „Ich glaub, ich spreche für uns beide. Wir verstehen uns, aber es ist gut, dass du da bist. Mika hat noch Fragen, das sehe ich ihr an, aber die kommen nicht raus. Und unser Zeitfenster ist knapp.“

Gudekar setzte sich neben Meta und entgegen ihrer Warnung ergriff er ihre Hand und streichelte den Handrücken mit seinem Daumen. Dann schaute er zu Mika. “Nun los, Kleines, raus mit der Sprache! Die Ritterin sagt, du hast Fragen. Spuck sie aus!”

Mika blickte von Meta zu Gudekar und zurück. Sie hatte den Kopf schief gelegt und schien nachzudenken. “Es gibt Dinge auf Dere, die erklären sich auch ohne Worte. Worte können vom Wind weggetragen und verzerrt werden. Doch das, was das Auge sieht, das hat Bestand! Ihr müsst mir nichts erzählen, damit ich weiß, wie ihr empfindet. Aber eines müsst ihr mir erklären: Was folgt jetzt?”

Neugierig sah Imelda zwischen Gudekar und Meta hin und her, was diese auf Mikas Frage antworten würden.

Meta überlegte lange, obwohl sie schon so oft darüber nachgedacht hat. „Kurz von außen betrachtet ist es für mich wohl eine Sackgasse. Gudi wird immer reumütig zurückkommen können. Doch eine Ebene tiefer basiert diese seltsame Beziehung auf Vertrauen. Alles andere wäre sinnlos. Und es ist überfällig, Merle darüber in Kenntnis zu setzen. Ebenso ist es mir gegenüber fair, nicht mehr versteckt zu werden.“ Meta beobachtete Gudekar genau. Er war hier bei seiner Familie nicht so stark, wie sie erhofft hatte, aber er hielt sich gut. „Was meinst du, Gudekar?“

Gudekar rutschte auf seinem Platz nervös hin und her. „Ja, ich werde es Merle sagen. Sofort nach der Hochzeit.“

„Gudekar, du musst es ihr sagen!“ Mika ermahnte ihren Bruder eindringlich. „Das ist sonst niemandem gegenüber fair. Warum erst dann? Warum nicht sofort?“

„Weil Gwenn mich gebeten hat, es erst nach der Trauung zu tun“, warf der Magier ein. „Sie wollte vor ihrem Traviafest keinen Familienstreit.“

„Gudekar, Bruder, du musst!“

„Ja, Mika, ich sagte doch…“

Mika stand entschlossen auf. „Wenn du es nicht tust, dann mache ich es.“

Gudekar hielt Mika am Arm fest und schaute Mika flehentlich an. „Bitte, Mika, ich mach es doch! Ich habe es Meta versprochen. Übermorgen, nach Gwenns Schwur. Mein Ehrenwort!“

Mika sah ihren Bruder strafend an, setzte sich dann aber wortlos wieder hin.

„Mika, Gwenn weiß doch auch Bescheid und auch ich habe ihr gestern versprochen, dass das es ein ungestörtes Fest für sie sein soll.“

„Na schön, wenn du das auch so siehst, Meta.“ Mika gab nach. „Aber hat irgendjemand von Euch Dreien an die Gefühle von Merle gedacht?“

Gespannt verschlang Imelda jedes gesprochene Wort und sie war beeindruckt, wie entschlossen Mika für ihren Bruder einstand; etwas, was sie gut nachempfinden konnte. "Und...", sagte sie schließlich stirnrunzelnd, nippte an ihrem Wein und sah Gudekar eindringlich an, "...was genau willst du denn deiner Frau mitteilen? Also, sie wird das ja sicherlich nicht einfach so hinnehmen, dass du dann ein anderes Leben führst..."

Hilfesuchend, ja, fast flehentlich blickte Gudekar zu Meta, denn er wusste selbst nicht, was er Merle sagen sollte, und wie er es tun sollte. Deshalb hatte er es auch so lange vor sich hergeschoben. “Ich, ich weiß nicht so genau. Ich hoffe, die Worte werden kommen, wenn es soweit ist.”

Mika schaute ihren Bruder zweifelnd an. “Vielleicht sollte doch lieber ich es ihr sagen.”

Meta versuchte, zusammenzufassen. „Merle, deine Frau, muss wissen, dass du noch eine andere hast. Und ich will nicht heimliche Geliebte sein, ich will, dass du dich zu mir bekennst, oder...“, sie schluckte hart, „... das Leben bei deiner Frau vorziehst. Nichts zu sagen ist für dich am leichtesten, aber sowas machen keine Männer. Das treiben Lappen, oder schmierige Hallodri. Ich kann es dir nicht ersparen, ich wollte es ja schon vor Jahren, da es allen beteiligten Frauen gegenüber fair ist. Merle würde verstehen, warum du so abweisend warst.“ Meta musterte Gudekar kritisch, die Situation eben beruhte nur auf Vertrauen. „Warum du ein anderes Leben mit mir beginnen willst und ich wäre nicht dem Spott ausgesetzt, alles für jemanden zu tun, der nicht offen hinter mir steht. Diese Rolle als Wächterin liegt mir nicht. Genau so bin ich nicht. Wäre ich hier wie Imelda, hätten wir Mords-Spaß gehabt. Vielleicht würde Mika mich auch wirklich interessant und nett finden. So wechsle ich dauernd und weiß, dass ich mich bis auf die Quelle so oder so hier nicht mehr zeigen darf. Lass dein Herz entscheiden.“

Gudekar schaute immer verzweifelter. “Meta, ich wollte nicht, dass du dich hier unwohl fühlst! Ich wollte dich an meiner Seite haben, dass wir das Fest gemeinsam genießen können. Dass du Spaß hast. Ich wollte nicht, dass du eine Rolle spielen musst, die dir nicht steht. Bitte, nimm da einfach keine Rücksicht mehr. Dann sollen sie doch alle anfangen Fragen zu stellen, dann sollen sie doch schauen und tuscheln! Dann sollen sie doch Verdacht schöpfen! Es ist mir doch egal! Noch zwei Tage, dann ist der Mummenschanz sowieso vorbei. Dann werde ich Merle sagen, dass ich sie verlasse, dass sie ihr Leben ohne mich in die Hand nehmen soll, dass wir beide, du und ich, weggehen – gemeinsam!” Gudekar wurde bei seinem Ausbruch immer lauter, so dass die Dorfbewohner am Nachbartisch schon anfingen, sich nach ihnen umzudrehen. Zum Glück spielten die Musikanten inzwischen die fröhlichen Weisen so laut, dass seine Tiraden nicht über den ganzen Dorfplatz zu hören waren. Völlig außer sich stand Gudekar auf und verließ den Tisch. Mit strammem Schritt ging Gudekar zum anderen Ende des Dorfplatzes und stellte sich in die Nähe einer Feuerschale. Gedankenverloren betrachtete er die lodernden Flammen.

Mika schaute Gudekar mit großen, erschrockenen Augen hinterher. So kannte sie ihren Bruder überhaupt nicht. Sie setzte sich schnell neben Meta und nahm sie in den Arm. “Ich finde dich nett und interessant! Tut mir leid, dass wir vorhin so einen schlechten Start hatten. Ich wäre gerne deine Freundin. Lass dir mal von Imelda erzählen, was ich damals in Ishna Mur gesagt habe.” Mika stockte, denn sie spürte, dass Gudekars Verhalten ihr noch ganz andere Sorgen bereitete. “Lass ihn einfach einen Moment in Ruhe. Gib ihm die Zeit, sich zu sammeln. Er steht mit der ganzen Situation gerade ziemlich unter Spannung. Wenn du ihm nicht so viel bedeuten würdest, hätte er nicht so reagiert.“

„Imelda, erzähle es mir. Er verhält sich leider grad weder wie ein richtiger Mann, der zu dem steht, was er will, noch kann ich aus diesem Verhalten, außer Kindischem, nichts herauslesen, auf was ich mich jetzt stützen sollte.“ Meta resignierte. Anscheinend war er zu schwach. Er war es die ganze Zeit gewesen. Ein Brief voller Liebe schrieb sich leicht, da musste man nichts beweisen. Selbst der Rahjabund war zeitlich begrenzt gewesen und niemand hatte davon gewusst. Jetzt, als er sein Leben wirklich ändern musste, zeigte sich die Wahrheit. Sie hatte der gesamten Familie von Gudekar und ihren Plänen erzählt. Spott und Belustigung geerntet. Aber sie war geblieben. Sie würde die Nachtwanderung abwarten.

Mika drückte Meta fest. “Hab Vertrauen zu ihm. Ich weiß, er verhält sich manches Mal einfach dumm. Aber er meint es nicht so. Weißt du, was Gudekar zu mir gesagt hat, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe? Er hat gesagt, du bist die Liebe seines Lebens!“

„Hat der Herr nicht damals auch so von Merle gesprochen?“ Sie lachte, da die Situation einfach zu komisch war. „Ich bin nicht Merle und werde nie so sein, wie sie. Euer Bruder wandelt auf schmalem Grad. Ich hatte mir die Feier hier für mich ungezwungener vorgestellt. Wir hätten es uns richtig schön machen können.“ Meta verdrehte die Augen „Stattdessen bin ich sowas wie die Plötzbogen, nur in schlecht. Der Herr Gudekar badet in Selbstmitleid. Ja, mir tut Merle auch leid, aber seit ich ihn kannte, wollte er mit mir ein neues Leben anfangen. Angeschmiert bin ich, wenn seine Gefühle für sie die Überhand gewinnen. Er muss selber wollen.“

Mika stützte den Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn auf die Handfläche. “Denkst du wirklich, er könnte zu Merle zurückgehen und dich fallen lassen? Was hindert dich dann daran, das Fest einfach zu genießen und Spaß zu suchen?” Bevor Meta antworten konnte, musste Mika plötzlich loslachen. “Wißt ihr beiden eigentlich, wie komisch das ist: Da jammert die Geliebte des untreuen Schufts, dass ihr Holder sie am Tag der Treue betrügt und in die Arme seiner Frau zurückkehrt! Seht ihr nicht die Ironie darin?”

Nichts hindert ihn. Meine Frage hast du vergessen, das ist typisch für Männer. Wen sie grad mögen, der ist die Liebe ihres Lebens.

„Und wie“, antwortete Meta grantig. „Dieser untreue Schuft hat mehr Frauen, als gut für ihn sind.“ Sie musste auch lachen. „Wenn man das aber ernsthaft betrachtet, oder eine Kindergeschichte daraus machen würde, wäre er, der auf Abwegen gekommene Mann am Tag der Treue zu seiner Frau zurückgekehrt. Die böse Verführerin, also ich, würde natürlich anders aussehen, so lange Krallen, lippenrot, eine Brust, die sich aus ihrem Kleid quetscht, bisschen wie eine Spinne, die Beute sucht. Hm..., so ist das doch in Märchen? Die Guten sind sehr schön und machen keine Fehler.“  

Imelda war während des Gespräches immer stiller geworden und hatte mit großen Augen der Diskussion gelauscht. Sie machte sich große Sorgen um Meta, die so unendlich nervös und aufgedreht wirkte und von der Situation völlig überfordert schien. Liebevoll nahm sie ihre Freundin kurzerhand in den Arm und drückte diese ganz fest an sich. "Ach, meine Süße, das wird wieder. Das wird schon alles gut ausgehen!" murmelte sie Meta ins Ohr, auch wenn sie im Inneren so ihre Zweifel hatte, ob die Familie es einfach hinnehmen würde, wenn Gudekar sich öffentlich als Ehebrecher bloßstellte. Würde nicht alles unweigerlich in einem großen, bitteren Streit enden? "Ich bin auf jeden Fall für dich da, Meta", setzte sie liebevoll hinzu und strich dieser sanft über den Rücken. “Immer!”

Meta hielt kurz in ihrem Redeschwall inne, man sah an ihrem Gesicht, wie verletzlich sie gerade war. Schweigend drückte sie Imeldas Hand. Sie war ihr Anker, ihr Fels, wenn sie so alleine war.

Die Ritterin sann weiter nach. „Gwenns Hochzeit darf nicht gefährdet werden. Aber angenommen, ich hätte bis zur Nachtwanderung „frei“, wie wollt ihr euch denn amüsieren? Ich kenne viele nicht. Erzählt mir doch, wen wir von hier aus sehen können. Nicht das übliche Blabka… gewann hier und da. Die Sachen, die man wissen sollte.“ Meta hatte nun ein vergnügt hinterhältiges Blitzen in den Augen. „Angeblich soll Lares ja auch da sein. Man übersieht ihn leicht, aber überhört ihn schwer. Schon meine Junkerin war mit dem unterwegs.“

„Ach und Imelda, das ist sicher amüsant. Ich weiß ja, wie du schweigen kannst. Erzähl doch mal, wie dir Mika das mit Gudi und mir entlockt hat. Das interessiert mich gewaltig. Erzählt, ihr beide. Dann lästern wir über die anderen Leute.“

Imelda lehnte sich ein Stückchen zurück und kratzte sich nachdenklich an der Schläfe. Eigentlich war es ihr peinlich, dass sie damals so viel verraten hatte, aber vielleicht würde die Geschichte Meta ein bisschen aufheitern. “Na ja, wir beide saßen gemeinsam im Badezuber… ähm, lange Geschichte… das eine oder andere Gläschen Wein war auch im Spiel… Und dann hat Mika angefangen, mich nach der Schweinehochzeit zu fragen und wollte wissen, ob ich was mit Gudekar hatte - unvorstellbar, oder?!” - und ich meinte, dass er zwar auf mich raufgefallen ist und wir getanzt haben, aber sonst nichts. Da meinte sie, sie wüsste von der Geliebten und ob ich die kenne - also hab ich’s zugegeben und gesagt ‘Nennen wir sie mal Greta’... Und dann hab ich erzählt, dass ich damals auf der Hochzeit vermutet hatte, dass Greta sich mit Gudekar nur an Lenny rächen wollte, den sie immer noch heimlich liebte… Daraufhin hat Mika gesagt, dass das ja besonders schlimm wäre wegen des Kindes… Und mir ist fast die Luft weggeblieben und ich hab geschrien: ‘Was?! Meta ist schwanger?!!!’ - ich war total vor den Kopf gestoßen, weil sowas hättest du ja deiner Freundin vielleicht mal verraten können”, Imelda drückte die Dramatik ihres damaligen Schocks mit großen, raumgreifenden Handbewegungen aus, dann zuckte sie mit den Achseln. “So haben wir erst gemerkt, dass es eigentlich um zwei verschiedene Frauen ging.” Imelda nahm, etwas atemlos vom schnellen Erzählen, einen weiteren Schluck Wein und grinste ihre zwei Freundinnen an. “Danach haben wir noch eine Menge getrunken, getanzt, im Stall weitergetrunken, bis dieser nervige Angroscho kam und wir im Heu eingeschlafen sind. So war es doch, Mika, oder?”

Mika musste bei Imeldas Erzählung immer wieder lachen. Nicht nur, weil die Erinnerungen an das Fest in Ishna Mur ihr ein wohliges Gefühl bereiteten, nein, vor allem, weil Imelda es schaffte, diese eigenartige Situation so lustig wiederzugeben. “Ja, Imelda, genau so war es. Aber an den Angroscho im Stall erinnere ich mich gar nicht mehr.” Etwas wehmütig schaute Mika auf das Wasser in ihrem Trinkbecher und nahm dann jedoch entschlossen einen großen Schluck davon. “Aber Imelda, erinnerst du dich noch daran, was ich dir damals noch gesagt habe über Gudekar? Dass ich ihn noch nie so glücklich gesehen habe wie seit der Schweinehochzeit und dass er die Frau wirklich richtig liebt, erinnerst du dich?”

Imelda nickte eifrig. “Ja, das hast du gesagt, Mika, das stimmt. Und dass du der Frau nicht böse bist, auch wenn du erst gedacht hattest, dass es eine fiese Schnepfe sein müsste, die ihn zum Ehebruch verführt hat, weil du die Merle ja auch lieb hast.” Entschuldigend blickte Imelda kurz zu Meta. “Aber dann hast du gesagt, dass du gut verstehen kannst, dass er sein jetziges Leben langweilig findet und sich nach etwas anderem sehnt. Und dass die ‘Greta’ ihn offenbar glücklich macht.”

“Mensch, Imelda, das mit der ‘Schnepfe’ hättest du jetzt wirklich nicht sagen müssen.” Mika knuffte der Geweihten in die Seite. “Was soll Meta denn jetzt denken.” An Meta gewandt ergänzte sie entschuldigend: “Das hatte ich nicht so gemeint. Und damals kannte ich dich ja noch gar nicht. Du bist bestimmt keine Schnepfe. Du bist nämlich ziemlich nett. Wobei, Schnepfen sind eigentlich ganz hübsche, interessante Vögel. Das ist also eigentlich gar keine Beleidigung.” Mika schaute Meta mit großen Augen an.

Meta lachte gut gelaunt. Sie konnte sich diese Geschichte bei Imelda lebhaft vorstellen. Da wäre sie gerne Mäuschen gewesen. Endlich war sie ruhig und ausgelassen wie die beiden Frauen es sich erhofft hatten. „Ist doch schon in Ordnung. Ich hätte sicher was Derberes gewählt.“

"Ach, was denn?", fragte Imelda keck mit einem neugierigen Schmunzeln nach.

Das hätte Mika auch gern gewusst. Vielleicht konnten solch andere Ausdrücke später noch einmal nützlich sein.

Meta überlegte etwas. „Es muss was haben, was auf Zickenkrieg hindeutet, ‚hinterhältiges Luder‘ oder ‚notgeile, gottlose Ehebrecherin‘, sowas in der Art.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Obwohl dazu ja immer zwei gehören. Man stellt sich halt so eine lasziv hergerichtete Verführerin vor, gegen die der arme Mann gar keine Chance hat.“

Mika schaute Meta verwundert an. „Warum sollte man eine Frau als Köder bezeichnen?“

Imelda schaute erst verwirrt zu Mika und lachte dann lauthals los. "Na, Meta, womit hast du ihn geludert...?, lachte sie. Dann wurde sie wieder ein wenig ernster. "Ach, Metamaus... du bist kein artiges Mädchen, aber ich liebe dich und werde immer für dich da sein. Egal, was passiert", versicherte sie ihrer Freundin erneut.

“Achso, nimmt man das Wort deshalb auch als Schimpfwort?” Mika musste lachen, als sie Imeldas Erklärung verstand.

Aus Richtung des Gutshauses der Weissenquells kam eine weitere junge Frau in einer grobgewebten langärmeligen grünen Tunika den Weg zum Dorfplatz entlanggelaufen. Sie trug eine prall gefüllte Umhängetasche über der Schulter und hatte einen warmen, rostbraunen Mantel über den Arm gelegt. Das hüftlange, dunkelblonde Haar hatte sie zu zwei dicken, seitlichen Zöpfen geflochten, was ihr zusammen mit den großen braunen Augen - trotz ihrer vielleicht Mitte zwanzig Götterläufe - eine jugendliche, fast mädchenhafte Erscheinung verlieh. In der Hand hielt sie einen großen Krug mit Kirschsirup gesüßtes Sauerbier. Imelda kannte die junge Frau vom letzten Pelura-Turnier in Albenhus. Es war Merle Dreifelder, die Frau von Gudekar, dem Magier. Auch Mika erblickte ihre Schwägerin und hatte ein eigenartiges Gefühl, wenn Merle sie erblicken und gleich auf Meta treffen sollte. Deshalb schwieg Mika und tat so, als hätte sie Merle nicht gesehen.

Die Augen Imeldas weiteten sich vor Schreck, als sie die hübsche Gemahlin des Magiers erkannte und diese schnurstracks auf ihren Tisch zukam. Zunächst stupste sie mit dem Bein unter dem Tisch gegen das von Mika. Als sie jedoch bemerkte, dass diese bewusst versuchte, geistesabwesend auf den Tisch vor sich zu starren, tat sie es ihr für einen ganzen Herzschlag gleich. Dann hielt sie es jedoch nicht länger aus. “Oh, das ist doch…”, sagte sie etwas lauter und mit einem überraschten Lächeln, als Merle ihren Tisch schon erreicht hatte.

Merle hatte gezielt Ausschau nach ihrer jungen Schwägerin gehalten und diese recht schnell an einem der Tische entdeckt. “Mika!” rief sie mit jubelnder, heller Stimme. “Mika, meine liebe Kleine, lass’ dich drücken!” Breit strahlend und mit vor Freude geröteten Wangen stürmte sie zu der jungen Weissenquellerin, zog diese in eine enge, warme Umarmung und wuschelte ihr verwundert durch das nun so kurze braune Haar, wobei sie versuchte, nichts aus dem Bierkrug zu verschütten. Erst nach einigen langen Wimpernschlägen ließ sie Mika los, strich ihr noch einmal liebevoll über die Wange und schaute ein wenig schüchtern in die Runde.

Mika tat ganz überrascht, als sie aufsprang, um sich von Merle begrüßen zu lassen. „Merle! Das ist ja eine Freude, dich endlich zu sehen! Ich habe schon den ganzen Abend nach dir Ausschau gehalten, um dich zu begrüßen“, flunkerte sie, ohne rot zu werden.

“Hohe Dame Croy” nickte Merle der jungen Ritterin höflich zu, dann wandte sie sich mit verlegenen Blick an Imelda: “Ähm, Euer Gnaden, nicht wahr? Ich bin Merle Dreifelder von Weissenquell”, lächelte sie die Ingra-Geweihte freundlich an. “Ich glaube, wir haben uns beim letzten Pelura-Turnier getroffen, auch wenn ich nicht in Eurer Gruppe war. Also, ähm… willkommen in Lützeltal; ich hoffe, Ihr genießt das Fest?”

Mika hatte sich nach der Begrüßung wieder hingesetzt und beobachtete nun jede Regung der drei Frauen. Ihre Augen wanderten von Merle zu Imelda zu Meta und wieder zu Merle.

"Ja, genau. Beim Pelura. Leider hatten wir damals nicht das Vergnügen, uns näher kennenzulernen", sagte Imelda freundlich. "Ich hatte jedoch die Ehre, Euren Gemahl bei der Schweinsfolder Hochzeit vor zwei Götterläufen ein wenig kennenlernen zu dürfen. Und kurze Zeit später Mika." Die Hadingerin lächelte flüchtig zu ihrer Freundin und erklärte weiter: "Seither sind Mika und ich sehr gute Freundinnen und ich freue mich, endlich einmal Gast im Lützeltal sein zu dürfen, welches mir überaus gut gefällt!" Die Hadingerin sah aufgeregt zwischen ihren beiden Freundinnen hin und her, bis sich dann wieder ihre Aufmerksamkeit auf Merle richtete. "Oh, Ihr habt das Gebraute mit der roten Farbe. Was ist das noch gleich? Himbeer?" Nervös wippte Imelda mit dem Bein auf und ab. 'Nur nicht auffallen und was verraten', dachte sie. 'Verhalte dich ganz normal, so wie sonst auch, wie würdest du normal reagieren...' Noch bevor Merle antworten konnte, fügte sie eilig hinzu: "Ähh, wollt Ihr Euch nicht setzen?" Imelda rückte noch ein wenig näher an Mika heran, um Platz auf der Bank zu schaffen.

Merle bemerkte Imeldas Nervosität nicht, da sie selbst immer aufgeregt war, wenn sie neue Leute kennenlernte. Mit einem dankbaren Nicken stellte sie ihren Bierkrug auf den Tisch und nahm neben Imelda Platz. “Ach ja, das ist Sauerbier mit Kirschsirup”, erklärte sie mit einem verlegenen Lächeln zu Imelda. “Meine Lieblingssorte, glaube ich.” Neugierig wandte sie sich Mika zu, die sie einen ganzen, langen Götterlauf nicht gesehen hatte. “Und, wie geht es dir, Mika?” fragte sie mit einem gespannten, liebevollen Blick. “Ist Seine Gnaden Firumar wirklich so streng, wie alle sagen?””

„Firumar ist streng, aber gerecht!“ erzählte Mika voller Stolz. „Wenn er nicht so streng wäre, würde ich doch nichts lernen!“ Mikas Augen funkelten vor Freude im flackernden Licht der Feuer wie ein Kristall. „Es ist so unendlich erhaben, seinen Spuren durch den Wald zu folgen.“

"Ich weiß ganz genau, was du meinst, Mika!", gab Imelda mit ebenso großer Begeisterung von sich. "Den Göttern nah zu sein und ihre Macht zu spüren, das ist so, als ob die Seele ergriffen wird und zu fliegen beginnt." Sie strahlte über das ganze Gesicht und nahm von dem Becher Wein. Glücklich grinsend fuhr sie fort: "Meister Karnak war sooo streng während meiner Ausbildung und Meister Ingerian ermahnte mich immer: 'von nichts kommt nichts'. Man muss sich als Diener eines Gottes voll und ganz der Leidenschaft für die Sache hingeben." Bei ihren letzten Worten sah sie zu Meta, dann jedoch wieder zu Mika. "Oder wie seht ihr das?"

“Ja, genau.” Früher hätte Mika vermutlich genauso viele Worte verschwendet, um das auszudrücken, wie es Imelda tat. Doch Firumar hatte sie gelehrt, dass es nicht vieler Worte bedarf, um auszudrücken, was man sagen wollte. Und sie hatte alles Nötige gesagt.

Entschlossen nickte Imelda der Novizin zu. "Und was war bisher dein schönstes Erlebnis? Gab es ein ganz besonderes Wild, welches du erlegt hast?"

Meta hatte an Imeldas hektischen aber so putzig typischen Gehabe recht schnell gemerkt, dass der gelöste Teil mal wieder vorüber war. „Nennt mich doch Meta, Frau Merle. Euer Gemahl wollte alleine sein und da ich nachher diese Wanderung begleite, habe ich gerade frei.“ Meta lächelte entwaffnend und freundlich. „Mika habe ich heute erst kennengelernt, Imelda und ich sind uns schon seit dieser unsäglichen Hochzeit bekannt und befreundet.“ Sie stieß Imelda mit dem Fuß an. „Auch, wenn die Geweihte gerne vergisst, mich als Freundin zu erwähnen.“

"Gerne, Ritterin Meta." Merle nickte Meta zu und lächelte sie freundlich an. "Es ist schön, dass Ihr mit Ihrer Gnaden Imelda gleich eine Freundin wiedergetroffen habt. Ich hoffe, dass Ihr das Fest und die Gastfreundschaft Lützeltals genießt, auch wenn Euch ja der Dienst hergeführt hat." Dann blickte sie wieder zu Mika und hing förmlich an deren Lippen, als diese von ihren Jagderlebnissen zu erzählen begann.

“Mein schönstes Erlebnis?” überlegte Mika, ohne darauf zu achten, dass die anderen sich weiter unterhielten. “Mein schönstes Ereignis war, glaub ich, als Firumar den Hirsch erlegt hat. Einen richtigen Zwölfender. Den hab ich zwar nicht erlegt. Ich sollte einfach still sein und beobachten. Weißt du, Imelda, eigentlich dürfen wir ja keine Hirsche jagen. Und schon gar kein so prächtiges Tier. Das steht nur dem Herzog zu. Aber das Tier war verletzt, von einem Luchs oder so. Und so musste Firumar es erlösen, denn Firun mag es nicht, wenn seine Schützlinge sich unnötig quälen müssen. Deshalb haben wir seine Spur aufgenommen, aber das Tier war verängstigt, hat sich versteckt und ist immer schnell geflohen. Am Ende haben wir es aufgespürt und dann hat Firumar es mit einem einzigen Schuss erlegt. Das war beeindruckend!” Die Wortlosigkeit, die der Geweihte sie gelehrt hatte, war auf einmal vergessen.

"Und so ein Zwölfender ist ja schon richtig groß, oder? Das ist schon ein richtiger Braten dann?", fragte Imelda interessiert nach. "Habt ihr den dann einem Wirtshaus zukommen lassen? Oder selber gegessen?"

“Imelda, hast du mir nicht zugehört? Das Tier gehört dem Herzog!” empörte sich die Firunnovizin.

"Der schafft so einen Zwölfender doch gar nicht allein...", witzelte sie und nippte vergnügt am Wein. "Aber ja, ich kann mir gut vorstellen, was für ein tolles Erlebnis das gewesen sein muss."

Imelda seufzte und sah sich flüchtig um. "Achso, ja, die Ritterin Meta und ich, wir kennen uns auch schon seit langer Zeit. Also seit der Schweinsfolder Hochzeit. Sie hat erst vor wenigen Wochen ihre Schwertleite erhalten", lobte sie ihre Freundin.

"Oh, herzlichen Glückwunsch, Frau Meta!", gratulierte Merle mit einem verbindlichen Lächeln. “Möge die Herrin Rondra Euch auf Euren Wegen stets begleiten und stärken.”

Meta errötete verschämt und murmelte. „Endlich. Für eine Knappin war ich schon recht alt. Mit den Gründen, warum ich so lange gebraucht habe, will ich Euch nicht langweilen. Sagen wir mal, ich musste etwas nachsitzen, Thymon vom traurigen Stein ist mein zweiter Schwertvater, und ich hab oft meinen eigenen Kopf.“ Sie sah Merle tief in die Augen. „Ihr habt sehr schönes Haar und seid sehr hübsch.“

Ein bisschen irritiert lächelte Merle auf das aus heiterem Himmel kommende Kompliment. “Ähm, danke”, murmelte sie und schnippte verlegen ihre Zöpfe auf den Rücken. “Und was sind Eure Pläne, nun nach der Schwertleite? Geht Ihr auf eine Aventurie?” fragte sie nach kurzem Zögern interessiert nach.

„Ich wollte Euch nicht irritieren, ich kenne nur aus der Stadt und diversen Anlässen andere, sehr hübsche Frauen, deren Charakter allerdings zu wünschen übrig lässt...“ Sie verdrehte die Augen. „Eine davon hat meinen besten Freund geheiratet, Imelda, du kennst beide ja.“ Dann wandte sie sich wieder Merle zu. „Ich werde erstmal weggehen. Die Zeiten sind sehr unsicher. Hat Euer Gemahl es vielleicht schon erwähnt? Ich werde ihn weiter beschützen, damit er in der Ferne Gutes tun kann.“

Bei den Worten der Ritterin verschluckte sich Imelda und hüstelte keuchend. Mit rot angelaufenem Kopf deutete sie sich auf den Rücken und hoffte, dass Mika oder Merle ihr helfen würden.

Hilfsbereit schlug Merle der Geweihten mehrmals kräftig auf den Rücken, bis diese den Husten in den Griff zu bekommen schien. “Na, geht’s wieder, Euer Gnaden?” fragte sie liebenswürdig nach, dann blickte sie mit forschendem Blick zurück zu Meta. “Dann will ich mal hoffen, dass mein Charakter Euren hohen Ansprüchen Genüge tut, obwohl ich… hübsch bin”, sagte sie mit leiser, sanfter Stimme. “Ihr habt auch sehr schöne Augen, hohe Dame.”

Da Merle schneller reagiert hatte, schaute Mika nur besorgt zu ihrer Freundin. “Alles gut, Imelda?” fragte sie lediglich, da sie merkte, dass sich Imelda nicht ernstlich verschluckt hatte. Doch schnell war ihre Aufmerksamkeit wieder bei dem Wortwechsel zwischen Merle und Meta, den beiden Frauen, denen ihr Bruder – zu unterschiedlichen Zeiten – sein Herz versprochen hatte.

Imelda japste nach Luft und nickte Mika zu: "Ja, danke. Geht schon wieder." Sie griff zu dem Becher mit Wein, trank einen Schluck und hickste auf. "Oh, Verzeihung", sagte sie und hielt sich die Hand peinlich berührt vor den Mund.

Dann sah sie zu Meta, was diese Gudekars Gemahlin wohl antworten würde.

Etwas verwirrt sah Meta Merle an. “Also bis jetzt schon. Oder hab ich was Falsches gesagt? Eher wird wohl mein Charakter Euch nicht zusagen. Imelda? Imelda?” Sie sah zu ihrer Freundin, da sie Verstärkung brauchte. “Mein Humor liegt nicht jedem. Aber das muss er auch nicht.”

Merle, die Metas Irritation bemerkt hatte, winkte ab. “Nein, nein, alles in Ordnung. Ich bin es nur nicht gewohnt, von einer fremden Ritterin Komplimente zu meinem Äußeren zu kriegen. Vor allem…”, sie blickte stirnrunzelnd an ihrer weiten, grobgewebten Tunika herunter, “...vor allem, weil ich für diese Wanderung nur irgendwelches altes, aber warmes Zeug angezogen habe.” Bemüht um ein freundliches Lächeln schaute sie Meta in die Augen. “Dann seid Ihr nachher auch bei der Nachtwanderung dabei, Ritterin Meta? Ich bin ja schon unheimlich gespannt auf die Quelle des Lützelbachs, die soll sehr schön und sagenumwoben sein.”

„Ich fand sie immer wunderschön! Im Sommer haben wir, also Gwenn, Gudekar und ich, als Kinder da manchmal einfach so übernachtet und uns alte Geschichten erzählt.“ Mika blickte sehnsüchtig verträumt, in Erinnerungen schwelgend. „Schade, dass ich da heute nicht mitkommen kann. Aber Firumar will mich bald bei der Hütte sehen, dass ich früh schlafen gehe, um morgen fit für die Jagd zu sein.“

"Oh ja, die Jagd morgen!" strahlte Merle und schlug Mika liebevoll auf die Schulter. "Dein großer Tag, was? Da musst du natürlich gut ausgeruht und vorbereitet sein. Und dann wirst du alle sowas von beeindrucken, meine Kleine, da bin ich mir sicher!"

Mika zuckte mit den Schultern. “Das ist nicht meine Jagd. Da sollen doch morgen die stolzen Herren und Damen sich beweisen, was sie für tolle Kerle sind. Firumar überwacht lediglich, dass sich alle an die firungefälligen Regeln halten, und ich helfe ihm dabei. Wir sind gleichzeitig die Bedeckung, falls jemand übereifrig wird und sich in Gefahr bringt. Und sollte ein Schuss nicht richtig treffen, dann können wir eingreifen, bevor ein Keiler meint, er könnte den Herren mal so richtig seine Meinung über die Jagd blasen.”

"Na, ich finde, das ist doch die allerwichtigste Aufgabe - für die Einhaltung der Regeln und für die Sicherheit der Gäste zu sorgen", entgegnete Merle. "Du wirst das schon gut machen!"

Die Firunnovizin beugte sich zu ihrer Schwägerin hinüber und knuddelte sie. “Danke Merle, aber ich mache mir da keine Sorgen. Seine Gnaden hat das alles im Griff und wird mir zur rechten Zeit sagen, was ich zu tun habe.”

“Und er wird sicher stolz auf dich sein!” bekräftigte Merle mit einem breiten Lächeln.

Imelda atmete derweil innerlich auf, froh darüber, dass die Situation nicht gleich hier und jetzt eskalierte. Eigentlich war sie ein Mensch, welcher Konflikte eher mied. "Ja, zu schade, dass ich nicht dabei sein werde. Also, was jagt ihr denn morgen? Wildschweine, ist das richtig?"

“Ja, da ist wohl eine Rotte in den Wäldern unterwegs, die in letzter Zeit immer wieder bis zu den Feldern und Obsthainen vorgedrungen ist und eine Menge Schaden angerichtet hat. Die Bauern leiden schon darunter.” Mika nahm einen Schluck Wasser und schüttelte dann den Kopf. “Vater hatte es sich wohl in den Kopf gesetzt, ein weißes Reh zu jagen, das hier wohl in letzter Zeit des Öfteren gesehen wurde. Er wollte den hohen Gästen wohl etwas besonderes bieten. Aber Firumar hat ihm das ausgeredet, könnte man sagen.”

"Oh, prächtig. Ein weißer Hirsch... Ist bestimmt selten, wie?" Ohne groß Luft zu holen fragte sie gleich interessiert weiter: "Und was passiert dann mit den Wildschweinen? Ich meine, die kann man bestimmt zu Bratwürsten verarbeiten?" Bei dem Gedanken sah man, wie Imelda das Wasser im Mund zusammenlief.

“Kein Hirsch, ein Reh hab ich gesagt!” Mika verdrehte die Augen. “Kennst du den Unterschied nicht?” ‘So wie so viele andere’, ergänzte sie in Gedanken. “Egal, ja, die Schweine werden von Dankhuld zu Würsten, Schinken und Bratenstücken verarbeitet, nachdem Leodegar sie aus der Decke geschlagen hat..”

"Ja, ja... Mika, Reh! Meine ich doch! Klingt alles lecker", winkte Imelda wirsch ab und goss sich sichtlich angeheitert vom Rotwein nach. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte sie, nur für Tischrunde hörbar: "Das Reh hat einen weißen Po, oder? Und der Hirsch hat ein Schwänzchen?" Sie kicherte vergnügt.

Merle fiel, angesteckt von Imeldas Fröhlichkeit, schallend in das Lachen mit ein. "Oh ja, stimmt! Klingt alles lecker!"

Die Ritterin wollte das waidmännische Gespräch nicht stören, jetzt musste sie aber doch lachen. „Schwänzchen haben beide, zumindest die Hirsche und Böcke … und der Po? Ist der beim Hirsch nicht auch weiß? — Merle, ehe ich es vergesse, die Kleidung passt perfekt. Warm und bequem, wir stolzieren doch nicht wie die Damen auf der Brautschau geschminkt und gepudert durch den Wald.“

Mika lachte bei der Vorstellung. Sie war dankbar, dass Meta das Thema wechselte, denn sie hatte keine Lust darauf, den Freundinnen eine Lehrstunde in der Unterscheidung der Wildarten zu geben. “Ja, Merle, Meta, ich meine, die Ritterin hat Recht. Die Kleidung ist für eure Wanderung genau richtig.”

Verwundert, weshalb Mika und Meta plötzlich über die Kleider von Merle sprachen, runzelte Imelda die Stirn. Ihr war nicht so recht klar, mit welcher Taktik Meta gerade vorging oder ob sie überhaupt eine solche verfolgte. Verwirrt sah sie zu Merle und dann an sich selbst herunter. Imeldas Kleider waren für ein Reisegewand teuer, aber sehr praktisch. “Sollte das nicht eine normale kleine Nachtwanderung sein?”, fragte sie unsicher nach.

Merle hob leicht die Augenbrauen. Warum diskutierten diese jüngeren Frauen jetzt plötzlich, inwiefern ihre Kleidung passend und warm genug war? "Ähm, danke. Daran hatte ich auch überhaupt keinen Zweifel. Deshalb habe ich die Sachen ja gewählt." Verwundert kniff sie die Augen zusammen. Hielten die anderen sie wirklich für so ein zartes, naives Pflänzchen? “Ich war auch schon mal draußen, wisst ihr?“

„Merle, ihr hattet es selber angesprochen, wenn auch nur kurz. Belassen wir es dabei. Diese Waidmannsgeschichten sind unterhaltsamer.“ Ahnte Merle etwas oder war sie, die doch in Albenhus viel mit Menschen zu tun hatte, immer so empfindlich? Meta trank Wasser und nahm sich vor, freundlich zu sein, aber Merle nicht mehr direkt etwas zu fragen. Anscheinend verstand sie sich sowohl mit Mika als auch Imelda prächtig.

“Ich hatte nur erwähnt, dass ich meine Kleidung vorhin nicht nach Schönheit ausgesucht hatte”, gab Merle leicht genervt zurück. “Aber eigentlich wollte ich niemanden dazu nach der Meinung fragen.” Merle biss sich auf die Unterlippe. Sie musste sich zusammenreißen, auf die Bemerkungen dieser Ritterin nicht noch bissiger zu antworten. Die Frau war ihr gestern Abend schon unsympathisch gewesen - und obwohl sie jetzt versucht hatte, offen auf die Ritterin zuzugehen, löste die ganze, aufdringliche Art dieser Meta ein Gefühl von Abneigung bei ihr aus. War sie ungerecht und voreingenommen, tat sie der Jüngeren unrecht? Oder sollte sie auf ihr Bauchgefühl hören… dass da Böswilligkeit und Falschheit hinter Metas Lächeln lauern könnten?

Imelda beobachtete, wie Meta sich Wasser in ihren Becher eingoss. Plötzlich drohte die Stimmung am Tisch zu kippen. "Ach, Meta-Maus!", rief sie ihrer Freundin zu und sah mit ihren großen blauen Augen liebevoll an. "Lass' uns auf unser Wiedersehen und die schöne Hochzeit anstoßen!" Sie sah nun auch zu den anderen beiden Damen am Tisch. "Na, los! Prost! Auf das Brautpaar!", rief sie begeistert und hielt ihren Becher hoch in die Mitte des Tisches.

„Imelda, das ist eine gute Idee!“ Mika hob ihren Becher mit Wasser. „Auf das Brautpaar! Auf Rahja, mögen alle ein fröhliches Fest feiern, miteinander! Auf Travia, mögen alle Auswärtigen die Lützeltaler Gastfreundschaft genießen können! Auf Firun, möge er gnädig sein und uns eine erfolgreiche Jagd bescheren! Und auf die anderen Neune auch gleich noch!“ Mika tat es in der Seele weh, dass Merle dermaßen feindselig gegenüber der Ritterin auftrat. Natürlich wusste sie, dass dies durchaus verdient wäre, würde Merle wissen, wer dort tatsächlich mit am Tisch saß. Doch bisher hatte Merle doch eigentlich gar keinen Grund, der angeblichen Beschützerin von Mikas Bruder derart abweisend gegenüberzutreten. Oder ahnte Merle etwas? Wusste sie vielleicht sogar Bescheid? Mika mochte beide Frauen. Und unter anderen Umständen, so wünschte sie sich, hätten sie doch alle Freundinnen werden können. Mika hoffte, sich nicht irgendwann für eine Seite entscheiden zu müssen.

Merle bemühte sich, ihre Abneigung gegen Meta für den Moment herunterzuschlucken; auch sie hob ihren Bierhumpen und fiel dankbar in den Trinkspruch ein: "Auf das Brautpaar und ein wunderschönes Fest! Auf die Zwölfe!" Nein, von einer unsympathischen Wachfrau würde sie sich die Freude an der Hochzeitsfeier nicht verderben lassen, nahm sie sich vor und lächelte heiter in die Runde.

Lieb sah Meta Imelda in die Augen. Von Mika hoffte sie es, doch sie wusste es nicht, wollte ihre Freundin doch diese seltsame Situation retten. „Auf Rahja. Und damit auf das Brautpaar.“ Prostete auch sie mit Wasser zurück. Merle hatte ihr leid getan und Meta hatte diesmal versucht, sie so zu behandeln, wie sie es auf einem Fest auch als sie selbst tat. Diese Argwohn und Art, alles zu zerpflücken, erinnerte sie an Doratrava. Man konnte nun mal nicht jeden mögen. Schade. Unter anderen Umständen wäre Mika eine Freundin geworden, doch war Merle ein Teil ihrer Familie und beide verstanden sich prächtig. Wären sie und Merle sich sympathisch gewesen, wer weiß, die unvermeidliche Aussprache würde trotzdem erfolgen. Nur die Götter wussten, was es geändert hätte.

Merle senkte den Krug und stellte ihn lächelnd vor sich auf den Tisch. “Jedenfalls bin ich schon unheimlich gespannt auf die Hochzeit! Mika, hast du den Rhodan heute schon getroffen?” fragte sie ihre Schwägerin. “Er und Gwenn passen ja wirklich gut zueinander, finde ich. So ein nettes Paar!”

Mika schüttelte den Kopf und stellte ihren Wasserbecher auf dem Tisch ab. “Nein, ich habe ihn noch nicht sprechen können. Ich glaube, er tanzt da vorne, oder? Ich konnte vorhin Gwenn kurz begrüßen, aber Rhodan noch nicht. Eigentlich kenne ich ihn ja auch noch gar nicht. Ich habe ihn nur damals beim Pelura in Albenhus ganz kurz gesehen, als er mit Vater und Gwenn über die Verlobung gesprochen hat. Aber Gwenn scheint ihn wirklich zu mögen. Was macht ihr denn alle morgen, wenn ich mit den anderen auf der Jagd bin?” Mika schaute sich fragend in der Runde um.

“Schwertübungen. Dann werde ich ein Gespräch mit den Rahjani suchen und natürlich für die Sicherheit meines Schützlings sorgen.” Meta war froh, dass ein neues Thema angesprochen wurde. Vielleicht gelang es Meta doch noch, Merle irgendwie mit dem Gudekar, den sie kannte, in Einklang zu bringen. Außer, dass die Frau hübsch war, verstand sie nicht, was er an ihr fand. Wie bei Linny. Für den Bund war wohl das Aussehen am wichtigsten. “Ich warte noch, was der Hohe Herr Gudekar mir aufträgt. Was werdet ihr unternehmen?”

Merle beobachtete eine Weile lächelnd den Bräutigam. “Auf jeden Fall ein geschickter Tänzer, der Rhodan, oder?” grinste sie, dann schaute sie versonnen in die Runde. “Ich freu mich, dass morgen ein bisschen Ruhe ist. Da hoffe ich, endlich mal Zeit mit meinem Mann und Kind zu verbringen. Gudekar ist ja gerade erst angekommen und muss leider bald wieder fort…”, sie warf einen flüchtigen Seitenblick zu Meta, “...da wird er sicherlich viel mit seiner kleinen Lulu spielen wollen. Er hat ja eine Menge ihrer ersten Schritte und Worte und Entdeckungen verpasst…” Sie lächelte zart in sich hinein; ihre Augen schienen voller Wärme und Liebe zu strahlen. “Ja, darauf freue ich mich morgen! Zeit mit der Familie.” Sie nickte Meta verbindlich, nicht unfreundlich zu. “Wird für Euch dann hoffentlich auch ein eher ruhiger Arbeitstag, schätze ich.”

“Oh”, rief Mika ganz neidisch aus.”Ich würde auch gerne Lulu sehen! Ich habe sie ja seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Sie muss inzwischen soooo groß geworden sein!”

"Na, darauf kannst du wetten, dass Lulu groß geworden ist! Groß und schwer und frech und unglaublich charmant!" erzählte Merle stolz. "Für heute schläft sie schon, aber wenn du morgen nach der Jagd nicht allzu erledigt bist, Mika, komm' doch mal bei uns vorbei."

“Dann hoffe ich, dass die Jagd nicht zu lange dauert.” Mika schaute Merle sehnsüchtig an.

“Na, zu kurz sollte sie auch nicht dauern”, schmunzelte Merle. “Ihr wollt ja auch ein wenig Beute machen… Aber mach’ dir keine Sorgen, meine Kleine, wir kriegen das morgen schon auf die Reihe. Lulu ist ja auch schon ganz gespannt auf ihre mutige Lieblings-Tante!” Sie knuffte Mika leicht in den Oberarm, dann wandte sie sich Imelda zu. “Und Ihr, Euer Gnaden? Was sind Eure Pläne für morgen?”

“Ausschlafen!”, rief Imelda freudestrahlend. "Und danach...", sie wog den Kopf unentschlossen hin und her, "...danach schreibe ich einen Brief an Hardomar und dann werde ich mal schauen, ob dieser Angroscho, bei dem ich wohne, etwas von seinem Handwerk versteht." Die Geweihte kicherte voller Vorfreude bei dem Gedanken, morgen mit dem Dorfschmied am Amboss zu stehen und zu lernen. "Aber ich sollte mich im Anschluss vielleicht baden. Normalerweise gibt es nichts besseres, als wenn man nach der rauchigen Esse riecht, aber wenn ich nicht bade, dann wird mein Kleid dreckig", erklärte sie altklug. Unsicher schaute die Hadingerin zu der Novizin. "Sag' mal, Mika, gibt es hier eine Möglichkeit zu baden? Aber sag' jetzt nicht der Lützelbach!" ergänzte sie gleich mit gehobenem Finger und breitem Grinsen.

“Du nimmst mir das Wort aus dem Mund!” lachte Mika. “Aber ich dachte mir schon, dass du etwas anderes meinst.” Mika musste an die Erlebnisse in Ishna Mur zurückdenken. “Du kannst entweder im Gutshof nach einem Bad fragen, Wiltrud wird dir schon eins richten, oder du badest in der ‘Weißen Quelle’. Also, ich meine das Gasthaus. Die haben auch eine Badestube.” Mika wies auf das Gebäude an der anderen Seite des Dorfplatzes.

"Im Gutshof dürfte kein Problem sein", nickte Merle. "Ich sag der Wiltrud schon mal Bescheid, dass morgen eine etwas verrußte und verrauchte Dame zum Baden erscheinen könnte." Sie schenkte der Geweihten ein herzliches Lächeln.

Imelda nickte mit einem dankbaren Lächeln. "Ja, das wäre sicher nett. Es geht doch nichts über ein schönes heißes Schaumbad! Nicht wahr, Mika?" Sie schaute fragend zu ihrer Freundin Meta. "Hey, wollen wir morgen zusammen baden? Dazu ein nettes Weinchen und ein paar Trauben... Dann können wir im Zuber ganz entspannt quatschen. Was meinst du, Meta?"

„Da komme ich gerne mit, wenn es zeitlich passt.“ Es wäre viel angenehmer, als stumm als Wächterin böse zu beobachten. „So oft kommen wir eh nicht zusammen. Und das ist viel schöner, als Briefe schreiben.“ Sie lachte herzlich zu Imelda und Mika. „Auf den hohen Herrn wird in der Zeit sicher gerne seine Gattin achten.“

"Das wird großartig, Süße!", rief sie zu ihrer Freundin Meta und prostete dieser mit einem freudigen breiten Grinsen und dem Weinbecher zu.

Innerlich fühlte sie sich in diesem Moment unwohl, wusste sie doch, in welcher Situation sich alle Beteiligten befanden. Dass Meta von Merle in der dritten Person sprach, obwohl diese direkt neben ihr am Tisch saß, war der Hadingerin zwar unangenehm, doch wusste sie um die Gefühle Metas. Wie schwer musste es sein, mit jener Frau an einem Tisch zu sitzen und mit dieser harmlos zu plaudern, während sie plante, dieser Frau in zwei Tagen ihr Leben zu zerstören und ihr alles zu nehmen, was diese besaß. Ein Umstand, den Imelda in diesem Moment versuchte, so gut es ging, auszublenden.

"Ach, und zur Not wisst Ihr ja, wo Ihr die Ritterin Meta findet", zwinkerte sie mit einem unguten Gefühl Merle zu.

"Ich denke, das wird nicht nötig sein", winkte Merle in Imeldas Richtung ab. "Genießt gern etwas Zeit für Euch, hohe Dame." Merle lächelte Meta kühl ins Gesicht. "Als Gemeine kann ich, wie Ihr richtig vermutet, sowohl mit der Harke als auch mit der Mistgabel gewandt umgehen, um meinen Gemahl im Ernstfall vor allem Unbill zu beschützen."

Meta fühlte sich immer unbehaglicher und schalt sich wie so oft, auf Gudekars Gerede gehört zu haben. Man hätte die Sache gleich klären sollen, aber er hatte sie immer weiter vertröstet. Gleichzeitig hielt sie Merle für recht naiv. Sie kannte ihren Mann doch und musste die Veränderung bemerkt haben. In was für einem Bund lebten sie, dass sie das noch nicht angesprochen oder zerstritten hatten. „Ja gewiss, ihm wird schon nichts geschehen.“ Träge, schon fast gelangweilt antwortete Meta noch einmal pflichtbewusst. Sich im hintersten Nest der Nordmarken mit einer Gemeinen zu streiten.., o weh, Dom Danilo hätte sie einen langen Bericht über Benimm, Stand und Etikette schreiben lassen.

Mika schüttelte fast unmerklich den Kopf. Sie hatte das Wortduell der beiden Frauen ihres Bruders still beobachtet. Sie bedauerte, dass das Leben so kompliziert war. Warum musste sich Gudekar für eine der beiden Frauen entscheiden? Sie waren beide so grundauf verschieden. Und beide repräsentieren einen Teil von Gudekar, der er sein sollte, aber nicht war. Mika mochte beide. Warum konnten nicht beide gleichzeitg Teil der Familie sein? Sie war sich sicher: ihr würde so etwas nicht passieren! Ihr Leben gehörte dem Wald, der Natur. Sie gehörte Firun. Menschen waren viel zu kompliziert.

Dabei fiel ihr ein, es wurde Zeit für Mika, aufzubrechen und zu Bett zu gehen. Morgen in aller Frühe wartete eine Jagd auf sie. Und schon in wenigen Stunden würde Firumar sie für die Vorbereitungen wecken. “Mädels, ich breche auf. Es wird Zeit für mich, bevor Firumar mich vermisst. Ich wünsche euch allen viel Spaß auf der Wanderung!” Die junge Jägerin stand auf, winkte noch einmal und machte sich dann auf den Weg über die Brücke in Richtung Wald.

"Gute Nacht, meine Kleine!" Merle winkte Mika liebevoll hinterher. "Viel Erfolg morgen und Firuns Segen!" Als die Novizin von dannen geeilt war, trank Merle den Rest ihres gesüßten Sauerbiers aus und blickte Meta und Imelda etwas unschlüssig an. Sie kannte beide Frauen nicht näher und fühlte sich befangen, nun plötzlich ohne Mika mit ihnen an einem Tisch zu sitzen. Nach einer Pause drückenden Schweigens erhob sie sich und verabschiedete sich mit einem freundlichen Lächeln. "Euer Gnaden Imelda, hohe Dame Meta, dann werde ich auch mal… ich muss den Krug noch zurückgeben… Also, dann bis gleich bei der Wanderung!" Sie streifte ihren Mantel über und lief schnellen Schrittes zum Sauerbierstand auf der anderen Seite des Dorfplatzes.

*Gute Jagd und Firun mit dir!" rief Imelda Mika hinterher und nickte dann einvernehmlich Merle zu. "Ja, ich werde mich auch gleich für die Wanderung fertig machen." Als auch Merle sich vom Tisch entfernt hatte, sah Imelda zu Meta: "Süße, ich weiß, wie schwer das für dich ist. Ich bin immer für dich da, hörst du? Immer." Sie sah ihre Freundin eindringlich und, wie sie hoffte, besänftigend an. "Lass' es heute Nacht ruhig angehen... Und alles andere besprechen wir morgen beim Bad."

„Danke, Imelda. Du weißt von allen am meisten. Auch, dass ich mit ihm schon seit einem Götterlauf im Rahjabund stehe.“ Meta trank ihr Wasser aus. „Ich fühle mich elend und schuldig, aber dass es so weit kam, das liegt nicht nur an mir. Glaub mir, ich werde keinen Streit suchen. Ich bin einfach nur froh, wenn es endlich vorbei ist.“ Sie erhob sich und strich Imelda kurz durch ihr hübsches Haar. „Er muss sich endlich bekennen. So oder so. Das ist er uns schuldig. Wir sehen uns dann gleich auf der Wanderung.“

~*~

Magier und Erbvögtin

(zur Tsastunde)

Als es schon dunkel war und das Fest im vollen Gange war, passte Lucilla von Galebfurten einen günstigen Moment an und schlendern mit einem Kelch Wein in der Hand zu Gudekar von Weissenquell, der unweit eines der Feuer stand.

Luthardt Anselm, der Begleiter der Erbvögtin, blieb zurück, verschränkte die Arme auf dem Rücken und beobachtete dienstbeflissen die Umgebung. Der Rittersmann trug eine schlichte, hellblaue Tunika mit silberner Borten und eine schwarze, weite Leinenhose, welche in frisch polierten Reiterstiefeln steckte. Das gegürtete Schwert, die Standeswaffe war für ihn obligatorisch.

“Hochgelehrter Herr, würdet ihr mir einen Moment eurer kostbaren Zeit opfern?”, fragte die Junkerin mit heller Stimme und einem warmen Lächeln auf ihren jugendlichen Zügen, während ihre verstörend giftgrünen Augen den Magier von der Seite musterten, da ihr Oberkörper sich dem Feuer zuwandte, als würde sie sich aufwärmen wollen.

Die Galebfurtenerin trug ein langes, hochgeschlossenes Kleid mit hohem Kragen von der Farbe des Meeres. Über ihren zierlichen Schultern lag ein fast weißer Wolfspelz. Das lange Haar war hochgesteckt und wurde durch ein glitzerndes Haarnetz gehalten.

Der Magier, der in Gedanken das Lodern des Feuers beobachtet hatte, blickte erschrocken hoch. Er war in seine grün-weiße Festtunika gekleidet. Seinen Kapuzenmantel und seinen Filzhut hatte er abgelegt. Später, bei der nächtlichen Wanderung zur Quelle, würde er sie brauchen, doch noch reichte ihm die Wärme, die die Feuer abstrahlten. Mit verschränkten Armen hatte er seinen Stab umklammert und sich ein wenig darauf gestützt. Doch nun nahm er Haltung an und ergriff den Stab mit seiner Linken. “Ja, sehr gerne, meine Dame… Mit wem habe ich das das Vergnügen?” Er konnte sich nicht erinnern, die junge Frau, die ihm gegenüberstand, zu kennen.

“Ich bin Lucilla von Galebfurten”, sprach die Adlige mit leiser, ruhiger Stimme und ließ dabei jedweden Titel vermissen, denn sie wollte offen mit dem Mann sprechen. Vielleicht, so hoffte die Erbvögtin, würde der Weissenqueller dies verstehen. Ebenfalls bewusst ließ sie dann einige Herzschläge vergehen, bevor sie ergänzte: “Wunnemar hat mir von euch erzählt.”

Gudekar atmete tief ein und setzte ein freundliches Lächeln auf. “Sehr erfreut! Dann seid Ihr… eine … Schwester von Wunnemar?”

“Nein”, lachte die Junkerin glockenhell auf. “Ich entstamme dem nordmärkischem Zweig der Familie, während er dem rabenmärkischen angehört. Da ich die Ländereien unseres Hauses in Galebquell verwalte, haben ich und er in der Rolle des Familienoberhauptes häufig miteinander zu tun. Das letzte Mal, dass er mich in Galebbogen besuchte, sprach er auch von euch.”

“Aha!” Gudekar ahnte, worauf dies hinauslaufen könnte. Einerseits sorgte es ihn, dass sein zukünftiger Dienstherr Nachforschungen über ihn anstellte. Andererseits machte es ihn stolz, dass er dem Baron so wichtig war, dass er extra eine seiner Verwandten nach Lützeltal sandte. Denn, dass es bereits zuvor Verbindungen zwischen den Häusern Weissenquell und Galebfurten gab, daran konnte sich Gudekar nicht erinnern. “Wie geht es dem Baron?” fragte er möglichst unverfänglich.

Die Erbvögtin spitzte die Lippen in einem Anflug von Belustigung. Trotz ihres noch jungen Alters vermochte sie Menschen recht gut zu lesen.

“Gut, zumindest war es so, als wir uns zuletzt sahen”, antwortete Lucilla wahrheitsgemäß, nur um sich dann vom Feuer ab und dem Weissenqueller zuzuwenden.

“Wunnemar erzählte mir, dass ihr zu ihm in die Rabenmark ziehen werden, um ihm am Hofe in Tälerort zu dienen.”

Neugierige, verstörend giftgrüne Augen musterten den Arconiter und auch wenn die Junkerin keine Frage gestellt hatte, schien sie nun eine Antwort zu erwarten.

“Ja, das ist richtig. Das habe ich vor.” Der Magier blickte in die Augen seiner Gesprächspartnerin, die im Schein des flackernden Feuers besonders funkelten. Vermutlich konnte sie einen damit in eine Trance versetzen, wenn sie wollte, dachte Gudekar. “Ich hoffe, ihm dort mit meinen Fertigkeiten ein wenig zur Seite stehen und gleichzeitig meine Studien vertiefen zu können”, versuchte er, seine Motivation für die Vereinbarung mit Wunnemar zu erklären.

Lucilla nickte. ‘Studien vertiefen - was hatte das zu bedeuten? Hatte Wunnemar… ? Nein, so töricht konnte er nicht sein’, dachte sie bei sich.

Die Miene der Adligen blieb undeutbar, auch wenn die Junkerin innerlich fluchte. Was hatte Wunnemar diesem Mann verraten, ohne sich seiner Gesinnung sicher zu sein? Auch die Galebfurtens hatten Geheimnisse, die sie besser für sich behielten.

Eine direkte Nachfrage verbot sich, hier gab es zu viele Ohren. Nein, in dieser Sache würde sie Wunnemar auf den Zahn fühlen und gegebenenfalls schelten müssen. Nun galt es ihre Vermutung zu bestätigen?

Fast unmerklich legte Lucilla dann den Kopf ein wenig schief und fragte: “Wer wird euch auf eurer Reise begleiten?”

Der Anconiter räusperte sich. “Ich habe eine junge Ritterin angefragt, ob sie mich zu meinem Schutz begleiten würde. Ich mag zwar magisch begabt sein und ein gewisses Talent darin haben, Wunden zu heilen, doch liegt das Verhindern von Wunden nicht in meiner Macht. Da ich fürchte, dass die Reisen nach und in Tälerort nicht ganz ungefährlich sein könnten, würde ich mich wohlfühlen, wenn ich ein Schwert an meiner Seite wüsste. Wunnemar und ich haben die Ritterin – damals war sie noch Knappin – im Rondra bei gemeinsamen Ermittlungen kennengelernt, und sie hat sich als nicht ganz unfähig erwiesen. Sie möchte sich von der Abhängigkeit von ihrem Schwertvater lösen und die ersten eigenen Erfahrungen sammeln.” Gudekar hoffte, dass Meta seinem Vorschlag weiterhin folgen würde. Die Spannungen zwischen ihnen am gestrigen Abend beim Abendessen mit der Familie erfüllten ihn mit Sorge.

Die Junkerin nickte knapp und schien nachdenklich. Einige Herzschläge vergingen, bevor sie eine weitere Frage anfügte. “Kann es sein, dass jene junge Ritterin anwesend ist?”

„In der Tat, wir sind gemeinsam angereist.“ Gudekar schaute sich um, ob er Meta in der Menge erblickte.

Lucilla schmunzelte. Ihr Eindruck, erwachsen aus einer aufmerksamen Beobachtung des Magus den Tag über, hatte sie nicht getäuscht. Sie meinte genau zu wissen, wer diese junge Ritterin war. Sie und der hochgelehrte Herr hatten viele Male Blicke ausgetauscht - lange Blicke, zu lange Blicke, die mehr vermuten ließen.

“Dann weiß ich, über wen wir sprechen”, sagte die Junkerin mit süffisanten Lächeln. “Eine hübsche, junge Frau. Ist sie jemandem versprochen?”

Die rote Farbe in seinem Gesicht war unter seinem Hut und im Schein des Feuers nicht zu erkennen. Aber Gudekar schluckte wahrnehmbar. Schnell setzte er ein gespieltes Lachen auf und fragte zur Ablenkung: “Nicht, dass ich wüsste. Wieso fragt Ihr, habt ihr einen passenden Kandidaten?” Doch gleich darauf wurde er wieder ernster. “Ehrlich gesagt, mich geht das Liebesleben der jungen Dame nur bedingt etwas an, solange es sie nicht davon abhält, mir nach Tälerort zu folgen und sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren.” Würde Lucilla ihm diese dreiste Lüge abkaufen?

Ein sachtes Zucken der zarten Schultern folgte, dann ein Blick über die Schultern zu dem jungen Ritter, der in einigem Abstand zu seiner Herrin stand und die Unterhaltung mit auf dem Rücken verschränkten Armen musterte.

“Ich habe gleich drei Männer im Alter des Traviabundes in meiner Familie”, gestand die Erbvögtin. “Ich habe nur laut nachgedacht.”

‘Das habe ich befürchtet!’, dachte der Anconiter. Wunnemar hatte bereits auf dem Elsternschloss versucht, Meta für eine Verbindung mit seinem Haus zu gewinnen, doch glaubte Gudekar, dass es ihm gelungen war, diesem deutlich zu machen, dass Meta dafür nicht zur Verfügung steht.

Lucilla wandte ihren Blick wieder zu Gudekar. Nochmals musterte die junge Adlige den Arconiter und entschied für sich, dass ihre Menschenkenntnis sie nicht trügte. Der Weissenqueller war auf den ersten Blick vertrauenswürdig, wenn er auch ein kleines, rahjagefälliges Geheimnis hatte. Dies war vielleicht etwas, dass Wunnemar stören würde, über welches er aber sicher hinwegsehen würde, um einen Mann seiner Qualifikation nach Tälerort zu bekommen.

Sicher, Lucilla würde weitere Quellen zu dem Magus befragen und Erkundigungen einholen, doch sie bezweifelte, dass etwas anderes dabei herauskommen würde.

“Verratet ihr mir, welcher Akademie und Gilde ihr angehört?”, welchselte die Galebfurtenerin das Thema, um noch mehr von dem Mann zu erfahren.

Sichtlich entspannte sich der Magier bei dieser Frage. Ein unverfängliches Thema aus seiner Sicht. “Ich gehöre dem Bund des weißen Pentagramms an. Einst gaben mich meine Eltern als Jüngling an einen privaten Lehrmeister. Doch nachdem dieser verschieden war, nahm mich der Anconiterorden in Albenhus auf. Nach einer Prüfung meiner Eignung und Gesinnung wurde ich jedoch in das Kloster nach Donnerbach geschickt.” Gudekar redete mit stolzgeschwellter Brust von seiner Schule. “Die Brüder und Schwestern in jenem fernen Kloster kooperieren mit dem Seminar der elfischen Verständigung und natürlichen Heilung, so dass ich an dieser Schule meine Ausbildung fortführen konnte. Obwohl diese Schule gildenlos ist, erhielt ich letztlich im Sinne meines Ordens das Siegel der weißen Gilde.”

Ein kaum merkliches Nicken war zunächst die einzige Regung auf die Worte Gudekars. Wieder ließ die vermeintlich nachdenkliche Adlige einige Momente verstreichen, bevor sie fragte: “Heißt dies, dass eure Fachgebiete die Magica Communicatia und die Magica Curativa sind?”

Gudekar hob interessiert die Augenbrauen. Er hatte es hier also mit einer Kennerin des Fachs zu tun, die die verschiedenen Fachgebiete unterscheiden konnte. Dennoch wechselte er nicht in die Gelehhrtensprache sondern blieb im Garethi, das er stets verwendete, um Laien seine Künste zu erklären. “Ja, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf der nützlichen Heilmagie liegt. Dies ist es auch, was ich in meinem Alltag gebrauchen kann.”

Erneut nickte die Galebfurtenerin - dies war sicher sehr nützlich in Wunnemars Heimat. Hakte diesmal jedoch auch augenblicklich nach. “In welchen anderen Forschungsgebieten seid ihr tätig?”

Der Magier überlegte einen Moment, um die richtigen Worte für seine Erklärung zu finden. “Seht, mir liegt es am Herzen, dass es den lebenden Wesenheiten auf dem Dererund wohl ergeht. Die Heilmagie in all ihren Ausprägungen ist da natürlich ein wichtiges Fundament. In den letzten zwei Götterläufen habe ich aber Dinge erlebt, die Leid und Schmerz über das Land bringen können, die ich mir bis davor nicht vorstellen konnte, obwohl ich sehr wohl in meinem Studium davon gehört hatte. Aber etwas zu hören und das selbige zu sehen, die Auswirkungen an den Menschen um sich herum zu erleben, das ist etwas anderes. Doch ich musste auch lernen, dass das Heilen des Ergebnisses oft nicht ausreicht, den Schrecken zu vertreiben. Es muss also bereits verhindert werden, das ein solches Unheil in die Welt tritt. Doch genau das verstehe ich noch nicht, ich möchte es jedoch verstehen lernen.” Er blickte zu der Junkerin und versuchte zu ergründen, ob sie seinen Gedanken folgen konnte.

Die Miene der Junkerin war weiterhin nüchtern, Gedekar hatte dennoch den Eindruck, dass diese kleine, zierliche und obendrein noch so junge Frau ihm ‘auflauern’ würde.

“Sprecht ihr von einem Interesse an der Magica Contraria?”, fragte die Galebfurtenerin mit dem Hauch eines Zweifels.

Viel zu lange brauchte Gudekar für seine Antwort, als dass man ihm abnahm, dass es nicht komplizierter war, doch entschied er sich für ein knappes „Ja.“ als Antwort, nur, um sofort zu kontern: „Ihr scheint Euch auf dem Gebiet der Magiekunde sehr gut auszukennen?“

Die Junkerin lächelte. “Ich bin Rechtsgelehrte. Während des Studiums durfte ich mich unter anderem auch mit einigen Abhandlungen über das Gildenrecht befassen- ziemlich trockene Wälzer, wie ihr euch vielleicht denken könnt.” Oh ja, das konnte er. Mit Schrecken erinnerte er sich an die langweiligen Stunden bei Magister Wagenholm. “Nun ja, dennoch war diese Lektüre nicht ganz umsonst, denn in unserem geliebten Herzogtum, wo überall Praioten über die Ordnung wachen und jede Baronie ihre eigenen ‘Regeln’ zum Einsatz von Madas Gabe besitzt, sollte man die Feinheiten der dazugehörigen Rechtsprechung kennen, findet ihr nicht auch?”

Gudekar lachte herzhaft auf. “Ja, das ist wohl war. Wird man auf der einen Flussseite noch für einen gelungenen Spruch gelobt, kann es sein, springt man nur über den Bach, wird man für dieselbe Tat auf den Scheiterhaufen gestellt.” Er musste an das Edlengut Linnartstein denken, wo der Herr vom Traurigenstein doch sehr offen für mancherlei Dinge ist, andererseits die Praioten ein wichtiges Kloster unterhalten. “Wie handhabt Ihr dies auf Eurem Land?”

“Verhältnismäßig liberal, zumindest gibt es in Galebquell kein Magieverbot, wie in vielen anderen Teilen der Nordmarken”, sprach die Erbvögtin offen heraus.

“Wenn ihr mich persönlich nach meiner Meinung fragt, so ist Madas Gabe in meiner Sichtweise der Dinge kein Fluch, sondern eine Art Werkzeug, welches zum Guten, wie eben auch zum Schlechten verwendet werden kann.

Nicht die Magie an sich Böse, oder stellt eine Gefahr dar. Es ist immer ihr Anwender, der sie zum Negativen nutzt, der das Unheil bringt.

Aber”, Lucilla nickte und ihre Stimme wurde leicht mahnend, “Madas Gabe zu besitzen, heißt auch, sich großen Versuchungen stellen zu müssen und nicht jeder besitzt die charakterliche Stärke, diese zu bestehen. Die Gefahr, die von einem solchen in den Augen der Götter schwachen Individuum ausgehen kann, potenziert sich durch die Gabe Madas. Ich denke, in diesen Punkten werdet ihr mir nicht widersprechen."

“Gewiss nicht!” bestätigte Gudekar die Worte seiner Gesprächspartnerin. “Ich sehe, Ihr handhabt die Dinge recht pragmatisch. Man könnte fast meinen, im Sinne der grauen Gilde. Aber ich gebe Euch recht, wenn das Geschenk, dass uns Magiern gewährt wurde, nicht sinnvoll genutzt wird, kann auch Übles daraus entstehen. Deshalb ist es wichtig, dass diese Kräfte von den richtigen Leuten beherrscht werden. Die Brüder und Schwestern meiner Gilde waren stets darauf bedacht, die Kräfte, die Mada uns schenkte, in die richtigen Bahnen zu lenken. Vorsicht ist aber stets dann geboten, wenn die Kräfte unkontrolliert fließen können.” Gudekar, der an die Ereignisse in Liepenstein denken musste, fragte sich, ob es jemals die Möglichkeit geben würde, dass der Orden die Möglichkeiten nutzte, die der dortige Knotenpunkt bot.

“Schön, dass wir in diesem Punkt einer Meinung sind”, befand die Junkerin, diesmal mit einem Hauch von Wärme in der Stimme, auch wenn ihre Miene weiterhin neutral blieb.

“Wie mir zu Ohren gekommen seid, müsst ihr noch eure Rigorosum schreiben? Hab ihr bereits ein Thema?”

“In der Tat”, bestätigte Gudekar auch diese Frage und wunderte sich, dass die Junkerin bereits derart gut informiert ist. Sie schien bereits im Vorfeld Nachforschungen über ihn eingeholt zu haben, denn der Magier konnte sich nicht erinnern, dies Wunnemar gegenüber erwähnt zu haben. “Ich habe vor göttergefälligen zwölf Jahren meine Examinatio und vor sechs Jahren mein Minorium abgeschlossen. Meine Schuldigkeit gegenüber dem Orden habe ich damit Genüge getan. Nun ist es an der Zeit, das Kloster zu verlassen und den nächsten Schritt zu gehen.”

“Und in welche Richtung werden euch diese ‘Schritte’ führen, wie werden sie aussehen? Erzählt mir etwas von dem, wie ihr eure weitere Karriere vorstellt”, hakte die Adlige nach, da ihr die bisherige Antwort scheinbar nicht genügte.

Der Magier blickte der Frau in die Augen. “Mein Ziel. Nun jedenfalls möchte ich nicht mein Leben lang in den Klostermauern versauern.” Schon bereute er, dies so offen ausgesprochen zu haben, doch Lucilla schaffte es trotz ihrer hartnäckigen Fragen, eine Vertrauensbasis aufzubauen. “Also, damit meine ich, das Land hat so viele Dinge zu bieten, deren Erforschung es wert ist, sich aus der Bequemlichkeit eines geregelten Lebens herausbewegen. Mein Einsatz im Orden ist dabei leider bisher eher hinderlich als hilfreich gewesen. Erst durch die Ereignisse der letzten Jahre”, Gudekar wusste nicht, wie sehr Lucilla Bescheid wusste und blieb deshalb schwammig, “haben mir Möglichkeiten eröffnet, neue Wege zu gehen. Diese möchte ich nun nutzen. Ich möchte Wissen sammeln und dieses zu einem späteren Zeitpunkt an andere weitergeben. Eines Tages, wenn es soweit ist, wenn ich soweit bin, sehe ich mich als Lehrmeister an einer Akademie.”

Lucilla nickte, da sie erkannte, dass der Weissenqueller ihr nicht viel mehr preisgeben würde. Gudekar hatte ihr viel verraten, nicht nur mit Worten, sondern auch mit Tonlage, Gestik und Mimik, denn die Galebfurtenerin wusste dies zu deuten. Sie war nicht unzufrieden mit dem Gespräch.

Sie beurteilte den Magus auf mehreren Ebenen. Einerseits schien er ein vertrauenswürdiger, aufrichtiger Mann zu sein, ambitioniert und mit einem wachen Geist gesegnet. Auf der anderen Seite schien er, auch wenn er sicher zehn Götterläufe älter war als sie selbst, seinen Platz im Leben noch nicht gefunden zu haben. Nun ja, er hatte ja auch einen beträchtlichen Teil seiner Lebenszeit auf das Studium verwendet. Dies durfte man vielleicht nicht überbewerten.

Seinen zukünftigen Weg, den er ihr nicht skizzieren konnte, weil er sich seiner nicht sicher war, oder wahrscheinlicher, weil er es nicht wollte, würde man aber im Auge behalten müssen, sollte er länger in Tälerort und damit am Herzen ihrer Familie weilen. Es reichte schon, dass dieses Scheusal von Hofmagus des Hlûtharswachters dorthin ‘Exkursionen’ machte.

Lucilla wusste, was er- Rhys Gwenlian in der Rabenmark tat- er forschte an alten Formeln aus der Zeit des Bosparanischen Reiches und wollte seine ‘Praktika’ weitab der Kirche des Götterfürsten absolvieren. Dafür reichte ihm anscheinend nicht einmal mehr die abgeschiedenheit des Vorlandes des Koschgebirges. Ein Umstand, der für sich sprach. Immerhin, soviel hatte Wunnemar, der durch den Haffax- sowie ebenso den Rabenmarkfeldzug der Nordmärker eine für sie unbegreifliche Freundschaft zu diesem Zyniker aufgebaut hatte, ihr verraten. Eine solche, in ihren Augen zwielichtige Figur im Dunstkreis des Barons von Tälerort reicht. Eine weitere würde ein schlechtes Licht auf ihr Haus werfen.

“Ich danke euch für das aufschlussreiche Gespräch”, sprach die Galebfurtenerin mit einem aufrichtigen Lächeln, nach diesen kurzen Gedankengängen.

“Sehr wohl, es war mir eine Ehre und ich hoffe, Euch Eure Bedenken genommen zu haben”, erklärte Gudekar frei heraus.

“Das habt ihr. Ich wünsche euch eine sichere Reise, wenn ihr gen Altzoll aufbrecht. Fragt dort bei der Stadtgarde nach Ilgar von Galebfurten, er ist die rechte Hand des Kanzlers der Mark und Herold des Markgrafen. Er wird euch einen Ortskundigen für die letzten Meilen mitgeben.”

“Habt Dank für die Ratschläge, ich werde es mir merken. Sagt, wollt Ihr uns später bei der Wanderung zur Quelle begleiten, vielleicht sind uns heute Mada und Hesinde hold und lassen die Quelle erstrahlen.” Oder bevorzugt Ihr es, euch für die morgige Jagd auszuruhen?”

“Oh nein”, lachte Lucilla hell auf. “Ich bin keine Jägerin. Ich würde eher vor einem Schwarzkittel weglaufen, als er vor mir. Aber einer kleinen Wanderung auf der anderen Seite bin ich nicht abgeneigt. Ihr werdet dann aber auch mit meinem ‘Aufpasser’ leben müssen.” Sprach die Adlige fast ein wenig kokett und warf dabei einen knappen Blick über die Schulter, wo der Rittersmann immer noch reglos und mit auf dem Rücken verschränkten Händen stand.

„Aber selbstverständlich!“ bestätigte der Anconiter. „Meine ‚Aufpasserin‘ wird mich ebenfalls begleiten. Wir treffen uns bald, zur Phexenstunde dort hinten“, Gudekar wies ostwärts den Weg, der vom Dorfplatz wegführte, entlang, „an der Brücke.“

“Ich werde dort sein”, bestätigte Lucilla die ‘Einladung’ nochmals und entfernte sich dann lächelnd zu dem Ritter, der die ganze Zeit über Wacht gehalten hatte.

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