Karkh Kaju

Karkh Kaju - der Tyrann der Wälder

Die goblinische Sage von Karkh Kaju

Ein goblinisches Märchen, vernommen bei den Tuluukai Brydh-Blogai in der Baronie Ambelmund, nacherzählt und (mit sprachlichen Freiheiten) ins Garethi übersetzt durch den Hesinde-Geweihten Hesindian von Tannenfels:

“Seit dem ersten aller Tage wühlt Mailam Rekdai, die große Mutter Sau, im Puur Mulla, fördert dabei alles Gute und Schöne zu Tage und vertilgt auch das meiste Böse, das ihr vor den Rüssel gerät, um es als fruchtbare Erde wieder auszuscheiden.

Alle Wesen, die Stämme der Hirsche und Rehe, der verschiedenen Vögel und Fische; der Bären, Wölfe, Füchse und Luchse und auch wir Suulak verdanken ihr das Leben und freuen uns über alles Leckere, das Mailam Rekdai für uns übrig lässt – im Sommer mehr, im Winter weniger – aber immer so viel, das wir Mailam Rekdai dafür zu danken haben.

Einer aber war wie sein ganzer Stamm nie mit seinem Anteil zufrieden – Karkh Kaju, der Gefräßige: immer plagte ihn der Heißhunger, und wenn seine Qualen besonders schlimm waren, wurde er rasend vor Wut. Vor allem im Winter fraß er den anderen Kindern Mailam Rekdais alles weg, was ihre Mutter für sie ausgegraben hatte, zwang die Kreaturen, ihm alles zu geben und stürzte sich am Ende sogar, noch immer schier wahnsinnig vor Hunger, auf diese selbst, um sie zu verschlingen.

Bald fürchteten ihn alle Stämme und nannten Karkh Kaju nur noch Orva kjusta, den „Tyrannen“. Das dauerte nicht nur Mailam Rekdai, das betrübte sogar Karkh Kaju selbst, wenn er einen kurzen Moment etwas anderes als Hunger fühlen konnte.

Mailam Rekdai wühlte immer schneller und immer tiefer, um auch Karkh Kaju satt zu bekommen, war doch auch er ihr Kind, das sie freigegraben hatte. Doch so sehr sie auch wühlte, nie bekam sie seinen Hunger gestillt.

Eines Tages stieß sie dabei auf einen im Puur Mulla versteckten Happen, so riesig, dass alle ihre Kinder und sogar Karkh Kaju davon für lange Zeit satt hätten werden können und er selbst ihren Magen für länger ausgefüllt hätten.

Doch oh weh, dieser Happen war voller böser Geister, die – einmal befreit – ausschwärmen und alles schlecht machen wollten, so viele und so groß, dass sie zu verschlingen selbst Mailam Rekdai Bauchschmerzen bereitet hätte.

Mailam Rekdais Kinder, auch die Suulak waren darunter, aber sahen, was geschehen war, und stellten sich hilfsbereit um die Geister herum auf, schufen ein Gefängnis, damit jene nicht vor Mailams Rüssel fliehen konnten. Dieses Gefängnis aber war schwach und hätte dem Ansturm der bösen Geister nicht lange standgehalten.

Die große Mutter war deswegen schon dabei, sich doch selbst auf das Böse stürzen, da rief die Stammesälteste der Suulak, dass lieber Karkh Kaju die bösen Geister auffressen sollte, vielleicht würde dies seinen Hunger stillen und einmal auch den anderen Kindern Mailam Rekdais und der Mutter selbst helfen.

Und tatsächlich trieb Karkh Kaju sein ewiger unbändiger Hunger dazu, genau das zu tun. Obwohl es viele Geister waren und diese sich wehrten, verschlang er sie am Ende alle. Es kostete ihn aber viel Kraft, und die Geister rumorten in seinem Bauche weiter, drängten nach draußen und quälten ihn mindestens ebenso sehr wie sein immerwährender und selbst durch den Bauchschmerz nicht gezähmter Hunger.

Die anderen Kinder Mailam Rekdais, vor allem die älteste der Suulak, sahen, dass die Geister nicht endgültig besiegt waren, aber gegen das Gefängnis nicht ankamen, solange Karkh Kaju auch darin steckte und sie wieder und wieder, von Hunger und Raserei getrieben, erneut verschlang. Also hielten sie das Gefängnis um Karkh Kaju und die Geister geschlossen und sorgen bis heute dafür, dass dieses heil und stark bleibt.

Die Kinder Karkh Kajus aber tragen noch immer den Suulak und allen anderen Kindern Mailam Rekdais nach, dass ihr Stammesältester mit den Geistern gefangen ist. Also hütet Euch, wenn ihr einem davon begegnet! Denn ihr Hunger ist ebenfalls noch immer unbändig.“

Suncuua Taati Kurim am Lagerfeuer im Kreise der allerjüngsten ihres Stammes, so vernommen im Rahja 1044 BF


Die Sage vom Tyrann der Wälder aus völkerkundlicher Perspektive

Parallelitäten in den Überlieferungen von Mensch und Goblin in den Nordmarken am Beispiel der Sage vom Tyrann der Wälder - ein Plädoyer für die Ausdehnung der völkerkundlichen Forschung im Herzogtum auf die Goblins

Die allweise Herrin Hesinde sei gepriesen, dass steter Forscherdrang, dem Menschen von ihr in die Seele gehaucht, selbst im vermeintlich Altvertrauten noch immer Überraschendes zutage fördert und dieses in das Licht neuer Erkenntnisse rückt. Und welche Provinz des Neuen Reichs könnte mehr für Altvertrautes und Beständigkeit stehen, als das Herzogtum Nordmarken, dessen Geschichte wie nirgendwo sonst von Menschen und Zwergen gemeinsam geschrieben wurde und wird. Gerade völkerkundlich und historisch konzentrierten sich folgerichtig zahlreiche Abhandlungen auf die allseits bekannten und offenkundigen engen Verbindungen der menschlichen Bevölkerung zu den Angroschim. Auch die Einflüsse der Elfen und der Völker des Flussvaters sind - wenngleich weit weniger prominent - zumindest in Ansätzen von der Wissenschaft beleuchtet.

Allzu leichtfertig wurde jedoch in der Vergangenheit vernachlässigt, dass neben den genannten Völkern noch weitere Kulturschaffende wie vereinzelte Trolle, besonderes aber die Goblins die Nordmarken bewohnen und - obgleich letztere zumeist als primitive Strauchdiebe oder gar ernsthafte Plage geschmäht werden, die zu erforschen nicht lohnt - durchaus weit darüber hinausgehende Spuren im kulturellen Erbe der menschlichen Bevölkerung und damit des Herzogtums hinterlassen haben.

Gerade in den Wäldern Nordgratenfels’ sind die ‘Suulak’, wie sie sich selbst nennen, durchaus zahlreich und nicht nur in den landläufig bekannten Banden, sondern vereinzelt noch in ihren ursprünglichen Stammesverbänden anzutreffen. Der Autor dieser Handlung hatte, der Mutter der Weisheit sei dafür sechsfach gedankt, die unschätzbare Gelegenheit, mehrere Forschungsreisen zu einem dieser Stämme zu unternehmen, der im Südosten der Baronie Ambelmund und den angrenzenden Gebieten heimisch ist und sich selbst Tuluukai Brydh-Blogai nennt, und dabei von diesen selbst nicht nur die Sprache, sondern auch vieles über deren Lebensweise, Glauben und Weltsicht lernen und dokumentieren zu können.

Besonders hervorzuheben sind dabei deren zumeist sehr bildreiche und daher auf den ersten Blick nur schwer in die menschliche Sprache zu übersetzenden Überlieferungen, die vor allem von ihren Frauen mündlich weitergegeben werden und tiefe Einblicke in die zunächst fremde und archaisch wirkende Gedankenwelt dieses Volkes gewähren. Umso überraschender war die Erkenntnis, dass einige der goblinischen Geschichten ganz offensichtlich Einzug auch in die menschliche Sagenwelt der Region gefunden haben.

So hat der Berichterstatter beispielsweise in einigen Nordgratenfelser Dörfern in verschiedenen Abwandlungen die Mär vom Tyrannen des Waldes vernommen, einem äußerst gefräßigen Wesen, das in immerwährendem Heißhunger vor allem im Winter über jedes Lebewesen, ganz gleich ob Mensch oder Tier hergefallen sei, das seinen Pfad in den Wäldern gekreuzt habe, um es entweder sofort zu verschlingen oder zur späteren Verspeisung in die Bäume zu hängen.

Je nach Dorf war es dann der Herr Firun höchstselbst, sein lokal verehrter Heiliger namens Kurim oder eine mächtige Dienerin der "großen Mutter" (ein Terminus, der für verschiedene Göttinnen aus dem Kreis der Zwölfe zu stehen scheint), die dem Treiben des gefährlichen Wesens Einhalt geboten und dieses in ein Gefängnis tief im Herzen des Waldes gesperrt haben soll.

Meist steht am Ende der Erzählung die vor allem an die Kinder gerichtete Mahnung, sich nicht alleine und nicht zu tief in manche Gebiete der Wälder vorzuwagen, um ja nicht auf diesen Kerker und das darin noch immer lauernde, in vielen Jahrhunderten nur noch hungriger gewordene Wesen zu stoßen. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei zumeist um Stammesgebiet der hiesigen Goblins.

Von deren Feuern wiederum stammt die frappierend ähnliche Sage von ‘Karkh Kaju’, der bei ihnen den Beinamen ‘Orva kjusta’ trägt, was dem Begriff Tyrann in unserer Sprache nahe kommt. Diese Wesenheit war den Überlieferungen zufolge vom selben unstillbaren Hunger getrieben wie der Tyrann der Wälder, von dem die Menschen raunen. Den Goblins zufolge wurde jener in grauer Vorzeit von einer ihrer Schamaninnen überlistet, in dem sie ihm einige böse Geister, mit denen sie ebenfalls ihre Nöte hatten, zum Fraß vorwarf. Diese hätten Karkh Kaju so schwer im Magen gelegen und so geschwächt, dass er schließlich überwältigt und eingesperrt werden konnte. Noch heute soll es einen Ort in den Wäldern geben, den sie als Gefängnis dieses Tyrannen hüten und streng verborgen halten.

Der Wahrheitsgehalt der uralten Erzählungen mag schwer abschließend zu eruieren sein. Viel interessanter ist der (nicht nur) mit diesen dokumentierte Austausch zwischen Mensch und Goblin, der verdeutlicht, dass es lohnt, auch letztere in die völkerkundliche und geschichtswissenschaftliche Forschung zu den Nordmarken einzubeziehen, ja sogar als einen Schwerpunkt zu setzen.

Hesindian von Tannenfels, Hesinde-Geweihter, Elenvina, im Hesinde 1045 BF