Heimkehr nach Lützeltal

Heimkehr nach Lützeltal

Setting

Personen

Vorgeschichte

Während des finalen Rituals der Herz-der-Nordmarken-Kampagne wurde Kalman von Weissenquell bei der Verteidigung der Rituals-Ausführer durch Dämonenangriffe fast tödlich verwundet. Ein Heiltrank, den sein Bruder Gudekar bereitgestellt hatte und der Kalman verabreicht wurde, war jedoch vergiftet, so dass Kalman letztlich die Schwelle des Todes überschritten hatte. Nur durch ein besonderes Ereignis, von dem hier (noch) nicht berichtet werden soll, wurde Kalman schließlich gerettet.

Nach einigen Tagen der Erholung und der Schutzsuche im Praiostempel zu Elenvina über die Namenlosen Tage des Jahreswechsels 1045/46 kehrte Kalman schließlich zurück nach Lützeltal.

Kalmans Heimkehr

Es war ein trüber Tag Anfang Praios, doch Friedewald war losgeritten, um zusammen mit Wulfhelm Häsler die Wälder und den Wildbestand auf Schäden während der Namenlosen Tage zu überprüfen. Er hatte seine Schwiegertochter Ciala gebeten, ihn zu begleiten, falls ein verletztes Tier geschossen werden musste. Ciala war eine begeisterte Jägerin, auf die sich Friedewald stets verlassen konnte. Doch es gab noch einen weiteren Grund, sie mitzunehmen und ihr so etwas Ablenkung zu verschaffen.

Nach Gudekars Verrat hatte sich Kalman seinem Freund Eoban und dessen Gefährten angeschlossen, um bei der Neuerschaffung des Herzens der Nordmarken zu helfen, und sei es nur, um der Gruppe mit seinem Schwert Schutz zu bieten. Und dies war keine ungefährliche Mission, denn der Paktierer Pruch war eine nicht zu unterschätzende Bedrohung für alle, die gegen ihn kämpften. Und so hatten Lützeltal auch bereits Berichte von Überfällen auf die ersten Rituale erreicht, die zur Aktivierung des Kristalls notwendig waren. Doch Kalman hatte stets geschrieben, dass er die Angriffe gut überstanden hatte. Die ersten drei, denn danach gab es keine Nachrichten mehr über die letzten beiden Rituale. Allerdings lagen auch die Namenlosen Tage zwischen den Ereignissen und dem heutigen Tag, vermutlich war dadurch auch der Bote aufgehalten worden. Doch Ciala machte sich trotz aller Versuche Friedewalds, sie zu beruhigen, unglaubliche Sorgen um ihren Mann.

Ähnlich ging es auch Merle, die jedoch noch nicht einmal wusste, ob ihr Hund von Ehemann überhaupt aus der Rabenmark zurückgekehrt war, wo er sich mit seiner elendigen Geliebten verkrochen hatte. Man wusste nur, dass einige der Gefährten, in erster Linie Rionn, der Tsageweihte, bis zuletzt versucht hatten, Gudekar zur Rückkehr zu bewegen, um sich seiner Verantwortung zu stellen. Ob sie Erfolg damit hatten, war bisher nicht bis Lützeltal gedrungen.

Ankunft am Hof

So saß Merle mit den Kindern Lulu und Madalin vor dem Haus unter einem Vordach, um Harka beim Vorbereiten des Essens zu helfen, als ein einsamer Reiter den Weg von Schlat nach Lützeltal entlang ritt und zum Tor des Gutshofes abbog. Es war der Ritter Kalman von Weissenquell, der in Rüstung und mit dem Lützeltaler Wappenrock heimkehrte.

Kalman ließ sein Pferd auf dem Hof anhalten und wartete, bis der Knecht Basin zu ihm eilte, um ihm aus dem Sattel zu helfen. Derweil blickte er zu Merle und sprach sie an, die beiden Mädchen ignorierend. „Sei gegrüßt Merle! Wo ist Ciala? Wo ist Vater?“ Seine Stimme klang kalt und ungewohnt hart.

Madalin sprang jedoch sogleich auf und lief freudig auf ihren Vater zu. „Vater! Endlich! Ich hab auf dich gewartet!“ Kalman blickte sie nur kurz mit dem Anflug eines Lächelns an, wartete dann jedoch auf Merles Antwort.

Merle sprang nicht ganz so schnell auf wie ihre Nichte Madalin, sondern legte zunächst die Schüssel mit den Kartoffeln beiseite, die sie gerade geschält hatte und wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab, dann stand auch sie auf, nahm Lulu bei der Hand und ging zusammen mit dem Kind Kalman entgegen. Kurz zögerte sie, als sie vor dem Ritter stand, hatte sich das Verhältnis zu ihrem Schwager seit der Verhandlung gegen Doratrava doch merklich abgekühlt. Aber Familie war Familie; trotz allem hatte sie Kalman sehr lieb und jetzt floss ihr Herz über vor Erleichterung, ihn endlich heil und lebendig vor sich zu sehen. So riss auch sie ihn erst einmal in eine enge, heftige Umarmung und drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Wange. “Kalman! Wie wundervoll, dass du zurück bist!” Erst nachdem sie ihn ein weiteres Mal fest umarmt hatte, gab sie ihn frei und rückte von ihm ab, um, immer noch glücklich lächelnd, seine Frage zu beantworten. “Friedewald, Ciala und Wulfhelm sind im Wald unterwegs; sie wollten nach dem Wildbestand sehen”, erklärte sie und strich sich eine kurze, dunkelbraune Haarsträhne hinters Ohr. Die junge Frau wirkte deutlich verändert, seit Kalman sie das letzte Mal gesehen hatte. Nicht nur, dass sie etwas schmaler, fast schon mager aussah, sie hatte ihr vormals hüftlanges dunkelblondes Haar radikal auf etwas über Kinnlänge kürzen lassen und aus einer Laune heraus mit Walnussschalensud dunkler getönt. Doch funkelten ihre großen brauen Augen voller Wärme und Freude über die glückliche Rückkehr ihres Schwagers. “Ach, komm’ doch erstmal ins Haus, Kalman! Sicherlich hast du Durst? Und soll ich Harka gleich einen Imbiss für dich bringen lassen?”

Auch Kalman wirkte verändert, wie Merle feststellte. Nicht nur die Kälte, mit der er sie und Madalin begrüßt hatte. Nein, auch sein Aussehen. Er war eindeutig gealtert. Sein Körper wirkte hagerer, seine Haltung leicht eingefallen, obwohl er sich um eine aufrechte Haltung bemühte. Sowohl in seinen Bart als auch in seinen Haarschopf hatten sich erste graue Haare eingeschlichen. „Etwas zu trinken wäre gut.“ Er ging zum Hauseingang doch blieb er in der Tür stehen, um sich noch einmal ausgiebig in dem Hof umzusehen, als hätte er sein Zuhause seit Jahren nicht mehr gesehen. „Ist hier alles beim Alten?“

Bevor sie antwortete, sprach Merle zunächst die junge Magd an: “Harka, sieh bitte zu, dass wir recht bald essen können”, dann schaute sie zu ihrer jungen Nichte, “und Madalin, du geh schnell, für deinen Vater frisches Wasser und Wein holen.” Mit einem leisen Ächzen hob sie Lulu hoch und trug das kleine Mädchen auf der Hüfte, während sie Kalman ins Haus folgte. ”Ich bin auch erst Ende Rahja aus Albenhus hier eingetroffen, aber ja, es ist soweit alles in Ordnung…” Merle zögerte und schluckte, als sie an all die Leute denken musste, die fehlten, an Marno, Brun, Bernhelm… “Es ist anders hier”, brachte sie schließlich mit leiser, belegter Stimme heraus, “seit... seit Gwenn.”

„Alles hat sich verändert seitdem, mein Liebes. Alles.“ Kalman schaute Merle nach. „Meinst du nicht, Liudbirg ist alt genug, selber zu laufen? Sie ist mehr als zwei Götterlaufe alt. Sie wird zu schwer, du brichst dir noch irgendwann das Kreuz.“

“Da magst du recht haben, Kalman… Unsere ‘kleine’ Lulu wird scheinbar von Tag zu Tag einen halben Stein schwerer”, seufzte Merle mit einem leisen, schiefen Lächeln, während sie ihren Schwager in den kleinen Salon des Herrenhauses geleitete. “Aber eh sie jetzt wieder lauthals zu jammern anfängt, weil sie selbst laufen soll, erspare ich uns mal den üblichen Heckmeck…”

Im Kaminzimmer

Merle setzte das Kind vorsichtig auf dem Teppich des Salons ab, wo herumliegende Bauklötze und Puppen darauf hindeuteten, dass Lulu hier kürzlich bereits gespielt hatte, knuddelte die Kleine noch einmal und küsste sie liebevoll auf die Stirn. Dann erhob sich die junge Frau und rückte einen der gemütlichen Sessel vor dem - im Moment nicht brennenden - Kamin für Kalman zurecht. “Setz dich erstmal und ruh dich ein wenig von der Reise aus”, bat sie den Ritter mit sanfter, leiser Stimme. “Aber bitte… bitte sag mir geradeheraus, ob es irgendeine Nachricht über Gwenn gibt…”

Kalman setzte sich in den Sessel und starrte auf den Aschehaufen, der noch immer im Kamin lag. ‚Ein Aschehaufen. Wie passend. Wie unser Leben‘, dachte er sarkastisch. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Pruch ist tot. Er ist besiegt. Es ist vollbracht.“ Kalmans Stimme wirkt kalt, abwesend, unbeteiligt. „Doch von den Entführten fehlt noch jede Spur. Ich fürchte, sie sind verloren.“

Die Tür öffnete sich und Madalin betrat lächelnd das Kaminzimmer mit einer Karaffe und drei Bechern. Nachdem sie in den ersten etwas Wein eingegossen hatte, reichte sie ihn Kalman. „Lass ihn dir schmecken“, wünschte sie voller Freude, ihren Vater wiederzusehen. Dann goss sie die beiden anderen Becher voll und reichte einen Merle. Mit dem dritten in der Hand setzte sie sich vor Kalman auf den Boden und legte ihren Kopf auf seine Knie.

Kalman streichelte sanft ihren Haarschopf. „Danke, meine Kleine. Es ist schön, wieder bei dir zu sein.” Er bemühte sich, seine Tochter nichts von seinem Kummer spüren zu lassen.

Merle nippte eine Weile schweigend an ihrem Becher, bis sie den Arm ausstreckte, um ihre warme Hand leicht auf Kalmans Oberarm zu legen. “Es ist sehr schön, dass du wieder bei uns bist, Kalman”, flüsterte sie. “Ciala wird außer sich sein vor Freude.” Der Griff ihrer Hand verstärkte sich, als sie sanft seine Schulter drückte. “Sicherlich willst du nicht alles mehrfach berichten. Also warte ruhig erstmal damit, bis die anderen auch hier sind. Aber eines muss ich dir jetzt schon sagen: Alle in Lützeltal sind unheimlich stolz und dankbar, dass du dich diesem Kampf gestellt hast. Nicht wahr, Madalin?” Merle streichelte ihrer jungen Nichte ebenfalls zart übers Haar und nun kam auch die kleine Lulu wackeligen Schrittes zu Kalmans Sessel, hielt sich an seinen Knien fest und streckte ihm auffordernd die grobgeschnitzte Holzfigur eines Kriegers oder Kämpfers entgegen, der sein Schwert stolz empor streckte. “Ritter spielen?!” fragte das Mädchen mit einem schüchternen, aber aufgeweckten Lächeln.

Der Ritter lächelte seine Nichte an. „Nein, jetzt nicht, Lulu.“ Dann saß er eine Weile schweigend in seinem Sessel. „Erzählen?“, sinnierte er schließlich. „Ich weiß nicht, ob ich etwas zu erzählen habe. Zumindest nichts, dass ihr hören möchtet.“ Mitleidig und gleichzeitig mitleiderregend blickte Kalman nun Merle direkt in die Augen. „Oder hören solltet.“

Verwundert starrte Madalin ihren Vater an, der so verändert wirkte und in Rätseln sprach. Verstört nippte sie an dem Weinbecher in ihrer Hand. Sie fragte sich, was die Erwachsenen an diesem Getränk so toll finden, doch verzog sie keine Miene trotz des Geschmacks.

Merle nahm Lulu mit zu sich auf den Sessel und knuddelte sie, während sie bemüht ruhig Kalmans Blick erwiderte. Wie sehr sein Gesichtsausdruck manchmal Gudekars ähneln konnte, obschon die beiden so verschieden waren... Ja, sie machte sich Sorgen um Kalman, spürte, dass es ihm nicht gut ging. Jetzt versuchte sie ihm vor allem zu vermitteln, dass er sich entspannen und erholen konnte, dass niemand ihn hier bedrängen würde. Dass er zu Hause war. “Ist schon gut”, erwiderte sie schließlich langsam, “es gibt nun einmal Dinge, die wir wissen müssen. Dass er, der Paktierer, wirklich tot ist. Ob die Gefährten wohlauf sind. Ob es wirklich keine Anhaltspunkte gibt, wo Gwenn und die anderen Geiseln sind.” Merle, deren Stimme immer noch sehr leise und behutsam klang, nickte ihrem Schwager zu, wie, um ihre eigenen Worte zu bestätigen. “Ja, darüber werden wir sprechen müssen. Aber erst, wenn Ciala und Friedewald zurück sind. Wenn du gegessen, getrunken und dich etwas erholt hast. Erst dann, wenn du bereit bist.”

„Ich habe keinen Hunger.“ Kalman trank einen Schluck Wein. „Madalin, könntest du bitte Wiltrud Bescheid geben, dass sie nicht extra für mich etwas bereiten soll. Und dann geh bitte Mutter und Großvater suchen. Sie sollten wissen, dass ich zurück bin.“

„Aber…“, wollte Madalin protestieren, doch Kalman fiel ihr sogleich in das Wort. „Bitte!“

„Ja, Vater, wie du wünschst.“ Das Mädchen stand auf, stellte den Weinbecher ab und wollte schon zur Tür hinaus gehen.

“Kalman”, wandte Merle ein, “ich hab dir doch gesagt, dass Ciala und Friedewald mit Wulfhelm den Wildbesatz in den Wäldern inspizieren.” Fahrig strich sie sich eine nunmehr kurze Haarsträhne hinters Ohr. “Wir wissen nicht, wo sie gerade unterwegs sind und wann sie zurück sein werden. Das mag durchaus noch ein Stundenglas oder zwei dauern.” Fragend musterte sie den Ritter.

Kalman nickte. „Könntest du wenigstens zur Jagdhütte reiten und Bescheid geben, dass sie sich nach der Rückkehr beeilen sollen und nicht den Abend dort verbringen?“ Der Ritter blickte zu Merle, um ihr Einverständnis zu diesem Kompromiss zu erbitten.

Auch Madalin wartete ab, was Merle sagen würde. Irgendetwas gab ihr das Gefühl, dass heute ihre Tante hier die größere Durchsetzungskraft hatte. Irgendetwas stimmte mit ihrem Vater nicht.

Merle zog tatsächlich skeptisch die Augenbrauen zusammen. Noch vor einem Jahr, vorher, hätte sie sich darüber kaum einen Gedanken gemacht, doch jetzt kamen ihr unwillkürlich die Toten und Entführten in den Sinn, die mitten im Dorf, teilweise am helllichten Tag, aus ihrer Mitte gerissen worden waren. Wahrscheinlich würde sie sich nie wieder vollständig sicher in Lützeltal fühlen, nicht so wie früher. Entschieden schüttelte sie den Kopf. “Mir ist nicht wohl dabei, wenn du allein zur Jagdhütte reitest, Kleines. Sag lieber dem Basin, dass er dort Bescheid geben soll, ja?”

„Ach was, Basin hat soviel zu tun, ich reite schnell rüber, was soll da schon passieren?“ Madalin lief los und war nicht mehr aufzuhalten.

Merle kräuselte besorgt die Stirn, wollte Kalmans Autorität aber nicht weiter untergraben, daher sagte sie nichts mehr.

Vier-Augen-Gespräch

Als Madalin die Tür hinter sich geschlossen hatte, bemerkte Kalman wieder in den Kamin starrend: „Es gab Tote.“

Merle schloss kurz die Augen und atmete hörbar aus. “Wer?” wisperte sie kaum hörbar.

„Viele“, war Kalmans knappe Antwort.

Für einige lange Momente schwieg Merle, während sie Lulu an sich drückte. Es stimmte, eigentlich wollte sie nicht wissen, wer die Toten waren, ob darunter jemand derjenigen war, die sie besonders ins Herz geschlossen hatte. Und sie wollte auch kein Gefühl von Erleichterung empfinden, falls es ‘nur’ Leute getroffen hätte, die sie nicht näher kannte. “Sie sind nicht umsonst gestorben”, schaffte sie schließlich, mit rauer, belegter Stimme herauszubringen.

“Nicht umsonst gestorben?” Kalman blickte erschrocken, entsetzt und verständnislos zu Merle. “Wie kannst du sagen, irgendjemand sei nicht umsonst gestorben? Jedes Leben, das in diesem Kampf verloren ging, war ein Leben zu viel. Niemand hätte sterben müssen, wenn der Feind nicht sein Unwesen getrieben hätte. Viele hätten nicht sterben müssen, wenn der Feind nicht von unseren Plänen gewusst hätte. Doch er war vorbereitet. Nicht umsonst gestorben! Ja, das sagt man immer so leicht nach einer Schlacht, wenn man als Sieger hervorgeht. ‘Die Toten sind gefallen, um die Lebenden zu schützen! Sie sind nicht umsonst gestorben.’ Doch wer sagt, dass die, die gestorben sind, nicht genauso viel Wert sind wie die, die sie geschützt haben. Wer sagt, dass, wenn jemand sein Leben gegeben hat, um ein anderes zu retten, diese Person nicht umsonst gestorben ist? Ein Leben gegen ein anderes. Wer mag bewerten, welches mehr wert ist? Vielleicht ist die Person doch umsonst gestorben, denn hätte nicht auch die andere Person gehen können? Hätte man dann nicht auch sagen sollen, sie sei nicht umsonst gestorben, weil dann ihr Retter gerettet worden wäre?” Er machte einen Moment Pause, doch noch bevor Merle etwas erwidern konnte, stellte er eine letzte Frage: “Ist Liana Morgenrot nicht umsonst von uns gegangen?”

Merle schreckte unter Kalmans Ausbruch zusammen und schluckte schwer. "Es tut mir leid!", murmelte sie kleinlaut. "So hab ich das nicht gemeint. Ich wollte nur sagen, wie wichtig und... notwendig es war, Pruch zu bekämpfen und zu besiegen." Sie presste ihr Gesicht an Lulus und hauchte dem Mädchen mehrere zarte Küsse auf die Wange. "Ach Kalman, du kannst dir vielleicht gar nicht vorstellen, wie viel Angst wir hier hatten. Angst, dass so etwas wie letztes Jahr wieder geschieht. Angst um die Kinder..."

„Merle, es war schlimmer, als das, was hier letztes Jahr geschehen ist.“ Kalman schaute ernst. „Es war Krieg.“

Wieder küsste sie Lulus Gesicht und schlang ihre Arme ganz eng um ihre Tochter, dann blickte sie Kalman ernst in die Augen. "Du ahnst nicht, wie dankbar wir dir und den anderen Streitern sind, dass ihr in diesen entsetzlichen Kampf gezogen seid..." Sie brach ab, mühsam atmend, und begann fast unmerklich und lautlos zu weinen. "Liana, sagst du?" hauchte sie schließlich mit erstickter Stimme, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. "Oh nein, Liana..." Wieder brachte die junge Frau scheinbar endlos lange Augenblicke kein Wort mehr heraus, bis Lulu plötzlich die hölzerne Ritterfigur in ihrer Hand mit einem lauten Knall auf den Boden schleuderte, Merle erschrocken zusammen zuckte und sich nach vorne beugte, um das Spielzeug schnell wieder aufzuheben.

„Ja, Liana ist von uns gegangen, sie ist ins Licht gegangen.“ Merle sah in Kalmans Augen Tränen, in denen sich das Licht spiegelte. „Sie ist diejenige, deren Opfer am schwersten zu ertragen ist, und gleichzeitig am sinnlosesten war. Denn sie ist ihren Weg gegangen, als der Kampf bereits gekämpft war, als der Feind geschlagen und Pruch vernichtet war. Sie hat sich geopfert, um einen Unwürdigen zu retten.“ Der Ritter brachte es nicht fertig, Merle oder Lulu anzusehen, während er redete. Doch nun blickte er doch zu Merle. „Merle, sie hat ihre Lebenskraft gegeben, um mein Leben zu retten. Mein Leben, das bereits verwirkt war. Sie hat mich Golgaris Krallen entrissen.“ Der Ritter schlug die Hände vor das Gesicht und fing an, bitterlich zu weinen.

"Es tut mir so leid", wiederholte Merle flüsternd, die sich zutiefst hilflos und verloren fühlte, kannte sie es doch nicht anders, als dass stets ihr Schwager derjenige war, der Stärke und Selbstbewusstsein ausstrahlte. Vorsichtig löste sie sich von Lulu und setzte das Kind auf dem eigenen Sessel ab, dann schob sie sich halb auf die Kante von Kalmans Sessel, nahm den Ritter wortlos in den Arm und begann, ihm sanft und beruhigend mit der Hand über den Rücken zu streicheln. "So unsagbar leid…”, murmelte sie, “Liana, sie war... wundervoll, etwas ganz besonderes... das habe ich gleich gespürt, obwohl ich sie nur kurz kennengelernt habe... Doch Kalman", die junge Frau drückte den älteren Mann noch enger und verzweifelter an sich, ihre Stimme ein leises, doch intensives Flüstern, "es war ihre, Lianas, Entscheidung, das zu tun - und ich bin mir sicher, dass sie dich retten wollte. Rede ihr Opfer nicht klein, indem du dich 'unwürdig' oder dein Leben 'verwirkt' nennst. Du weißt selbst, dass du das Geschehene nicht ungeschehen machen kannst. Alles, was dir zu tun bleibt, ist dieses Geschenk, dieses Leben, anzunehmen und zu versuchen, das Beste daraus zu machen." Merle versuchte, die Tränen herunterzuschlucken, wischte sich über die Wange und hob traurig die Schultern. "Zumindest denke ich, dass Liana das gewollt hätte."

Kalman fasste sich wieder. Er straffte seine Haltung, schob Merle von sich und stand auf. Der Ritter ging zum Fenster und blickte ziellos hinaus in die Ferne. “Es hätte nicht soweit kommen müssen, wenn wir nicht verraten worden wären. Zumindest bei dem finalen Ritual war es offensichtlich, dass all die Schutzmaßnahmen, die die Geweihtenschaft und die Madaverfluchten gelehrten Herren”, die letzten Worte klangen verachtend, “vorbereitet hatten, sabotiert wurden. Ja, auch über unsere anderen Aktivitäten war der Feind anscheinend stets informiert und hatte uns angegriffen. Aber beim letzten Ritual, da hätte nichts schief gehen dürfen. Und dennoch waren sie uns überlegen. Alles, was vorbereitet worden war, hatte versagt.”

Mit bleichem Gesicht und erschüttert aufgerissenen Augen beobachtete Merle ihren Schwager. "Sabotiert?" hauchte sie mit fast unhörbarer Stimme. "Wisst ihr, von wem?"

“Wissen?” Kalman schüttelte den Kopf. “Ich weiß, wer dahinter steckt. Doch nein, wir wissen es nicht.”

“Und was denkst du?” fragte sie, verwirrt von seiner widersprüchlichen Aussage, nach.

Kalman sprach nur ein einziges Wort. “Gudekar.”

Merle wurde noch blasser, als sie es bereits war. “Er war da?” Sie schluckte, als wäre ihr übel. “Gudekar war dabei?”

“Ja, er war dabei.” Kalman wandte sich wieder zu Merle, bevor er weiter sprach. “Nicht bei allen der Rituale. Aber er kam dazu. Einige Mitglieder unserer Gemeinschaft waren der Überzeugung, es sei wichtig, dass auch er seinen Teil dazu beiträgt. Doch ich sage, das war ein Fehler. Ich sage, ohne ihn wäre es besser gelaufen. Ohne ihn wäre Liana noch bei uns.”

Merle schluckte, das Gesicht voller Entsetzen verzogen, und ließ ihren Hinterkopf kraftlos gegen die Sessellehne sinken. “Eine Seelenprüfung wurde vorher nicht gemacht?” fragte sie flüsternd nach.

Kalman zuckte mit den Schultern. “Seine Gnaden Rionn und die Vögtin haben versichert, dass sie ihm vertrauen, Eoban ebenfalls. Und auch unsere… nun, Auftraggeberin hatte wohl keine Bedenken.” Kalman zögerte. “Ich bin davon ausgegangen, dass sie ihn ausgiebig geprüft haben, nach seinem Verrat im letzten Jahr.”  

Merle schien tief ein- und auszuatmen. "Aber jetzt denkst du, dass mit ihm... etwas nicht in Ordnung ist?" Ihre Stimme klang tonlos; jede Lebendigkeit daraus gewichen. "Dass er gezielt das Ritual... sabotiert hat? Im Dienste des Feindes?"

“Ich habe keine Beweise dafür”, entschuldigte sich Kalman, “und wenn ich letztes Jahr eines gelernt habe, dann keine Offensichtlichkeiten mehr auszusprechen, wenn ich sie nicht durch handfeste Beweise belegen kann, aber wer sonst hätte die Schutzzeichen verfälschen und seine Heiltränke durch Gift vertauschen können?”

Immer noch kreidebleich starrte Merle ins Leere. Alles in ihr schrie danach, den Verdacht gegen Gudekar vehement zurückzuweisen, abzustreiten, sich für ihren Ehemann einzusetzen - doch schwieg sie, während sie sich schmerzhaft auf die Unterlippe biss. Die Wahrheit war, dass sie es Gudekar zutraute, sich gegen seine Gefährten zu stellen, diese kaltblütig zu vergiften, dem Mörder und Paktierer Pruch zuzuarbeiten. Seit ihr Mann seine Magie gegen sie eingesetzt hatte, seit sie den unseligen Zettel in seinem Mantel gefunden hatte, saß der Gedanke, der Verdacht wie ein Stachel mit Widerhaken in ihrem Hinterkopf fest und ließ sich nicht mehr herausreißen. "Ich glaube dir", erklärte sie mit schwacher, düsterer Stimme. "Mir wird schlecht bei dem Gedanken, aber ich glaube dir." Wieder schwieg sie einige Zeit, während sie ihre kleine Tochter eng und beschützend an sich drückte. "Wo ist er jetzt?" sprach sie die nächste Frage schließlich doch aus, obwohl sie die Antwort im Grunde ihres Herzens nicht wissen wollte.

„Komm her, Liebes!“ Kalman ging auf sie zu und öffnete die Arme, um seine Schwägerin festzuhalten, ihr Halt zu geben. „Er ist in der Obhut seiner Hochwürden Rahjan Bader. Wir alle sind nach den Geschehnissen in den einen oder anderen Tempel gegangen um unsere Seelen zu beruhigen und die Namenlosen Tage zu überstehen. Ich bin in Elenvina geblieben und hatte die Zeit im Praiostempel verbracht. Doch Gudekar hat sich Rahjan Bader anvertraut. Beziehungsweise, Rahjan hat ihn unter seine Fittiche genommen. Das letzte, was ich gehört habe, war, dass Gudekar noch immer im Eisensteinischen bei Seiner Hochwürden im Tempel weilt.”

Merle bewegte sich nicht, schlug das Angebot einer Umarmung aus, sondern sah Kalman nur starr und ernst in die Augen. "Als du ihn gesehen hast, Kalman, war sie da bei ihm? Die Ritterin?"

“Nein, Liebes”, Kalman ließ die Arme sinken. “Er war allein. Ich habe nichts von ihr gehört, sie war auch nicht bei ihm, als er mit Rahjan fortgegangen ist.”

Wieder schwieg Merle einige Momente, dann presste sie entschlossen die Lippen zusammen. "Was auch immer. Es reicht. Endgültig. Ich werde nicht länger rumsitzen und auf Dinge warten, die nie passieren." Sie nickte, als würde sie sich selbst in ihrer Entscheidung bestätigen. "Ich werd’ jetzt tun, was ich schon längst hätte machen sollen."

Kalman blickte seine Schwägerin überraschend an. Solche Entschlossenheit und Überzeugung war er kaum von ihr gewohnt. Es stand ihr gut, doch machte es den Ritter auch besorgt, konnte solche Entschlossenheit auch in gefährlichem Übereifer enden, der nicht selten über die Grenzen hinaus wuchs, die für einen selbst gut war. Dies gab es bei Kriegern, die einem Blutrausch verfielen, doch auch auf sozialem Terrain war so ein Verhalten durchaus möglich. Aber wer war er, dass er versuchen sollte, diese junge Frau in ihrem Zorn auf ihren Gemahl zurückzuhalten? Zumal sich dieser Zorn gegen seinen madaverfluchten Bruder richtete. „Was gedenkst du zu tun?“

Merle schaute Kalman ruhig an, vielleicht zu ruhig. Doch tatsächlich verspürte sie das fast berauschende Gefühl, dass der eben getroffene Entschluss ein fiebriges Zittern in ihrem Inneren endlich zur Ruhe gebracht hatte… dieses Gefühl banger Unruhe und mühsam unterdrückter Panik, das in ihr waberte, an ihr nagte, seit sie damals im Traviamond, schwanger und allein in ihrer Kammer, aus dem Schlaf geschreckt war und wusste, fühlte, wie Gudekar sie betrog, wie er mit einem Schlag ihre ganze Welt verstörte. Seitdem war diese unterschwellige Anspannung nicht mehr fortgegangen, ein Teil von ihr geworden - die Angst vor der Zukunft, das Wissen, ungeliebt und nichts wert zu sein, nur ein unnützes, passives Opfer. Das ständige Schwanken zwischen Schmerz und Wut und der verzweifelten Hoffnung, Gudekar würde doch irgendwann wieder vor ihrer Tür stehen, liebevoll lächelnd, würde ihr voller Erleichterung in die Arme fallen und alles seit der Schweinsfolder Hochzeit wäre nur ein böser, schnell verblassener Alptraum gewesen… Doch das war vorbei. Endgültig. Sie war es leid, ihr Leben lang in banger Erwartung darauf zu harren, was andere taten, ihr antaten, was andere für sie planten und entschieden. Und so, wie sie sich der schweren Strähnen ihres hüftlangen Haars entledigt hatte, würde sie die lähmende Passivität und Mutlosigkeit, die von ihr Besitz ergriffen hatte, nun abschütteln und ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Als sie dem Blick ihres Schwagers begegnete, sah sie die Besorgnis darin und schüttelte langsam den Kopf. “Nein, keine Sorge, Kalman. Ich werde vor kein Gildengericht gehen. Ich weiß ja, dass Vater Friedewald das nicht wollen würde und du hast Recht - es gibt wirklich zu wenig Beweise. Aber”, tatsächlich wirkte das Leuchten in ihren braunen Augen lebendiger, beseelter als lange nicht mehr, “stattdessen werde ich zu meinen Eltern gehen und als betrogenes, gedemütigtes Eheweib bei der Traviakirche Anklage gegen Gudekar erheben, auf dass er für sein schändliches Tun offiziell geächtet und angeprangert wird. Auf ganz Dere soll man ihn den schamlosen Frevler schimpfen, der er ist!” Ein leises, zartes Lächeln erschien auf Merles blassem Gesicht. “Und dann wollen wir doch mal sehen, ob er noch irgendwo eine Anstellung als Hofmagus bekommt. Oder wie seine hochmütige almadanische Ritterin mit dieser Art von Schande umgehen kann.”

Kalman beobachtete Merle genau, während sie sprach, beobachtete jede ihrer Gesten, beobachtete das unbändige Funkeln in ihren Augen. Vor ihm stand eine Frau, die genau wusste, was sie tun wollte, die sich aber vielleicht nicht der Konsequenzen ihres Handelns bewusst war. “Ich mache mir keine Sorgen um Gudekar. Ich mache mir keine Sorgen, ob du ihn vor das Gildengericht zerrst. Mir ist es egal, ob und wo du ihn anzeigst für das, was er dir angetan hat. Mir ist es egal, was aus ihm wird. Keine Sorge, egal, was du tust, ich werde es dir nicht um Gudekars Willen oder der Familie wegen auszureden versuchen. Er ist mir einerlei. Ich mache mir jedoch Sorgen um dich. Ich mache mir Sorgen, dass du dich auf einen Kampf einlässt, den du nicht gewinnen kannst. Dass du, egal, wie es ausgeht, am Ende als Verliererin da stehst, selbst dann, wenn du gewinnst. Ich sorge mich, dass du und Lulu am Ende unter den Konsequenzen deines Handeln leiden müsst, auch, wenn du genau das Gegenteil zu erreichen versuchst.” Kalmans Sorge wirkte aufrichtig. “Aber ich werde dich nicht aufhalten.”

Sie nickte verstehend, beobachtete eine Weile ihre spielende Tochter, der sie dann zärtlich über das blondgelockte Haupt strich. "Lulu versuche ich da rauszuhalten, sie vor allem zu beschützen", murmelte sie mit sanfter Stimme. "Sie wird hier in der Familie Weissenquell immer willkommen und wohl aufgehoben sein. Da vertraue ich Vater Friedewald - und auch dir und Ciala." Wieder hob sie die von dem kleinen Mädchen auf den Boden geworfene Ritterfigur auf und betrachtete diese nachdenklich. "Aber kämpfen muss ich. Ich muss einfach.”

“Ich weiß, Merle”, flüsterte Kalman, “ich weiß.”

“Nein, Kalman, ich will nicht behaupten, dass es mir völlig egal ist, ob ich gewinne oder verliere... auch wenn ich nicht genau weiß, welcher Ausgang für mich ein Sieg wäre. Ich kann noch nicht mal sagen, so wie du, dass Gudekar und sein Schicksal mir einerlei wären. Ja, wenn ich ehrlich bin, dann wird er mir nie egal sein", nun hatte der Glanz ihrer Augen wieder etwas Fieberhaftes angenommen, "aber eines schwöre ich dir… Ich werde nie mehr die kleine, brave Merle sein, die zu Hause auf ihren treulosen Ehemann wartet, die alles mit sich machen, sich zur Seite schubsen und demütigen lässt, wie es ihm und seiner feinen Buhle gerade passt. Nein, ich werde kämpfen. Und den beiden das Leben so schwer machen, wie es mir nur irgendwie möglich ist.” Ein Seufzen kam aus ihrer Kehle, doch zuckte sie abtuend mit den Schultern. “Vielleicht hast du recht und ich werde mich danach nicht besser fühlen - oder schlechter - aber zumindest werde ich mir selbst im Spiegel wieder in die Augen sehen können."

“Gut”, merkte Kalman an. “Wie kann ich dir helfen?”

"Helfen? Ach, ich weiß nicht..." Etwas überrumpelt überlegte sie kurz und strich sich eine kurze Haarsträhne hinters Ohr. Tatsächlich hatte sie sich die genaue Vorgehensweise noch nicht allzu genau überlegt. "Hm, ich befürchte, dass Mutter und Vater mich vielleicht nicht ganz ernst nehmen könnten. Dass sie meinen, man müsste Gudekar mehr Zeit geben, um zur Vernunft zu kommen, um wieder zu Travia zu finden, um vielleicht doch noch Buße zu tun. Aber du und ich - wir wissen, dass er das nicht tun wird. Nie tun wird. Nicht, so wie er da im Wald davon geritten ist. Ich wäre dir also wirklich dankbar", sie wirkte ein wenig verlegen, den Ritter so offen um etwas zu bitten, "wenn du mich nach Albenhus begleitest, um gegenüber meinen Eltern zu bestätigen, dass mein Mann mehrmals und in aller Öffentlichkeit verkündet hat, dass er mich verlassen will, dass er Meta als die einzige und wahre Frau an seiner Seite sieht, dass er überhaupt kein Interesse mehr an mir oder einer Erneuerung unseres Traviabundes hat. Wenn das aus der Familie Weissenquell kommt, dann wirkt es sicherlich... neutraler als von der betrogenen, rachsüchtigen Ehefrau." Sie verzog das Gesicht zu einem halben, fast schüchternen Lächeln. "Aber nur, wenn du dies selbst möchtest. Ich will dich dazu nicht überreden."

“Ja, Merle, ich werde dich begleiten. Das ist zwar jetzt schon lange her, und er hat die ganze Zeit kein Wort über diese Frau verloren – nagut, er hat sowieso wenig geredet, und schon gar nicht mit mir – Wenn du ihn gesehen hättest, ich glaube, du wärst froh, dass er weg ist. Aber ich werde dir helfen.” Kalman musterte Merle intensiv. “Was hoffst du zu erreichen, wenn du mit deinen Eltern redest? Deine Worte klingen, als würdest du sie bitten wollen, dass sie sich beim Hohen Paar dafür einsetzen, dass Euer Bund gelöst wird. Doch das passt nicht zu dir. Doch du musst dir wirklich überlegen: Willst du wirklich, dass er zu dir und Lulu zurückkommt, nach dem, was er dir angetan hat? Was er uns allen angetan hat. Oder geht es dir lediglich darum, dass er seine gerechte Strafe erhält? Wenn es das ist, was du möchtest, wirst du vermutlich viele Mitstreiter finden. Doch was wird dann aus euch?”

“Den Bund lösen? Nein.” Merle schüttelte heftig den Kopf. “Natürlich nicht. Das will er doch, dass ich den Traviabund auflösen lasse. Dann kann er ja seine garstige kleine Schlampe heiraten.” Ihr Kopfschütteln wurde noch energischer. “Nein, den Namenlosen werde ich tun, diesem jungen Glück auch noch den Weg zu bereiten! Und außerdem”, sie hob abwehrend die Schultern, “selbst wenn ich es wollte, würde es einfach nicht gehen. Die Fälle, wo so etwas gemacht wurde, kannst du an einer Hand abzählen. Du weißt, dass das Hohe Paar das schon Kaisern und Königen verwehrt hat, selbst bei Kinderlosigkeit - warum sollte ein kleiner Magus mal eben seinen Bund auflösen dürfen? Weil er der Meinung ist, dass er eine andere Frau begehrt?!” Ein freudloses, sarkastisches Lachen kam aus Merles Kehle. “Damit sind ganz sicher schon mehr treulose Ehemänner in Rommilys gescheitert. Nein, Gudekar und ich, wir sind vor Travia verbunden und werden es immer sein. Ein Traviabund ist ein Schwur auf ewig. Davor kann man nicht fliehen. So ist es nun einmal.” Der Blick ihrer großen braunen Augen war ernsthaft, aber ruhig. Nach einem kurzen Zögern seufzte sie. “Am Ende möchte ich einfach, dass er seine eigene Medizin zu schmecken kriegt. Ja, ich will, dass er bestraft wird. Wenn die Kirche ihn als Frevler ächtet und ausstößt, dann will ich, dass es überall bekannt wird. Ich werd’ mich drum bemühen, dass die Baroness von Immergrün einen Artikel für den Greifenspiegel verfasst. Dann wird er nicht nur seine Anstellung in Tälerort verlieren, er wird auch keine neue mehr bekommen. Jedenfalls nicht in den Nordmarken.” In Merles Lächeln und Tonfall mischte sich erneut ein deutlicher Anklang bissigen Spotts. “Der gelehrte Herr wird lernen müssen, wie es ist, ein Verfemter zu sein, ausgestoßen und verachtet von der göttertreuen Gesellschaft. Unter der öffentlichen Schande können er und seine hochnäsige Buhle es sich abschminken, noch fröhlich auf Hochzeiten zu tanzen, große Reden zu schwingen und das süße Leben zu genießen - sie werden nirgendwo in Adelskreisen mehr erwünscht sein und dürfen sehen, in welcher dreckigen Gosse sie am Ende landen.“ Merle hob die Schultern. “Das wäre zumindest mein Plan.”

“Gut”, nickte Kalman und lächelte Merle verschwörerisch an. “Das ist auch das, was ich will. Mindestens. Aber du weißt, was das für dich bedeutet? Und für Liudbirg. Auch ihr werdet mit dieser Schande leben müssen. Und er wird euch kein Heim mehr bieten können. Wenn er nichts hat, habt auch ihr nichts. Wenn er nirgends dienen kann, kann er euch kein Heim bieten. Und er wird dich dafür hassen.“ Kalman griff nach Merles Händen. “Merle, Liebes, ich fürchte, du wirst dich entscheiden müssen. Du kannst ihn zerstören. Du kannst dafür kämpfen, dass er am Boden liegt und dann noch auf ihm trampeln. Und ich werde nicht einen Moment zögern, dir dabei zu helfen. Ich werde erst enden, wenn er ein Niemand ist. Doch dieser Weg bedeutet, dass Euer Traviabund nicht mehr zu retten ist. Und ja, vielleicht kann er im Leben nicht gelöst werden. Doch es gibt einen Weg ihn zu lösen. Wenn Gudekar für seine Taten auf dem Scheiterhaufen brennt, dann bist du frei, frei von seinen Taten.“ Kalman holte tief Luft. Er war entschlossen, seinen Bruder zur Strecke zu bringen, wenn es sein musste. Er würde schon genügend Leumundszeugen finden, die bestätigten, dass Gudekar eine Schuld oder zumindest eine Mitschuld daran trug, dass ihre Schutzmaßnahmen gegen den Feind nicht gewirkt hatten und ihr Vorhaben fast gescheitert wäre. Dennoch wurde seine Stimme milder und er schaute Merle besorgt an. „Oder du möchtest an eurem Bund festhalten. Doch das bedeutet, dass auch du deinen Teil dafür tun musst. Ja, er hat euren Bund verraten, seinen Eid gebrochen. Doch auch du hast den Bund geschlossen. Und damit ist es auch deine Pflicht, wenn du an diesem elenden Bund festhalten willst, dass auch du für ihn da bist, an seiner Seite stehst. Ich weiß nicht, was Seine Hochwürden Rahjan mit ihm anstellt, doch wenn Gudekar aus seiner Obhut kommt, wird er eine Stütze brauchen, solltest du ihn nicht zerstören wollen, solltest du den Traviabund noch ehren. Dann musst du an seiner Seite stehen und darfst ihn nicht zerstören. Dann müssen deine Rachegelüste zurückstecken, Lulu zuliebe. Dann musst du ihm die Gelegenheit geben, für euch zu sorgen, wie auch immer das dann aussehen mag, wo auch immer er für euch sorgen kann. Ich kann dir nicht versprechen, dass dies funktioniert, dass ihm die Gelegenheit dazu gegeben wird, dass er diese Gelegenheit nutzen möchte, wenn sie ihm gegeben wird. Aber wenn dir euer Bund etwas bedeutet, musst du diesen Weg gehen. Auch dann werde ich dir schweren Herzens zur Seite stehen und euch diesen Weg nicht verbauen. Doch du musst dich entscheiden. Du kannst nicht beides haben: Rache und ein behütetes Heim im Bund mit ihm. Das geht nicht.“

“Scheiterhaufen?” fragte Merle erschrocken. “Du hast eben gesagt, dass es keine Beweise gibt, die eine Anklage rechtfertigen würden. Und ich kann erst recht keine vorbringen! Wie sollten wir ihn auf den Scheiterhaufen bringen? Das ist doch Unsinn.”

“Ich sagte, ich habe keine Beweise. Ich bin sicher, wenn man ein wenig tiefer gräbt, wird man schon finden, wo der Hund seine Knochen vergraben hat”, widersprach Kalman.

Von außen betrachtet entsetzte es Merle, wie sie hier überhaupt über so etwas reden konnten, doch verdrängte sie den Gedanken und sprach mit kühler, kontrollierter Stimme weiter: “Wenn, dann gehen Anschuldigungen gegen Gudekar doch vor ein Gildengericht. Ich behalte mir selbst die Option vor, ihn dort wegen des Zaubers anzuklagen.” ‘Nicht unbedingt bei Paktiererei, sollte sich das bewahrheiten’, dachte Kalman, behielt seine Gedanken jedoch für sich. “Und ansonsten werde ich, wenn es zu einem Prozess kommt, vor Gericht natürlich wahrheitsgemäß aussagen und zum Beispiel nicht den Zettel in seiner Manteltasche verschweigen. Aber du weißt selbst, dass ihn das Gildengericht nicht zum Tode verurteilen wird.” Sie machte eine Pause und atmete tief durch. “Du sagst, wenn ich kämpfe, wird er mich hassen und damit zerstöre ich jede Chance auf eine Rettung unseres Bundes. Aber die Sache ist, ich war ja immer lieb und brav und unterstützend, viele, viele Jahre lang. Nach der Sache mit Tsalinde stand ich fest an seiner Seite, hab ihm alles verziehen und mich für ihn eingesetzt. Das war überaus bequem und angenehm für Gudekar. Gerade meine Passivität hat ihm die Möglichkeit gegeben, in Ruhe seine Affäre mit der Ritterin zu pflegen und sich immer tiefer in die Frevelei zu stürzen! Ich hätte viel früher sagen müssen ‘bis hierhin und nicht weiter’ - ich hätte ihm klar machen müssen, dass ich mich so nicht behandeln lasse.” Merle seufzte. “Du weißt, dass er unseren Bund auf eine ganz andere Weise gebrochen hat, als ich ihn brach. Gudekar ging es nie um einen oder mehrere Seitensprünge - wir wissen alle, dass so etwas passieren kann - nein, er strebt an, die Verbindung mit mir vollständig aufzulösen und mich als die Frau an seiner Seite durch diese Ritterin zu ersetzen. Er war es, der offen und freimütig angekündigt hat, sich von mir zu trennen, um in Zukunft mit Meta sein Leben zu teilen. Er will mich loswerden. Und das ist aus meiner Sicht sein größter Frevel - seine Frau und seine Tochter verstoßen zu wollen! Deshalb muss ich jetzt etwas tun, was ihm Angst macht. Damit er erkennt, dass ich noch da bin. Ich muss ihm drohen, muss ihm den Fehdehandschuh zuwerfen - um seine Aufmerksamkeit und seinen Respekt zu erzwingen. Wenn das eskaliert, dann ist es eben so. Und was mit mir geschieht, ist auch eh egal”, sie drückte fest Kalmans beide Hände und fixierte seinen Blick voller Entschlossenheit und Härte. “Ich bin bereit, alles aufzugeben; in den Abgrund zu stürzen, wenn es nötig ist. Versprich’ mir nur eines - was auch passiert, sorg’ bitte dafür, dass Lulu einen Platz in dieser Familie behält. Wenn es hart auf hart kommt, dann bitte ich dich und Ciala, meine Kleine zu euch zu nehmen.” Die junge Frau schluckte hart und zwang sich zu einem tapferen Lächeln. “Aber im Moment geht es mir erst einmal ‘nur’ um die Anklage vor der Kirche - ich denke nicht, dass damit sofort alles Porzellan zerschlagen wird. Vielleicht ist es der Schuss vor dem Bug, den Gudekar braucht, um zu erkennen, dass er eine Ehefrau hat, die sich nicht mehr alles von ihm bieten lässt. Dann können wir vielleicht auch auf Augenhöhe reden. Und nein, es geht mir nicht um Rache - ich will etwas ganz anderes. Nämlich, dass er mich endlich ernst nimmt und erkennt, dass er seine Frau und seinen Traviabund nicht einfach loswerden kann. Zur Not auf die harte Tour. Aber jeder Ansatz von Versöhnung und Vergebung muss erst einmal von ihm ausgehen, verstehst du das?” Wieder seufzte sie leise und begann, langsam im Zimmer auf- und abzugehen. “Ja, Kalman, ich will, dass er Buße tut. Natürlich will ich das. Natürlich bedeutet mir unser Bund etwas. Er wurde vor der Gütigen Mutter geschlossen! Aber ich erwarte, dass mein Mann anerkennt, was er mir angetan hat und mich um Entschuldigung bittet. Und dass er sich klar und unmissverständlich zu seinem Eid vor Travia bekennt - als Ehemann, Vater und Mitglied dieser Familie. Wenn er das tut, wenn er wieder Verantwortung übernehmen will, dann werde ich auch für ihn da sein, für ihn kämpfen, alles für ihn tun. Für immer und ewig.” Sie hob die Schultern, als wäre dies das selbstverständlichste auf dem Dererund, strich sich dann aber das nunmehr kurze Haar energisch mit der Hand aus dem Gesicht. “Das Problem ist eben, dass ich inzwischen die Hoffnung verloren habe, dass er jemals zu mir kommen wird. Es ist ein Dreivierteljahr vergangen ohne irgendeine Nachricht von ihm. Keine einzige, nichts. Ich meine”, sie blickte ihrem Schwager forschend in die Augen; ihre Stimme klang dunkel und traurig, “du hast ihn ja kürzlich gesehen… Hat er denn nach mir gefragt? Wenigstens einmal?”

Kalman hatte bei Merles Worten ein paar Mal verächtlich geschnaubt, letztlich aber nachdenklich geschaut. Das, was Merle zum Schluss sagte, klang ganz anders, als das, was sie vorher angekündigt hatte. “Merle, wenn du euch einen Weg offen halten willst, wieder eine Familie mit ihm zu werden, ja, dann solltest du mit deinen Eltern darüber reden. Sie wissen am besten, wie er auf den traviagefälligen Weg zurückzuführen ist. Doch wenn ihr dann wieder eine Familie seid, dann wird er einen Ort brauchen, wo er noch immer willkommen ist, wo ihr willkommen seid. Du solltest dir überlegen, wem du alles von seinem Frevel erzählst. Sprich das doch mit deinen Eltern ab.” Kalman drehte seinen Kopf in Richtung der Zimmertür, als er von draußen ein Geräusch hörte. Unwillkürlich legte er die an Hand an sein Schwert und ging einen Schritt auf die Tür zu.

Cialas Rückkehr

Man hörte aufgeregte Stimmen und Getrappel, dann ging die Tür zum Kaminzimmer auf und Ciala stand kurz steif und fassungslos im Türrahmen, bevor sie auf Kalman zustürmte, diesen fest umarmte und ihr Gesicht in seiner Halsbeuge vergrub. „Du bist wieder da… Du bist da…. Ich hatte solche Angst.“ Ihre Hände streichelten seinen Rücken und zogen ihn an sie. Tränen der Erleichterung und Freude benetzten nun ihre und seine Backe.

Kalman ließ sofort den Schwertgriff los und war zu Ciala gelaufen, als er sie sah. Er nahm sie fest in den Arm, um sie wortlos fest an sich zu drücken und sie nicht wieder loszulassen. Nie wieder wollte er sie loslassen, dachte er. Auch dem Ritter liefen Tränen aus den Augen.

Merle hatte sich automatisch von Kalman entfernt, Lulu sanft auf den Arm genommen und sich mit ihrer Tochter ans andere Ende des Kaminzimmers zurückgezogen. Sie wollte dem Paar die Privatsphäre geben, das langersehnte Wiedersehen in Ruhe zu genießen.

„Ich hab dir viel zu lange nicht mehr gesagt, wie lieb ich dich habe und dass mein Leben ohne dich nur ein Schatten dessen wäre, was ich jetzt habe.“ Ciala flüsterte nah an Kalmans Ohr. Normalerweise sprachen sie nur in ihren Gemächern oder unter vier Augen so offen. „Ich will noch ein Kind von dir, mein Schatz. Es ist noch nicht zu spät.“

Cialas Worte schmerzten Kalman, wusste er doch, was es für sie bedeutet hätte, wenn er in der Eilenwïd gestorben wäre. Nein, wenn er dort nicht in Leben zurückgeschickt worden wäre. “Ich liebe dich auch so sehr. Ich bin ja wieder zurück”, versuchte er seine Frau, mehr aber noch sich selbst zu beruhigen. “Du hast mich nicht verloren.” Cialas letztes Geständnis war noch nicht bis in seinen Geist durchgedrungen, zumindest nicht in der Aufrichtigkeit, in der es Ciala ernst gemeint hatte. “Du hast mich nicht verloren.” Eine Träne tropfte auf Cialas Stirn.

„Mein Schatz, du legst dich heit früher nieder. Dann kannst ma ois in Ruh verzählen.“ Wenn sie nervlich zu aufgewühlt war, kam ab und zu ihr heimatlicher Dialekt durch. „Aber du warst ja grad im Gspräch mit Merle. I musste leider stören, Merle, des verstehst sicher. Ich setzt mich auf den Sessel nieder und wann ihr fertig seits, nehme ich Kalman in unsere Gemächer mit.“ Sie drückte nochmal liebevoll die Hand ihres Gatten und nahm dann Platz.

Merle kam mit Lulu auf dem Arm zu Ciala, kniete sich neben ihren Sessel und drückte die Hand ihrer Schwägerin. Liebevoll lächelnd schüttelte sie den Kopf. "Nein, liebe Ciala. Kalman und ich haben eben doch schon gesprochen. Alles andere hat bis später Zeit. Jetzt gehört dein Mann erst einmal dir; du hast so lange auf ihn gewartet. Lulu und ich gehen Harka derweil mit dem Essen helfen, nicht wahr?" Sie hauchte Ciala einen Kuss auf die Wange und forderte Lulu flüsternd auf, es ihr gleich zu tun.

“Lass’ nur Merle, ich habe eh keinen Appetit. Macht euch meinetwegen keine Mühe.” Kalman lächelte Merle an und sein Gesicht zeigte, dass er einen ungestörten Moment mit seiner Frau herbeisehnte.

Als Merle Ciala auf die Wange küsste, drückte sie Merle fest an sich. „Mein Schatz, danke. Es… Es… tut mir leid, aber I bin grad von de Emotionen ganz überwältigt. Wann immer I am Anfang was schlechtes über dich gsagt haben soll, oder du es so gspürt hast, vergiss des bitte. Es is Jahre her, ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich dich damals behandelt hab. Schnee von gestern. Unser neues Leben beginnt, und ich helfe dir gerne, wenn du Fragen hast.“

“Das weiß ich doch, Liebes”, murmelte Merle in Cialas Ohr und streichelte ihr zart über die Wange. “Weiß ich doch…” Dass sie schon bald wieder nach Albenhus zurück wollte, würde sie ihr später sagen; jetzt wollte sie den Moment nicht stören. Sie küsste Ciala noch einmal auf die Stirn, dann stand sie mit Lulu leise auf, drückte Kalman im Vorbeigehen flüchtig die Schulter und ging zum Ausgang des Kaminzimmers. Das versonnene Lächeln auf ihren Lippen zeigte, wie sehr sich Merle mit den beiden freute. "Dann bis später", nickte sie dem Ehepaar bestätigend zu.

“Denk dran, Merle, du hast meine Unterstützung”, rief ihr Kalman noch einmal hinterher, “aber tue nichts Unbedachtes. Sprich mit deinen Eltern, wie du am besten vorgehen solltest.”

Mit gerunzelter Stirn drehte sich Merle im Türrahmen noch einmal um. Hatte Kalman ihr überhaupt richtig zugehört? “Ich hab doch gesagt, dass ich als erstes mit meinen Eltern spreche. Vorher mache ich nichts. Und du meintest doch, dass du mich nach Albenhus begleiten wirst, oder nicht?” In ihrem fragenden Blick lag die Sorge, ob Kalman sein Hilfsangebot jetzt doch wieder zurücknehmen würde, außerdem eine Spur Enttäuschung, weil er ihr offenbar sonst was für Dummheiten zutraute.

“Doch, natürlich werde ich dich begleiten.” Kalman schaute etwas skeptisch. Eigentlich wollte er Merle nur noch einmal bestärken in ihrem Vorhaben, zunächst zu ihren Eltern zu gehen, und ihr seine Unterstützung zusichern. Doch Merles Reaktion ließ ihn zweifeln, ob sie nicht doch etwas zu tun gedachte, was sie nicht abgesprochen hatten. Er hoffte sehr, dass seine Schwägerin ihm und ihren Eltern vertrauen würde.

"Ich danke dir." Merle nickte Kalman bestätigend zu, doch war ihr immer noch eine leichte Irritation anzumerken. "Selbstverständlich rede ich zuallererst mit Mutter und Vater. Und danach entscheide ich, was die nächsten Schritte sein können. Sein müssen." Nach kurzem Zögern fügte sie mit sanfterer Stimme hinzu: "Aber wir können da in den nächsten Tagen ausführlicher drüber reden... Jetzt genießt ihr beide erstmal euer Wiedersehen."

Ciala nahm Kalman bei der Hand und wartete, bis Merle gegangen war.

Als Merle das Zimmer verlassen hatte, zog Kalman seine Frau näher zu sich heran und vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter. “Es ist gut, wieder bei dir zu sein. Es tut so gut. Es tut so gut!”

Bettruhe

Nachdem Merle gegangen war, überkam Kalman langsam die Erschöpfung, und so zog sich der Ritter mit seiner Gemahlin in das gemeinsame Gemach zurück, um den restlichen Nachmittag zu ruhen, bis das Essen gerichtet war.

Seine Frau seufzte tief und half ihm aus seinem Hemd und seiner Hose. Das Bett war einladend und roch frisch gewaschen. „Liebster, es ist am wichtigsten, dass du dich erstmal hinlegst und zur Ruhe kommst. Was soll ich holen lassen? Tee, Kakao oder Wasser? Ich setze mich zu dir und du musst nix sagen, nur, was du willst.“ Ciala küsste ihn zärtlich auf die Stirn und errötete etwas. „Das mit dem Kind, also dass ich noch eines will, das meine ich ernst. Aber nicht heute.“

Kalman lächelte Ciala an, doch war es ein betrübtes Lächeln. „Ein Tee wäre gut. Einfach ein beruhigender Kräutersud. Frag am besten Merle, sie kennt sich mit den richtigen Kräutern gut aus.“ Kalman legte seine Kleider ab, faltete sie ordentlich zusammen und legte sie auf den Stuhl. Dann legte er sich unter die Decke. Ciala fielen mehrere frische Narben an seinem ganzen Körper auf, die er vor der Abreise noch nicht hatte. „Ja, ein weiteres Kind wäre schön. Uns fehlt ein zweites Mädchen. Also ein eigenes meine ich. Nicht Lulu, so niedlich wie die Kleine auch ist.“ Doch dann wurde er nochmals ernst. “Aber was, wenn das Kind dann ohne Vater aufwachsen muss?”

Abendessen

Kalman war schließlich eingeschlafen. Als er wieder aufwachte, hatten Wiltrud und Harka mit Merles Hilfe begonnen, im großen Saal das Abendessen zu richten. Friedewald hatte sich im Hof auf eine Bank im Schatten des Stallgebäudes gesetzt und trank einen Krug Bier, während er Madalin und Lulu beobachtete, die dort mit Holzreifen und Steckenpferden spielten. Während Ciala oben noch ihre Kleider und ihr Haar richtete, war Kalman nur schnell in seine Hose und ein weißes Leinenhemd geschlüpft und schon einmal hinunter gegangen. Als er den Saal betrat, war Merle damit beschäftigt, die Tafel einzudecken.

„Hm, aus der Küche duftet es ja wirklich schon gut.“ Kalman wirkte entspannter und ausgeruhter, als er Merle anlächelte. „Was hat Wiltrud denn heute gezau… ähm, zubereitet?“

“Gebratene Forelle… vom Lützelfisch, mit Kartoffeln und geschmorten Gurken.” Merle, die nun auch wieder etwas gelöster wirkte, erwiderte sein Lächeln und schaute dem Ritter entschuldigend in die Augen. “Kalman, es tut mir leid, dass ich vorhin so garstig war. Das wollte ich nicht.” Nachdenklich biss sie sich auf die Unterlippe. “Du merkst, wie sehr mich Gudekar immer noch zur Weißglut treibt.”

„Warst du garstig? Das habe ich gar nicht gemerkt.“ Aus seinen Gesten wurde nicht deutlich, ob er dies wirklich nicht wahrgenommen hatte, sich nicht mehr daran erinnerte oder es einfach überspielen wollte. „Es war für uns alle eine schwere Zeit. Und Gudekar hat es uns allen nicht leicht gemacht.“ Kalman war zu Merle getreten und strich ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Aber für dich war es besonders schlimm gewesen. Forelle also. Fein, hatte ich schon lange nicht mehr.“

“Na, weil ich dich gleich wieder angemotzt habe, als du gesagt hast, dass ich nichts Unüberlegtes machen soll”, erklärte Merle. Mit dankbarem, liebevollen Blick ließ sie seine zärtliche Geste zu. “Du bist gerade erst angekommen und ich war schon wieder kurz davor, einen Streit anzufangen.” Sie legte vertraulich eine Hand auf seinen Oberarm. “Aber du hast ja Recht - wenn ich irgendwas tun könnte, um Gudekar zu zwingen, sich wie ein ehrenvoller, erwachsener Mann seiner Verantwortung zu stellen - ich würde es sofort probieren.” Mit einem traurigen Seufzen hob sie die Schultern, löste sich von Kalman und fuhr fort, schnell und methodisch die Tafel mit Tellern und Gläsern einzudecken. “Nur leider weiß ich wirklich nicht, was ich machen soll… Was ich machen kann. Ich hoffe, dass mir das Gespräch mit meinen Eltern Klarheit bringt...” Nachdem sie einige Momente schweigend gearbeitet und aus der Schublade der großen, hölzernen Anrichte das Silberbesteck geholt hatte, blickte sie Kalman fragend ins Gesicht. “Du hast vorhin, als Ciala heimkam, meine Frage nicht mehr beantwortet… also ob Gudekar mich irgendwie erwähnt hat…” In ihrem Ausdruck lag deutliche Unsicherheit, als ob sie selbst nicht wüsste, welche Antwort sie hierauf hören wollte.

Kalman hatte sich inzwischen einen der Stühle vom Tisch weggezogen und falsch herum, also mit der Lehne zum Bauch, darauf gesetzt und die Arme auf die Lehne gelegt. Er beobachtete Merle bei ihrer Arbeit, weil er festgestellt hatte, dass man an der Art, wie jemand seine Arbeit verrichtete, viel über die Gemütslage des anderen feststellen konnte. Auch nachdem Merle die Frage nach Gudekar gestellt hatte, beobachtete er sie eine Weile weiter, bevor er antwortete. Schließlich erklärte der Ritter: „Gudekar hat nach dir gefragt. Er wollte wissen, ob du und Lulu wohlauf seid.“

“Oh...” Merle hielt beim Eindecken inne, legte das Besteck auf der Tischdecke ab und ließ sich kraftlos auf einen der Stühle sinken. “Oh. Das… das hätte ich nicht gedacht.” Blass und scheinbar wie vor den Kopf gestoßen starrte sie Kalman an, der rückwärts auf seinem Platz saß, so wie sie es früher oft bei Gudekar gesehen hatte. Sie schluckte schwer, bevor sie mit leiser, tonloser Stimme herausbrachte: “Was hast du ihm gesagt?”

Kalman kratzte sich am Hinterkopf und kräuselte die Stirn. „Was hätte ich ihm groß sagen sollen? Nun, ich sagte ihm, er solle gefälligst nach Hause kommen und dich das selber fragen. Eine Familie braucht schließlich einen Vater und Ehemann.“ Unsicher blickte er Merle an. „Was hätte ich ihm denn sagen sollen?“

Sie schwieg für einige lange Momente, bis der schmerzende Stich in ihrem Herzen abgeflaut war. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. “Das passt schon Kalman. Ich hätte wohl auch so etwas gesagt.” Kurz zögerte sie und seufzte. “Es ist nur, dass es mich gerade etwas aus der Fassung bringt… also, dass Gudekar überhaupt gefragt hat. Das hätte ich einfach nicht erwartet. Ich… ich hätte gedacht, dass ich ihm völlig egal bin.” Wieder schluckte sie, um dagegen anzukämpfen, nicht zu weinen. “Hätte er nichts gesagt… Wenn er mich vergessen hätte, dann wäre es einfacher, gegen ihn zu kämpfen. Aber so… so muss ich mir eingestehen, dass ich ihn vermisse.” Ihre Stimme war nur ein schwaches, raues Wispern. “Dass ich ihn immer noch so sehr liebe. Und mir verzweifelt wünsche, wir würden wieder wie richtige Eheleute zusammen sein. Auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge - diese dumme Hoffnung kann ich einfach nicht aufgeben.” Merle errötete, als hätte sie eine für sich selbst beschämende Wahrheit über die Lippen gebracht, stand ruckartig auf und begann, mit einer gewissen, fahrigen Hektik, wieder die Messer und Gabeln neben den Tellern auf den Tisch zu knallen. Noch einmal hielt sie kurz inne und blickte Kalman an. “Und was hat mein Mann auf deine Worte erwidert?”

Kalman ging auf Merle zu und nahm sie brüderlich in den Arm. „Es ist gut, dass du noch so für ihn empfindest. Das gefällt der guten Mutter. Es ist und bleibt dein Ehemann, auch wenn wir manchmal wünschten, für dich wünschten, das wäre nicht so. Es wäre schlimm, wenn du anders empfändest.“ Dann wirkte Kalman nachdenklich, als er begann über die richtige Antwort auf Merles Frage nachzudenken. Schließlich wich er einer Antwort aus. „Ich denke, er ist noch immer in der Obhut seiner Hochwürden. Ich hoffe, er hilft Gudekar, zu sich selbst zu finden.“

“Ach, Kalman…”, murmelte Merle, als sie die Umarmung erwiderte und ihre Wange kurz an seine Brust legte, “ich halte an dem Glauben fest, dass die Gütige Mutter Gudekar und mich nicht ohne Grund verbunden hat. Dass wir füreinander bestimmt waren und es immer sein werden. Auch wenn es mir schwer fällt, nicht die Hoffnung zu verlieren…” Sie drückte ihrem Schwager einen zarten Kuss auf die Wange, löste sich von ihm und nahm mit traurigem, abwesenden Blick das Eindecken des Bestecks wieder auf. “Bitte, du musst mich nicht schonen”, hakte sie nach einer längeren Pause nach. “Vor dem Gespräch mit meinen Eltern sollte ich doch wissen, wie die Dinge stehen, oder nicht? Erst dann kann ich entscheiden, was ich tun soll. Also sag mir schon, wie Gudekar reagiert hat. Keine Sorge, ich kann es verkraften.”

Kalman schluckte. „Er sagte, es täte ihm leid, aber das Schicksal hätte es gefügt, dass sich eure Wege getrennt hätten. Nach dem, was vorgefallen sei, könne er nicht zu dir zurückkehren. Er wirkte, als täte es ihm zwar leid, er wirkte recht bedrückt, als ich mit ihm über dich sprach, aber er betonte, dass er seine Zukunft nicht an deiner Seite sähe.“ Der Ritter ging zum Fenster und schaute hinaus auf den Hof, während er sprach. „Er sagte, er habe eine Verpflichtung, die er zu erfüllen habe, die er nicht aufgeben werde. Sobald er sich von den Schrecken unserer Mission erholt hat, würde er nach Tälerort zurückkehren. Das sei der Ort, wo er sich nun zuhause fühlte.“

“Ah, ist das so?” Merle wirkte, als hielte sie ihre Stimme nur mühsam unter Kontrolle. “Hast du darauf noch etwas geantwortet?”

Langsam drehte sich Kalman um und nickte. „Ich sagte ihm, er solle sich zunächst seiner anderen Verpflichtung stellen. Er solle die Tage im Tempel nutzen, um sich seiner Verantwortung bewusst zu werden und dann endlich die Seelenprüfung erlauben. Und wenn er dann nicht zu euch nach Hause kommt, soll er in die Niederhöllen fahren.“ Kalmans Blick offenbarte, dass dies nicht alles war, was er Gudekar gesagt hatte. „Danach sind wir auseinandergegangen.

“Gut.” Merle nickte verstehend, dann noch einmal, als wolle sie sich selbst bestärken. “Sehr gut.” Entschlossen schob sie das Kinn vor. “Nun, dann werden wir doch mal sehen, wo Gudekars Schicksal und Zuhause wirklich liegen. Und welchen Verpflichtungen er sich zu stellen hat…” Merle klang nun wieder gefasst und selbstsicher, als gelänge es ihr, Kummer und Enttäuschung tief im Inneren ihres Herzens einzuschließen. “Auch wenn es meinem Gemahl nicht passen mag, wir sind und bleiben im Traviabund. Für immer und ewig. Und dieser Eid, dieser Schwur vor der Gütigen Mutter ist zunächst einmal mit Verantwortung und Treue verbunden, selbst wenn er dies nicht wahrhaben will. Ich habe seine Eskapaden viel zu lange hingenommen. Was der feine Herr Magus denkt oder fühlt, wo er seine Zukunft zu sehen glaubt, wie er selbstsüchtig sein persönliches ‘Glück’ zu finden beabsichtigt - oder wonach es seiner hochnäsigen Buhle gelüstet - das ist mir egal; das wird die heilige Kirche der Gütigen Mutter am Ende kaum interessieren. Darum geht es nämlich nicht. Nur um die Frage, ob er ein Frevler ist oder nicht.” Sie strich sich das Haar energisch hinters Ohr und rang sich ein tapferes Lächeln ab. “Ich danke dir für deine offenen Worte, Kalman. Und für deine Unterstützung. Dafür bin ich dir unendlich dankbar.” Ihr Lächeln wurde breiter und offener. “Aber zunächst einmal lass’ uns jetzt essen, trinken und deine glückliche Rückkehr in die Heimat feiern.”

Kalman nickte. Merle hatte natürlich recht. Doch etwas von dem, was sie sagte, wie sie es sagte, diese bedingungslose, gnadenlose, an Fanatismus grenzende Entschlossenheit, ließ Kalman kurz zusammenschrecken und zweifeln. ‚Sein persönliches Glück zu finden, das wird die heilige Kirche der Gütigen Mutter am Ende kaum interessieren.‘ War es Travia wirklich egal, ob ihre Kinder glücklich oder unglücklich waren, solange sie blind und stur ihren Geboten folgten? Hatte sich nicht auch Merle mit ihrer bedingungslosen Traviatreue die Aussicht darauf verbaut, ihr Glück neu zu finden, weil sie sich an diese zerrüttete Ehe mit diesem verfluchten Nichtsnutz klammerte?

Kalman schüttelte sich, um diese frevlerischen Gedanken aus seinem Kopf zu bekommen. Streckte Lolgramoth nun schon seine Finger auch nach ihm aus? Natürlich tat Merle das Richtige, an ihrer Ehe mit Gudekar festzuhalten.

„Lass uns essen, ja.“

Merle nickte zustimmend, hatte das unwillige Schütteln ihres Schwagers jedoch mitbekommen. Nach kurzem Zögern legte sie forschend den Kopf schief und fragte mit leiser, sanfter Stimme nach: ”Ist alles in Ordnung, Kalman? Liegt dir noch etwas auf dem Herzen?”

Kalman wurde ernst. Er ging auf Merle zu und ergriff ihre Hände. Zärtlich liebevoll, fast väterlich, blickte er sie an. „Merle, du weißt, ich war damals, anfangs, gegen eure Ehe. Ich hatte dich nicht akzeptieren wollen, allein aufgrund deiner Abstammung. Es tut mir leid. Doch inzwischen habe ich eingesehen, was für ein wundervoller Mensch du bist. Dein Herz ist reiner und dein Blut edler als das von den meisten adeligen Familien unseres Landes. Und du bist inzwischen ein Teil unserer Familie geworden und wirst es immer bleiben. Du bist wie eine Schwester für mich. Du bist meine Schwester. Und ich liebe dich wie eine Schwester und ich werde stets für dich einstehen wie es ein großer Bruder für eine Schwester tut. Egal, was passiert. Egal, was Gudekar tut. Und sollte dieser verfluchte Hund es jemals wagen, dir oder Lulu etwas anzutun, oder wenn ich auch nur den Verdacht habe, er könnte das versuchen, dann werde ich ihm eigenhändig seine faulige Zunge aus dem Hals schneiden und seinen Kopf abhacken. Das schwöre ich bei den Zwölfen!“ Und dass er dies lieber heute als morgen tun würde, konnte Merle in seinen Augen lesen.

Merle erwiderte den Händedruck ihres Schwagers und schenkte diesem ein sanftes, liebevolles Lächeln. “Du musst dich nicht für diese alten Sachen entschuldigen, Kalman”, flüsterte sie. “Wirklich nicht! Das ist unendlich lange her. Und ich bin überglücklich, in dir einen so wundervollen Bruder gefunden zu haben.” Ach, hätte sie sich damals doch in einen Mann wie Kalman verlieben können; ernst und verlässlich, beständig, pflichtbewusst und uneigennützig… Doch wenn sie ehrlich mit sich war, war es gerade Gudekars spontane, sprunghafte, zuweilen freche Art gewesen, die sie an ihm fasziniert hatte, das Unperfekte… sein sarkastischer Humor, sein loses Mundwerk. Diese Mischung aus übersteigertem Selbstbewusstsein und tiefer Verletzlichkeit, fast schon Verlorenheit, die in ihr schon immer den unwiderstehlichen Drang ausgelöst hatte, ihn irgendwie… retten zu wollen. Sie seufzte leise. Sie war dumm gewesen, sich unsterblich in diesen Mann zu verlieben und sie war noch genauso dumm wie damals. Nun, es lag nicht in ihrer Macht, daran etwas zu ändern. Merle seufzte leise, drückte Kalmans Hände fester und rieb mit den Daumen sachte und beruhigend über seine Handrücken. “Ciala hat wirklich so ein Glück, dich zu haben. Es ist gut, dass du zurück bist.”

“Hm, ich hoffe.” Kalman wirkte verunsichert. Plötzlich wurde er wieder nachdenklich und eher in sich gekehrt. “Ich hoffe, es hatte einen tieferen Sinn, dass ich aus Borons Armen gerissen wurde.” War es nicht der Willen der Götter, dass er bei dieser Mission sein Leben gelassen hatte, um die Gemeinschaft zu schützen? Warum musste Liana ihn zurückrufen und dafür ihr eigenes Leben geben? Das war nicht richtig. Er hoffte, dass dies alles einen tieferen Sinn hatte. Dass die Götter eine Aufgabe für ihn vorgesehen hatten, die er zu erfüllen hatte. Und sei es nur, dafür zu sorgen, dass sein Bruder nicht mehr Schaden anrichten konnte als bisher.

"Kalman, es muss keinen tieferen Sinn haben!" entfuhr es Merle. Stürmisch drückte sie ihren Schwager an sich und hielt ihn fest, als wäre schon der Gedanke, wie knapp er dem Tode entronnen war, unerträglich für sie. “Du hast eine Frau und Kinder, die dich brauchen, eine Familie, die dich über alles liebt! Wir fragen nicht, warum du gerettet wurdest, wir sind einfach unsagbar froh, dich wieder hier zu haben!" Sie strich ihm sanft durch das Haar und gab ihm noch ein Küsschen auf die Wange, dann löste sie die Umarmung vorsichtig wieder und starrte nachdenklich aus dem Fenster. "Aber wenn du wirklich einen Sinn suchst, oder ein Ziel... meinst du, es gibt noch eine kleine Hoffnung, Gwenn zu finden? Und könnte es nicht sein, vielleicht, dass die Götter dich genau dafür vorgesehen haben - deine Schwester zu retten?"

Der Weissenqueller seufzte tief und zuckte langsam mit den Schultern. “Ich möchte die Hoffnung einfach nicht aufgeben. Aber wir haben keine Hinweise gefunden. Ich hatte gehofft, wir würden etwas finden, oder, noch besser, einen der Paktierer fassen und befragen können, wo ihr Versteck ist. Doch dieses Glück hatten wir nicht.” Kalman wandte seinen Blick ab. “Ich wünschte, wir hätten Pruch lebend gefangen und die Inquisition könnte ihn auf den Scheiterhaufen stellen. Aber vorher hätte ich ihn noch nach Gwenn befragt.”

“Es ist besser, dass er tot ist”, murmelte Merle mit unbehaglicher Miene. “Sonst wäre er am Ende doch wieder entkommen und hätte noch mehr Unheil anrichten können. Aber auch wenn die Hoffnung noch so klein ist… wir dürfen unsere Gwenn nicht aufgeben. Wenn ich mir vorstellen, dass sie in irgendeinen kalten Verließ dahinvegetiert, ganz allein ist in ihrem Leid”, Merle fröstelte und zog unwillkürlich die Arme um ihren Oberkörper bei dem Gedanken, “...vielleicht spürt sie irgendwie, dass wir an sie denken, dass wir weiter für sie kämpfen? Ich meine, das sind wir ihr schuldig, oder? Ihr und den anderen; Vater Winrich und Rionns jungem Novizen…” Merle runzelte die Stirn und starrte gedankenverloren ins Leere. “Mit Hilfe der Götter muss es einen Weg geben, sie zu finden! Irgendeinen Anhaltspunkt, irgendeinen Hinweis… Die gräfliche Vögtin hat doch die meisten Unterlagen zu den Vorgängen um Pruch gesammelt. Vielleicht wäre es möglich, diese noch einmal einzusehen und durchzugehen? Wer weiß, ob sich darin nicht doch ein Detail findet, das bisher übersehen wurde?”

Kalman nickte. “Falls diese Dokumente wirklich noch dort im Archiv liegen und nicht bereits beim Herzog oder im Praiostempel. Und falls wir Zugang dazu bekommen. Aber es stimmt, wir sollten es versuchen. Ich denke, ich sollte keine Zeit verlieren. Ich sollte zurück nach Albenhus und um eine Audienz bei ihrer Hochgeboren bitten, um das Anliegen vorzutragen.” Er drehte sich zu Merle um und gab ihr einen dicken Kuss auf die Stirn. “Danke, Merle, du hast mir gezeigt, was ich zu tun habe. Lass uns die anderen zum Essen rufen, dann kann ich es heute Abend mit Vater besprechen.”  

Merle lächelte ihn an, sichtlich von neuer Hoffnung erfüllt. "Ich danke dir, Kalman. Für alles." Mit einem Blick kontrollierte sie die Tafel und rückte schnell noch das Tischtuch zurecht, dann wandte sie sich zum Hof, um Friedewald, Madalin und Lulu hineinzuholen. Kurz blickte sie noch einmal über die Schulter zu ihrem Schwager und in ihrem gutmütigen, breiten Grinsen blitzte ein bisschen von dem Schalk auf, der Merle in glücklicheren Zeiten ausgezeichnet hatte. "Als großer, tapferer Ritter willst du es vielleicht nicht hören - und schon gar nicht von einer vorlauten Gossengöre aus dem Waisenhaus - aber du bist ein guter Mann. Ein sehr guter. Und ich habe dich sehr, sehr lieb."

Kalman lächelte Merle dankbar an. Er konnte einfach nicht verstehen, warum Gudekar diese wundervolle Frau verstoßen und dabei derart schlecht behandelt hatte.