Ein neues Band

Orte: Sankta-Theria-Hospital und Gutshaus Eberbach

Zeit: Mitte Firun bis Ende Peraine 1047 BF

Dramatis Personae:

Autoren: Bösalbentrutz, Tannwirk

Kloster der stillen Einkehr, Neu-Gareth, im Firun 1047 BF

Aldare führte ihren Patienten in den Garten, nachdem sie ihn warm angezogen hatte. Es war sehr kalt, aber der Himmel war blau und die Praiosscheibe strahlte am Firmament. Die Bewegung an der frischen Luft und das Licht würden dem Mann gut tun. Seit seiner Rückkehr aus Mendena sprach er nicht mehr und sein Geist hatte sich immer weiter umnachtet, bis seine Familie ihn in die Obhut des Klosters gegeben hatte.
"Er muss Schreckliches erlebt haben", dachte Aldare, "wenn er sich so gänzlich in sich zurückgezogen hat."
Obwohl er ihr nicht antwortete, sprach sie doch mit ihm, leise und freundlich. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr zuhörte, auch wenn sie keine direkte Reaktion bemerkte. Dann stimmte sie ein leises, fröhliches Lied an, das vom Frühling handelte, vom Schmelzen des Schnees, den Bächen, die anschwollen und den frühen Blumen, die in der Sonne erblühten.

Die Körperhaltung ihres Patienten, sein Name war Karon Rastburger, hatte sich etwas verändert. Sie war aufrechter, weniger zusammen gesunken.
"Also hört Ihr mir doch zu?", sprach sie ihn leise an.
"Wir gehen jetzt lieber wieder rein, es wird sonst zu kalt und Ihr wollt doch nicht, dass ich mich erkälte?", fragte sie ihn scherzhaft und wieder hatte sie das Gefühl, eine Regung wahrzunehmen, eine leichte Bewegung des Kopfes in ihre Richtung.
"Nun, vielleicht war das auch Zufall", überlegte die Frau.

Sie brachte ihn drinnen an einen warmen Ofen, zog ihm den warmen Mantel aus und platzierte ihn in einem gemütlichen Lehnsessel. Eine Frau trat in den Saal, in dem viele der Patienten ihre Tage verbrachten. Aldare kannte sie nicht, aber sie kam auf sie zu.
"Guten Tag", grüßte sie die Ankommende, die sie für eine Angehörige hielt.
"Guten Tag!", erwiderte die Frau den Gruß.
Sie war excellent gekleidet, vermutlich eine Bewohnerin des Villenviertels. Aldare schätzte, dass sie mehr als vierzig Götterläufe zählen mochte. Die Frau beugte sich zu Karon und küsste ihn liebevoll auf die Wange.
"Guten Tag, mein Lieber! Wie geht es Dir heute?"
Der Mann reagierte nicht, die Frau kannte das und hatte auch nichts anderes erwartet. Sie wandte sich an Aldare:
"Ich bin Caya Rastburger, wir hatten noch nicht das Vergnügen."
"Das stimmt, ich bin Aldare Sanceria. Euer Gemahl und ich waren eben etwas im Garten und ich glaube, er hat unseren kleinen Spaziergang genossen."
"Woran merkt Ihr das?"
"Nur an seiner Körperhaltung. Es ist leider mehr ein Gefühl, als das ich Euch etwas Konkretes, Hoffnungsweckendes mitteilen könnte. Tut mir leid!"
Die Frau seufzte auf.
"Es ist nicht zu erwarten, dass sich nach der langen Zeit noch etwas zum Guten verändert, oder?"
"Bitte gebt die Hoffnung nicht auf! Wir wissen nicht, was die Götter noch entscheiden werden!"
"Ich bin im Herbst von einer Pilgerreise zurückgekehrt. In der Hoffnung, dass die Heilige Theria uns gewogen sein würde, bin ich auf dem Pilgerweg von Abilacht bis Gratenfels gewandert. Er existiert ja noch nicht so lange, dieser Pilgerweg, aber es war eine sehr spirituelle Reise, die mich in meinem Glauben sehr gestärkt hat."
Die Frau zögerte einen Moment, sie überlegte, ob sie Aldare etwas erzählen sollte. Dann hatte sie sich entschieden:
"Übrigens bin ich auf meiner Reise einer Frau Sanceria begegnet. Seid Ihr vielleicht mit ihr verwandt?"
Wenn Aldare auch mit allem gerechnet hätte, nicht aber mit einer für sie so wichtigen Information.
"Sancerica?", fragte sie mit belegter Stimme.
"Ja, Desideria Sanceria. Sie arbeitet in Witzichenberg in einem Hospital als Heilerin."
"Das ist meine Schwester", flüsterte Aldare.
"Ja, eine gewisse Ähnlichkeit ist vorhanden", meinte Frau Rastburger.
"Wie geht es ihr?"
"Sehr gut, würde ich sagen. Sie ist gesund und macht einen zufriedenen Eindruck."
"Ich lasse Euch nun mit Eurem Gemahl allein. Auf Wiedersehen!"
"Auf Wiedersehen!"
Aldare brachte Karons Mantel fort, dann ging sie in den Garten, wo sie ihrer Unruhe Herr zu werden versuchte.
"Endlich - endlich eine Spur! Nach all den Jahren! Oh Herrin, wie habe ich darauf gewartet!"
Die nächsten Tage verbrachte sie in einer fiebrigen Unruhe, doch bald war ihr Entschluss gefasst. Im Frühjahr würde sie nach Witzichenberg reisen, um ihre Schwester endlich wiederzusehen. Am liebsten wäre sie sofort aufgebrochen, aber der Greifenpass war erst ab Peraine passierbar und auch andere Wege und Steige waren im Winter nicht gut gangbar. Das Leben hatte sie auseinandergerissen und sie hatte nichts über den Verbleib ihrer Geschwister gewusst. Als sie nach einer langen Reise nach Hause zurückkehrte, war ihre Mutter gestorben, beide Geschwister fort. Nur der bösartige Stiefvater war noch da und gab vor, nicht zu wissen, wohin Desideria und ihr Bruder Eolan gegangen waren. Dabei zählte Desideria damals erst fünfzehn Götterläufe und die Mutter hätte sie bestimmt nicht ziehen lassen.

Der Winter schritt voran und Aldare hatte dem Kloster mitgeteilt, dass sie im Frühjahr Gareth verlassen wollte. Jetzt konnte sie es kaum noch erwarten, abzureisen und die Schwester endlich zu sehen. Ob diese etwas über den Verbleib des Bruders wusste? Sie ging durch die Straßen Neu-Gareths, vorbei an der prächtigen Neuen Residenz und an der Stadt des Lichts. Hier musste sie immer ein Lachen unterdrücken, denn es war doch schon irgendwie kurios, dass sie, eine Tochter Satuarias, im Praios geboren war.

Als der Abschied endlich näher rückte, fiel ihr das Abschiednehmen doch schwer. Sie hatte ihre Patienten mit viel Zuwendung gepflegt und jetzt würde sie sie jemand anderem anvertrauen. Von einigen Angehörigen erhielt sie Abschiedsgeschenke, Münzen für ihre Reisekasse, denn man wusste, dass sie Gareth verlassen würde. Auch Frau Rastburger brachte ihr ein großzügig gefülltes Beutelchen und eine silberne Kette mit einem Bernsteinanhänger.
"Gehe ich Recht, dass Ihr zu Eurer Schwester reisen werdet?"
Aldare nickte und dankte ihr für ihr Geschenk.

Mitte Phex verließ sie Gareth. Sie schloss sich einem Wagenzug an, der nach Angbar fuhr. Ihr Rabe Kusmina und sie reisten getrennt, das erschien Aldare unauffälliger. Sie wusste, dass der Vogel nie weit weg von ihr sein würde. In Angbar suchte sie sich einen Zug, der den Pass überquerte und in Gratenfels endete. Dort rastete sie und zog dann auf der Reichsstraße weiter.
'Ich muss mich ihr ankündigen, nicht dass ich sie erschrecke oder in Schwierigkeiten bringe, wenn ich so unvermutet auftauche', überlegte Aldare. Sie fand für eine Nacht Unterkunft im Perainetempel von Kreuzweiher.

Sankta-Theria-Hospital, Witzichenberg, in einer Nacht Ende Phex 1047 BF

Desideria träumte, zuerst war sie in Grangor, auf einem rauschenden Fest und tanzte und trank Bosparanjer und scherzte und lachte, doch dann veränderte sich alles. Der Ballsaal zog sich zusammen und verschwand. Es war dunkel und dann ein heller Punkt, weit weg. Der Punkt kam näher oder wurde größer. In dem Punkt erschien eine winzige Gestalt und auch sie wuchs und wurde größer. Bevor Desidera das Gesicht erkennen konnte, hörte sie eine Stimme. Sie klang vertraut, aber sie hatte sie viele Jahre nicht gehört. Es war alles unwirklich, oder doch nicht? Desideria wälzte sich unruhig hin und her.
"Schwester, ich bin es! Endlich habe ich Dich gefunden, nach so langer Suche!"
Wieder wälzte sie sich unruhig umher, wovon Ramon erwachte. Er weckte sie sachte:
"Liebling, träumst Du schlecht?"
Desideria kam verwirrt zu sich. Ramon zog sie an sich und küsste sie. Sie seufzte.
"Was ist denn los?"
"Meine Schwester, sie hat mich gefunden!" Desideria wirkte abwesend und Ramon wurde klar, dass er sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt geweckt hatte.
"Schlaf jetzt weiter! Du hast geträumt!"
"Nein, sie hat mich gefunden, sagt sie."
Langsam kam Desideria zu sich.
"Ramon, sie weiß wo ich bin! Sie wird zu mir finden!"
Sie setzte sich auf und sah ihn an.
"Nach all den Jahren!"
"Warte erst einmal ab. Vielleicht hast Du nur geträumt!"
"Du weißt das nicht, Ramon! Wir können in den Träumen anderer Menschen erscheinen, aber nur, wenn wir nicht allzu weit weg sind."
"Du meinst, sie ist in der Nähe?"
"Ich denke schon. Wir werden sehen!"


~*~


Bereits früh am nächsten Morgen stand Desideria am Tor des Hospitals und blickte den Pilgerweg auf und ab, aber sie sah nur wenige Reisende und keiner schien Aldare zu sein. Sie ging in den Garten und sah Landor, ihren Raben, auf dem Ast einer Magnolie sitzen.
"Guten Morgen! Hast Du gut geschlafen?"
Der Vogel hüpfte ein Stück zur Seite und da war ein zweiter Rabe! Desideria zuckte zusammen. Der neue Rabe war fast ebenso groß wie Landor und schien keine Furcht vor ihr zu haben.
"Kusmina? Dann ist es also wahr? Sie ist da und schon ganz in der Nähe."
Aufgeregt lief sie wieder zum Tor, sah aber keine Spur ihrer Schwester. Ramon trat aus dem Haus, um nach ihr zu sehen.
"Und?"
"Ihr Rabe ist bei Landor im Garten! Sie muss ganz in der Nähe sein!"
Desideria lief ins Haus, um eines der Gästezimmer her zu richten. Ramon folgte ihr.
"Nun vielleicht solltest Du eine Nachricht an Eolan schicken! Was meinst Du?"
"Oh ja, unbedingt! Kannst Du einen kurzen Brief verfassen? Dann werde ich Landor bitten, ihn nach Trutzelbach zu bringen!"
"Ja, mein Herz, mache ich."
"Bitte schreibe ihm nur, dass er doch umgehend zu uns kommen möge, da wir eine Überraschung haben!"

Den ganzen Tag wartete Desideria und am späten Nachmittag hörte sie einen Karren auf dem Weg rumpeln. Ihr Herz machte einen Hüpfer und sie lief aus dem Haus. Auf dem Weg hatte ein Wagen gehalten und eine Frau stieg ab. Ein Bauer aus dem Dorf reichte der Frau, die wirklich Aldare war, ihr Gepäck herunter, grüßte Desideria und fuhr weiter. Beide Frauen blieben stehen und starrten sich an. Dann lief Desideria auf ihre Schwester zu:
"Aldare!"
Sie fielen einander um den Hals und nach einigen aufgeregten Worten brachte Desideria Aldare ins Haus, wo Ramon erschien, um den Gast zu begrüßen.

Nach einem Begrüßungstrunk ließ Ramon die beiden Schwestern allein, da es so viel zu berichten gab. Spät am Abend stieß beider Bruder Eolan zu ihnen und sie feierten ein fröhliches Wiedersehen, wenn auch die ein oder andere Träne floss, als sie der Mutter gedachten oder die Jahre bedauerten, die sie einander nicht gesehen hatten. Ramon holte eine Flasche guten Rotweins aus dem Keller und sie feierten bis in die frühen Morgenstunden.


~*~


Inzwischen war Aldare bereits seit zwei Wochen Gast bei Ramon und Desideria. Sie hatte Eolan in Trutzelbach besucht, wo dieser sein Auskommen als Besenbinder und Korbflechter fand, und seine Frau Jule und seine Schwiegereltern kennengelernt. Salix Gumbeltritt war der Wirt des Gasthauses 'Zum silbernen Drachen' und Trude leitete das kleine Kontor der Junkerin zu Drachenstieg. Aldare wunderte sich nicht, dass Eolan sich in einem kleinen Ort wie Trutzelbach niedergelassen hatte. Große Menschenmengen hatten ihm schon immer Unbehagen bereitet.

Aldare hatte ihre Existenz in Gareth aufgegeben, um zu ihrer Schwester zu reisen. Sogar ihren Bruder hatte sie gefunden. Jetzt wollte sie sich ein Leben in der Nähe ihrer Familie aufbauen und eine Stelle in der Nähe annehmen. Sie sprach beim Abendessen mit Desideria und Ramon darüber.
"Teure Schwägerin, bitte fühle Dich bei uns Zuhause! Du darfst uns nicht schon wieder verlassen!", beteuerte der Medicus.
"Du kannst im Hospital arbeiten! Deine Kenntnisse werden eine Bereicherung für uns sein", schlug Desideria vor.
"Danke, das Angebot nehme ich an - vorerst! Ich glaube, dass Ihr hier mehr körperliche Leiden behandelt, weniger seelische und auf Dauer möchte ich doch wieder in meinem Bereich arbeiten. Vielleicht bietet sich im Tempel von Kreuzweiher etwas für mich, aber erst einmal bleibe ich gerne bei Euch!"


~*~


Etwa eine Woche später kamen Silvana von Tannwirk und Rondrik von Eberbach von der Burg herüber geritten, um Ramon und Desideria zu besuchen. Seit Silvana bei einem Sturz vom Pferd schwere Verletzungen erlitten und im Hospital geheilt hatte werden können, waren die beiden häufiger zu Gast bei Ramon und Desideria. Silvana wusste nicht, dass Desideria eine Tochter Satuarias war und sie mittels Magie gerettet hatte. Rondrik jedoch war zufällig dazu gekommen und kannte das Geheimnis Desiderias. Rondrik und Silvana waren seit kurzem ein Paar, was sie auf der Burg diskret zu verbergen suchten. Hier im Hospital, wo auch Ramon und Desideria ohne Traviabund zusammen lebten, konnten sie offen zu ihrer Beziehung stehen. Als die beiden fast am Hospital angekommen waren, begann Rondrik spontan zu dichten:


"Ein Ort voll Trauer, Schmerz und Leid," "Hält so viel mehr für uns bereit." "Wo Liebe sonst gedeiht in Phex,"

"Haben wir hier endlich Zeit für uns!"


Anschließend schenkte er Silvana einen Blick, der nicht lüstern war, wie sein Gedicht implizierte. Er war, wie so oft, voller aufrichtig empfundener Liebe. Er lächelte und ritt ein wenig näher bei seiner Silvana. Silvana hielt ihr Pferd kurz an und küsste Rondrik leidenschaftlich.
"Meister der Worte - es zeigt sich immer wieder!"
Sie zwinkerte ihm zu.

Als die beiden Aldare später vorgestellt wurden, konnte Rondrik eine ähnlich berauschende Ausstrahlung spüren, wie er es bei Desideria erlebt hatte. Doch während Desiderias Ausstrahlung mehr auf das Herz wirkte, schien die der Schwester auf den Geist einzuströmen. Rondrik kniff erst die Augen zusammen und öffnete sie dann sehr weit. Als er sich danach noch immer etwas benebelt fühlte, rieb er sie sich und schüttelte den Kopf. Dann war er wieder ganz Herr seiner selbst.
"Es freut mich Euch kennenzulernen! Rondrik von Eberbach, Scriptor am Witzichenberger Hof, zu Euren Diensten", sprach er lächelnd und deutete eine Verbeugung an.
"Silvana Raxa ya Cordaya von Tannwirk, Stallmeisterin auf Burg Tannwirk!"
Auch die Ritterin machte eine kleine Verbeugung.
"Aldare Sanceria, es ist mir eine Ehre, hohe Herrschaften", stellte sie sich vor und sank in einen graziösen Knicks.
Desideria bat zu Tisch, sie hatte Tee und Gebäck angerichtet. Silvana fragte Aldare, woher sie komme und was sie so gemacht habe, woraufhin Aldare von ihrer Ausbildung beim Orden der heiligen Noiona und ihrer Tätigkeit im Kloster der stillen Einkehr in Gareth erzählte. Aldare konnte erkennen, dass Rondrik, während sie von ihrer Ausbildung sprach, die Stirn kraus zog und das ein oder andere Mal Anstalten gemacht hatte, etwas zu sagen. Letztlich war aber alles, was er dazu sagte.
"Bei den Noioniten, ja? Interessant..."
"Warum, Hoher Herr?"
Aldare hatte Rondriks Mimik beobachtet und fragte sich, was ihn wohl bewegte, dass er anhub zu sprechen, dann aber doch schwieg.
"Ob er mir nicht glaubt, dass ich bei den Noioniten gelernt und gearbeitet habe? Immerhin habe ich das Empfehlungsschreiben, das wird mich auch in Kreuzweiher legitimieren", überlegte die Frau.
"Ich äh... bin eigentlich... hm..."
Er blieb fragmentarisch und atmete laut aus.
"Würdet Ihr sagen, es gibt Patienten, deren Geist heillos zerrüttet ist?"
Alle am Tisch blickten ihn erstaunt an.
"Was oder eher wen meinst Du damit?", fragte Silvana irritiert. "Ich habe mich nach meiner Kopfverletzung doch vollständig erholt, alle Gedächtnislücken sind wieder gefüllt oder hast Du diesbezüglich Zweifel?"
Rondrik blickte nun ebenso erstaunt zu Silvana.
"Was? Warum... achso, herrje."
Er hob abwehrend die Hände.
"Ich meinte... uuhhh, meine Frau Mutter wird mich lynchen... Es gibt noch einen Eberbacher, den nur die allerwenigsten kennen. Ellian, mein Onkel. Der Bruder meines Herrn Vaters. Ihre Hochgeboren von Tannwirk kennt ihn."
Erleichtert blickte Silvana auf Rondrik und nahm seine Hand. Der Rest blickte weiter auf Rondrik, gespannt, was es mit dem Onkel auf sich habe. Aldare räusperte sich, bevor sie zu sprechen begann:
"Ich habe viele verschiedene Fälle gesehen und gepflegt. Ja, es gibt 'den heillos zerrüteten Geist' und es gibt viele Schattierungen. Ich habe hoffnungslose Fälle gesehen, die sich wundersamer Weise erholten, aber auch leichte Fälle, die nicht wieder genasen. Man kann keine pauschalen Aussagen treffen. Und egal, ob ein Fall hoffnungslos ist oder nicht, man kann mit einem jeden Patienten arbeiten und versuchen, sein Leid zu lindern. Und man darf die Kraft der Gebete nicht unterschätzen. Es lohnt sich immer zu beten! Die Götter sind unergründlich und oft können wir nicht verstehen, warum sie dem einen helfen und dem anderen nicht, aber wir können immer hoffen, dass unsere Gebete erhört werden! Gehe ich Recht in der Annahme, dass Ihr für Euren Oheim fragt?"
Noch immer zögerte Rondrik, ob er etwas sagen sollte und wenn ja, wie viel er berichten konnte. Kurzerhand zuckte er aber mit den Achseln.
"Ja, es geht um meinen Oheim..."
Rondrik begann die Geschichte Ellians zu erzählen. In allen Einzelheiten, beginnend im Regiment und endend mit den Schreien in der Nacht.
"Tja, so viel zu Ellian. Ein, wie Eure Kollegen sagten, unrettbarer Geist."
"Das tut mir leid, zu hören! Wer kümmert sich denn im Moment um Euren Oheim? Er lebt ja nicht mehr in einem Kloster, sondern in Bösalbentrutz, wenn ich es richtig verstanden habe."
"Das ist richtig. Naja, nachdem die Noioniten ihn aufgegeben haben, kommt Drego, ich meine, Herr Grabschaufler, der tommelsbeuger Hofmedicus, alle paar Wochen, um nach ihm zu sehen. Ansonsten... die hartgesottensten Bediensteten unseres ehemaligen Familiensitzes sind stets an seiner Seite."
"Das tut mir sehr leid, zu hören. Auch wenn es keine Hoffnung auf Heilung geben mag, so könnte man doch etwas für ihn tun. Ich habe in Gareth einen Patienten versorgt, dessen Symptome ähnlich gelagert sind, wie die Eures Oheims. Ich habe bis zu meiner Abreise zwar keine Heilung erzielen können, aber ich habe winzige Signale an Reaktionen bekommen. Ihr müsst wissen, dass der Mann aufgehört hat zu sprechen. Wenn ich mit ihm in der Sonne spazieren gegangen bin oder für ihn gesungen habe, hat er seine Körperhaltung verändert. Eine Reaktion ohne Worte. Ich bilde mir ein, dass er sich wohl gefühlt hat. Und ich hoffe, dass meine Stimme, die Schreie in seinen Gedanken übertönt hat."
"Wenn ich in dieser Verfassung wäre", gab Desideria zu bedenken, "dann würde ich mir wünschen, dass man alles tut, dass ich mich wohl fühle und vielleicht an den Sachen teilhabe, die früher immer gerne gehabt habe - sofern das möglich ist."
"Wieviel nimmt Euer Oheim wahr? Ist er ansprechbar und kann er sprechen?", erkundigte sich Aldare.
Rondrik gab einen langgezogenen Brummton von sich, offenbar überlegte er diesmal ausgiebig, bevor er eine Regung zeigte oder gar sprach.
"Als er zurückkam, dachten wir, er sei wieder vollständig genesen. Er aß, sprach und war den Umständen entsprechend gut aufgelegt. Man sah an ihm die schier unglaublichen Fähigkeiten der Noioniten. Doch... ich erinnere mich, als wäre es gestern, obwohl es sicherlich gut ein halbes Dutzend Jahre her sein mag."
Rondrik rutschte ein wenig auf dem Stuhl hin und her.
"Ellian und ich gingen über den Burghof in Bösalbentrutz und unterhielten uns. Plötzlich flatterte ein Rabe über uns hinweg und gab das für sie charakteristische Krächzen von sich. Und dann zeigte sich, dass Ellian bei weitem nicht wieder in Ordnung war. Er schrie, schlug um sich. Ich wollte ihn beruhigen, fasste ihm an die Schultern. Da schrie er noch lauter und trat nach mir. Dabei hatte er einen Blick in den Augen - Terror, Verzweiflung, Panik. Alles wegen eines einzigen Krächzen."
Rondrik sah nach unten und schüttelte den Kopf.
"Später war es eine knarrende Holzdiele, das scheue Wiehern eines Pferdes, das Klirren von Klingen bei den Übungen der Garde. Die... Auslöser, so nennt sie zumindest der Herr Grabschaufler, waren mannigfaltig. Deshalb haben wir ihn wieder isoliert. Damit diese... diese Auslöser so wenig wie möglich auftreten."
"Wie schrecklich!", murmelte Silvana und auch die anderen schauten betroffen.
"Ja, sicherlich keine schlechte Idee, denn das hat ihm vermutlich viel Aufregung erspart. Was sagt Herr Grabschaufler dazu? Hat er ihm irgendwelche Mittel verordnet, um ihn ruhiger werden zu lassen? Kann der Mann schlafen? Wollten ihn die Brüder und Schwestern der Noiona nicht wieder aufnehmen? Es gab doch Fortschritte, die Hoffnung auf weitere Genesung machten."
"Soweit ich weiß, gab es keine weitere Kontaktaufnahme mit dem Kloster. Drego besucht ihn regelmäßig, seitdem er in Diensten Seiner Hochgeboren Geribold von Fischwachttal steht. Er ist durchaus versiert in der Seelenheilkunde. Ellian ist heute wieder wesentlich stabiler. Doch glaubt Drego noch nicht daran, dass er das Anwesen verlassen könne."
Rondrik kratzte sich am Kopf.
"Medizin nimmt er keine, soweit ich weiß. Schlafen kann er. Außer an den schweren Tagen. Da schläft niemand auf dem Gutshof meiner Familie."
"Dann wünsche ich Eurem Oheim von ganzem Herzen eine rasche Genesung! Ich glaube, dass Eure Familie hoffen kann, dass er eines Tages wieder ganz zu Euch zurückkehrt!", äußerte sich Aldare.
"Danke. So Ihr weiteres Interesse habt, könnte ich Euch sicherlich mit Drego in Verbindung bringen. Er könnte Euch bestimmt mehr erzählen."
"Die Frage ist, welches Interesse Eure Familie an einer Unterstützung hat. Ich möchte mich nicht ungefragt aufdrängen und vielleicht ist meine Einmischung gar nicht erwünscht. Und falls mein Rat gewünscht wäre, müsste ich Euren Oheim persönlich treffen. Und den Medicus natürlich auch."
"Daraus entnehme ich, dass Ihr Eure Fähigkeiten für meinen Onkel in die Waagschale werfen würdet? Ich darf in dieser Sache für meine gesamte Familie sprechen. Ihr wärt herzlich willkommen, ob mit Rat oder Tat. So es Eure Geschäfte dahingehend also eines zukünftigen Tages zulassen, lasst es mich doch bitte wissen."
"Hoher Herr, wünscht Ihr, dass ich Eurem Onkel einen Besuch abstatte? Ich kenne mich hier noch nicht sonderlich gut aus. Wie viele Tagesreisen entfernt lebt Eure Familie denn? Ferner dürfte es Euch interessieren, dass ich ein Empfehlungsschreiben des Klosters der stillen Einkehr in Gareth vorlegen kann, wo ich mehrere Jahre tätig war."
Desideria zuckte zusammen:
"Du willst doch nicht schon wieder abreisen! Du bist doch gerade erst angekommen und dann ist da doch auch noch..."
Sie führte den Satz nicht zu Ende. Wieder hob Rondrik die Hände.
"Wie ich sagte, Ihr wäret herzlich willkommen, aber es liegt mir fern, Euch hier abzuwerben."
Er blickte entschuldigend zu Desideria.
"Ihr könntet mich aber, so es keine Umstände bereitet, bei meinem nächsten Besuch bei meinen Eltern einfach begleiten? Was meint Ihr?"
"Oh! Nein, nein, so war das gar nicht gemeint! Aldare ist gar nicht bei uns in Lohn und Brot. Im Gegenteil, eigentlich sucht sie eine neue Aufgabe, aber wir haben Neuigkeiten, mit denen wir Euch heute überraschen wollen!" beeilte sich Desideria anzumerken.
"Herr von Eberbach, wann würdet Ihr denn wieder nach Hause reisen? Und die für mich entscheidende Frage habt Ihr mir noch nicht beantwortet: Wie viele Tagesreisen sind es zu Fuß von hier bis zu dem Ort, wo Euer Oheim untergebracht ist?"
Sie überlegte einen Moment und fügte dann noch hinzu:
"Vielleicht besprecht Ihr das Thema vorab mit Euren werten Eltern brieflich? Unter Umständen erspart mir das vielleicht eine vergebliche Reise."
Für einen kurzen Moment entglitten dem Eberbacher die Gesichtszüge.
"Wieder jemand, der dich nicht für voll nimmt"
, schoss es ihm durch den Kopf.
Schnell aber rang er sich ein Lächeln ab.
"Das wird nicht nötig sein. Und was die Reisedauer beträgt, sind es rund zwei Tage bei gemütlicher Reise."
Aldare war die Reaktion nicht entgangen.
"Dann bietet Ihr mir eine Anstellung an? Wartet bitte einen Augenblick, ich hole das Schreiben des Klosters, damit Ihr Euch von meiner Qualifikation überzeugen könnt. Eine Stellung kann ich kurzfristig beginnen, es gibt jedoch eine familiäre Verpflichtung, die mir sehr am Herzen liegt und der ich unbedingt nachkommen möchte, dazu bitte ich reisen zu dürfen. Wie ist die Entlohnung und wie werde ich untergebracht sein? Ich gehe davon aus, dass eine der Mägde sich um meine Wäsche kümmern wird?"
"Wir würden Euch entweder im ehemaligen Familiensitz oder aber auf Burg Bösalbentrutz unterbringen. Darin währt Ihr frei zu wählen. Natürlich müsstet Ihr auch Eure Wäsche nicht selbst machen, kochen ebenfalls nicht."
Dann strich er sich über die Wangen.
"Bevor wir über das Finanzielle sprechen, wie viel Zeit bedarf es in der Regel - und ja, ich weiß, dass nicht alle Patienten gleich sind -, um erste Erfolge zu sehen?"
Rondrik war nun ganz Nachfolger des Hauses Eberbach. Kein ironischer Unterton mehr, kein Schalk mehr in den Augen - nur noch geborene Ernsthaftigkeit. Früher fand er sich dabei selbst immer lachhaft. Heutzutage war das anders, heutzutage übernahm er ernsthaft Verantwortung.
"Nun, ich würde da wohnen, wo sich mein Patient aufhält. So sehr ich es auch bedaure, eine Prognose kann ich nicht geben. Ich kenne Euren Oheim nicht und eine Medica bin ja auch nicht. Obwohl ich bezweifle, dass selbst ein Medicus eine Prognose abgeben könnte. Es mag auch sein, dass sich zu Anfang schnelle Fortschritte zeigen, die dann aber durch einen Rückfall zunichte gemacht werden. Ich würde Euch gerne versprechen, dass meine Pflege Erfolg haben wird, aber das kann ich nicht. Was ich Euch versprechen kann ist, dass ich alles daran setzen werde, dass es Eurem Onkel besser geht. Solltet Ihr mit meiner Arbeit nicht zufrieden oder eine andere Form der Unterstützung wünschen, können wir den Kontrakt jederzeit wieder lösen."
"Hm", gab Rondrik zurück, "einen Kontrakt zu schließen, während die Beendigung desselben bereits Teil ist, empfinde ich als wenig befriedigend. Was haltet Ihr daher von folgendem Vorschlag? Wir treffen für die nächsten sechs Monde eine Vereinbarung, und wenn an deren Ende alle Parteien zufrieden sind - Ihr, wir uns Ellian - schließen wir einen längerfristigen Kontrakt."
"Gerne komme ich zunächst auf sechs Monate, aber auch bei einem langfristigen Kontrakt wünsche ich mir die Möglichkeit, ihn gegebenenfalls beenden zu dürfen!", Aldare zwinkerte Rondrik zu.
Rondrik grinste. Der Schalk blitzte wieder in seinen Augen.
"Ihr sorgt bereits bei Antritt einer neuen Stelle für die Auflösung des Kontraktes vor. Muss ich mir Sorgen machen?", fragte er mit leichtem Grinsen.
"Nein!", sie lächelte zurück.
"Ich weiß natürlich nicht, ob Ihr Euch um etwas Sorgen machen müsst, aber nur weil ich die Bedingungen für eine Auflösung bei Beginn festlegen möchte, heißt das doch noch lange nicht, dass ich es tun werde. Da interpretiert Ihr zuviel hinein. Neigt Ihr zu Grübeleien? Halten Euch diese Grübeleien nachts vom Schlafen ab oder hindern sie Euch bei Tage, Euren Pflichten nachzukommen?"
Sie veränderte ihre Stimme in die eines alten Gelehrten und sprach weiter:
"Mh, möchte wissen, was in Eurem Kopf vorgeht!", dabei stellte sie sich direkt vor ihn und tat so, als würde sie mit einer imaginären Lupe durch seine Augen in seinen Kopf schauen.
"Ohje ohje, das habe ich mir gedacht. Ganz schlimm, schlimm! Ein ganz klarer Fall von Cogitare totalum!"
Dann knickste sie vor ihm.
"Vergebt mir meine Respektlosigkeit, Herr von Eberbach! Ich fürchte, wir Sancerias sind einfach nicht hoftauglich, weshalb ich mich auch nicht um eine Anstellung als Hofdame bewerbe! Was Eure Bedenken betrifft, so kann ich Euch dahingehend beruhigen, dass ich einfach zu Beginn alles geklärt zu haben wünsche."
Rondrik war in die Albernheiten eingestiegen und hatte das Auge, in das Aldare zu blicken vorgab, weit geöffnet, das andere fest geschlossen.
"Krank im Geiste, wusst' ich's doch! Wer sonst käme auf Ideen, wie ich es seit Kindesbeinen an tue."
Dann lachte er und schüttelte den Kopf.
"Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht, wie sie mich am Hof aushalten. Das sollte also passen. Dementsprechend sehe ich nun keinen Grund, Euch nicht anzustellen. Sechs Monate, göttergefällige zwölf Goldtaler pro Monat, in totum also zweiundsiebzig."
Er streckte die Hand aus.
"Nachverhandlungen nach Ablauf der Frist."
"Stellt mir noch ein Pferd zur Verfügung, wenn ich reisen muss, dann kommen wir zu den von Euch genannten Bedingungen überein!"
"Abgemacht. Ich freue mich, Euch zukünftig in unserem Familiensitz begrüßen zu dürfen. Ich werde noch heute Abend meinen werten Eltern Eure Anstellung mitteilen. Es wird sie freuen, Ellian in fähigen Händen zu wissen."
"Danke! Ich hoffe, dass meine Fähigkeiten und Talente den Leiden Eures werten Oheims Linderung verschaffen werden! Wann werden wir reisen? Ich würde Euren Oheim und Eure Familie gerne noch vor meiner Verabredung kennenlernen und, wenn möglich, mit Herrn Grabschaufler sprechen."
"Ich werde ihm schreiben und um ein zeitnahes Treffen bitten."

Während Aldare und Rondrik noch plauderten, erkundigte sich Ramon bei Silvana:
"Wie geht es Euch? Habt Ihr noch manchmal Kopfschmerzen oder wird Euch schwindelig?"
"Unter Schwindel oder Kopfschmerzen leide ich, den Göttern sei Dank, nicht mehr. Allerdings gibt es eine Sache, die mir Sorgen bereitet. Was ist, wenn ich noch einmal schwer auf den Kopf stürze? Bei dem Turnier in Herzogenfurt bin ich mehrfach gestürzt und jetzt frage ich mich, ob ich es riskieren kann, wieder an einer Tjoste teilzunehmen oder ob ich damit zu viel riskiere?", sie blickte den Medicus mit großen Augen sorgenvoll an.
Rondrik, der offenbar während des Gesprächs mit Aldare trotzdem mit einem Ohr zugehört hatte, hatte darüber offenbar noch nicht nachgedacht und schaute nun mit großen Augen zwischen Silvana und Ramon hin und her.
"Da besteht doch sicher keine Gefahr, oder?", fragte er.
Ramon blickte nachdenklich auf Silvana.
"Nun, so einfach kann man das nicht ausschließen. Ihr wart wirklich sehr schwer verletzt und der Hof-Magus hat seine gesamten astralen Kräfte fließen lassen, um Euch zu retten. Ihr seid jung und gesund, weshalb Eure Rekonvaleszenz gut verlaufen ist. Dennoch muss ich Euch mitteilen, dass sie vermutlich noch nicht abgeschlossen ist. Ihr solltet vorerst keine schweren Stürze mehr riskieren. Beim normalen Umgang mit den Pferden sehe ich da weniger Gefahren, da Ihr eine vortreffliche Reiterin seid, aber Lanzengänge sind darauf ausgelegt, dass man vom Pferd gestoßen wird. Ich rate Euch, für noch mindestens einen Götterlauf auf die Turnierreiterei zu verzichten. Aus medizinischer Sicht kann ich diese Disziplin sowieso nicht gut heißen!"
Silvana senkte niedergeschlagen den Kopf. Ein Seufzer der Enttäuschung entfuhr ihr. Rondrik griff nach der Hand Silvanas. Er wusste, dass dieses Jahr große Turniere anstanden. Er strich mit seinem Daumen über den Handrücken der Tannwirkerin.
"Wir finden sicher einen Weg, sodass das Jahr trotzdem Schönes für uns bereithält."
"Das tut es doch schon - Dich! Nur ist diese Nachricht doch ein Schlag!"
Jetzt drückte Rondrik die Hand Silvanas fest.
"Lass uns stattdessen verreisen!", brach es aus ihm heraus.
Silvana lächelte ihn freudig an.
"Ja, vielleicht ist das die Gelegenheit, auf die ich gewartet habe und ein Zeichen der Götter, die Reisepläne nun wirklich anzugehen!"
"Ich werde sofort bei Ihrer Hochgeboren vorstellig, wenn wir zurückkehren."
Rondrik wirkte gebremst euphorisch. Immerhin waren sie hier in einem Hospital.
"Dann sollten wir beide mit ihr sprechen, meinst Du nicht?"
Silvana lächelte ihn strahlend an.
"Abgemacht", nickte Rondrik und Silvana wandte sich daraufhin an Desideria:
"Was ist das denn für eine Überraschung, die Ihr für uns habt?"
Desideria, die vor lauter Unruhe kaum auf ihrem Stuhl still sitzen konnte, strahlte wie reiner Sonnenschein.
"Ramon und ich haben beschlossen, dass wir unsere Liebe mit dem heiligen Ehebund der Travia besiegeln wollen - im Ingerimm!"
Silvana fiel erst der Freundin um den Hals und dann auch dem Medicus.
"Was für eine schöne Überraschung! Alles Gute!"
"Ha!", rief Rondrik zeitgleich aus und klatschte in die Hände.
Er erhob sich langsam von seinem Stuhl und grinste ob Silvanas Stürmigkeit. Eine der Dinge, die er an ihr liebte. Zuerst trat er vor die Dame und nahm sie in den Arm.
"Meinen allerherzlichsten Glückwunsch!"
Anschließend wandte er sich an Ramon, den er ebenso in den Arm nahm.
"Auch Euch gebühren natürlich die besten Glückwünsche. Hach, es ist immer wieder bewegend, wenn zwei Menschen in ewiger Treue in der Liebe aufgehen."
Desideria drückte Rondrik an sich und dankte ihm für seine guten Wünsche. Ramon erwiderte die Umarmung herzlich.
"Ich danke Euch und bin froh, dass wir Euch als unsere Freunde an unserem Glück teilhaben lassen können. Ihr kommt doch hoffentlich zu unserer Feier?"
Rondrik blickte Silvana an.
"Die Feierlichkeit wäre doch ein guter Startschuss für unsere Reise! Der Sommer läge vor uns und bis dahin haben wir noch ausreichend Zeit alles vorzubereiten. Was meinst du?"
"Um nichts in der Welt würde ich vor der Zeremonie abreisen wollen!"
"Wunderbar!", erwiderte Desideria glücklich.
Ramon läutete und eine der Mägde brachte eine Flasche Bosparanjer und fünf gläserne Kelche auf einem Tablett. Ihre kostbare Ladung servierte sie außerordentlich vorsichtig. Ramon nahm ihr das Tablet schnell ab, dann öffnete er die Flasche und goss ein, während Desideria die Gläser verteilte. Silvana wollte jetzt von ihrer Freundin wissen, wie Ramon ihr seinen Antrag vorgetragen hatte oder ob sie ihm selbigen gemacht hatte.
"Also, das war so: Am letzten Praiostag lud mich mein Ramon zu einem Ausflug ein. Das Ziel verriet er mir nicht; er wolle mich überraschen, sagte er mir nur. Wir nahmen die Droschke und schlugen den Weg nach Tannbühl ein. Wir begrüßten zunächst die Geweihten und ihre Kinder und stellten den Wagen ab. Die Kinder kümmerten sich um die Pferde, während wir in dem romantischen Garten spazieren gingen. Am hintersten Ende des Gartens gibt es eine kleine Rosenlaube, natürlich blühen zu dieser Jahreszeit noch keine Rosen, aber es ist zu jeder Jahreszeit romantisch dort, mit einer kleinen Bank, auf der wir Platz nahmen. Dort trug Ramon mir seinen Antrag vor."
Desideria strahlte vor Glück noch mehr als gewöhnlich und dieses Strahlen wirkte sich auf alle Anwesenden aus, sogar Silvanas Stimmung hob sich wieder deutlich.
"Dann gingen wir zurück zum Tempel, wo Vater Trajan ein vortreffliches Mahl gekocht hatte. Ramon hatte sich zuvor mit den Geweihten verschworen und sie eingeweiht. Jetzt wollen wir unseren Traviabund im Ingerimm schließen und hoffen, dass unsere Familie und Freunde ihn bezeugen und mit uns feiern!"
Rondrik grinste Ramon an.
"Man könnte fast meinen, Ihr hättet meine Romane gelesen. Ich dachte, nur ich sei so hoffnungslos romantisch."
Rondrik musste lachen.
"Ich bin Horasier, die Romantik liegt uns im Blut!", erwiderte Ramon grinsend.
"Wenn Ihr Unterstützung bei der Planung irgendwelcher romantischen Unternehmungen benötigt, wendet Euch vertrauensvoll an mich!", zog er den Eberbacher auf.
"So bleibst du träumend wohl allein,
Wie sollte es auch anders sein,
Wenn anlegst dich mit Rahjaehr!
Die Liebe gern ich dir erklär'!", schoss Rondrik augenzwinkernd zurück und machte eine einladende Geste.
"Sie Liebe brauchst Du mir nicht erklär'n,"
sie ist des Liebfelders Kern!
Ein Meister der Worte, so wie Ihr es seid, bin ich natürlich nicht und käme auch gar nicht auf die Idee, mich in diesem Metier mit Euch zu messen! Eine Bitte habe ich jedoch noch an Euch: Würdet Ihr mir als mein Trauzeuge das Geleit während des Traviabundes geben?"
Rondrik hatte sich schon auf eine weitere, geistreiche Antwort vorbereitet, wurde dann aber von der Frage Ramones kalt erwischt.
"Ob ich..., ja! Natürlich werde ich Euer Trauzeuge sein und Euch Geleit geben! Ihr ehrt mich."
Rondrik neigte leicht sein Haupt, seine Augen glitzerten feucht.
"Wenn ich sonst noch etwas zu Eurer Hochzeit beitragen kann, lasst es mich nur wissen. Ich könnte ein Gedicht zu Euren Ehren verfassen, so Ihr dies wünscht. Aber ich möchte mich nicht aufdrängen!"
"Ihr drängt Euch nicht auf! Wir würden uns geehrt fühlen, wenn Ihr unser Fest mit einem Beitrag bereichert!"
Das Brautpaar strahlte Rondrik freudig an.
"Wunderbar, dann brauche ich ein paar Informationen..."
Auch Rondrik strahlte.


~*~


Die Abreise wurde für zwei Tage später festgelegt. Rondrik erschien zu früher Morgenstunde im Hospital, wo Aldare gerade die Satteltaschen am Sattel befestigte.
"Guten Morgen, Herr von Eberbach! Ich bin gleich soweit! Möchtet Ihr noch etwas zu Euch nehmen?"
"Morgen...", brummte Rondrik und rieb sich die Augen.
"Nein, danke. Bin bedient", wehrte er ebenso brummig ab.
Desideria und Ramon traten zu ihnen auf den Hof.
"Soll ich Dich nicht doch begleiten?", fragte Desideria zum wiederholten Male.
"Danke, Liebes! Später! Im Moment hast Du hier genug zu tun! Ich werde Dir schreiben und in ein paar Tagen sind wir ja wieder zurück!"
Aldare umarmte Desideria und Ramon und stieg auf ihr Pferd. Kusmina saß auf einem Dach, bereit, ihrer Gefährtin zu folgen. Winkend ritten Rondrik und Aldare vom Hof, Richtung Reichsstraße, wo sie die Tommel an der Aurother Fähre überqueren und weiter Richtung Gräflich Bösalbentrutz reisen würden. Beide waren mit ausreichend Proviant versehen, der sogar für vier Leute gereicht hätte.

Am Himmel waren dunkle Wolken zu sehen und es würde sicherlich noch regnen. Hin und wieder konnte Rondrik einen Raben sehen, von dem er annahm, dass es sich um Aldares Tier handelte. Sie schlugen ein schnelles Tempo an, um so viel Weg wie möglich hinter sich zu bringen, bevor das Wetter ungemütlich wurde, aber auch, weil sie ihr Ziel baldigst erreichen wollten. Gegen Mittag ging ein Wolkenbruch nieder, vor dem sie unter einer Baumgruppe Schutz suchten. Kusmina suchte Aldares Nähe, was diese zum Anlass nahm, Rondrik den Vogel vorzustellen.
"Herr von Eberbach, das ist meine Kusmina."
Und weil sie sich sorgte, dass er etwas gegen die Anwesenheit des Vogels in Bösalbentrutz haben könnte, fügte sie hinzu:
"Sie wird Euren Oheim nicht behelligen, das verspreche ich Euch!"
"Nun, vielleicht ist er ja auch eine gute Form der Therapie. Ich vertraue darauf, dass Ihr schon wisst, wie das rechte Maß in diesem Falle ist."
Rondrik musterte den Raben.
"Wie kommt man denn zu einem solchen Tier als Gefährten?"
"Sie ist sehr einfühlsam, wir werden sehen, ob wir sie mit dem Patienten zusammenbringen können, zu einem späteren Zeitpunkt. Ich habe sie gefunden, als sie noch sehr jung war. Sie war verletzt und so sind wir zusammen gekommen."
"Ihr habt das Herz am rechten Fleck, wenn ich das sagen darf. Schön dich kennenzulernen, Kusmina."
Während um Aldares Mundwinkel ein spöttisches Lächeln zuckte, gab Kusmina ein zärtliches "Krah" von sich.
"Sehr nett", grinste Rondrik und hielt die Hand aus dem Unterschlupf.
"Ich denke, es kann weitergehen."


~*~


Sie setzten ihren Weg fort, als das Unwetter nachließ. Aber selbst ihre wetterfeste Kleidung war irgendwann durchnässt und Aldare begann zu frieren. Als die Motte Feldertrutz endlich in Sicht kam, bot es sich an, dort nach Quartier zu fragen.
"Efferd meint es heute etwas zu gut mit uns, wenn Ihr mich fragt", rief Rondrik gehen den strömenden Regen an.
"Ich glaube, sie kennen mich hier, sollte kein Problem sein, hier Quartier zu finden."
"Ich bin total durchnässt und mir ist kalt, ich würde wirklich gerne ins Trockene kommen und ein heißes Bad nehmen."'"

Eine Gardistin ließ die beiden Reisenden ein und führte sie zu dem Kommandanten der Motte, Gwyndol ya Cordaya von Tannwirk. Rondrik war dem Onkel Silvanas bisher noch nicht begegnet. Er war Leuenant der Flussgarde gewesen und erst im Hesinde-Mond auf Bitte der Baronin nach Witzichenberg zurückgekehrt, um das Kommando über die Motte zu übernehmen.
"Willkommen auf Feldertrutz!", begrüßte Gwnydol seine Gäste, die tropfend vor ihm standen.
"Ein furchtbares Wetter, um unterwegs zu sein!"
Er mochte Mitte dreißig sein und war nicht unattraktiv. Sein Blick lag interessiert auf Aldare.
"Frau Bronnentor, bitte sorgt für das Wohl unserer Gäste!"
Eine griesgrämig blickende Angroschna trat ein und führte sie zu zwei Kammern, in denen frisch Feuer entfacht worden war. Aldares Bitte um ein heißes Bad quittierte sie mit einem Brummlaut, den Aldare nicht recht zu deuten wußte, aber bald darauf brachten zwei Gardisten einen einigermaßen geeigneten Zuber in ihre Kemenate und heißes Wasser und ein großes Laken folgten. Rondrik hingegen bat um Schreibutensilien. Nachdem er sie erhalten hatte, schrieb er seiner Frau Mutter und Herrn Grabschaufler einen Brief. Darin setzte er die betreffenden Personen ins Bild und bat Herrn Grabschaufler um eine zeitnahe Konsultation.

Später nahmen sie mit Gwyndol gemeinsam das Abendmahl ein, wobei der Gastgeber kaum seine Augen von seinem weiblichen Gast lassen konnte. Als dieser kurz mit einem der Bediensteten beschäftigt war, stieß er Aldare mit dem Ellbogen in die Rippen.
"Da hat aber jemand ein Auge auf Euch geworfen. Vielleicht auch zwei... schlechter Stil, wenn man mich fragt, wenig subtil."
Rondrik grinste dabei so breit, dass Aldare nicht umhin kam zu bemerken, wie sehr ihn das amüsierte. Rondrik hatte für einen kurzen Moment den Eindruck, in Aldares Augen einen triumphierenden Blick zu sehen. Sie äußerte sich aber nicht weiter zu Rondriks Bemerkung und unterhielt beide Männer mit amüsanten Szenen aus Gareth. Als es Zeit wurde, zu Bett zu gehen, küsste Gwyndol Aldares Hand und Rondrik vermeinte, dass sie etwas sagte, was er aber nicht verstehen konnte. Der Kommandant wünschte auch Rondrik eine gute Nacht und geleitete seine Gäste zu ihren Kammern und zog sich im Anschluß zurück. Rondrik lag noch einen Moment auf seinem Bett auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Er war zufrieden mit sich. Er hatte sich wirklich geändert. Er übernahm Verantwortung. Vermutlich würde seine Mutter trotzdem unzufrieden sein, irgendwas würde ihr schon sauer aufstoßen. Aber das war ihm für diesen Moment egal. Aldare war engagiert, wollte helfen und würde Ellian sicherlich nicht voreilig abschreiben.
"Wenn Phex es gut mit mir meint, sind Desideria und Aldare beide vom selben Schlage", dachte er.
"Immerhin hat sie einen Raben."
Er grinste über diesen Gedanken und darüber, wie unglaublich egal es ihm war, was oder wer Aldare war.
"Wenn jemand, so wie sie, das Herz am rechten Fleck trägt, so sind Herkunft und... Begabung doch völlig einerlei", sinnierte er.
"Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm", war einer der letzten Gedanken, bevor er in Borons Umarmung glitt.
Und so hörte er nicht mehr, wie die Zimmertür nebenan behutsam geöffnet und wieder geschlossen wurde.


~*~


Am nächsten Morgen setzten sie ihre Reise fort. Efferd war ihnen weiter gewogen, denn er segnete sie ausgiebig. Am Nachmittag erreichten sie, wieder durchnässt, das Gutshaus Eberbach. Es lag versteckt in den Wäldern und war nicht einfach zu finden. Die Lage sagte Aldare zu, war sie doch selbst in Wäldern aufgewachsen und wenn es etwas gab, was sie in Gareth manchmal vermisst hatte, dann waren es Wälder. Schon auf den ersten Blick war zu erkennen, dass das Gutshaus bereits bessere Tage gesehen hatte. Einige Angeln an den Fensterläden quietschen oder hingen gar schief herab. Auf dem Dach zeichnete sich Moos ab und der Efeu an den Außenwänden war zu wild gewuchert, als dass man es für malerisches Ambiente halten konnte. Man hatte die beiden Reiter offenbar herannahen sehen, denn eine Magd fortgeschrittenen Alters mit eng gebundenem Dutt, in dem das Grau bereits mit dem Schwarz der Jugend rangen, eilte aus der Tür und wischte sich eilig die Hände an der Schürze ab.
"Junger Herr von Eberbach! Es ist schön, Euch willkommen zu heißen, wenn wir doch nur...", sie winkte rasch ab.
"Und Ihr bringt Gäste, wie schön! Wir werden gleich zwei Gemächer bereit machen. Euer Oheim schläft gerade."
Sie verneigte sich tief.
"Danke, Alma", nickte Rondrik.
"Unser Gast hier, wird ein wenig bleiben."
Aldare runzelte die Stirn, als sie die Läden erblickte. Auf Rondriks Bemerkung hin fragte sie:
"Ihr werdet doch auch noch bleiben oder hat Ihre Hochgeboren Euch umgehend zurückbeordert?"
Dann blickte sie sich suchend um und entdeckte Kusmina in einem Baum etwas seitlich der Stallungen.
"Ich werde ein paar Tage hier bleiben. Bis Ihr mit allem vertraut seid - und bis Drego hier war. Ich schrieb ihm von der Motte aus, meiner Frau Mutter ebenso. Sie wird vermutlich ebenfalls bald einmal vorbeischauen. Kommt, gehen wir erst einmal herein."
"Gut, eigentlich dachte ich, dass wir gemeinsam zurück nach Witzichenberg reiten, aber natürlich möchte ich die Gespräche abwarten. Eine Bitte noch: Bitte lasst die Fensterläden richten. Das Haus wirkt mit den schiefen Läden so deprimierend. Die Lage mitten im Wald finde ich sehr charmant. Auch Kusmina wird sich hier sehr wohlfühlen!"
"Deprimierend?", fragte Rondrik und legte den Kopf schief.
"Hmm... habe mich vermutlich dran gewöhnt. Aber in Ordnung. Ich gebe es weiter."
Beim Hineingehen sprach er weiter.
"Natürlich werden wir gemeinsam zurückreisen, ich hätte mich präziser ausdrücken sollen. Wir werden verweilen, bis Ihr mit allem vertraut seid."
Sie lächelte ihn an, ohne Spott oder Ironie:
"Ihr habt auch ein gutes Herz, Herr von Eberbach!"
Rondrik schaute überrascht.
"Oh, vielen Dank."
Dabei griff er sich ans Herz und Aldare schenkte ihm erneut ein herzliches Lächeln.
Als die beiden anschließend zum Haus schritten, begann Rondrik zu erklären.
"Das dort links ist das Gesindehaus", er deutete auf ein kleines Steingebäude, das direkt ans Herrenhaus gebaut worden war.
"Dahinten", diesmal deutete er rechts am Haus vorbei auf hölzerne Gebäude, die ein wenig abseits standen, "ist der Stall. Daneben Schuppen und die einstige Heimstätte von Livia und Viglio, die Falken meines Bruders Leodegar. Er arbeitet in der Herzöglichen Falknerei in Gratenfels. Ach ja, meine Schwester Amadis steht als Knappin in Diensten Ihrer Hochgeboren von Tannwirk. Ihr seht also, dass unsere Häuser nicht erst seit der romantischen Verbindung zwischen Silvana und mir verwoben sind."
"Ich bin Eurer Schwester noch nicht begegnet, aber habe schon von ihr gehört."
Offenbar war Rondrik ob der Schau seiner alten Heimat in Redelaune.
"Hinterm Haus steht ein Brotbackofen. Ich hoffe, man nutzt ihn noch."
Dann wären sie im Haus. Die Eichentür knarrte überraschenderweise beim Eintritt nicht, offenbar hatte man sie, im Gegensatz zu den Fenstern, geölt.
"Na immerhin!", grinste Rondrik deshalb.
Auf der Schwelle blieb er stehen und drehte sich zu Alma um.
"Meine Frau Mutter wird in den kommenden Tagen ebenfalls zugegen sein, als kleine Vorwarnung."
Alma, die gerade dabei war, die Pferde der beiden Neuankömmlinge Richtung Stall zu führen blieb stehen und erbleichte.
"Dann... dann... in Ordnung. Wir werden alles vorbereiten."
"Mach' das", gab Rondrik zurück und hielt Aldare die Tür auf, die ins Haus trat.
Aldare betrat einen aufgeräumten und auf den ersten Blick sauber wirkenden Eingangsbereich, dessen einziges Möbel, ein kleiner Sekretär, ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen zu haben schien. Er war nicht kaputt, aber Satinavs Zahn hat deutliche Spuren hinterlassen. Hinter einem aufgezogenen Vorhang lag ein Flur, an dessen Ende sowie an der linken und rechten Seite Türen zu sehen waren.
"Wenn Ihr mir folgen wollt?", lud Rondrik Aldare ein. Sie nickte und folgte.
"Zur Linken hier findet sich die Küche mitsamt Zugang zu einer kleinen Speisekammer und Übergang ins Gesindehaus", hob er an und deutete auf eine Tür, nachdem sie nur wenige Schritte auf dem Flur getan hatten.
"Hier", sprach Rondrik im Gehen, "liegt das Badezimmer."
Er klopfte an die Tür, die nur zwei Schritt weiter neben der Tür zur Küche lag.
"Ein Badezimmer?", ihre Augen weiteten sich beeindruckt.
"Mit einer Badewanne?"
Dann waren sie auch schon am Ende des Flures angekommen, an der Rondrik versuchte, die Tür zu öffnen, die dort lag. Dieses Unterfangen aber scheiterte, als er bemerkte, dass sie verschlossen war.
"Hmm... nun... dort geht es jedenfalls hinaus auf die Rückseite des Hauses", grinste er achselzuckend.
Er drehte sich um und ging den Flur wieder zurück, wobei er diesmal auf eine Tür auf der anderen Seite wies.
"Dies hier ist... war... das Familienzimmer. Mit gemütlichen Sesseln, einem Kamin und allerlei Annehmlichkeiten."
Schwungvoll öffnete er die Tür, nur um festzustellen dass der Raum komplett leer stand.
"Oh...", entfuhr es ihm, bevor er die Tür wieder schloss.
"Naja, es ist ja auch keine Familie mehr hier, nicht?"
Aldare kam nicht umhin, Traurigkeit in seiner Stimme ob dieses Anblicks zu vernehmen. Das Lächeln, das er aufsetzte, schien nicht echt zu sein. Rondrik machte erneut eine Geste, die Aldare einlud, ihm zu folgen, und er beeilte sich, mit gesenktem Blick voranzugehen. Schnell waren sie zurück im Eingangsbereich, wo er auf einen Treppenaufgang wies.
"Hier geht's zu den Gemächern meiner Familie. Wie die Räume heute genutzt werden, weiß ich nicht."
Er stieg die knarrenden Stufen nach oben, zuckte bei dem Geräusch merklich zusammen. Oben angekommen lief man direkt auf eine vertäfelte Holzwand zu, an der ein Teppich mit dem Wappen des Hauses von Eberbach hing. Linker Hand lag der Flur, der nach zwei oder drei Schritt nach rechts abbog und - vermutlich direkt über demjenigen Flur des Erdgeschosses - bis zur Rückwand des Hauses reichte. Rondrik begann zu flüstern, als er auf das erste Zimmer wies.
"Hier liegt das Zimmer meines Onkels. Dahinter das meiner Eltern. Auf der anderen Seite residierten meine Schwester Aelfea, Boron habe sie selig und ich. Ganz dort hinten lag das Zimmer von Amadis und Leodegar, die waren schon immer unzertrennlich - sie sind Zwillinge."
Dann schickte er sich an, langsam in Richtung seines alten Zimmers zu gehen und öffnete sie mit leicht zittriger Hand. Er schob sie ganz auf und gab so den Blick hinein preis. Das prominenteste Möbelstück, zentral im Raum an einer Außenwand unter einem Fenster stehend, war ein wuchtiger Schreibtisch, an dem, sauber herangeschoben, ein Stuhl stand. Weiters gab es einen Kleiderschrank, einen Tisch mit zwei weiteren Stühlen und ein Bett. Rondrik blies die Backen auf.
"Trautes Heim...", sagte er und trat ein.
Er begann mit seinen Händen Staub vom Schreibtische zu wischen und wirkte nun irgendwie entrückt. Aldare schloss die Zimmertür, um Ellians Schlaf nicht zu stören und um eventuelle neugierige Ohren auszusperren.
"Herr von Eberbach, bitte fasst das Folgenden nicht als Kritik auf, ich möchte weder Euch noch Eurer Familie Vorwürfe machen, aber bitte beantwortet mir meine Frage: Würdet Ihr hier leben wollen, so wie das Haus im Moment ist?"
Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort:
"Ich möchte das alles lieber mit Euch besprechen, bevor Eure Eltern hier eintreffen, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen. Wir beide kennen einander ja schon ein wenig und Ihr habt mich eingestellt. Ich kann mir gut vorstellen, dass Euer Oheim die Umstände, in denen er untergebracht ist, gar nicht wahrnimmt oder sie ihm egal sind. Da sich dies aber ändern soll, muss für ihn eine Umgebung geschaffen werden, in der er sich auch wohlfühlen kann. Bitte lasst das Familienzimmer wieder einrichten. Es müssen keine prunkvollen Möbel sein, aber welche, die man gerne nutzt und die bequem sind. Der Sekretär im Flur könnte ein wenig abgeschliffen und geölt werden, dann hätte man bereits ein erstes Möbelstück für das Zimmer. Oder besser noch, vielleicht kann ich das gemeinsam mit Eurem Oheim machen!"
"Wie sollte ich das nicht als Kritik auffassen?", gab Rondrik ungewohnt tonlos zurück.
"Aber ich fasse es nicht als Beleidigung auf. Denn ihr habt Recht."
> In seiner Stimme schwang nun Wut mit.
"Diese Nachlässigkeiten werden nun ein Ende haben, das verspreche ich Euch. Meinen Onkel so vegetieren zu lassen, so hausen zu lassen!", schnaubte er.
"Ich war Jahre nicht mehr hier und ich hasse mich gerade dafür! Während ich mein Leben genieße, eine wunderbare Frau finde, Gedichte von Liebe und Freude schreibe, lebt mein eigenes Blut in diesem Schandfleck von Familiensinn! Nichts mehr strahlt hier Wärme und Geborgenheit aus, nur Kälte und Gleichmut! Ganz wunderbare Wegbegleiter, nicht?", fragte er mit noch immer zorniger Stimme rhetorisch in den Raum.
Er wollte direkt nach Alma brüllen, schloss den Mund aber, weil er sich gerade noch rechtzeitig seinens schlafenden Onkels erinnerte.
"Bitte ergeht Euch nicht in Vorwürfen! Das war nicht meine Absicht! Ich kann die Hilflosigkeit verstehen, die Familien trifft, deren Angehörige so erkranken. Lasst uns jetzt bitte nur noch nach vorne schauen. Wir wollen jetzt alles versuchen, um Linderung zu schaffen!"
Sie legte begütigend ihre Hand auf seinen Arm. Rondrik spürte die Geste und atmete mehrere Male tief durch.
"Ihr habt Recht. Ändern lässt es sich ohnehin nicht mehr. Also schauen wir nach vorn."
Er blickte versonnen aus dem Fenster über dem Schreibtisch nach draußen.
"Es war hier einst sehr schön. Das... sollte es wieder sein. Und das wird es."
Entschlossen drehte er sich zu Aldare um.
"Gehen wir's an."
Die Pflegerin nickte zustimmend, dann zögerte sie wieder einen Moment, begann dann aber wieder zu sprechen:
"Dann ist da noch die Frage meiner Unterbringung. Eigentlich gehöre ich zum Gesinde, aber ich würde es bevorzugen, in der Nähe meines Patienten untergebracht zu werden. Hier oben sind aber nur die Räumlichkeiten der Familie."
Sie zögerte einen Moment, dann fasste sie ihren Mut zusammen:
"Bitte gewährt mir eine Gunst! Ich würde gerne das Badezimmer benutzen dürfen! Natürlich nur, wenn Eure Eltern oder die Familie nicht anwesend sind. Sollten bei Besuchen die Familienzimmer anderweitig benötigt werden, würde ich für diesen Zeitraum in das Gesindehaus umziehen, falls Ihr meiner Einquartierung im Haupthaus zustimmt."
"Was haltet Ihr von diesem Zimmer? Wie die Dinge laufen, benötige ich es nicht mehr. Und Nostalgie soll dem Pragmatismus nun wahrlich nicht im Weg stehen."
Er breitete die Arme aus, als wollte er den Raum erneut präsentieren.
"Ihr wärt in der Nähe meines Onkels, aber hättet noch ein wenig räumlichen Abstand. Und natürlich dürft ihr das Bad verwenden. Heizt man den Ofen darin ordentlich ein - und bestenfalls wurde zuvor die Kochstelle in der Küche an der Wand zwischen dem Bad und nunja, der Küche eben, genutzt. Nur dann die Mauer nicht anfassen, sie wird bisweilen sehr heiß. Man sieht dann ob des Dunstes nur nicht mehr so gut, bis man ein Fenster öffnet", grinste er.
"Also passt auf, wohin Ihr tretet."
"Das Zimmer ist wunderbar! Ich nehme aber jedes, das mir zugewiesen wird! Und dass ich das Bad benutzen darf, weiß ich sehr zu schätzen!"
Und nach einer weiteren kurzen Pause:
"Dann gilt es noch meine Stellung im Haushalt zu definieren. Es liegt mir fern, mir eine Position anzueignen, die mir nicht zukommt, aber es muss klar gestellt werden, dass wenn ich eine Anweisung gebe, die mit meiner Arbeit zu tun hat, diese auch befolgt wird. Und ich möchte nicht erst jedes Mal einen Brief an Eure Eltern schreiben müssen, bevor ich eine Maßnahme genehmigt bekomme. Dienstboten können da sehr störrisch sein und der Zustand des Hauses legt nahe, dass dem Gesinde etwas Aufsicht sogar fehlt."
Sie malte eine Sonne mit Strahlen und lachendem Gesicht in den Staub.
"Und noch eine Bitte habe ich, wenn ich damit nicht gar zu unbescheiden bin: Bitte lasst den Brotbackofen in Stand setzen, wenn nötig."
Rondrik stemmte theatralisch die Hände in die Hüften.
"Sonst noch einen Wunsch, die Dame?", fragte er ironisch und grinste.
"Ich denke, gegen frisches Brot ist nichts einzuwenden, und was Eure Stellung betrifft, so werde ich das Personal entsprechend instruieren. Man wird Euch nicht in Eure Arbeit pfuschen, Ihr seid in diesen Belangen weisungsbefugt."
"Keine Sorge! Bis zu Eurer Abreise werden mir bestimmt noch ein paar Dinge einfallen! Papier und Tinte zum Beispiel. Ich benötige etwas für meinen persönlichen Bedarf, aber auch um meine Berichte zu verfassen. Es dürfte für mich nicht möglich sein, hier Besorgungen zu tätigen, deshalb ist es besser, wenn Ihr mir die Schreibmaterialien stellt. Natürlich werde ich mir einen Vorrat mitbringen, wenn ich aus Witzichenberg hierher zurück kehre, aber dann werde ich auf längere Zeit hier bleiben und nicht abkömmlich sein. Vielleicht werden Ramon und Desideria oder Eolan mich mal besuchen - das wird doch hoffentlich möglich sein? Oft wird das nicht vorkommen. Zuerst werden sie auf eine kurze Hochzeitsreise gehen und dann ist mein künftiger Schwager im Hospital nur selten zu entbehren."
Sie fragte sich, wie sie nach ihrer Zeit in Gareth mit seinen Lustbarkeiten mit der Einsamkeit hier draußen zurechtkommen würde, zur Gesellschaft nur das Gesinde und einen Patient, den sie noch nicht kannte.
"Und was das Brot betrifft, da geht es mir nicht in erster Linie um gutes Essen, sondern um Euren Onkel. Ich vermute, er hat sich in der letzten Zeit mit nichts beschäftigt und sein Zimmer kaum verlassen. Es wird wichtig sein, ihn wieder an ganz elementare Dinge heranzuführen: den Teig zubereiten, sehen, wie er geht, ihn zu riechen, ihn beim Kneten zwischen den Fingern zu spüren und auch die manuellen Fertigkeiten wieder zu üben. Wann habt Ihr eigentlich den letzten Brotteig zubereitet?", fragte sie ihn beiläufig.
Ihre Miene war neutral, aber in ihren Augen konnte Rondrik ein Lachen erkennen. Rondrik lachte laut auf.
"Kann es sein, dass Ihr aufgeregt seid? Ihr stellt ja eine Frage nach der nächsten."
Er hörte auf zu lachen und versuchte, einen ernsteren Ton anzuschlagen.
"Es wird Euch hier an notwendigen Dingen sicher nicht mangeln. Mir ist es wichtig, dass mein Onkel in guten Händen ist - und, dass auch Ihr Euch hier wohlfühlen könnt. Solltet Ihr merken, dass die Abgeschiedenheit ein schlechter Tausch mit Gareth oder Witzichenberg war, so steht es Euch frei, wieder aufzubrechen. Bis dahin aber freue ich mich, Euch und Eure Arbeit näher kennenzulernen."
"Bitte vergebt mir! Ja, ich bin sicherlich aufgeregt und ich möchte alles gut und richtig machen und ich möchte mich aber auch wohlfühlen, denn dann komme ich meiner Aufgabe bestimmt besser nach. In Gareth war vieles einfacher. Alles war leicht zu bekommen, die Bedingungen im Kloster klar bestimmt, dafür war das Leben aber auch teurer. Hier wird manches einfacher sein und anderes schwieriger. Ich liebe den Wald, denn da komme ich her. Wäre dem nicht so, hätte ich mich um diese Aufgabe gar nicht beworben. Trotzdem weiß ich, dass ich natürlich auch Bedürfnisse habe, denn ich habe immer sehr frei gelebt und jetzt suche ich nach einer Balance, um beidem gerecht zu werden: Der Pflicht und dem Vergnügen. Ich habe etwas gehört, meint Ihr Euer Oheim ist jetzt erwacht? Ich bin gespannt, ihn kennenzulernen!"
"Was Ihr damit meint, wenn Ihr sagt, Ihr kommt aus dem Wald, müsst Ihr mir mal erklären", grinste Rondrik.
"Aber nicht jetzt, denn Ihr habt Recht. Ich glaube auch, dass Ellian erwacht ist. Die Treppenstufen sind verräterisch in diesem Haus."
Rondrik ging zur Tür, öffnete sie und steckte seinen Kopf heraus.
"Mhm, er ist wach, die Tür zu seinem Zimmer steht offen."
Rondrik trat heraus auf den Flur und sah, dass auch die Tür des Zimmers seiner Zwillingsgeschwister offen stand. Er bedeutete Aldare, ihm zu folgen und schritt dann in die entsprechende Richtung.
"Naja, ich bin im Wald geboren und aufgewachsen", flüsterte sie und folgte ihm.
"Aufregend", flüsterte er zurück, gefolgt von: "Warum flüstern wir?"
Aldare rollte mit den Augen:
"Um Euren Oheim nicht zu erschrecken!"
"Alma!", ertönte auf einmal eine kratzige, tiefe Stimme aus dem Raum, auf den die beiden zuhielten.
Rondrik erschrak fürchterlich und zuckte zusammen. Wie erstarrt blieb er stehen, grinste aber schließlich ob seiner eigenen Schreckhaftigkeit, trat zur geöffneten Tür, klopfte an den Rahmen und sprach:
"Hallo, Onkel. Ich bin's, Rondrik."
Seine Begleiterin, die sich hinter ihm hielt, kicherte, als sie seinen Schreck bemerkte. Der Mann, der offensichtlich Rondriks Onkel sein musste, war in einfache, wollene, blaugefärbte Kleidung gehüllt. Er saß in einem gemütlich wirkenden Sessel und hielt ein Buch in Händen. Er blickte auf und offenbarte ein ausgezehrtes Gesicht, in dem die braunen Haare ein wenig zu lang über den Augen hingen. Auch der Bart war ein wenig zu lang und ungepflegt, sodass man auf den ersten Blick nicht meinen wollte, es handele sich um einen Hohen Herrn. Als er Rondrik sah, verdunkelte sich seine Miene.
"Was willst du hier?", knurrte Ellian und wandte sich von seinem Neffen ab.
Aldare wartete darauf, dass Rondrik sie vorstellen würde und als sie das Gefühl hatte, dass Rondrik zögerte, schubste sie ihn sachte in Richtung Onkel. Dieser wankte daraufhin ein, zwei Schritte in den Raum hinein.
"Ähm, Dich besuchen, Onkel" log er ausgesprochen schlecht und korrigierte sich sofort selbst.
"Nun, eigentlich möchte ich dir jemanden vorstellen."
Wieder winkte er Aldare zu sich. Er war sichtlich nervös. Aldare folgte Rondrik in die Kammer.
"Herr von Eberbach, ich bin Aldare Sanceria. Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen!"
Sie war etwas näher getreten und versank in einen eleganten, tiefen Knicks, wie man ihn bei Hofe erwartet. Rondrik konnte spüren, wie Aldares Charme sprühte und strahlte. Stirnrunzelnd wandte sich Ellian wieder seinen Besuchern zu und blickte langsam und unverständig von Rondrik zu Aldare.
"Eine Ehre? Was an einem Mann wie mir ist denn noch ehrenvoll?", gab er schroff zurück.
"Aber Ihr wollt sicher nur nett sein."
Dann sah er wieder Rondrik an.
"Also, was willst Du? Geld kann's nicht sein."
"Ich...", versuchte sich der junge Eberbacher an einer Antwort, doch fehlten ihm tatsächlich die Worte.
"Meld' dich, wenn's Dir einfällt, Junge", ätzte Ellian ihn an und wandte sich erneut seinem Buch zu.
Rondrik sah daraufhin hilfesuchend zu Aldare. Eine Zornesfalte erschien auf deren Stirn und ihre Augen funkelten gefährlich.
"Es ist bedauerlich, dass ein gestandener Recke wie Ihr vergessen hat, was an ihm selbst bedeutsam ist! Verständlich ist Euer Unmut über einen Neffen, der Euch scheinbar in den letzten Götterläufen vernachlässigt hat. Was aber gänzlich unentschuldbar ist, dass Ihr einer Besucherin, die zwei Tage durch den Regen geritten ist, um Euch kennenzulernen, den Rücken zukehrt, statt ihr in Travias Namen eine Erfrischung anzubieten!"
Sie stampfte mit dem Fuß auf, worüber sie sich ärgerte, was sie aber nicht hatte verhindern können, denn manchmal ging ihr Temperament mit ihr durch. Sie hatte einen Mann wie Karon Rastburger erwartet, doch dieser Fall lag anders. Sie würde ihre Strategie überdenken müssen. Ellian klappte geräuschvoll das Buch zu und blickte Aldare ungerührt an.
"Wäre das nicht ebenso ein Versäumnis meines Neffen? Ihm gehört das Haus zum größeren Teil."
"Dann bitte ich um Entschuldigung. Ich hielt Euch für den Hausherren!"
Sie wandte sich an Rondrik:
"Würdet Ihr uns vielleicht etwas ordern?"
Sie wandte sich wieder an Ellian:
"Was lest Ihr da für ein Buch?"
Rondriks Blick hellte sich auf, er war offenbar froh, eine Aufgabe bekommen zu haben, die ihn beschäftigte und die ihn darüber hinaus noch aus diesem Zimmer brachte. Er war gerade aus dem Raum, als er beinahe mit Alma zusammenstieß, nach der Ellian noch vor wenigen Augenblicken gerufen hatte.
"Alma, wir brauchen etwas zu trinken."
"Hat mich der Höhe Herr deshalb...?"
"Ja", unterbrach Rondrik die Magd.
"Gut, ich hole gleich etwas", nickte Alma und wandte sich auf dem Absatz um.
"Ich komme mit...", sprach Rondrik und duldete keine Widerrede.
Von all dem bekamen Aldare und Ellian nichts mit.
"Was ich lese? Kindischen Unsinn, den mir Drego mitgebracht hat! Almanach des Volksglaubens. Märchen! Ich lese hier Märchen!"
Er knallte das Buch auf den Tisch.
"Und? Warum isser jetzt hier, mein Neffe?", bohrte er weiter.
"Nun, zuallererst empfehle ich Euch ein anderes Buch. Eines, das sich mit der Vermittlung guter Manieren beschäftigt. Da wo ich herkomme, lässt ein Herr eine Dame nicht stehen, sondern bietet ihr einen Stuhl an. Sollte es nur einen Stuhl geben, dann erhebt sich besagter Herr und bietet der Dame seinen eigenen Stuhl an."
Sie feixte ihn an:
"Das darf ein Herr auch tun, wenn er selbst nur zu Gast ist oder das Haus ihm nur teilweise gehört!"
"Also macht Ihr Euch die Mühe, zwei Tage durch strömenden Regen zu reiten, um mir eine Buchempfehlung auszusprechen und eine Lehrstunde in höfischem Gebaren zu erteilen?"
Er ächzte und stand aus dem Sessel auf.
"Dann will ich ein braver Schüler sein. Bitte setzt Euch doch."
"Danke! Schon besser!"
Sie nahm seinen Platz ein.
"Ihr fragtet, warum Euer Neffe wirklich hier ist. Nun, ich denke, er wollte mir behilflich sein, eine neue Anstellung zu finden. Eigentlich bin ich Heilerin, aber durchaus auch bereit, Lehrstunden in Etikette zu erteilen oder was gerade sonst von Nöten ist."
Nach einem Moment fragte sie:
"Da Euch Eure Lektüre offensichtlich nicht zusagt, würdet Ihr mir das Buch vielleicht ausleihen?"
"Heilerin, ja? Man sagte, es gäbe keine weiteren Möglichkeiten mir zu helfen, da muss ich Euch erneut enttäuschen. Aber immerhin habt Ihr jetzt einen Sitzplatz und ein neues Buch."
Mit diesen Worten verließ auch er das Zimmer. Aldare ließ ihn gehen.
"Gut gemacht, Aldare", sagte sie sich.
"Gleich die erste Anstellung außerhalb des Klosters in den Sand gesetzt! Und was jetzt? Zurück nach Witzichenberg? Desideria und Ramon werden heiraten, das Letzte, was sie dann brauchen, auch wenn sie es nicht zugeben würden, wäre eine ledige Schwester als Klotz am Bein. Und auch Eolan und seiner Jule wäre ich im Weg. Also zurück nach Gareth? Ich werde Frau Rastburger schreiben oder dem Kloster. Vielleicht nimmt man mich ja wieder auf.", dachte sie und ihr entfuhr ein Seufzer.
"Willst Du Dich wirklich so schnell ins Boxhorn jagen lassen? Wahrscheinlich braucht der Mann dringend Hilfe. Er ist verbittert, hat seine Pflicht für Herzog und Kaiserin getan, dabei seine Gesundheit verloren und zum Dank ist er abgeschoben worden. Ein trauriges Schicksal für einen Helden. Er hat sich eine schützende Rüstung angelegt, um nicht noch mehr verletzt zu werden. Da braucht es Zeit und viel Geduld, um da durch zu kommen. Kann ich das schaffen? Nicht, wenn ich gleich aufgebe! Ich hätte mir nicht vorab eine Vorstellung von seiner Verfassung machen sollen. Und der junge Eberbacher hätte mich vorwarnen können. Auch wäre es besser gewesen, wenn er seinen Oheim über mich ins Bilde gesetzt hätte. Schlechter als ich hätte er es auch nicht machen können. Und trotz allem werde ich mir keine schlechten Manieren gefallen lassen! Übe Dich in Geduld, Aldare!"

So saß sie da, das aufgeschlagene Buch in der Hand und starrte aus dem Fenster, als die Getränke und mit ihnen auch Rondrik kamen. Rondrik stellte einen Krug mit Wasser und drei Becher auf den Tisch vor dem Sessel, in dem Aldare nun saß. Er lächelte matt.
"Ist er nicht herzallerliebst? Ich erinnere mich wieder, weshalb die Besuche erst weniger wurden und schließlich ganz ausblieben."
Er goss Aldare ein und reichte ihr den Becher.
"Mit anderem als Wasser kann ich derzeit nicht dienen. Drego hat Alkohol verboten."
Er goss nun auch sich selbst ein.
"Ich hoffe, er hat Euch nicht zu sehr beleidigt."
Sie zuckte mit den Schultern.
"Vielleicht liegt das Versagen ja auch auf meiner Seite. Ich wünschte mir, Ihr hättet mich vorgewarnt. Wenn ich es nicht schaffe, zu ihm durchzukommen, dann kann ich ihm nicht helfen. Vielleicht braucht es einfach auch nur Zeit, bis er wieder jemanden in seiner Nähe erträgt."
"Ich habe mich an das gehalten, was damals auch Drego wollte. Ich dachte, das sei so eine... Ärzte-Sache", hob er ungewohnt unberedt zur Antwort an.
"Er meinte, wir sollten ihm kein Bild von seinem Patienten vermitteln, denn es würde bei ihm zur Eintrübung der eigenen Einschätzung führen."
Er schaute Aldare entschuldigend an.
"Verzeiht, wenn ich Eure Arbeit damit beeinträchtigt habe."
"Nein, das glaube ich nicht. Ich habe mir vorab ein Bild gemacht, weil ich an einen Patienten in Gareth dachte. Es war also mein Fehler. Ich wäre vielleicht behutsamer mit ihm gewesen, wenn ich gewusst hätte..., aber vielleicht war es ja auch nicht falsch, ihn an seine Manieren zu erinnern und wahrscheinlich hätte er jeden Gast und jeden Pfleger angeraunzt. War er denn vor dem Krieg auch so ein Raubein?"
"Nein, ganz und gar nicht. Er war zwar nicht ganz so lebensfroh wie mein Herr Vater, Disziplin war ihm schon immer wichtig, aber heute... Er ist ein übel gelaunter Schatten seiner selbst."
Sie schöpfte kurz Atem.
"Es ist Bestandteil seiner Krankheit und ein Zeichen seiner Verbitterung. Wo ist er denn hingegangen?"
"Ich glaube in sein Zimmer. Die Tür ist geschlossen und er kam mir nicht entgegen."
Dankbar nahm sie ihm das Wasser ab.
"Es ist gut, dass es hier keinen Alkohol gibt. Schon manch einer hat seine Ängste im Suff ertränkt!"
"Ich denke, deshalb hat Drego den Alkohol von hier verbannt. Auch wenn ich glaube, dass die Belegschaft welchen versteckt. Für sie ist es auch nicht leicht."
Er lehnte sich mit dem Rücken an eine der Wände, einen weiteren Stuhl gab es ja nicht.
"Wollt Ihr ihn noch therapieren?"
"Ich werde es versuchen, aber es wird nicht leicht werden. Die Mauer, die er um sich errichtet hat, ist hoch und sehr massiv."

Sie nahm einen Becher Wasser und ging zu Ellians Tür, wo sie klopfte.
"Herr von Eberbach, ich habe hier etwas zu trinken für Euch."
Dann wartete sie vor der Tür. Nach einer Weile klopfte sie erneut.
"Klopf, klopf, die Welt klopft an Eure Türe, Herr von Eberbach. Wollt Ihr sie nicht hereinlassen?"
Von drinnen waren Schritte zu vernehmen und kurz darauf wurde die Tür die geöffnet.
"Habt Ihr das aus dem Märchenbuch?", fragte er genauso schroff wie zuvor.
"Irgendwo habe ich es wohl mal gehört oder gelesen. Danke, dass Ihr mir geöffnet habt. Hier ist das Wasser. Möchtet Ihr vielleicht auch etwas essen?"
Wortlos nahm er den Becher entgegen.
"Ich habe keinen Hunger."
Er beäugte Aldare unverhohlen.
"Geht Ihr, wenn ich etwas esse?"
"Nein, ich gehe nicht. Würdet Ihr mit uns speisen, falls Euer Neffe einen Tisch und ausreichend Stühle auftreibt?"
"Warum ist Euch das so wichtig?", fragte er mit verwirrter Miene.
"Kommt zum Essen, dann sprechen wir darüber!”, sie knickste höflich und zog sich zurück.
Ellian rollte mit den Augen und schloss die Tür. Dabei brummte er:
"Antworten zu erhalten ist offenbar neuerdings eine Herausforderung..."

"Wo werden wir nachher speisen?", fragte Aldare, als sie zu Rondrik ins Zimmer zurückkehrte.
"Wie wäre es, wenn wir entsprechende Möbel ins Familienzimmer tragen? Wir könnten den Kamin anheizen", überlegte Rondrik, als Aldare ihre Frage an ihn richtete.
"Gute Idee, es ist doch noch recht frisch, besonders abends und mir ist etwas kühl. Ich stamme halt aus dem Süden. Ich würde mich gerne zum Abendessen umziehen, wir tragen ja immer noch unsere Reisekleidung."
"Natürlich. Mein Zimmer ist das Eure. Ich werde so lange alles veranlassen."
"Danke!", sagte sie und warf ihm einen warmherzigen Blick zu.

Dann ging sie in sein Zimmer mit dem schönen Schreibtisch und blickte aus dem Fenster in Richtung des Waldes. Kusmina kam und setzte sich auf das Fensterbrett.
"Hallo, mein Liebling! Geht es Dir gut und hast Du ein gemütliches Plätzchen gefunden? Du musst hier ganz ruhig sein, der Hohe Herr kann keine Geräusche ertragen."
Sie streichelte zärtlich das seidige Gefieder Kusminas. Dann begann sie die wenigen Sachen auszupacken, die sie mitgenommen hatte. Das Fenster ließ sie geöffnet, damit ihr Rabe ihr etwas Gesellschaft leisten konnte. Sie hatte ein festliches Kleid mitgenommen, sie wollte einen guten Eindruck machen, wenn Rondriks Familie eintreffen würde. Es war ein weißes Seidenkleid, mit langen Ärmeln, tiefem Dekollete, enganliegender Corsage und weitem Rock. Sie hatte es für den Transport ordentlich zusammengelegt und in einer eigens dafür gefertigten Schatulle transportiert. Dieses Kleid war eines ihrer wertvollsten Besitztümer und sie trug es gerne zu besonderen Anlässen. Mit einem Lachen erinnerte sie sich daran, wie sie zu dem Stoff gekommen war. Sie frisierte ihr Haar und steckte es lose nach oben zusammen. Eine lange Strähne ringelte sich vom Hinterkopf über ihre Schulter nach vorne. Um den Hals trug sie die Kette mit dem Bernsteinanhänger, den Frau Rastburger ihr geschenkt hatte. Gegen die Kühle legte sie einen teuren, fein gewebten Schal aus blauer Wolle mit silbernen Stickereien um. Dann begab sie sich Richtung Familienzimmer, wo sie hoffentlich einen Tisch und Stühle vorfinden würde.


~*~


Rondrik hatte unterdessen kräftig mit angepackt. Er hatte einen großen Tisch aus der Küche ins Familienzimmer geschleppt, Stühle getragen und sogar selbst den Kamin entzündet. Es hatte zunächst ganz schön gequalmt und man hatte befürchtet, etwas hätte sich im Kamin eingenistet und verhinderte deshalb den Rauchabzug. Doch dann war der Qualm doch noch abgezogen. Rondrik merkte, dass die drei Mägde Alma, Rike und Praionde für die nun anfallenden Aufgaben nicht ausreichten - und ausreichen würden. Es würden neue hermüssen. Rike und Alma kochten und Praionde, die gerade einmal sechzehn Lenzen zählende, jüngste Tochter Almas, deckte den Tisch. Dafür hatte man lange nach ausreichend Geschirr suchen müssen, das auch noch zusammenpasste. Auch eine saubere Tischdecke hatte man erst im letzten Augenblick in einem Schrank gefunden. Nun aber war alles bereit. Sogar Kerzenleuchter mitsamt Kerzen waren aufgestellt und entzündet worden und als Aldare in den Raum trat, saß Rondrik bereits grinsend am Tisch. Als er die Heilerin sah, stand er auf und machte eine ausladende Geste.
"Na, was sagt Ihr?"
"Wunderbar, wie Ihr das in der kurzen Zeit gezaubert habt!"
Sie blickte sich um.
"So wirkt der Raum gleich behaglich!"
Rondrik glühte vor Stolz. Aldare wandte sich an Alma, die gerade die Suppe herein brachte:
"Würdet Ihr bitte dem Herrn von Eberbach mitteilen, dass das Essen serviert ist und wir auf ihn warten?"
Sie blickte der Frau aufmunternd in die Augen. In ihnen sah sie eine Mischung aus Furcht und Frustration, doch sie nickte dienstbeflissen.
"Natürlich."
Als diese das Zimmer verließ, wandte sich Aldare an Rondrik:
"Ich habe mir überlegt, dass es gut wäre, eine Auswahl an anspruchsvolleren Büchern hier zu haben, denn Euer Oheim scheint möglicherweise Interesse an Lektüre zu haben. Ich habe auch gehört, dass Ihr mehrere Werke verfasst habt, Eure Werke sollten auch darunter sein, besonders das, was sich mit Tommelsbeuge befasst. Kennt er Euer Pseudonym?"
Sie blickte ihn interessiert an.
"Ich glaube nicht. Ich denke auch nicht, dass er ihm gefällt."
Er zuckte mit den Schultern.
"Meine Werke herzuschaffen ist das geringste. Ich werde Drego erneut schreiben, er möge einige seiner Werke mitbringen. Er liest für sein Leben gern Abenteuerromane. Unglaublich vorhersehbar und langweilig, diese Art von Geschichten", grinste Rondrik.
"Aber vielleicht gefallen sie meinem Onkel."
"Abenteuerromane? Daran dachte ich jetzt eher nicht, aber warum nicht versuchen. Ich habe gehört, Ihr habet ein Werk über Tommelsbeuge verfasst. Das wäre doch nicht schlecht!"
"Ich werde eine Ausgabe besorgen. Aber sagt, woher kennt Ihr mein Pseudonym und meine Arbeit?"
"Na, das hat sich in Witzichenberg doch herumgesprochen. Ihr habt doch im letzten Winter am Hofe der Baronin eine Lesung gehalten."
"Mir war nicht bewusst, dass ich solch einen bleibenden Eindruck hinterlassen habe", antwortete er verdutzt.
"Für gewöhnlich verklingt mein Schaffen resonanzlos", sagte er trocken.
"Nun, in Witzichenberg offensichtlich nicht", stellte Aldare lapidar fest. Rondrik grinste.
"Bücher also. Was glaubt Ihr, brauchen wir noch?"
"Es wäre auch nicht schlecht, wenn wir etwas für den abendlichen Zeitvertreib hätten: ein Pochspiel, Rote und weiße Kamele, Boltankarten, Würfel und ein Inrah-Kartenspiel. Und weil wir gerade so schön am Einkaufen sind, bitte auch noch ein Pelura-Spiel, das kann man schön im Freien spielen. Einen Teil davon bekommen wir bestimmt im Trutzelbacher Kontor. Es muss ja auch nicht gleich alles auf einmal angeschafft werden. Gibt es etwas, was Euer Oheim früher gerne gespielt hat?"
"Wir kaufen so schön ein? Ich denke, es müssen zu Beginn nicht sechs Spiele sein, oder? Wollt Ihr es nicht erst einmal versuchen? Wenn mein Onkel dann auf den Geschmack gekommen ist, wird er Euch sicherlich sagen, was er gerne hätte, nicht?"
Rondrik schien nicht jede Zusage vom Fleck weg geben zu wollen, immerhin war sein Salär auch nicht sonderlich hoch und seine Ersparnisse wollte er eigentlich für die Reise mit Silvana ausgeben.
"Schreibt mir doch eine Liste mit den wirklich notwendigen Dingen für den Beginn zusammen. Nacharbeiten lässt sich immer."
"Ich sagte ja, dass nicht alles auf einmal angeschafft werden braucht, ich denke so ins Blaue hinein. Wir können ja auch erstmal schauen, was wir borgen können. Im Hospital und auf Burg Tannwirk kann man uns bestimmt aushelfen", begütigte Aldare.
"So machen wir's"'", nickte Rondrik zufrieden.
Aldare wärmte sich während des Gesprächs am Kaminfeuer.
"Es wird abends doch immer noch kühl! Ich freue mich auf die Suppe!"
Rondrik fürchtete bereits, dass dieselbe kalt werden würde, ehe Ellian auftauchte - wenn er es überhaupt tat. Doch wie aufs Stichwort trat er an Almas Seite kurz darauf ein.
"Guten Abend, Onkel", begrüßte ihn Rondrik.
Ellian hatte sich weder zurechtgemacht noch umgezogen. Auch sein Gesichtsausdruck war noch genauso unfreundlich wie zuvor. Alma zog Ellian einen Stuhl zurück und dieser setzte sich.
"Bringen wir's hinter uns", sagte er und begann sofort mit dem Essen.
Verblüfft schaute Aldare auf Ellian.
"Guten Appetit!", wünschte sie und begann ebenfalls zu essen.
"Wie findet Ihr die Suppe?", wandte sie sich nach einer Weile an beide Männer.
Rondrik schaute über den Rand seines Löffels zu Ellian herüber, der die Frage offenbar nicht gehört hatte - oder sie einfach ignorierte.
"Sie schmeckt wunderbar, nicht?", hielt Rondrik die Stille schließlich nicht mehr aus.
"Alma hat schon immer gut gekocht, ihre Mutter zuvor ebenso."
Die Suppe war kräftig gewürzt und hatte neben Möhren, Zwiebeln und Rüben ein wenig Speck als Einlage.
"Dann steht die Familie also schon mehrere Generationen in den Diensten Eurer Familie? Und Almas Tochter ist auch hier in Dienst, wenn ich es richtig mitbekommen habe?"
"Is' letztes Jahr gestorben", kam diesmal tatsächlich von Ellian die Antwort.
"Würdste wissen, wenn du mal aufgetaucht wärst", warf er Rondrik vor, der daraufhin das Gesicht verzog.
"Es tut mir Leid", sagte er leise und schaute auf seinen Suppenteller.
In Gegenwart von seinem Onkel war er wieder sehr kleinlaut geworden. Aldare versuchte eine leichte Unterhaltung in Gang zu halten, nachdem sie ihr Bedauern über den Tod der Frau ausgedrückt hatte, ohne Ellian direkt anzusprechen. Sie wollte ihm nicht zuviel zumuten, sondern wertete es als gutes Zeichen, dass er überhaupt zur Mahlzeit erschienen war.


~*~


Nach dem Essen fragte Aldare:
"Hat jemand Lust auf ein Würfelspiel? Ich glaube, ich habe einen Würfelbecher mitgebracht."
Rondrik, der die Frage für eine Form der Therapie hielt, war sofort Feuer und Flamme.
"Spielen wir!"
Ellian seufzte.
"Soll das jetzt so 'ne Familienzusammenführung werden? Hat Dich Dein Vater geschickt?", funkelte er Rondrik an.
"Nein. Das... war hier alles meine Idee."
"Mhm...", brummte Ellian.
"Und Ihr?", wandte er sich an Aldare, "Ihr wollt mir vermutlich helfen? Mir sagen, dass 'die Welt da draußen' auf mich wartet? Dass es mehr gibt, als dieses heruntergekommene Haus? Bitte...", zeterte er weiter, verschränkte die Arme und lehnte sich zurück.
"Ich könnte Euch helfen, aber nur wenn Ihr möchtet, dass man Euch hilft. Immerhin nehmt Ihr wahr, dass dieses Haus etwas vernachlässigt wurde. Das kann man aber ändern. Es kann wieder ein Ort werden, an dem man sich wohl fühlt."
Sie holte kurz Luft.
"Ihr habt Furchtbares erlebt, das kann ich nicht ändern. Ich kann Euch aber helfen, mit dem Grauen, dem Ihr begegnet seid, besser zurechtzukommen. Das geht aber nur, wenn wir gemeinsam am selben Strick ziehen. Ich erwarte nicht, dass Ihr mir sofort eine Zusage erteilt. Warum solltet Ihr? Wir kennen einander ja gar nicht. Um auf diese Art zusammenzuarbeiten, müssen wir einander vertrauen lernen. Das braucht aber Zeit! Wir werden noch einige Tage hier bleiben, dann werden wir nach Witzichenberg zurückreisen, um den Traviabund meiner Schwester zu feiern. Und vielleicht werde ich danach hierher zurückkehren, um Euch Gesellschaft zu leisten. Dann sehen wir weiter."
Sie legte erneut eine kurze Pause ein und fuhr dann fort:
"Zurecht werdet Ihr sagen, dass Ihr bereits Behandlungen auf Euch genommen habt und dass diese keinen dauerhaften Erfolg brachten. Die Heiler und Heilerinnen des Ordens der Heiligen Noiona haben mich ausgebildet. Ich habe aber auch noch andere Möglichkeiten, die Euch helfen können, die den Mitgliedern des Ordens nicht zur Verfügung stehen. Was genau diese sind, werde ich Euch erst verraten, wenn wir einander vertrauen. Falls wir einander vertrauen!"
Sie stand auf.
"Ich gehe jetzt schauen, ob ich etwas im Gepäck habe, mit dem wir uns die Zeit heute Abend vertreiben können."
Ungerührt sah Ellian während des Monologs Aldares an ihr vorbei an die Wand. Er sah sie nicht einmal an, als sie Aufstand.

Aldare verließ das Zimmer, damit Ellian über das Gehörte nachdenken konnte. Sie hoffte, dass er noch da sein würde, wenn sie zurückkehrte.
"Auf der anderen Seite, wenn er das Bedürfnis nach Ruhe hat, dann soll er sich zurückziehen. Kleine Schritte, behutsam vorgehen. Er ist schon sehr lange isoliert.", dachte sie.
Sie ging in ihr Zimmer, Rondriks Zimmer, schaute aus dem Fenster. Es war dunkel, aber Kusmina kam sofort angeflattert.
"Mein Liebling, hoffentlich haben wir Erfolg. So viele sind gebrochen aus dem Krieg zurückgekehrt und so wenigen konnte ich bisher helfen. Dabei verdanken Leute wie ich Leuten wie ihm, dass wir am Leben sind und in Freiheit."
Mit einem Seufzer suchte sie in ihrem Gepäck die Würfel und fand sie schließlich auch. Dann schloss sie das Fenster und ging wieder nach unten.

Als Aldare nach oben gegangen war, hatte Rondrik das Wort erhoben:
"Bei allem Respekt, Onkel. Wir sind hier, um dir zu helfen. Du behandelst uns, als wollten wir die Übles", offenbarte sich Rondrik in ruhigem Ton.
"Was hast du dir denn vorgestellt? Dass ich in Tränen ausbreche und meinen schmerzlich vermissten Neffen in den Arm zu nehmen? Dass ich Familie spiele, während ihr mich hier abgestellt habt wie ein Kind, das ein ungeliebtes Spielzeug wegstellt? Wir sind nicht in einem deiner lächerlichen Romane, Rahjaehr."
War der Tonfall Ellians zwar ebenso ruhig gewesen, war die Feindseligkeit darin stets mitgeschwungen. Das letzte Wort, das selbstgewählte Pseudonym Rondriks, spukte er förmlich aus. Rondrik schoss aus seinem Stuhl nach oben, hieb mit der Faust auf den Tisch, stützte sich ab und lehnte sich zu seinem Onkel herüber.
"Du wunderst Dich, dass Dich keiner besucht? Du schlägst hier um Dich wie ein trotziges Kind. Das ist erbärmlich. Was nützt es dir? Willst du, dass ich gehe? Dass du dann im Recht bist, weil dich keiner liebt?"
"Oho, der Feingeist hat doch einen Funken Männlichkeit in sich!", kam es weiterhin ungerührt herablassend von Ellian zurück.
"Du... du bist... aahhh!!!”, schrie Rondrik seinen Onkel daraufhin an, hieb erneut auf den Tisch, diesmal mit beiden Fäusten und trat zum Kamin.
Dort blickte er ins knisternde Feuer und sprach bis zur Wiederkehr Aldares kein einziges Wort mehr, während Ellian sich eine zweite Schale Suppe orderte. Aldare hatte den Streit der Männer bis oben gehört. Jetzt, da es still war, beeilte sie sich, nach unten zu kommen.
"So, meine Herren, Ihr wart bis oben zu hören."
Sie nahm am Tisch Platz, stellte den Würfelbecher ab.
"Da es keinen Sinn hat, so zu tun, als ob ich nicht wüsste, was Ihr Euch an den Kopf geworfen habt, versuche ich das gar nicht erst. Sprechen wir über Wahrheit. Was ist das? Gibt es nur eine Wahrheit oder hat sie vielleicht mehrere Aspekte?"
Sie legte eine kurze Pause ein und sprach dann weiter:
"Die Wahrheit ist, Herr von Eberbach, dass Eure Familie Euch hier abgestellt und scheinbar vergessen hat. Die Wahrheit ist aber auch, dass Ihr alle Menschen um Euch herum vergrault habt, dass man Angst vor Euch hat. Auch wahr ist, dass Ihr hier kein Gefangener seid, sondern dass Ihr hier geblieben seid. Ihr hättet gehen können. Ihr habt das Gefühl, dass man Euch vergessen hat und das scheint auch so zu sein, aber als Euer Neffe eine Möglichkeit sah, Hilfe für Euch zu bekommen, hat er sofort reagiert. Er hat um Beurlaubung von seinem Dienst gebeten, um so schnell wie möglich mit mir zu Euch zu kommen und als Dank erfährt er von Euch nur Schelte. Ich weiß, dass die letzten Jahre einsam und bitter für Euch waren, aber das kann sich ändern, wenn Ihr es zulasst!"
Sie überlegte einen Moment, ob sie es wagen konnte, dann riskierte sie es und legte ihre Hand auf seinen Arm. Beide Männer hatten dem erneuten Monolog der Dame schweigend zugehört. Während sich in Rondriks Gesicht etliche seiner Emotionen spiegelten, schien Ellian entweder keine zu haben oder sie gut zu verbergen. Als Aldare Ellians Arm berührte, ruckte sein Kopf herum, wie bei einem Hund, der eine rasche, unerwartete Bewegung in den Blick nahm und fixierte ihre Hand - Berührungen war er offensichtlich nicht mehr gewöhnt. Er sagte allerdings nichts, bewegte sich auch sonst nicht. Mit dem Blick auf die Hand gerichtet, sagte er.
"Stimmt das, Junge?"
"Ja, Onkel. Ich... ich weiß, dass ich Dich hätte öfter besuchen müssen - oder zumindest hätte ich Dir schreiben sollen. Aber vergessen haben wir Dich nicht. Dennoch hat Aldare damit Recht, dass Du in den vergangenen Jahren kein sonderlich angenehmer Umgang warst."
Ellian hob seinen Blick von Aldares Hand und ein leiser Seufzer entfuhr ihm.
"Würfeln wir."
Sie nahm ihre Hande von seinem Arm.
"Was wollen wir spielen? Spontan fallen mir 'Boltan' und 'Schiff, Kapitän und Mannschaft' ein. Oder kennt jemand noch ein anderes Spiel? Ich lerne gerne ein Neues - tsagefällig!"
Sie blickte strahlend in die Runde.
"Von 'Kapitän, Schiff und Mannschaft' habe ich noch nie gehört", stellte Ellian fest und auch Rondrik zuckte mit den Achseln.
"Boltan habe ich damals in...", sprach der ältere der beiden Eberbacher weiter, brach aber ab und sagte: "Spielen wir Boltan", anstatt sich zu erklären.

Sie verbrachten einen relativ ruhigen Abend, was mehr war, als Aldare nach dem bisherigen Verlauf des Besuchs zu hoffen gewagt hatte.
"Wir werden sehen, was der morgige Tag bringt. Besser nichts planen, sondern die Tagesform abwarten. Wer weiß, wie die Nacht wird", überlegte sie.


~*~


Als Rondrik am nächsten Morgen erwachte, war er kurz verwirrt und wusste nicht, wo er war. Man hatte noch am Abend das Zimmer seiner Zwillingsgeschwister hergerichtet und notdürftig gesäubert, sein eigenes hatte er ja an seine Begleiterin abgetreten. Als er in seiner Nachtgarderobe auf den Flur trat, sah er, dass nun wohl auch das Zimmer seiner Eltern gerichtet wurde, denn Rike und Praionde waren gerade darin zu Gange.
"Guten Morgen", begrüßte er die beiden.
"Äh, guten Morgen, Hoher Herr von Eberbach."
"Wo ist mein Onkel?"
"Das wissen wir nicht, Herr?"
"Das... bitte?"
"Er sagte, er gehe raus und wolle allein sein", führte Rike aus.
"Macht er das öfter?"
"Nein", sprang nun Praionde ein.
"Und ihr beiden habt ihn einfach gehen lassen?"
"Ihr wisst… nun, er war sehr bestimmt. Bitte entschuldigt."
Sie ließen die Köpfe hängen.
"Ich gehe nach ihm sehen."
"Sollen wir Euch bei der Suche helfen, Herr?", fragte Praionde, doch Rondrik winkte ab.
"Nein, nein. Schaut, dass das Zimmer fertig ist, ich denke, meine Frau Mutter wird bald kommen."
Die beiden Mägde nickten eifrig und machten sich ans Werk. Rondrik ging die Treppen hinab und geradewegs in Richtung Haustür. Aldare hatte die Unterhaltung mitbekommen. Sie hechtete in ihre Reisekleidung vom Vortag, die Stiefel noch in den Händen, folgte sie Rondrik.
"Rondrik, bitte wartet! Ich komme mit!"
Sie schlüpfte in die Stiefel und hüpfte, um richtig hineinzukommen, über den Gang und die Treppe hinunter.
"Ihr hättet bei mir klopfen können. Ich bin doch hier, um mich um ihn zu kümmern. Gestern Nacht habe ich mal an seiner Tür gehorcht, aber nichts Beunruhigendes vernommen. Ab heute Nacht lasse ich die Tür offen. Dann höre ich vielleicht eher, wenn etwas nicht stimmt."
"Guten Morgen", begrüßte Rondrik die hüpfende Heilerin amüsiert.
"Gegen eine Begleitung habe ich nichts einzuwenden. Schön, dass die Nacht ruhig war, das ist doch etwas Gutes, würde ich sagen."
Dann waren sie draußen.
"Hoffentlich macht er keinen Unsinn", sprudelte es dann lapidar aus dem Eberbacher heraus.
Er blieb stehen und schaute sich um.
"Die Herrschaften!", ertönte dann ein Ruf aus dem Haus.
Genauer gesagt aus einem der Fenster der Küche im Erdgeschoss. Kurz darauf lugte der Kopf Almas heraus.
"Er is' in den Schuppen!", rief sie.
"Danke, Alma!", rief Rondrik zurück.
"Kommt mit", sprach er dann an Aldare gewandt und führte sie ums Haus.
Neben dem Stall stand eine große Holzhütte, deren Vordertür offen stand. Als die beiden sich näherten, sahen sie Ellian darin stehen. Er stand mit dem Rücken zu ihnen und wog etwas in seinen Händen - ein Schwert! Aldare hatte sich besorgt gefragt, ob Ellian sich einen Strick genommen hatte. Sie war beruhigt, als sie sah, dass es kein Strick war, bis sie erkannte, dass es sich um ein Schwert handelte. Besorgt drückte sie Rondriks Arm, was bedeuten sollte: 'Was sollen wir tun?'. Rondrik sah Aldare an.
"Du bist doch die Heilerin!", schnarrte er, ohne zu merken, dass er Aldare geduzt hatte.
"Will er...?"
"Guten Morgen Herr von Eberbach! Seid Ihr auch schon auf den Beinen?", Aldare wurde sich bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wie spät es eigentlich war.
Sie blickte sich nach Kusmina um, doch die war nicht zu sehen.
"Braves Mädchen", dachte sich Aldare.
Ellian fuhr zusammen wie unter einem Peitschenhieb und wirbelte herum. Dabei schlug das Schwert in seiner Hand mit einem dumpfen Laut gegen eine Kiste und fiel daraufhin geräuschvoll zu Boden.
"Verflucht noch eins, was ist denn los mit Euch? Ihr schreckt einem ja das Leben ab!", schimpfte er, als er sich nach der Waffe bückte.
"Nun, das war gewiss nicht unsere Absicht! Das nächste Mal werden wir uns vorsichtiger bemerkbar machen, hüsteln oder so."
"Besser wär's", motzte er weiter.
"Guten Morgen", gab er sich aber sogleich ein wenig versöhnlicher und trat, nun wieder bewaffnet, aus dem Schuppen.
Die Waffe, die Ellian in Händen hielt, war hervorragend gearbeitet, wieß aber deutliche Alterserscheinungen auf - sie war stumpf und angelaufen, außerdem schmutzig und matt. Und doch strahlte sie eine gewisse Eleganz aus mit ihrer Parierstange, die in Eberköpfe auslief und dem noch immer erkennbaren Wappen der Eberbacher im Knauf am Ende des Heftes.
"Ihr zwei wart also kein Alptraum..." brummte er, als er auf Höhe der beiden anderen stehen blieb.
"Hast Du gerade einen Witz gemacht, Onkel?", fragte Rondrik mit großen Augen, bekam aber keine Antwort.
Aldares Augen begannen zu leuchten, als sie sich Ellian in Rüstung und zu Pferde vorstellte.
"Wahrlich - beeindruckend!", hauchte sie nur für Rondrik hörbar.
"Wollt Ihr mit uns frühstücken oder wollt Ihr noch etwas draußen bleiben?"
"Ich habe bereits gegessen. Außerdem bin ich hier noch nicht fertig."
Er drehte sich um und ging zurück in den Schuppen. Rondrik grinste breit.
"Die Ruhe nach dem Sturm."
"Seid Ihr Euch sicher? Meint Ihr, er wird nur Schwertübungen machen?", fragte sie besorgt.
"Und sollten wir ihm nicht die Ankunft Eurer Eltern ankündigen?"
"Meint Ihr, er tut sich was an? Warum denn das? Als größtmögliche Bestrafung für mich, stellvertretend für meine Familie? Sonst hätte er es doch schon längst tun können."
"Ich weiß es nicht. Warum gräbt er jetzt so plötzlich sein Schwert aus? Doch hoffentlich zum Üben?"
"Wir haben gestern ganz schön in der Vergangenheit gerührt. Wollt Ihr hier stehen bleiben?"
Sie antwortete nicht, folgte ihm aber ins Haus.

"Ich habe den Herrschaften das Frühstück ins Familienzimmer gebracht, so es beliebt ", begrüßte Alma die beiden erneut aus der Küche.
Also machten sich Rondrik und Aldare dorthin auf den Weg. Das Frühstück bestand aus einem einfachen Haferbrei mit getrockneten Früchten. Rondrik stocherte mehr darin herum, als dass er aß.
"Soll ich in der Küche etwas anderes für Euch holen?",erkundigte sich Aldare.
"Nein, nein. Danke. Ich war nur in Gedanken."
"Darf ich fragen, was Euch so beschäftigt? Falls es etwas mit meiner Anstellung oder Eurem Oheim zu tun hat. Euer Frühstück wird ja noch kalt!"
Sie blickte ihn schelmisch an.
"Weder noch", wehrte er ab.
"Naja, wobei. Ich gehe davon aus, dass meine Frau Mutter heute vorbeikommen wird."
"Und das stimmt Euch so nachdenklich? Sollte ich mir Gedanken wegen des Besuchs machen? Auf jeden Fall sollte ich mich etwas zurecht machen. Mit meiner staubigen Reisekleidung würde ich wohl kaum einen guten Eindruck machen!"
"Meinem Herrn Vater wäre das vermutlich egal, solange Ihr spannende Geschichten zu erzählen habt. Bei meiner Mutter indes... Ihr werdet sehen, was ich meine."
Jetzt wurde Aldare erst richtig nervös. Schnell aß sie ihren Brei auf und entschuldigte sich bei Rondrik. Auf dem Weg nach oben ging sie noch kurz in der Küche vorbei, wo sie mitteilte, dass es eine gute Idee wäre, ein paar Häppchen vorzubereiten, falls die hohen Herrschaften hungrig eintreffen würden. Einen Krug mit warmem Wasser nahm sie sich zum Waschen mit nach oben. Nachdem sie sich gewaschen hatte, legte sie ihr blaues Lieblingskleid mit dem weißen Unterrock und der braunen Corsage an. Ihr Haar flocht sie zu einem Zopf und um ihren Hals legte sie ein zum Kleid farblich passendes Band. Dann ging sie nach unten, um nach Ellian und Rondrik zu suchen. Ellian war noch immer nicht ins Haus zurückgekehrt, allerdings hörte man nun seit geraumer Zeit ein gut vernehmliches Schleifgeräusch von draußen. Rondrik, der nun eine Tunika in Farben seines Hauses trug, begrüßte Aldare lächelnd.
"Ihr seht bezaubernd aus, wenn Ihr mir diese Einschätzung erlaubt."
Dann nickte er seitlich mit dem Kopf in Richtung eines Fensters.
"Er schärft seine Klinge."
Aldare lächelte nervös.
"Glaubt Ihr, ich kann Eurer Frau Mutter so gegenüber treten? Und wie spreche ich Eure Eltern an? Hohe Herrschaften? Frau von Eberbach? Ich hatte noch nie viel mit adeligen Herrschaften zu tun und ich möchte natürlich einen guten Eindruck und alles richtig machen... Und jetzt rede ich schon wieder viel zu viel!"
"Ob Ihr meiner Mutter so gegenübertreten könnt? Meine Mutter ist streng und, wie ich finde, humorlos, aber nicht blind!", grinste der junge Eberbacher.
"Meiner Mutter steht der Titel 'Wohlgeboren' zu. Vögtin tut es auch, Ihr würdet sie sozusagen mit ihrem Arbeitstitel ansprechen, so, als würde man Euch Doktorin nennen. Meinem Vater steht der Titel ob der Verbindung mit meiner Mutter quasi ehrenhalber zu. Aber er macht sich daraus nicht viel."
Er knufte sie freundschaftlich.
"Sie werden Euch mögen, auch wenn Ihr es an Mutter vielleicht erst etwas später merkt."
"Humorlos!", seufzte Aldare, "Euer Wort in Phexens Gehörgang!"


~*~


Von draußen hörte man wenig später das Getrappel mehrerer Hufpaare.
"Da sind sie", konstatierte Rondrik trocken und lief vors Haus, um seine Familie zu begrüßen.
Wenig später sah man drei Rösser auf das Haus zu reiten und Rondrik stellte Aldare, die sich neben ihm eingefunden hatte, die auf ihnen sitzenden Reiter vor.
"Ganz links reitet mein Vater, Balther. Rechts reitet Drego, keine Ahnung, was der bei meinen Eltern gemacht hat und in der Mitte meine Mutter, Irminella."
Rund zwanzig Schritt vor Rondrik und Aldare bremsten die Ankömmlinge ab und kamen dann in gebührendem Abstand gänzlich zum Stehen.
"Guten Tag, Mutter. Hallo Vater", begrüßte Rondrik seine Eltern und nickte dem Medicus dann zu: "Drego".
"Sohnemann!", rief Balther, als er sich vom Pferd schwang und lief mit ausgebreiteten Armen auf seinen Sohn zu. Irminella stieg wortlos vom Pferd und half anschließend Drego herab, der sich dabei ausgesprochen ungeschickt anstellte.
"Und Ihr müsst Frau Sanceria sein", wandte Balther sich an Aldare.
"Sehr erfreut, sehr erfreut."
Aldare fand Rondriks Vater sehr sympathisch und fröhlich, wie er so jovial seinen Sohn begrüßte und auch ganz offen auf sie selbst zukam. Bei Drego fragte sie sich, ob er eine Verletzung oder ähnliches hatte, weil er Hilfe beim Absteigen in Anspruch nahm. Über die Vögtin konnte sie noch nicht viel sagen. Immerhin war sie sich nicht zu gut, dem Medicus vom Pferd zu helfen.
"Euer Wohlgeboren!", begrüßte sie Balther und verfiel in einen formvollendeten Knicks.
Sie begrüßte auch die Vögtin und Drego mit einem eleganten Knicks. Dass Rondrik aufgeregt war, konnte sie problemlos spüren und auch nachvollziehen, ihr selbst erging es ja nicht anders. Die Ausstrahlung von Rondriks Mutter war schwerer zu deuten: ihre Gesten und ihre Mimik zeugten davon, dass die Frau über irgendetwas aufgebracht war. Ob sie nicht damit einverstanden war, dass Rondrik sie hierher gebracht hatte? Und warum war sie hier? Hatte eine Vögtin nichts wichtigeres zu tun, als eine Pflegerin in Augenschein zu nehmen? Warum war der Vater nicht allein gekommen? Es ging um seinen Bruder. Natürlich konnte man annehmen, dass sie ihren Sohn sehen wollte, aber es hatte nicht den Anschein, als würde es eine liebevolle Begrüßung werden. Und irgendwas war da noch mehr an dieser Frau, was sie noch nicht deuten konnte. Sie würde sich sehr zurückhalten, bis sie die Vögtin besser einzuschätzen vermochte.
War Balthers Begrüßung ausgesprochen freundlich gewesen, so war bereits der Blick, den Irminella Ermine von Eberbach seinem Sohn und Aldare schenkte, sehr kühl. Ähnlich fiel auch die Begrüßung aus:
"Guten Morgen, Rondrik", sagte sie, schaute in aber nicht einmal an.
Vor Aldare blieb sie stehen und streckte die Hand aus.
"Irminella Ermine von Eberbach, erfreut", grüßte sie knapp.
"Ihr steht nun also in Diensten meines Sohnes?"
Überrascht, dass die Vögtin ihr die Hand reichte, ergriff Aldare diese und erwiderte:
"So ist es, Euer Wohlgeboren!"
"Dann hält er Euch für qualifizierter als Herrn Grabschaufler", konstatierte sie trocken.
"Ich darf annehmen, Ihr wisst, worauf Ihr Euch einlasst?"
"Das kann man so nicht sagen. Herr Dr. Grabschaufler und ich haben unterschiedliche Ausbildungen. Ich wurde bei den Brüdern und Schwestern der Heiligen Noiona ausgebildet und habe einige Zeit in deren Garether Klostern gearbeitet. Meine Behandlung wird sich möglicherweise von der des Medicus unterscheiden. Ein signifikanter Unterschied wird schon sein, dass ich dauernd hier vor Ort sein werde."
Irminnella nickte verständig.
"Ein wenig Gesellschaft wird meinem Schwager sicher guttun. Wenn Ihr mich nun entschuldigt", beendete sie das Gespräch und ging mit ihrem Gatten und ihrem Sohn, den sie mit einem Kopfnicken an ihre Seite zitierte, in Richtung des Hauses, woraufhin Drego, der zunächst im Hintergrund abgewartet hatte, an Aldare herantrat.
"Einen wunderschönen guten Tag, Gnädigste", grüßte er mit funkelnden Augen.
"Es freut mich außerordentlich, Eure Bekanntschaft zu machen."
"Oh, vielen Dank! Ich freue mich, dass Ihr hier seid!", gab sie erleichtert zurück.
Die Vögtin bereitete ihr Unbehagen und die höfliche Begrüßung des Medicus beruhigte sie etwas.
"Und ich mich, hier zu sein. Es ist schon wieder einiges her. Es beruhigt mich, dass nun jemand an Ellians Seite verweilen wird. Wenn Ihr fragen habt, fragt mich jederzeit."
Er lächelte noch einmal freundlich.
"Für den Moment würde ich mich aber entschuldigen. Das Reiten ist meine Sache nicht, wenn Ihr versteht?"
Dabei rieb er sich den Steiß.
"Sicher haben wir aber noch ausreichend Gelegenheiten uns zu unterhalten, so Ihr dies wünscht."
"Sehr gerne! Falls Ihr etwas zum Einreiben benötigt, gebt mir Bescheid!"
Sie warf ihm einen schelmischen Blick zu. Einem Arzt Medizin anzubieten fand sie selbst schon ein wenig dreist. Drego lachte.
"Ich dachte Ihr versteht Euch auf das Heilen der Seele! Nicht, dass ich noch gänzlich ohne Arbeit dastehe", sagte er und ging nun ebenfalls aufs Haus zu.
"Ich gehe mich einmal einreiben", rief er grinsend über die Schulter.
"Keine Sorge, hier geht es nur um einfache Hausmittel!"
Aldare lachte ein helles Lachen und auch Drego konnte ihren Charme sprühen fühlen.

Dann wandte sich die Heilerin zum Schuppen, wo sich Ellian noch aufhielt. Bevor sie näher kam, hustete sie vernehmlich und als die Schleifgeräusche verstummten, trat sie etwas näher und sprach mit leiser Stimme:
"Herr von Eberbach? Euer Bruder und Eure Schwägerin sind angekommen. Und Dr. Grabschaufler ist auch hier. Möchtet Ihr sie sehen oder soll ich Euch entschuldigen?"
"Ich hab's kommen sehen..." murrte er.
Das Schwert, das er in Händen hielt, sah nun wieder deutlich besser aus - zumindest schien die Klinge geschärft und geölt zu sein. Er wog es hin und her.
"Hat mir gute Dienste geleistet, mich vor dem Tod bewahrt, wenn man so will", wich er der Frage aus.
"Darf ich noch etwas hier verweilen? Ich glaube, Rondrik sollte erst allein mit seinen Eltern sprechen. Im Haus würde ich nur stören. Ich kenne mich mit Waffen nicht sonderlich gut aus und vermag sie auch nicht zu führen, aber es scheint mir eine prächtige Waffe zu sein."
"Mein Vater schenkte es mir einst. Zum Antritt bei der Garde."
Durch seinen Körper ging ein Ruck und in seinen Augen lag Verzweiflung - und Verwirrung.
"Wisst Ihr, wie es meinem Vater geht? L... Lebt er noch?"
"Es tut mir leid! Ich weiß es nicht!"
In ihrer Stimme lag Wärme und Mitgefühl.
"Darf ich meine Hand auf Eure Schulter legen?"
Er wich einen Schritt zurück.
"Warum?"
Er klang nun deutlich nervös, die selbstgefällige Gelassenheit war völlig verschwunden. Aldare trat einen Schritt zurück.
"Ich wollte Euch nur etwas Halt geben und ins Hier und Jetzt zurückholen. Mir schien es, dass Ihr sehr weit weg weiltet. Vergebt mir!"
Ellian trat noch einen Schritt zurück. Aldare sah, wie sich die Knöchel der Hand, in der das Schwert lag, weiß verfärbten. Er begann sich umzusehen.
"Bitte beruhigt Euch! Wenn Ihr möchtet, werde ich gehen!"
Sie hob beruhigend die Hände.
"Nein!", schüttelte er entschlossen den Kopf, "Es ist zu spät. Sie kriegen euch, sie sind zu nah."
Ellian wandte sich zum Wald hinter ihm und hob die Klinge mit zwei Händen gerade nach vorn von sich weg. Seine Hände zitterten. Aldare war mit einem Satz bei ihm, tippte ihm von der Seite her auf die Stirn und sprach:
"Was Du jetzt unbedingt brauchst, ist Ruhe! Ruhe Dich aus, Ellian!"
Ihr war übel. Eigentlich wollte sie ihn nicht verzaubern, doch das Schwert in seiner Hand bereitete ihr Sorge. Ellian erstarrte bei der Berührung und verharrte eine Weile in seiner ursprünglichen Position. Allmählich spürte Aldare, wie sich seine Atmung verlangsamte, wie das Zittern aufhörte. Langsam senkte er die Klinge, bis sie, in seiner rechten Hand liegend, direkt nach unten zeigte. Sie führte ihn zu einem Strohballen, damit er sich setzen konnte. Behutsam versuchte sie, das Schwert aus seinem Griff zu lösen.
"Ihr müsst keine Furcht vor mir haben! Ich bin Euer Licht und werde Euch durch das Dunkel leiten!", flüsterte sie ihm eindringlich zu.
"Habt keine Furcht! Ihr seid in Sicherheit!"
Dann begann sie ganz leise zu singen, ein Wiegenlied. Sie versuchte, ihm ihre eigenen Gefühle an Geborgenheit, die sie immer empfand, wenn sie dieses Lied hörte, da ihre Mutter es früher für sie gesungen hatte, zu übermitteln und hoffte, dass sie ihn erreichen würden.
"Ich brauche Ruhe, ich brauche dringend Ruhe", murmelte Ellian, während Aldare ihr Lied sang.
Er wurde nach und nach immer ruhiger, bis er schließlich, den Kopf an Aldares Schulter gelehnt, eindöste. Sie fuhr mit dem Singen noch eine ganze Weile fort und versuchte dem schlafenden Ellian Geborgenheit, Frieden, innere Ruhe, Stärke und Gelassenheit zu vermitteln und das Gefühl, dass er ihr - Aldare - vertrauen konnte. Dabei geriet sie selbst in einen tranceähnlichen Zustand. Ein Beobachter konnte glauben, dass auch sie eingeschlafen sei, so friedlich und ruhig atmete sie.


~*~


Drego, der sich bei Alma nach dem Aufenthaltsort Ellians erkundigt hatte, kam erneut aus dem Haus und ging in Richtung Schuppen. Als er seinen Patienten und dessen neue Heilerin sah, lächelte er und setzte sich in gebührendem Abstand auf den Boden.
"Sie ist jetzt schon weiter, als ich es je wahr", sprach er mit sich selbst.
"Ich hoffe, sie schafft es."
Dann wartete er geduldig, bis die beiden erwachten. Von den Geschehnissen im Haus, wollte er sowieso nichts wissen - und sie gingen ihn auch nichts an. Aldare erwachte aus ihrer Versunkenheit. Behutsam lehnte sie Ellians Kopf an die Wand und hoffte, ihn nicht zu wecken. Sie war sich nicht sicher, in welcher Verfassung er sein würde, wenn er erwachte. Wenn er sie dann an seiner Seite bemerkte, könnte ihn das erneut in Unruhe versetzen. Sie entdeckte Drego, nickte ihm zu und gemeinsam verließen sie ganz leise die Scheune. Als sie ein Stück entfernt waren, ergriff Aldare das Wort:
"Nun, Herr Doktor, was könnt Ihr mir zu Herrn von Eberbach sagen?"
Drego lachte.
"Das ist aber eine weitgefasste Frage. Kennt Ihr seine Geschichte? Warum er heute... so ist?"
"Ich weiß, dass er im Krieg war und in danach bei den Brüdern und Schwestern der Hl. Noiona gepflegt und behandelt wurde. Dann kehrte er nach Hause zurück und sein Zustand verschlechterte sich. Als es ihm immer schlechter ging, brachte man ihn hierher, damit er Ruhe habe. Wie lange er hier so einsam vor sich hin vegetierte, ist mir nicht bekannt. Zuerst habe ich nur einen verbitterten, einsamen Mann kennengelernt. Heute war ich dabei, wie er sich zuerst in der Vergangenheit verloren hat und dann plötzlich halluzinierte. Mit einem Trick brachte ich ihn dazu, sich zu beruhigen. Er war mit seinem Schwert zugange gewesen und ich war in Sorge, dass er sich oder jemand anderen verletzt."
"Dann scheint Ihr genau die Richtige zu sein, um Ellian zu betreuen."
Drego hielt auf den Wald um sie herum zu.
"Ellian hält alle auf Abstand. Ich glaube, dass er sich dafür schämt, wie es ihm heute geht. Gleichsam ist er schwer verletzt. Dass seine Familie ihn hierher verlegt hat, hat ihn schwer getroffen - es war aus medizinischer Sicht aber notwendig."
Die ersten großen Bäume passierend sprach Drego weiter.
"Ich bin kein Meister in denjenigen Dingen, die den menschlichen Geist betreffen, aber darf ich Euch meine Einschätzung geben? Ich will nicht, dass sie die Eure einfärben, deshalb frage ich."
"Ich habe mir einen ersten Eindruck verschaffen können und bin nicht sehr in Sorge, dass Eure Beobachtungen mich voreinnehmen. Ihr seid ja auch kein Leihe, sondern Medicus. War diese Isolation wirklich nötig? Ruhe ja, aber so eine absolute Einsamkeit? Das könnte doch auch den gegenteiligen Effekt haben. Er erträgt keine Berührung mehr und fühlt sich allein gelassen und wertlos. Als wir hier ankamen, gab es nicht mal ein Speisezimmer. Die einzige Gesellschaft waren die Bediensteten und die sind doch keine Gesellschaft. Sie haben keine Zeit für Gespräche oder Zuwendung. Wie lange lebt er schon allein hier?"
"Seid rund drei Jahren. Zu Beginn erhielt er weit mehr Besuch, als heute. Auch das Inventar war... umfangreicher. Er hat in seinen Zuständen vieles zerstört, hat, nachdem seine Familie ihn einen Mond lang nicht besuchte, das Familienzimmer räumen lassen. Ich sprach mit ihm darüber, das Haus instandsetzen zu lassen, hatte sogar mit der Familie gesprochen - er duldete niemanden hier, bedrohte den ersten Handwerker, der hier auftauchte, sogar."
Drego sah auf einmal sehr unglücklich aus.
"Ich hätte ihm gern geholfen, doch auch ich drang nie wirklich zu ihm durch."
"Ich kann nicht sagen, ob mir das gelingen wird."
Aldare blickte traurig Richtung Scheune.
"Ich sehe das, was Ihr heute bei ihm erreicht habt, als einen grandiosen Erfolg an, zieht man vor allen Dingen in Betracht, dass Ihr erst - wie lange? - einen oder zwei Tage hier seid?"
Er lächelte aufmunternd.
"Was kann ich noch für Euch tun?"
"Würdet Ihr mir vielleicht bitte noch schildern, wie die Familie von Eberbach zueinander steht? Ich bin davon ausgegangen, dass die Familie zusammensteht und die Kosten, die für Ellians Behandlung und Unterbringung entstehen, gemeinsam tragen. Nach dem Eintreffen und der Begrüßung heute frage ich mich, ob diese Einschätzung überhaupt stimmt."
"Die Familie von Eberbach steht sich sehr nah - und sicherlich wird Irminella..., ähm, Ihre Wohlgeboren von Eberbach, ihren Teil für Behandlung zahlen."
Er überlegte kurz und spielte dabei mit einer Haarsträhne, die aus dem Dutt gerutscht war, zu dem er sein langes Haar grundsätzlich band. Interessiert beobachtete Aldare, was er mit seinem Haar machte.
"Balther von Eberbach ist ein das Leben liebender Menschenfreund. Er liebt Geschichten, gutes Essen und Gesellschaft. Die Vögtin hingegen ist eher ruhig, streng und - das habt ihr nicht von mir - noch immer erschüttert über den Tod ihrer ältesten Tochter Aelfea. Sie starb im Krieg. Rondrik und sie sind wie Feuer und Eis, wie Gegenteilpaare. Rondriks Lebenswandel missfällt seiner Mutter und ihm missfällt die Missbilligung, die sie seinem Schaffen gegenüber zeigt - er schreibt, wie Ihr vielleicht wisst. Deshalb beneidet er seine Geschwister, Amadis, Knappin bei Ihrer Hochgeboren Melinde Eberwulf von Tannwirk, und Leodegar, Falkner in der Herzoglichen Falknerei in Gratenfels. Sie dürfen tun, was ihnen Freude bringt und erhalten dafür Anerkennung, er nicht."
Er kratzte sich am Kopf.
"Puh... was gibt es da noch...", sinnierte er.
"Nun, für den Anfang reicht das schon. Es war schmerzlich zu sehen, wie die Mutter ihren Sohn bei der Begrüßung nicht einmal ansah. Rondrik steht doch jetzt auch bei der Baronin von Witzichenberg in Diensten, in einer ganz respektablen Tätigkeit. Reicht ihr das denn nicht aus?"
Sie seufzte und blickte sich suchend um, und zu ihrer Erleichterung entdeckte sie Kusmina auf einem nahegelegenen Baum. Auch Drego konnte den Vogel sehen und sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sie beobachtete.
"Rondrik hat seiner Mutter nicht gesagt, dass er eine Frau gefunden hat. Nicht persönlich. Er schrieb es ihr in einem Brief, wie beiläufig. Mit der Fußnote: 'So es Dich interessiert, denn mit der Liebe ist's bisweilen in unserem Hause nicht so weit her'. Das hat Irminella schwer verletzt, das weiß ich. Ich spreche viel mit der Vögtin."
"Was meint Ihr, hat Ellians Halluzination heute ausgelöst? Es ist seit gestern ja viel Aufregung über ihn herein gebrochen. Und das Schwert hat womöglich auch Erinnerungen hervorgeholt. Und - leben seine Eltern noch? Er fragte mich, ob sein Vater noch lebe."
"Seine Mutter ist lange tot. Ellians Vater lebt - er ist Truchsess am Tommelsbeuger Hof. Boso von Eberbach hat seinen Sohn vor rund zwei Monden besucht. Ellian fragt während und direkt nach seinen Zuständen häufig nach seinem Vater."
"Kann denn der Vater nicht öfter kommen oder vielleicht sogar hier einziehen? Sein Sohn braucht ihn dringend!"
"Ihr meint Boso? Nein", schüttelte Drego den Kopf.
"Er ist Truchsess, hat damit einiges zu tun. Das allein wäre ein Hindernis für einen Einzug allerdings ist er derzeit weitestgehend von seinen Pflichten entbunden. Er ist krank. Recht schwer sogar. Schwerer, als seine Familie es wahrhaben will."
"Es tut mir leid zu hören, dass er so schwer krank ist! Dann wird es vermutlich keine Möglichkeit geben, dass sich Vater und Sohn treffen."
"Ich hatte gehofft, wir könnten Ellian in naher Zukunft nach Fischwacht bringen. Trotz seiner Verfasstheit halte ich das für die einfachere Lösung."
"Dann wird es irgendwie gehen müssen. Wenn es ihm deutlich schlechter geht, dann müsst Ihr uns umgehend benachrichtigen und am besten auch einen Wagen schicken, denn wir haben keine Pferde hier!"
Sie gingen weiter und Aldare fragte:
"Seit wievielen Jahren behandelt Ihr ihn bereits? Prinzipiell bin ich an einem regelmäßigen Austausch über seinen Zustand und hoffentlichen Fortschritten interessiert. Vermutlich könnt Ihr es nicht einrichten, regelmäßig vorbeizuschauen, zumal Ihr ja nicht gerne reitet und Eure Pflichten als Hofmedicus längere Abwesenheiten auch gar nicht zulassen dürften. Da ich hier mit meinem Patienten sehr einsam leben werde, habe ich wenig Möglichkeiten, mich auszutauschen. Das war in Gareth anders und wird mir hier fehlen. Vielleicht können wir uns brieflich austauschen, sofern Ihr Zeit habt und das auch wollt?"
Sie blickte ihn nun direkt an.
"Unbedingt! Teil der Abmachung, die ich mit Seiner Hochgeboren von Fischwachttal traf, ist es, dass ich inner-, seltener außerhalb der Baronie reisen darf. Natürlich in gebotenem Maß. Aber einem fachlichen Austausch auf schriftlichem Wege steht nichts im Wege."
Aldare freute sich sichtlich.
"Das ist ein Lichtblick! Ein wenig fürchte ich die Einsamkeit schon. Ich erwarte, dass ich, wenn ich nach der Hochzeit meiner Schwester hier meinen Dienst antrete, nicht mehr oft weg kann. Ich bin gerne im Wald, aber die Unterstützung Ellians wird anstrengend. Vermutlich werden die Nächte unruhig und die Tage lang. Da wird es für mich recht einsam und Briefe sind dann mein einziger Kontakt zur Außenwelt, zumal ich Ellian keinen Besuch zumuten möchte. Meine Geschwister würden mich sonst bestimmt besuchen."
Sie hielt kurz inne, bevor sie fortfuhr:
"Ich hörte, Ihr lest gerne und habt auch Bücher, Abenteuerromane und andere unterhaltende Werke. Vielleicht könnt Ihr mir regelmäßig etwas borgen?"
Sie kicherte:
"Ich habe in Gareth etliche Heftchen von Rapiro Floretti erstanden, dabei handelt es sich um seichte Abenteuergeschichten, aber sie sind leicht zu lesen, was nach einem anstrengenden Tag nicht schlecht ist, und unterhalten gut. Die kann ich Euch im Gegenzug anbieten, wenn sie Euch nicht zu seicht sind."
Dann fügte sie noch hinzu:
"Ich fürchte, dass Herrn von Eberbach Eure Märchensammlung nicht zugesagt hat. Habt Ihr vielleicht etwas Anspruchsvolleres für ihn, was einen Herrn seines Standes und seiner Bildung vielleicht eher interessiert?"
Drego lachte wieder. Offenbar hatte Aldare hier einen wirklich gut aufgelegten Medicus an ihrer Seite - oder es war sein Naturell, das konnte sie nach dieser kurzen Zeit schwerlich sagen.
"Fachliteratur wird ihn nicht interessieren."
"Nein, vermutlich nicht. Oder hat er früher gejagt und man könnte ihm etwas aus dieser Richtung anbieten?"
"Nein. Zumindest nicht, dass ich wüsste."
Er überlegte nur kurz.
"Seine Hochgeboren von Fischwachttal hat eine Vorliebe für die Philosophie - die ich mittlerweile teile. Eventuell etwas aus der Sammlung des Barons?"
"Wir könnten es ihm anbieten. Wenn er es nicht liest, dann wurde zumindest kein Geld für die Schriften verschwendet."
"Dann werde ich bei meinem nächsten Besuch eine Auswahl mitbringen. Oder sie per Bote zusammen mit meinem ersten Brief an Euch verschicken."
"Danke! Das ist nett!"
Aldare überlegte einen Moment, dann erzählte sie:
"Mein zukünftiger Schwager ist auch ein Medicus. Er und meine Schwester, eine Heilerin, leiten das St.-Theria-Hospital in Witzichenberg. Vielleicht habt Ihr davon gehört?"
“Ja... Herr... Had... ya... Hadras! Herr Doktor ya Hadras, nicht? Und er ehelicht Eure Schwester?"
"Dann sind meine Glückwünsche angeraten!", gratulierte Drego.
"Vielen Dank! Ja, sie kennen einander seit längerem und haben sich in Witzichenberg niedergelassen, weil mein Bruder Eolan in Trutzelbach lebt. Er ist übrigens Besenbinder und Korbflechter, kein Heiler oder Medicus!" fügte sie lachend hinzu.
"Aber seine Waren sind sehr begehrt!"
Wieder musste sie lachen, denn sie dachte daran, wie sehr ihr Bruder umschwärmt wurde und es schon die ein oder andere häusliche Szene gegeben haben soll, deren Grund Eolan war.
"Na, dann weiß ich ja, wohin ich mich zu wenden habe, sollte ich einmal an Korbarmut leiden", stimmte Drego in das Lachen ein.
"Möchtet Ihr Ramon und meine Schwester kennenlernen? Es wäre doch interessant, sich über medizinische Belange und Erfahrungen auszutauschen! Also, falls Ihr möchtet und es einrichten könnt, dann kommt doch zur Hochzeit! Meine Schwester hat mir aufgetragen, noch einen Gast als Tischherren einzuladen, weil sonst keine ordentliche Sitzordnung zustande käme. Ich reise in einigen Tagen zurück, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Die Hochzeit findet am vierzehnten Ingerimm statt. Ihr könntet einige Tage früher anreisen, dann wäre noch Zeit, sich auszutauschen. Bitte verzeiht, wenn ich Euch so damit überfalle, aber es wäre doch eine einmalige Gelegenheit für ein Treffen von Heilkundigen!"
Sie blickte ihn erwartungsvoll an. Drego klatschte ihn die Hände.
"Das ist eine vortreffliche Idee und ich danke Euch herzlich für die Einladung. Ich werde meinen Dienstherren bei Rückkehr nach Freistellung bitten und Euch unverzüglich in Kenntnis darüber setzen, ob mir eine Teilnahme möglich ist."
Freudig rieb er sich die Hände.
"Ein Treffen unter Heilern. Na wenn das mal nichts ist!"
Dann wurde er neugierig.
"Was ist das Fachgebiet des Herrn ya Hadras?"
"Oh, vortrefflich! Ramon hat sich unmittelbar nach dem Abschluss seines Studiums auf Reisen begeben, wo er meine Schwester Desideria kennengelernt hat. Möglicherweise hat er sich aus diesem Grund nicht spezialisiert. Da er aber ein sehr einfühlsamer Arzt ist, erlangt er gute Erfolge und ist mit seinen Talenten im Hospital am richtigen Fleck."
Aldare warf einen Blick zurück zur Scheune.
"Vielleicht sollten wir nach Ellian sehen?"
Drego nickte und als sie kehrt machten, deutete er mit dem Kopf auf den sie begleitenden Raben.
"Der ist schon die ganze Zeit in unserer Nähe. Was er wohl will?"
"Vermutlich etwas zu fressen. Ich muss dann mal schauen, ob ich ihm was geben kann."
"Ihr meint, er ist an Menschen gewöhnt und erwartet Verpflegung?", grinste Drego schief.
"Er findet hier doch sicherlich eine Menge Nahrung..."
Wieder beäugte der Medicus den Raben.
"Ein sehr ungewöhnliches Verhalten."
"Rabenvögel sind sehr klug. Sie bekommen schnell mit, wo Futter für sie abfällt oder man durch betteln etwas bekommen kann."
"Dann solltet Ihr ihn besser nicht anfüttern. Sein Krächzen könnte angstauslösend auf Ellian wirken."
Er schaute zum Raben und wedelte mit seiner Hand in seine Richtung.
"Los, verschwinde, hier gibt's nix zum Erbetteln!"
Der Vogel flog auf, aber nicht in den Wald, sondern auf Drego zu und streifte mit einer Schwinge dessen Wange, um dann - vollkommen geräuschlos - davon zu fliegen. Aldare musste ein Lachen unterdrücken. Sie bemühte sich, vollkommen unschuldig auszusehen.
"Ihr habt Recht, es ist besser, ihn nicht anzufüttern. Diese Tiere können recht penetrant werden, wie wir eben erleben mussten!"
Drego war wie erstarrt stehen geblieben, als der Rabe auf ihn zuflog. Nicht einmal den Kopf hatte er eingezogen. Noch immer stand er wie vom Donner gerührt an Ort und Stelle. Mehrere Herzschläge mussten vergehen, bis er sich wieder regte.
"Verrücktes Vieh!", lachte er und ging weiter.

Schnell waren sie wieder zurück aus dem Wald, und sahen nach Ellian. Noch immer lehnte er an der Wand und schlief friedlich. Aldare lehnte sich in der Nähe der Scheune an die Wand:
"Darf ich Euch etwas zu trinken holen?"
"Ich denke, wir gehen gemeinsam rein, außer es spricht etwas dagegen, Ellian beim Erwachen allein zu wissen? Die Hohen Herrschaften dürften sich mittlerweile besprochen haben."
"Ich möchte den Herrn von Eberbach hier nicht allein aufwachen lassen. Und hinein gehe ich erst, wenn man mich ruft. Ihr seid mit den Herrschaften besser bekannt als ich, doch ich habe, was mich betrifft, Sorge zu stören!"
"Dann hole ich uns etwas."
Drego ging kurz ins Haus und kehrte kurz darauf mit zwei Bechern in den Händen wieder nach draußen. Einen reichte er Aldare, die ihm dankte.
"Ich nehme an, Ihr wisst bereits, dass es außer Wasser hier derzeit nichts zu trinken gibt?"
"Ja, das befürworte ich auch. Etwas unvergorenen Apfelsaft und Kräutertees können wir aber noch riskieren, die halte ich aus medizinischer Sicht für unbedenklich. Immerhin ist das Wasser hier sehr frisch und wohlschmeckend. In Gareth ist das nicht so."
"Ihr kommt aus Gareth? Dort habe ich gelernt - und dort wohnt noch immer meine Familie."
"Ich habe in Gareth gearbeitet. Ich stamme aus dem Lieblichen Feld, von den Hohen Eternen. Wo in Gareth lebt Eure Familie?"
"Geboren wurde ich in Meilersgrund, doch nach den Geschehnissen rund um den verfluchten Dämonenbündler liefen die Geschäfte meines Vaters leider auf Hochtouren. Er bewies damals durchaus Handelsgeschick und so leben sie heute in Neu-Gareth, im Westviertel. Bis zu den Bardo-und-Cela-Thermen sind es wenige hundert Schritt."
"Oh, ich habe im Kloster zur stillen Einkehr gearbeitet. Gar nicht so weit weg und trotzdem bin ich nie jemandem mit dem Namen Grabschaufler begegnet. Auch nicht außerhalb des Klosters."
"Es gibt auch nicht viele von uns. Mutter, Vater und meine kleine Schwester. Wobei sie mittlerweile nicht mehr so klein sein dürfte", grinste der Medicus.
"War lange nicht mehr dort. Zieht es Euch zurück?"
"Es gibt dort Dinge und Lustbarkeiten, die mir hier fehlen werden. Prinzipiell bin ich in einem Wald aufgewachsen und lebe gerne in einer bewaldeten Gegend. Ich werde hier also zurechtkommen. Und Euch?"
"Keinen Wimpernschlag lang habe ich es bereut, von dort weggegangen zu sein. Ich will Euch mit meiner Geschichte nicht langweilen, sagen wir einfach, ich passte dort nicht hin."
"Dann war es richtig, dort wegzugehen!"
Mehr sagte sie nicht dazu, auch wenn sie bei sich dachte, dass es für ihn und seine Familie bestimmt hart war, dass er fortgegangen war.
"Auf jeden Fall!", bestätigte er.
Seine ganze Geschichte wollte er jetzt noch nicht erzählen, er kannte die junge Dame ja auch kaum. Aber er vertraute ihr.
"Schaut mal, da tut sich was", sprach er weiter und deutete mit dem Kopf zu Ellian herüber, dessen Augenlider zu flattern begonnen hatten.
Auch sein Körper kam langsam in Bewegung und ein leises Seufzen war zu vernehmen. Aldare näherte sich der Scheune, blieb aber am Eingang stehen, um Ellian nicht zu bedrängen. Nun streckte sich der Eberbacher genüsslich und schlug die Augen auf. Ein herzhaftes Gähnen folgte, dann war er endlich wach genug, um Aldare zu bemerken.
"Singen kannst Du", begrüßte er sie und stand auf.
Aldare antwortete nichts, sie lächelte nur glücklich vor sich hin.
"Hallo Ellian, wie ich hörte, hast Du Dein Schwert ausgegraben und gewetzt?", fragte Drego, als er sich hinter Aldare gut sichtbar in Position brachte.
"Mhm", brummte der Eberbacher zurück und strich sein Gewand glatt, offenbar schämte er sich ein wenig.
"Liegt noch gut in der Hand", schob er nach.
Drego schob sich sanft an Aldare vorbei und ging auf Ellian zu.
"Schön, Dich zu sehen!", sagte der Medicus, als er vor ihm stand und blickte ihm tief in die Augen. Er war augenscheinlich zu Frieden damit, was er sah.
"Geribold lässt fragen, wann du endlich mal vorbeikommst, er will den Sohn kennenlernen, über den Boso so viel spricht."
"Sehr lustig, Drego", gab Ellian ironisch zurück, grinste aber tatsächlich dabei.
"Gibst Du mich jetzt also auch auf?", fragte er den tommelsbeuger Hofmedicus anschließend.
"Ich bitte Dich!", rief Drego und stemmte die Hände in die Hüfte.
"Aldare ist wesentlich fähiger als ich. Und außerdem ist es nicht weit von...", verteidigte sich Drego, doch Ellian unterbrach ihn mit einer Handbewegung und... lachte.
"Entspann' Dich, Drego. Du bist der Einzige in all' der Zeit, der sich um mich gekümmert hat. Kein böses Blut. Außerdem ist Deine Ablösung wesentlich hübscher als Du."
Drego warf einen entschuldigenden Blick zu Aldare, die aber nur geschmeichelt lächelte.
"Mit dem Benehmen hast Du's nicht mehr so, was?"
"Bist schon der Zweite, der das sagt", antwortete Ellian und sein Blick wanderte kurz zu Aldare, was Drego nicht entging.
"Siehst Du, sie hat genau einen Tag dafür gebraucht, das zu erkennen. Ich sage ja, sie ist fähig."
"Bitte meine Herren! Erst muss sich erweisen, dass meine Künste taugen und ich bin ja auch nicht hier, um Herrn Doktor Grabschaufler zu ersetzen, sondern mit ihm Hand in Hand zu arbeiten, wenn Ihr das gestattet, Herr von Eberbach."
Sie überlegte einen Moment, dann wandte sie sich wieder an Ellian:
"Möchtet Ihr Eure Familie sehen?"
"Unbedingt"'", nickte Ellian entschlossen, "bin gespannt, welche Entschuldigungen sie vorbringen."
Entschlossen schritt er aus dem Schuppen direkt auf das Haus zu. Drego blieb stehen und blickte ihm nach.
"Wollt Ihr ihn begleiten?"
"Er sollte nicht allein gehen. Allerdings hat man mich nicht gerufen. Einer von uns beiden sollte ihn begleiteten. Warum gehen wir nicht gemeinsam? Ich glaube, ich würde mich besser fühlen, wenn Ihr bei mir seid, nur für den Fall, dass ein Drache meinen Weg kreuzt."
"Ich werde Wohlgeboren von Eberbach nicht verraten, dass Ihr sie Drache genannt habt", zwinkerte Drego Aldare zu und ging los.
"Dann wollen wir mal."
"Da habt Ihr etwas Missverstanden! Ich meinte selbstverständlich nicht Ihre Wohlgeboren!"
Aldare blickte sehr unschuldig mit großen Augen auf Drego.


~*~


Wieder saß Aldare gemeinsam mit Rondrik und Ellian beim gemeinsamen Mahl. Man hatte in der kurzen Zeit die Vorräte natürlich nicht aufstocken können, sodass man auf einen einfachen Rübeneintopf zurückgegriffen hatte. Anders, als beim letzten Mal, war es diesmal kein Abendessen und außer den dreien saßen noch Ihre Wohlgeboren Irminella von Eberbach, Ihr Gemahl Balther von Eberbach und der tommelsbeuger Hofmedicus Drego Grabschaufler mit am Tisch.
"Und, war die Reise beschwerlich?", fragte Ellian und gab sich gar nicht die Mühe, den darin liegenden Spott zu verstecken.
Irminella schüttelte den Kopf und antwortete ungerührt:
"Wir haben uns in der Vergangenheit alle nicht mit Ruhm bekleckert, Ellian. Ich schultere nicht erneut allein die Schuld."
"Ach, hast du nicht meinen Bruder überstimmt, mich hierher abzukommandieren?" ließ Ellian nicht locker.
Irminella blickte ihrem Schwager fest in die Augen.
"Doch. Auf ärztlichen Rat hin traf ich diese schwere Entscheidung. Und stehe noch heute zu ihr."
Das Streitgespräch verstummte, als Alma mit einem Brotkorb hereinkam und ihn auf dem Tisch abstellte.
"Danke, Alma", sagte Drego und lächelte der Magd zu.
Als sie wieder draußen war, nahm Ellian den Faden erneut auf.
"Da pfeife ich drauf, Irminella! Keiner hat mit mir gesprochen, als man diese Entscheidung traf. Niemand! Nicht Du!", deutete er auf Irminella, "Nicht Du!”, deutete er auf seinen Bruder, “Und nicht Du!”, endete er bei Rondrik.
"Ihr habt es mir nicht einmal gesagt. Drego hier, hat's mir mitgeteilt! Dass Ihr euch nicht schämt! Und jetzt schawenzelt ihr hier an, um euch zu vergewissern, ob die junge Dame Sanceria hier ihren Beruf auch gut kann? Sie hat in den anderthalb Tagen hier bereits mehr Interesse an mir gezeigt als ihr in den letzten anderthalb Jahren zusammen!”
Aldare starrte auf ihren Teller, um die Familie nicht anblicken zu müssen. Sie fühlte sich furchtbar. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, warf die Serviette auf den Tisch und sagte:
"Ich bitte, mich zu entschuldigen! Ich bin indisponiert!"
Dann stürmte sie aus dem Zimmer, ins Freie. Die vielen Emotionen überforderten die Empathin und sie hatte das Gefühl, dass sie - die Fremde - diese Szene nicht hätte miterleben sollen. Alle waren verstummt, als Aldare aufgestanden war und das Zimmer verlassen hatte. Rondrik und Drego blickten ihr mit verzogenen Mündern nach, wagten es aber nicht, aufzustehen und ihr zu folgen. Balther, dem das Gespräch ob seines nach Harmonie strebenden Gemüts mindestens ebenso missfiel, stand auf, wischte sich den Mund ab und ging ebenfalls aus dem Zimmer. Im Türrahmen blieb er stehen und drehte sich um.
"Dass ihr beiden es nicht einmal in Gegenwart einer Dame schafft, Euch zusammenzureißen ist unmöglich! Ich hatte gehofft, wir könnten uns zumindest für ein Essen lang nicht an die Gurgel gehen. Offenbar können wir das nicht. In Ordnung. Aber macht das ohne mich."
Dann war er aus dem Zimmer. Bei Alma erkundigte er sich, wo die junge Heilerin hingegangen sei und folgte dem Rat der Magd dann nach draußen. Dort stand er in der Eingangstür und blickte sich suchend um. Er konnte die Frau nicht sehen, aber er hörte einen leisen Singsang aus Richtung der Bäume. Aldare saß unter einem der Bäume, hatte ihre angezogenen Beine mit den Armen umfangen, wie um sich selbst zu trösten und sang ein leises Lied. Balther kam sich beim Anblick der Dame indiskret vor und fühlte sich hundeelend. Offenbar hatte seine Familie sie stark verstört, denn die Art, wie die junge Frau sich offenbar zu beruhigen versuchte, ließ erahnen, wie sehr sie das Gehörte mitgenommen haben musste. Er trat aus der Sichtlinie und wartete in Hörweite darauf, dass der Gesang enden würde.
Eine Weile später erhob sie sich, brachte ihr Kleid in Ordnung und ging, immer noch summend, Richtung Haus. Dann bemerkte sie Balther.
"Oh, Herr von Eberbach, Ihr seid auch nicht mehr beim Essen? Ich hoffe, Ihr habt Euch keine Sorgen gemacht?"
"Nun, doch. Um ehrlich zu sein, habe ich mir Sorgen um Euch gemacht. Ich möchte mich bei Euch entschuldigen. Euch an den Tisch einzuladen, nur damit Ihr Euch anhören müsst, wie meine Frau und mein Bruder sich gegenseitig Vorwürfe machen, war unwürdig. Ich bitte vielmals um Verzeihung, Euch in diese Lage gebracht zu haben. Ich hoffe, Ihr denkt nun nicht zu schlecht von uns und wollt abreisen."
"Abreisen? Nein, ja doch, weil meine Schwester heiratet, danach komme ich zurück und werde mich um Euren Bruder kümmern, so wie ich es mit Eurem Sohn abgemacht habe. Ich bitte Euch ebenfalls um Vergebung, mein Auftritt wirkte hysterisch. Dazu müsst Ihr wissen, dass ich Gefühle anders wahrnehme, als die meisten Menschen. Sie treffen mich mit enormer Wucht. Manchmal kann ich mich nicht gegen deren Wirkung wehren und bei Tisch waren viele starke Gefühle unterwegs. Auch war es mir peinlich, bei diesem Streit anwesend zu sein, denn ich bin eine Fremde und dazu noch in einem Dienstverhältnis."
Sie schöpfte kurz Atem, bevor sie weitersprach:
"Wisst Ihr, es ist nicht schlecht, dass Euer Bruder Euch Vorwürfe macht. Ich meine nicht die Vorwürfe an sich, aber er spricht und zeigt, dass er Bedürfnisse hat. In Gareth hatte ich einen Patienten, der auch im Krieg war. Er spricht nicht mehr, hat sich vollständig in sich zurückgezogen. Wahrnehmbare Reaktionen zeigt er nicht. Das ist ganz furchtbar!"
Sie senkte kurz den Kopf.
"Als Herr von Eberbach heute zum ersten Mal wieder sein Schwert in der Hand hielt, konnte ich ihn sehen, wie er früher war. Ein wackerer, aufrechter Krieger, der mutig seine Pflicht erfüllt. Ich glaube, dass dieser Mann noch da ist, und ich hoffe, dass wir ihn wiederfinden werden. Mögen mir die Götter die Kraft verleihen, ihm zu helfen, den Weg zurück zu finden!"
"Zumindest darin, dass wir alle Fehler gemacht haben, hat meine Frau Recht. Aber das sollte uns nicht voneinander trennen. Ich hoffe darauf, dass es stimmt, was Rondrik einst schrieb: 'Vor dem Sonnenaufgang ist es am Dunkelsten.' Ich mag das Bild, das er damit zeichnete."
Er lächelte warmherzig.
"Ob es nun gelingt, oder nicht. Dass Ihr bereit seid, nach meinem Bruder zu suchen, wie ihr sagtet, erfüllt mich mit Freude. Wir alle haben jemanden verloren, damals. In Gareth, Jahre später, gegen den Reichsverräter - dort fiel meine älteste Tochter. Das war... brutal, aber schnell. Das mit meinem Bruder, fühlt sich wie ein Sterben über Jahre an, wenn Ihr versteht? Das... halte ich kaum aus, wisst Ihr?"
"Ich hörte von Eurem Verlust und kann mir nicht vorstellen, dass es etwas Schlimmeres gibt, als ein Kind zu verlieren! Und dass Ihr es kaum ertragt, Euren Bruder in dieser Verfassung zu erleben, kann ich verstehen. Ich werde jetzt eine Weile fort sein, vielleicht könnt Ihr Euren Bruder in dieser Zeit trotzdem besuchen? Ihr allein? Ich werde Rondrik bitten, dass er ihm in dieser Zeit schreibt."
Balther nickte.
"Ja, das werde ich."
Sie lächelte:
"Euer Sohn ist ein wahrhafter Poet! Ja, kurz vor dem Tagesanbruch ist es am Dunkelsten. Hoffen wir auf das Licht des Herrn Praios!"
Sie musste leicht husten.
"Wollen wir wieder hinein gehen?"
"Ja, gehen wir hinein."
Sie hängte sich bei ihm ein und Balther konnte, als sie ihn berührte, ihre besondere Ausstrahlung fühlen. Und plötzlich erinnerte er sich an laue Sommerabende, blühende Wiesen, den Duft von Lavendel und Rosen, an die Zeit, als er und Ellian noch Kinder waren und am Bach unbeschwert Boote aus Rinde ins Wasser setzten, die sie um die Wette fahren ließen und lächelte.


~*~


Am frühen Abend hatte Irminella einer der Mägde aufgetragen, die Pferde aus dem Stall zu holen und sie zur Abreise vorzubereiten und so standen ein knappes Stundenglas später die Pferde der Eheleute von Eberbach und dasjenige des Drego Grabschauflers bereit. Rondrik und die drei Besucher standen vor dem Haus beieinander. Ellian war nicht anwesend.
"Bis bald, Rondrik", sagte Balther und nahm seinen Sohn in den Arm.
Noch einmal ging der Blick des Mannes hoch zum ersten Stock des Hauses, in dem sein Bruder wohl gerade in seinem Zimmer saß.
"Mach's gut, Vater. Ich schreibe dir."
"Mach das, Junge", nickte Balther und wandte sich an Aldare und ergriff ihre Hand mit beiden der seinen.
"Danke, dass Ihr Euch meines Bruders annehmt. Es war mir eine Freude, Eure Bekanntschaft zu machen."
"Ich danke Euch! Eine gute Heimreise!"
Sie knickste vor Balther und auch vor der Vögtin:
"Eine gute Heimreise, Euer Wohlgeboren!"
Diesmal hatte auch die Vögtin ein Lächeln für Aldare übrig.
"Ich wünsche Euch von Herzen viel Erfolg. Ich glaube, Ellian ist bei Euch in guten Händen."
"Vielen Dank, Euer Wohlgeboren!"
Sie knickste respektvoll vor Irminella. Zuletzt trat Drego vor Aldare, nachdem er sich von Rondrik herzlich verabschiedet hatte.
"Wir bleiben in Kontakt, meine Teuerste. Ich schreibe Euch, sobald Seine Hochgeboren mir meine Freistellung erteilt hat."
Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
"Bitte sendet Eure Nachricht direkt ans Hospital. Wir werden das Gut sehr bald verlassen müssen, da meine Schwester auf meine Unterstützung zählt und Herr von Eberbach zurück zu seinem Dienst muss."
Sie vollführte einen koketten kleinen Knicks. So ritten die drei von dannen und Rondrik blickte ihnen nach. Rund fünfzig Schritt waren sie entfernt, als sie noch einmal stehenblieben. Balther sagte etwas und seine Frau nickte. Dann wandte der Herr von Eberbach sein Pferd und kam zurückgeritten.
"Wisst Ihr was? Ich bleibe noch ein Weilchen. Irminella wird mir das Wichtigste herschicken lassen."
Er stieg vom Pferd und führte es in Richtung Stall. Aldare freute sich, dass Rondriks Vater noch etwas bleiben würde. Sie ging ins Haus, um Alma Bescheid zu geben, dass Balther bleiben würde. Dann ging sie nach oben und klopfte bei Ellian an die Türe.
"Herr von Eberbach, Euer Bruder wird noch etwas hier bleiben. Wollt Ihr ins Wohnzimmer kommen?"
"Gestern war ich noch hier in meinem sprichwörtlichen Elfenbeinturm und heute geht's hier zu wie in einem Taubenschlag."
Er nickte.
"Ich komme runter."
"Manchmal überschlagen sich die Ereignisse!", sagte Aldare fröhlich.


~*~


Aldare setzte sich an Rondriks wunderbaren Schreibtisch und griff zu Papier und Feder.
"An so einem Tisch schreiben sich Briefe von ganz allein", dachte sie und begann einen Brief an Desideria:

"Gutshaus Eberbach, 25. Peraine 1047 BF"

"Schwester,"
"ich schicke Kusmina mit diesem Brief zu Dir. Mir geht es gut und ich hoffe, die Vorbereitungen für die Feier Eures Traviabundes schreiten gut voran."

"Herr von Eberbach ist wirklich sehr krank und ich hoffe, dass ich ihm helfen kann. Andere sind vor mir an dieser Aufgabe gescheitert. Gestern sind wir angekommen und ich fand einen griesgrämigen, einsamen Mann in einem vernachlässigten Haus vor. Heute wurde er aktiv und begann sein altes, stumpfes Schwert zu pflegen. Dann trafen seine Schwägerin, sein Bruder und sein Medicus hier ein. Noch bevor er sie treffen konnte, erlitt er einen Anfall. Er war zunächst verwirrt, dann litt er unter Halluzinationen und schwang sein Schwert. Nur mit Hilfe aller meiner Kräfte konnte ich ihn beruhigen. Ich habe großen Respekt vor der vor mir liegenden Aufgabe."

"Ich weiß noch nicht, was das Gespräch der hohen Herrschaften mit dem Herrn Rondrik von Eberbach ergeben hat. Ihre Wohlgeboren, die Vögtin, scheint einer 'Gesellschaft' für ihren Schwager nicht abgeneigt zu sein."

"Ich gehe davon aus, dass wir morgen oder übermorgen abreisen und ich dann zwei Tage später bei Dir bin und Dir bei Deinen Vorbereitungen zur Seite stehen kann!"

"Ach ja, Du hast mir aufgetragen, mich um einen Tischherren zu kümmern. Ich war so frei, den Medicus Dr. Drego Grabschaufler einzuladen. Damit wir ausreichend Zeit für Gespräche haben, lud ich ihn ein, einige Tage früher zu kommen. Bitte doch den Herrn Dr. Bellentor auch zu diesem Treffen, dann können wir 'Heilkundigen' schön miteinander fachsimpeln! Herr Dr. Grabschaufler ist der Hofmedicus des Barons zu Tommelsbeuge und muss natürlich erst noch um Urlaub ersuchen. Wollen wir hoffen, dass er ihn erhält!"

"Deine Aldare"


~*~


Am Morgen der Abreise trat Aldare an die geschlossene Türe zu Ellians Kammer und klopfte:
"Herr von Eberbach, wir sind dabei aufzubrechen und möchten uns verabschieden."
"In Ordnung. Und, habe ich Euch vergrault oder werdet Ihr wiederkommen?"
"Ich komme zurück, wenn die Götter mir keine Hindernisse in den Weg legen."
Ellian nickte.
"Wann?"
"Der Termin des Traviabundes ist auf den vierzehnten Ingerimm festgesetzt. Am nächsten Tag werden meine Schwester und mein Schwager dann verreisen. Ich werde das Gesinde noch einen Tag beim Aufräumen unterstützen und plane meine Abreise für den sechzehnten Ingerimm. Wenn es keine Schwierigkeiten gibt, bin ich am achtzehnten Ingerimm wieder bei Euch. Soll ich Euch etwas mitbringen? Im Dörfchen gibt es einen kleinen Krämer, viel Auswahl hat er allerdings nicht. Wie wäre es mit einer Pfeife und Tabak? Oder gibt es etwas anderes, wonach Euch der Sinn steht?"
"Ohhh, Tabak und eine Pfeife klingen wunderbar! Und vielleicht ein edler Tropfen?"
"Ich fürchte, ein guter Tropfen wird uns vorerst verwehrt bleiben. Ich feiere im Praios meinen Tsatag, wenn Herr Dr. Grabschaufler es uns gestattet, werden wir zu diesem Anlasse ein gutes Glas Wein trinken! Gegen etwas Tabak wird er sicherlich nichts einzuwenden haben."
"Schön. Ein Versuch war's wert. Dann hoffen wir auf die Gnade des Herrn Doktor aus Gareth."
Er lächelte.
"Bis in ein paar Wochen, Doktorin."
"Ich bin keine Doktorin, bitte schmückt mich nicht mit fremden Federn!", bat sie ihn liebenswürdig.
"Auf Wiedersehen!" Sie lächelte ihm zum Abschied freundlich zu.


~*~


Rondrik und Aldare hatten den Gutshof verlassen und ritten den Waldweg entlang.
"Wie ist das Gespräch mit Euren Eltern verlaufen?", erkundigte sich Aldare.
Ihrem Begleiter fiel auf, dass er Kusmina schon einige Zeit nicht mehr gesehen hatte. Rondrik schnaubte.
"Ihr wart beim Höhepunkt mit am Tisch", gab er zurück.
"Hab ich Euch zu viel versprochen, was meine Mutter betrifft?"
"Nun..."
Sie sprach nicht zu Ende. Einen Moment zögerte sie und dachte nach.
"Wird Eure Familie Euch finanziell unterstützen, was meinen Lohn und den Unterhalt für Euren Oheim betrifft? Findet meine Frage bitte nicht vermessen, ich möchte nur gerne wissen, in wessen Diensten ich stehe."
Rondrik nickte.
"Meine Mutter hält Eure Anwesenheit für sinnvoll und meinen Einsatz für die Familie heißt sie gut. Überraschend, nicht?"
Er rollte mit den Augen und schüttelte leicht den Kopf.
"Ihr müsst also nicht mehr auf mich hören", fügte er an und zwinkerte Aldare dabei zu.
"Oh, darum geht es mir gar nicht so sehr. Ich lasse mir sowieso nicht reinreden, wenn es um meine Arbeit geht! Jetzt weiß ich aber, dass ich nicht auf Eure Kosten einkaufe!"
Sie lachte übermütig, so dass Rondrik erkennen konnte, dass sie scherzte.
"Ich wäre leichter zu überzeugen gewesen, vor allem bei kostspieligen Dingen. Ich bin wesentlich freizügiger als meine Mutter. Freigebiger! Ich meinte freigebiger! Wobei, freizügiger vermutlich auch!", stimmte Rondrik in das Gelächter Aldares ein.
Sie lachte über seinen Versprecher, aber fröhlich, nicht gehässig.
"Keine Sorge, ich werde nicht überteuert einkaufen! Und nur wirklich notwendige Dinge. Vieles lässt sich bestimmt borgen. Glaubt Ihr wirklich, dass Eure Frau Mama sich nachlassen sagen will, sie habe an ihrem Schwager gespart? Das glaube ich nicht oder soll ich mich diesbezüglich besser an Euren Herrn Vater wenden?"
Rondrik schüttelte den Kopf.
"Das wird nicht nötig sein. Meine Mutter wirkt oft hartherzig und humorlos. Letzteres ist sie auch an meinen Maßstäben gemessen - aber sie hat ein großes Herz. Auch wenn sie und ich oft wie Feuer und Wasser sind, würde sie für mich letztlich alles tun, egal was. Sie würde in die Niederhöllen marschieren, wenn es nötig wäre. An meinem Onkel wird sie nicht sparen. Er ist Familie."
"Genau das habe ich vermutet."
"Habt Ihr das? Dazu, dies zu vermuten, gab es doch keinen wirklichen Anlass?"
"Ja, aber Ehre und Fürsorge werden allgemein großgeschrieben und im Mittelreich ist das nicht anders als im Lieblichen Feld. Ausnahmen wird es immer geben, aber Eure Eltern machen beide nicht den Eindruck, als würden sie zu diesen Ausnahmen gehören. Dann wäre vielleicht auch der Streit anders verlaufen", überlegte Aldare.
"Ich habe während der Diskussion jede Menge Gefühle wahrgenommen: Wut, Ärger, Kummer, Verzweiflung, Frustration, aber auch Liebe und Hilflosigkeit. Was ich nicht fühlen konnte, waren Gleichgültigkeit oder Engherzigkeit. Ich glaube, dass Eure gesamte Familie 'rechtschaffen' ist, im besten Sinne des Wortes!"
"Und das alles lest Ihr aus einem Gespräch heraus? Ihr müsst wahrlich begnadet sein in Eurem Metier."
"Es ist das, was Eure Familie ausgestrahlt hat. Ich bin sehr intuitiv und nehme solche Dinge intensiver wahr als andere Menschen. Und es war ja nicht nur 'ein Gespräch', sondern eine emotionale Diskussion, da kommen viele Gefühle hoch, die sehr intensiv sind."
"Na gut. Nun, da Ihr ohnehin schon so viel über mich wisst und auch nicht mehr in meinem Dienst steht, schlage ich vor, Ihr nennt mich Rondrik."
Er lächelte.
Sie grinste ihn an.
"So viel weiß ich doch gar nicht über Euch! Aber gern, wenn Ihr mich Aldare nennt!"
"So sei es, Aldare"'", nickte Rondrik und grinste breit.