Aureliana und Beregis
Briefspiel
- Kurzbeschreibung
- Eine Unterhaltung zwischen Beregis von Aelgarsfels und ihrer Tante Aureliana Praiadne von Argenklamm auf dem Tempelfest in Kranick (1047).
- Datum
- 12.-13. PRA 1047 BF
- Ort
- Rittergut Aelgarsfels, Turm Aelgarsfels (Landtgrafschaft Gratenfels, Baronie Kranick)
- Autoren
- Benutzer:Kaltenklamm, Benutzer:HausAelgarsfels
- Hauptfiguren
- Aureliana Praiadne von Argenklamm, Beregis von Aelgarsfels
- Erwähnungen
- Knecht Jost, Darion von Aelgarsfels, Ulfried Tommeldan von Argenklamm, Pralinda Veriya von Argenklamm, Oda von Aelgarsfels, Mafalda von Kranickteich, Jocasta Kessler, Sabea von Kranickteich, Thusdrick Arnhold, Yolande Irmegunde Travialieb von Argenklamm, Kuna von Spiegelberg, Hagrian Rorliff von Aelgarsfels, Selinde von Aelgarsfels
Bei der Prozession
Rittergut Aelgarsfels, Waldweg, Prozession zur Tempelruine, 12. PRA 1047 BF
Der Festzug schlängelte sich als langes Band entlang des frisch geschlagenen Pfades über den weichen Waldboden hin zum ehemaligen Heiligtum am Krähenberg, nahe der Selsenquelle. Vorne schritt die Geweihte des Praios, ihr folgten die Baronin von Kranick und die Ihrigen. Danach kamen die übrigen Gäste, prachtvoll anzusehen in feinster Kleidung, mit vielen Farben und Wappen. Zuletzt, noch hinter der Dienerschaft, lief der Ritter von Aelgarsfels – zu Fuß und nicht zu Pferde.
Beregis von Aelgarsfels, die junge Ritterstochter, löste sich von ihrer Schwester Oda und überholte in sanftem Schritt Hochwürden Kessler und Hochwürden von Kranickteich, die ihr Gespräch unterbrachen, um den Gruß der Vorbeireitenden zu erwidern. Das Ziel der Reiterin war ihre Tante, die Gelehrte Dame Aureliana von Argenklamm, die sich in Gesellschaft der Hohen Dame Mafalda von Kranickteich befand. Als es Beregis passend erschien, sprach sie: "Zu selten sieht man Euch so nahe des Tommels, liebe Tante, daher freue ich mich, dass Ihr nun einmal hier seid. Erweist Ihr mir den Gefallen, über die Heimat Kaltenklamm zu berichten? Ich würde gerne hören, was sich dort zuletzt zutrug, auch wenn ich Euch den Gefallen wahrscheinlich nicht erwidern kann. Über die neuesten Geschehnisse aus Kranick hat Euch gewiss schon die kundige Mafalda aufgeklärt, die in allen Dingen viel besser unterrichtet ist als ich, die selten gelehrte Gesellschaft genießen darf."
Aureliana von Argenklamm schmunzelte und zog eine Augenbraue nach oben. Nicht, weil sie es befremdlich fand, von der jungen Beregis ‘Tante’ genannt zu werden. Rein formal war sie noch immer mit dem Bruder von Beregis’ Vater verheiratet, auch wenn sie ihren Ehegatten vielleicht einmal im Jahr traf. Vielmehr sorgen die wohl gewählten Worte der jungen Frau für Erheiterung. Solch eine fast schon poetische Ansprache war ihr fremd geworden, seit sie ihr Lehramt vor gut zwanzig Götterläufen an der Rechtsschule zu Gratenfels niederlegen musste.
Beregis war schon ein Sonnenschein, da musste sie ihrem Ehegatten Recht geben. Wie ihre andere Nichte, Gunhild auch, jedoch auf eine gänzlich andere Art und Weise. Wie die Götter es geben, dachte sie bei sich und vergaß darüber beinahe zu antworten, sodass sich Aurelia schließlich beeilte zu erwidern: “Ach, meine liebe Beregis, viel passiert für gewöhnlich nicht im abgelegenen und beschaulichen Kaltenklamm. Die Wege sind weit, die Täler tief und die Wälder dicht. Ähnlich wie hier in Aelgarsfels und doch ganz anders. Aber du fragst sicher aus einem guten Grund. Am gestrigen Tage war in Kaltenstein, so heißt der Weiler, in dem der Edle mit seiner Familie - und somit auch ich - lebt, so viel Edelvolk versammelt, wie es dieser Ort wohl noch nie erlebt hat!”
Die ältere Rechtsgelehrte, die trotz ihrer knapp fünfzig Götterläufe noch immer eine aufrechte und hübsche Frau war, holte kurz Luft um abzuwarten, ob die Tochter der Edlen von Aelgarsfels noch eine Frage hatte, ehe sie fortfuhr. “Der Edle, mein Neffe Ulfried, hat geheiratet. Und nicht nur er, auch seine Schwester, die gute Gunhild, hat am gestrigen Tage den Traviabund geschlossen. Und allerlei Adel von nah und fern war zugegen, um diesen freudigen Anlass gebührend zu feiern.”
Dann entfuhr Aureliana ein kurzer Seufzer: “Ach, alleine, ich musste die Feierlichkeiten schon zeitig verlassen, da ich am heutigen Tage eben hier erwartet wurde. Aber ich gräme mich nicht, sondern freue mich, hier zu sein!”, ergänzte sie noch schnell.
So gut es ging, während sie neben ihrer Gesprächspartnerin her ritt, musterte Beregis die Gesichtszüge der älteren Frau, als diese von der Hochzeit sprach. Besonders erfreute sie der unwillkürliche Seufzer und die hastige Klarstellung, welche Aurelianas gesetztem Auftreten nichts nahmen. "Die Hochzeit eines lieben Anverwandten zu besuchen wäre mir zwölfmal lieber als das alljährliche Tempelfest. Vor allem die des Edlen Ulfried. Noch vor zwei Götterläufen sah man ihn hier als Junggesellen. Sehr hübsch war er an jenem Tag anzusehen, so urteilten alle, die ich fragte. Doch ich hörte, seiner armen Gattin – Frau Peraine möge ihr beistehen – sei es gar nicht möglich, das schöne Antlitz ihres Gatten zu schauen. Würdet Ihr mir von der Edlen von Kaltenklamm berichten? Ihre Person und ihr Schicksal interessieren mich sehr. Gerne würde ich sie auch kennenlernen. Nur schreiben werde ich ihr wohl nicht können, fürchte ich. Das schon bedaure ich sehr."
Aureliana schob ihre Lippen nach vorne und nickte bedächtig: “Du bist gut informiert, junge Beregis. Von wem weißt du das alles?” Doch ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie weiter: “Die Gattin des Edlen, Pralinda geheißen, ist mindestens ebenso hübsch anzuschauen. Sie hat güldenes Haar, das wie die Sonne selbst glänzt und in Locken ihr rundes, schönes Gesicht umrahmt. Doch nicht nur fein anzuschauen ist sie, nein. Sie ist wirklich klug und versteht auch komplexe Erläuterungen schnell. Zudem…”, auf Aurelianas Gesicht schlich sich ein verschmitztes Grinsen, “...scheint ihr trotz des fehlenden Augenlichts nichts zu entgehen. Sie bemerkt es sogar, wenn Rudhard mit schmutzigen Stiefeln in die Stube rennt.” Dann wandte sie ihren Kopf zu ihrer Nichte und frug, noch immer grinsend: “Ich bin überrascht, dass du über den lieben Ulfried so viel zu sagen weißt. Hättest du ihn gerne näher kennengelernt?”
Besorgt legte Beregis die Stirn in Falten. „Verzeiht mir, Tante, falls es sich nicht gehört, so viel zu fragen und zu plappern. Ich bitte euch inständig, mich zu warnen, so wie ihr es bei Thusdrick tun würdet, sollte ich etwas Unpassendes aussprechen. Dabei überlegte ich schon, Ulfried und Pralinda eine Einladung nach Aelgarsfels zukommen zu lassen. Ich dachte, Ulfried könnte sie Pralinda vorlesen. Jetzt, wo ihr sie mir beschrieben habt, wünsche ich es nur umso mehr. Ich glaube, wir könnten einander gute Freunde werden.”
Während sie sprach, begann sie versonnen, ihre Stute zu tätscheln, wandte sich dann aber wieder abrupt der Tante zu. „Oh, und verzeiht noch einmal. Ich versäumte es, euch zu der Hochzeit eures Sohnes zu gratulieren und mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Ist mein Vetter denn nun ein froher Mann als Schwiegersohn eines Bauern?“
“Ach, Thusdrick…”, begann Aureliana einen Satz, den sie jedoch unvollendet ließ. Mit beinahe schon mitleidigen Blick sah sie zu Beregis und erklärte: “Vielen Dank, meine Liebe. Ich reiche deine Wünsche gerne weiter. Und ja, ich denke, dass er glücklich ist.” Sie schien aber bemüht, das Thema schnell zu wechseln, denn sie hob den Gesprächsfaden wieder auf, den ihre Nichte kurz zuvor fallen gelassen hatte: “Ulfried würde sich sicher über eine Einladung freuen. Und Pralinda ebenfalls. Sie ist Gratenfels gewohnt, in Kaltenstein geht es doch etwas beschaulicher zu, sodass ihr jedwede Abwechslung willkommen sein wird.” Dann sinnierte sie einen kurzen Moment und frug zögerlich nach: “Hattest du vor einem guten Götterlauf nicht schon mit Ulfried geschrieben? Ich erinnere mich dunkel, dass Thusdrick damals ein Schreiben zu dir brachte und uns kurz darauf auch ein Bote aus Aelgarsfels besuchte. Ich hatte dies nicht weiter hinterfragt…”, Aureliana sah in die Ferne und schmunzelte, “...oder besser: keine zufriedenstellende Antwort darauf erhalten.”
„Auch ihr seid sehr gut informiert!“, lachte Beregis auf. Doch dann fuhr sie ernster fort: „Ich hätte Ulfried damals schon schreiben sollen. Zumindest wünsche ich mir dies heute. Was die Briefe angeht, von denen ihr sprecht: Ich weiß um ihre Existenz, doch deren Inhalt las ich nicht. Tatsächlich war ich besorgt, dass Ulfried meine Einladung als unpassend empfinden könnte, da wir bislang kaum mehr als ein Grußwort zueinander sprachen. Und geschrieben haben wir einander nie. Daher ermutigt mich eure Meinung sehr, den beiden Edlen zumindest irgendeine Abwechslung sein zu können – so ich hoffen darf, vielleicht sogar eine angenehme?“ Ein Anflug von Schalk hatte sich wieder in ihre Stimme gemischt. Sie beobachtete ihre Gesprächspartnerin aus den Augenwinkeln. Bang hatte sie nach Anzeichen der Verbitterung Ausschau gehalten – vergeblich. Aurelianas Lächeln erschien ihr gütig und warmherzig. Aber manchmal schaute sie so traurig, wenn auch stets nur für einen kurzen Augenblick.
“Ich bin die Verwalterin des Edlen, mir sollte nichts von dem entgehen, was in Kaltenstein vor sich geht.”, erwiderte sie und schmunzelte dabei noch immer. “Aber das ein oder andere Geheimnis scheint Ulfried vor mir ja doch zu haben. Und du kennst ihn also wirklich nicht? Der Brief ging dann wohl an deinen Herrn Vater, nehme ich an?” Beinahe schon verschwörerisch zwinkerte sie ihrer Nichte zu.
„Nein, nicht mein Vater…”. Beregis lächelte zurück, aber zögerte, als überlegte sie ihre Worte. Bevor sie sprach, lenkte sie ihr Pferd näher an das von Aureliana: “Ich möchte euch um noch einen Rat bitten, liebe Tante: Wenn ein Mensch in Sachen der Liebe und der Minne ein Leid erfährt und dieses ihn gar zornig und missgünstig macht – wie soll er dies verwinden? Sollte man ihm nicht versuchen zu helfen? Und ist es nicht so, dass sich unverwundenes Leid auf Dauer nur stapelt zu einem hohen Turm?“
“Wie…meinst du das?”, frug Aureliana sichtlich irritiert. “Mir…mir geht es gut.”
Beregis streckte ihre linke Hand nach der Tante aus und suchte ihre Rechte. “Bitte erlaubt mir zu erklären, dass ihr mir nicht böse sein müsst.” Sie war sichtlich erschrocken und wartete, ob die Hand ihr wieder entzogen werden würde.
Die Hand wurde ihr nicht entzogen, aber Beregis merkt, dass die Haltung ihrer Tante sich ein wenig versteifte. “Ich…ich bin dir nicht böse Beregis. Ich bin zufrieden mit meinem Leben und denke nicht darüber nach, was hätte sein können.” Es klang wie eine Rechtfertigung.
Ihre Nicht beeilte sich zu antworten: "Ich war sehr unbedacht mit meinen letzten Worten. Stattdessen hätte ich euch höflich und zur rechten Zeit fragen sollen, ob ihr wegen Vergangenem Kummer in euch tragt – sei es durch einen meiner Anverwandten oder durch einen Fremden verursacht. Leugnen kann ich nicht, dass ich es wissen wollte. Denn wenn es etwas gäbe, das euch Kummer bereitet, müsste auch ich traurig sein. Nun habt ihr mir geantwortet, und ich bin froh darüber. Deshalb muss auch ich jetzt ehrlich zu euch sein.” Der Waldweg wurde schmaler, weshalb sich Beregis von Aureliana lösen und voran reiten musste. Aureliana von Argenklamm schmunzelte, denn sie hegte die Vermutung, dass ihre Nichte ihr gleich ein Geständnis machen würde. Sie war gespannt, wie sie es formulieren würde, doch legte sie sich schon tröstende Worte für ihre Nichte zurecht.
Als der Wald es zuließ, gesellte sich Beregis wieder zu ihrer Tante und nahm erneut deren Hand in die ihre: ”Oda, meine Schwester war es, die damals mit Ulfried Briefe austauschte. Ich fürchte, sie sehnt sich nach dem, was hätte sein können, und sein neues Glück ist ihr Leid. Dieses wiegt so schwer, dass es auch mich betrübt. Ich liebe sie sehr und möchte sie wieder fröhlich sehen. Von euch erhoffe ich mir Rat, denn ich bin ganz hilflos."
Aureliana gab ihrem Pferd mit einem Schenkeldruck das Kommando stehen zu bleiben, so dass die Hand Beregis’, deren Pferd nicht stoppte, entglitt. Die Verwalterin von Kaltenstein sah ihrer Nichte mit großen Augen nach und öffnete ihren Mund. Nach einem Augenblick der Stille schloss sie diesen wieder und schüttelte ungläubig ihren Kopf. Nach einem weiteren Schenkeldruck setzte sich das Reittier wieder in Bewegung und Aureliana schloss zu Beregis auf. “Oda…”, sagte sie mit gedämpfter Stimme, “Oda war das? Aber…warum?”.
“Warum? Das fragte ich mich auch.” erwiderte Beregis und musste dabei über die augenscheinliche Verwunderung Aurelianas schmunzeln. “Versteht mich nicht falsch: Ulfried und Pralinda möchte ich zuvorderst aus eigenem und ganz ehrlichem Verlangen heraus kennenlernen, nicht allein um meiner Schwester willen. Doch stimmt es auch, dass ich mir Ulfrieds Hilfe erhoffe, um besser zu verstehen…” Sie schien nicht zu wissen, wie sie den Satz fortsetzen sollte.
Die Worte Beregis schienen ungehört zu verhallen, denn Aureliana machte eine nachdenkliche Miene und neigte den Kopf von einer Seite zur anderen, während sie ziellos auf die Bäume am Wegesrand sah. Nach einigen Augenblicken kratzte sie sich am Kopf und antwortete Beregis: “War sie nicht auch auf der Altenberger? Vielleicht kennen sie sich von dort? Aber nach allem, was ich so über sie gehört habe, schiene mir das auch eine unpassende Verbindung zu sein.” Die Verwalterin erschrak sich kurz und ergänzte schnell: “Nicht wegen ihrem Stand, Beregis! Eher von…den ein oder anderen Erzählungen…falls sie denn stimmen sollten.” Es folgte ein etwas gequältes Lächeln.
Beregis neigte den Kopf in Zustimmung und antwortete: “Ich zweifle nicht daran, dass Frau Travia es so gefügt hat, wie es am besten ist, als sie dem Bund von Ulfried und Pralinda ihren Segen gab. Und doch hat sie damit meiner Schwester und mir einen Schaden zugefügt.” Sie zögerte einen Moment, als wäre sie verunsichert.
Dann lachte sie: “Ich fühle mich wie ein trotziges, hilfloses Kind, nachdem ich dies ausgesprochen habe. Und gerne würde ich’s euch heimzahlen, dass ihr schlecht über Oda denkt, weil es übles Gerede über sie gibt. Aber ich weiß, dass sie an manchem selber Schuld trägt. Daher geschieht es ihr recht, wenn ihr eure Zurückhaltung bewahrt. Bedenkt aber, dass sie mir trotzdem teuer ist und selbst Ulfried muss etwas an ihr geschätzt haben, soweit mir bekannt ist.”
Aureliana schüttelte den Kopf: “Ja, Ulfried kann mich sicher schnell für sich gewinnen. Er war bis vor wenigen Götternamen noch sehr unsicher. Vielleicht ist er das noch immer, dann versteckt er es jedoch sehr gekonnt.” Ein leichtes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. “Aber sag’ mir, liebe Beregis, was fand deine Schwester denn an ihm? Er lebt fern jedes städtischen Treibens, er hat weder Burg noch Schloss. Wäre das ein Leben, das Oda sich vorstellen kann? Von ihr hätte ich das nicht gedacht…eher von dir.”
Beregis überlegte einen Moment, bevor sie antwortete: “Ulfried, der Edle aus der einsamen Kaltenklamm unterscheidet sich sicherlich von den Gecken und Höflingen, mit denen die Grafenstadt ansonsten aufwarten kann. Vielleicht ist es eben dieses Andere, nach dem meine Schwester sich heimlich sehnt. Und wenn nicht, dann war es eine böse Laune Rahjas, die beiden zueinander zu führen, obwohl es weder Burg noch Schloss für sie geben kann. Weißt du, liebe Tante: Ich fürchte, Oda ist sehr einsam. Weder kann sie Aelgarsfels ihre Heimat nennen, noch hat sie in Gratenfels jemanden, dem sie traut. Sie hat nur mich. Und vielleicht hätte sie den jungen, treuen Ulfried haben können. Gewünscht hätt’ ich’s ihr. ”
Beregis sah herüber zu ihrer Tante: “Was würdet ihr an meiner Stelle tun? Ist es vermessen, in dieser Sache helfen zu wollen?”
Die ältere Rechtsgelehrte schien in ihre Überlegungen versunken und nickte, während ihr nur ein langgezogenes: “Hmmmmm.”, entfuhr. Nach einigen Augenblicken erwiderte sie schließlich: “Ach, liebe Beregis. Die Liebe mag auch dort Blüten sprießen lassen, wo wir eine solch schöne Blume gar nicht erwarten würden.” Ihr entfuhr ein tiefer Seufzer. “Ich weiß nicht, ob man da helfen kann.” Dann sah sie ihre Nichte mit Bedauern im Blick an: “Es tut mir leid, das von Oda zu hören. Ich dachte, sie fühlt sich im lebendigen Gratenfels unter ihresgleichen wohl. Aber mehr als ihr ein Ohr, eine Schulter und vielleicht aufmunternde Worte wirst du ihr nicht leihen können. Das sollte man jedoch nicht gering schätzen, es ist mehr, als die meisten Menschen zu geben bereit sind.” Das Lächeln, welches sich auf Aurelianas Lippen zeigte, wirkte fast schon entschuldigend. “Aber, liebe Beregis, das bringt mich zu einem anderen, wichtigen Punkt: Wie steht es denn um dich?”
In spielerisch vorwurfsvollem Ton erwiderte die junge Ritterstochter: „Wenn in Dingen der Minne letztlich jeder Mensch auf sich allein gestellt ist, sollten wir nicht lieber über erfreuliche Dinge sprechen? Wir beide sind vielbeschäftigte Verwalterinnen und sollten uns nicht den Kopf zerbrechen über das, was hätte sein können oder noch werden könnte. Denn wie ihr, bin auch ich zufrieden mit meinem Leben. Dennoch lade ich euch gerne nach dem Fest auf Turm Aelgarsfels ein, wo wir uns über die Kniffe der Abgaben- und Vorratsverwaltung austauschen können – oder über das, wonach euch sonst der Sinn steht.“ Wie zum Abschied nahm sie die Hand Aurelianas, lächelte sie an und lenkte dann ihr Pferd zur Seite.
Aureliana war über das abrupte Gesprächsende sichtlich irritiert und wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als sie bemerkte, dass das Ziel ihres Ritts erreicht war und ihre Nichte nun ihren Familienpflichten nachkommen musste. Daher rief sie ihr nur nach: “Bis später!”
Vor ihnen hatte sich die Prozession aufgelöst. Die Festgesellschaft verteilte sich auf der Lichtung, auf der die Diener bereits Vorbereitungen für den Gottesdienst getroffen hatten. Und so lenkte auch Aureliana ihr Pferd an den Rand des Platzes, um es dort neben den anderen festzubinden.
Nach dem Fest
Rittergut Aelgarsfels, Spaziergang bei Turm Aelgarsfels, 13. PRA 1047 BF
Am Morgen des folgenden Tages spazierten Aureliana und Beregis über die Bergwiesen und Weiden der Drachenkrallen. An den Hängen weiter unten grasten die Pferde des Ritters, während die weniger steilen Wiesen weiter oben bereits vor drei Wochen gemäht worden waren. Doch zwischen den vielen Felsen harrten noch gelbe Arnika, blaue Glockenblumen und die lila Methumian. Hierher führte der Weg der beiden Damen, gefolgt in gebührendem Abstand vom Knecht Jost. Außerdem begleitete sie Reto, ein Winhaller Wolfsjäger.
Aureliana stellte fest, dass sich ihre Nichte zu Fuß weit weniger elegant gab als zu Pferde. Sie schien sich darüber bewusst zu sein und erwiderte dem Blick ihrer Tante mit einem Lächeln, während sie mit tapsigen Schritten und um ihr Gleichgewicht bemüht den tückischen Feldsteinen im Gras auswich. “Wir werden nicht sehr weit laufen. Hinter den beiden großen Felsen führt der Pfad hinab zu einem Hain. Da befindet sich der Tsakreis und die Quelle, welche ich dir zeigen wollte.”
“Ich freue mich, dass du mir sie zeigen möchtest!”, entgegnete Aureliana und legte ihrer Nichte im Laufen freundschaftlich die Hand auf die Schulter, während sie tief einatmete und laut hörbar seufzte. “Noch immer riecht es nach den frischen Weiden, obwohl man sie vor Wochen bereits abgeerntet hat.”, sagte sie beiläufig und lächelte dabei selig. Dann versicherte sie sich mit einem Blick über ihre Schulter, ob der junge Knecht in Hörreichweite lief.
Der Knecht Jost wartete in gut dreißig Schritten Abstand zu den beiden und ließ seinen Blick unbeteiligt über das Tal schweifen. Neben ihm stand der Korb, den Beregis ihm anvertraut hatte. Der Hund hingegen lief rastlos hin und her, schnüffelte erst aufgeregt bei den Damen, nur um im nächsten Moment wieder zu Jost zurückzukehren.
“Sag, meine liebe…”, begann Aureliana das Gespräch mit ihrer Nichte in vertrautem Tonfall, “...warst du denn schon einmal verliebt? Oder hast zumindest rahjanische Gefühle gehegt?”. Unschuldig lächelte die ältere Frau Beregis an.
“Wenn du nur wüsstest!“, stieß Beregis amüsiert hervor, ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, ob der Knecht sie hören konnte. “Dabei ist Schwärmerei doch mein größtes Laster. Komme ich dir so kalt vor, dass du meinen müsstest, ich sei dagegen gefeit? Oder fragst du aus Sorge? Dann danke ich dir dafür. Nur bedauere ich, dass ich dich mit keiner aufregenden Geschichte erfreuen kann. In dieser Hinsicht bin ich das genaue Gegenteil meiner Schwester. Aber sag mir: Warum hast du gefragt?“
“Ach, nur weil wir bislang noch nicht darüber gesprochen haben,”, Aureliana machte eine beschwichtigende Handbewegung und legte dann doch ihre Stirn in Falten, ehe sie ergänzte: “Aber du bist eine junge Frau und in deinem Alter ist es nicht selten, dass man bereits versprochen ist oder sogar den Traviabund geschlossen hat. Ich diene da lediglich als schlechtes Beispiel.” Die ältere Frau neigte sich zu ihrer Nichte und zwinkerte ihr zu. Dann richtete sie sich wieder auf und straffte sich, während sie einen Blick über die Schulter warf und sich davon versicherte, dass der Knecht noch weit genug entfernt stand, sodass er das Gespräch nicht verfolgen konnte. “Liegt es vielleicht an deinem Vater? Hält er dich davon ab, jemanden zu finden? Vielleicht sogar, ohne dass er selbst davon weiß?” Der Blick ihrer Tante verriet Beregis, dass sich hinter der Frage ein unausgesprochener Tadel versteckte.
“Du bringst mich gleich auf zweierlei Art in schwere Bedrängnis”. Antwortete Beregis und hakte sich bei Aureliana ein, um Halt zu gewinnen, als sie über einen großen Stein steigen mussten.
“Erstens will ich dir widersprechen, dass du mir ein schlechtes Beispiel bist. Neben dem Weg, der der Gütigen Mutter am liebsten ist, gibt es doch noch viele andere, die sowohl einem Menschenleben als auch den restlichen Göttern zur Ehre und Freude gereichen. Und sorgst du nicht für deine Familie und dein Heim so gewissenhaft, wie es dir niemand nachmachen könnte? Ich bin mir da ganz sicher, denn ich spüre, dass wir uns in Vielem ganz ähnlich sind.”
Beregis deutete auf den absteigenden Pfad, den sie nehmen mussten, um den Hain zu erreichen. In der Ferne waren die Türme der Burg Kranichstein zu sehen. „Und zweitens“, fuhr Beregis fort, „kann ich meinem Vater ebenso wenig Schlechtes vorwerfen wie dir! Nur dass ich ihn manchmal tadeln muss, weil er ein mürrischer Griesgram ist. Und selbst wenn mir einmal nach Murren zumute wäre, hätte ich doch kein Recht dazu, solange meine ältere Schwester noch auf ihren Bund wartet.“
Aureliana schmunzelte. “Euer Bruder ist diesbezüglich doch ein ganz vorbildlicher Erbe eures Vaters. Verheiratet, bereits zwei eigene Kinder…”, ehe sie wieder ernster wurde und dabei ihre Hand auf die ihrer Nichte legte: “Beregis, Kind, du musst dich für niemanden verantwortlich fühlen, weder für deinen Vater, noch - in hoffentlich ferner Zukunft - für deinen Bruder. Und erst recht nicht für deine Schwester! Beregis, lebe dein Leben!” Sie sah der jungen Frau Tief in die Augen und wartete auf eine Reaktion.
“Ich möchte dir eine Freude machen”, antwortete Beregis. “Hast du dir je gewünscht, dorthin zu reisen, wo es selbst im Winter warm ist – nach Almada oder ins Liebliche Feld? Wäre ich einmal dort, würde ich dir schreiben von den sonnigen Gemütern der Menschen und ihren Künsten. Würdest du dir das wünschen? Sei nur vorsichtig mit deinen Worten, denn ich kann sehr ernsthaft sein in unvernünftigen Dingen. Und wenn ich Jost sagte, er solle die Pferde für mich und ihn satteln, dann täte er es ohne Zögern. Sollte ich aber etwas einfältiges tun wollen, für das du dich meiner schämen müsstest, dann musst du es mir verbieten.”
Aureliana blieb stehen und sah überrascht zu ihrer Nichte und dann zu dem Stallburschen, der ihnen mit einigem Abstand folgte. “Jost…”, murmelte sie vor sich hin und schien zu überlegen. "Hmm…denkst du da eher an ein…ähm…Abenteuer oder an…mehr?”, frug sie schließlich vorsichtig.
“Du zögerst, als hätte ich dich verschreckt.” erwiderte ihr Beregis mit heller Stimme. “Dabei suchte ich doch bei dir nach Mut und Zuspruch! Würde ich mich auf ein Abenteuer einlassen, bewegte mich schon vor dem Erreichen Elenvinas das einsetzende Heimweh zur Rückkehr. Und das ist zugleich meine große Furcht wie auch meine Hoffnung.”
Aureliana zuckte mit den Schultern: “Nun, das wirst du wohl nur herausfinden, wenn du es auch versuchst!” Dann lächelte sie und sah träumend in den Himmel. “Ich war auch einmal weit, weit weg von den heimischen Wäldern, im Horasischen, in Grangor. Es war mein Traum, einmal das wilde Meer zu sehen.”. Sie seufzte und richtete den Blick wieder auf ihre Nichte. “Nach dem Überfall der Schwarzpelze, der erst kurz zuvor gestoppt werden konnte, war eine Reise nach Havena, was sicher die nächstgelegene Stadt am großen Meer wäre, für uns - also mich und meine Mutter - zu gefährlich. Zumindest wollte mein Bruder uns dies nicht gestatten. Dann wurde es eben Grangor und ich habe es gesehen, das große, wilde Meer.”
“Das muss vor etwa dreißig Götterläufen gewesen sein, nicht wahr? Dann wärest du in etwa in meinem Alter gewesen zu der Zeit”, stellte Beregis entzückt fest und fuhr mit Eifer fort: “Bitte erzähle mir von Grangor und auch von deiner Mutter. Woher kam der Traum vom Meer und hat deine Mutter ihn mit dir geteilt? Oder kam sie mit dir um aufzupassen, dass du keine Dummheiten machst? Und war sie eine gütige und schöne Frau?”
Aureliana dachte einen Moment nach, dann schüttelte sie den Kopf: “Sonderlich schön war sie wohl nicht, denke ich. Aber gütig. Und genügsam. Ich glaube, sie wollte diese Reise noch mehr als ich. Nach dem Tode meines Vaters lächelte sie nicht mehr so oft und obwohl sie Kaltenstein, ihre Heimat, liebte, erschien es ihr wohl sehr…leer, würde ich denken. Sie war bis dahin wahrscheinlich nie weiter als bis nach Gratenfels gekommen.” Sie ließ ihren Blick über die Berghänge streifen und seufzte. “Ich denke, das ist auch der Grund, weswegen ich so viel Nachsicht mit meiner Schwägerin habe. Ihre Situation ist wie die von Mutter und sie tut mir leid.” Dann sah sie Beregis wieder an und zog eine Braue nach oben: “Allerdings ist meine Mutter im Gegensatz zu Yolande niemandem zur Last gefallen. Sie hat sich sogar um sie gekümmert.”
Beregis antwortete nach einiger Überlegung: “Von deiner Schwägerin Yolande weiß ich nichts und auch nichts von ihrem guten oder schlechten Betragen, doch schließe ich aus deiner Erwähnung, dass sie nach dem Tode ihres Mannes in ihrem Temperament eine Verschlechterung zeigt oder eine schlechte Eigenart dazu entwickelt hat, worunter die ihren nebst dir zu leiden haben. Dass Du darunter sehr leiden musst, sehe ich darin, dass dir der Gedanke so unvermittelt und überhaupt zur Aussprache kam; und außerdem: Die Art Nachsicht zu haben, wie die deine, rührt nicht von Teilnahmslosigkeit oder Unverständnis her, sondern ersteht aus deren Gegenteilen, was bedeutet je größer die Nachsicht desto größer das Mitleid. Meine Ahne Kuna, die mich anstatt meiner Mutter aufzog, mich vieles lehrte und stets eine gütige und verständige Frau war, ist auf ihre alten Tage und nach dem Tod ihres Mannes ebenfalls schwach an Verstand geworden; nur hat sie nichts von ihrer Sanftheit, Ruhe und Güte eingebüßt, die ihr immer schon zu eigen waren. Eine Last ist sie mir gar nicht oder darum, wenn überhaupt eine sehr liebe. Vom bösen Volk ist manchmal die Meinung zu vernehmen, dass sich im Alter mit abnehmenden Verstand oder bei plötzlicher Umnachtung das eigentliche Wesen einer Person offenbart, welches der listige Verstand zu vernebeln wusste, wenn es denn ein schlechtes ist. Auch sagen sie, eine Verrücktheit, so wie eine körperliche Krankheit, deute auf einen inneren Makel oder eine Strafe der Zwölfe hin und so schämen sie sich und versuchen zu verbergen, wenn sie krank sind. Mir sind solche Gedanken zuwider, will ich dir sagen, liegen sie auch nahe, vermögen sie sich nur dem dummen Menschen aufzudrängen, der mit zu kurzem Maß nach Ursache und Wirkung sucht und nicht versteht, wie schrecklich und verheerend solcher Aberglaube und die darauf folgenden Urteile für unsere zwölfgöttliche Gemeinschaft sein können. Und das ist auch die Meinung meiner Großtante Selinde von Aelgarsfels, die sich in solchen Sachen, die Götter betreffend, gut auskennt. Bei den Rittern, den Rondrianern und beim Kriegsvolk im Allgemeinen erkennt man ihren Ruhm und ihr gutes Wesen im Sinne ihrer Göttin ganz leicht an ihren Taten im Kriege. Ihre Wunden, Narben oder gar abgeschlagene Glieder zieren sie und gereichen ihnen zu Ehren, denn sie künden von ihrem Mut und ihrer Tapferkeit in der Schlacht. Wenn nun zwei Ritter den gleichen Mut in heiklen Unterfangen im Kriege beweisen und beide dabei eine schwere Wunde davon tragen, aber nur einer in deren Folge an Wundfieber erkrankt, wer würde auf den Gedanken kommen, das Fieber schmälere dessen Ehre und stelle sie unter die seines Mitstreiters? Ein Lump, wer so urteilen würde. Und wenn ein Ritter im Alter nicht mehr kämpfen kann, so bemisst man ihn nicht an seiner greisen Schwächlichkeit, sondern an seinen Taten, die er im Jugendalter vollbracht hat. So muss man es in allen Dingen bemessen, nur ist es oft schwerer als im Krieg, denn die Siege, die man abseits der Schlachtfelder erringt und die göttergefälligen Taten, für die man keine Waffen braucht, die Wunden schlagen, geschehen oft im Stillen und ohne dass viele sie sähen, weshalb kein Barde sie besingt. Das sind die Überlegungen, die ich dir mitteilen kann und mit denen ich hoffe, dein Leid lindern zu können. Unsere Alten, Gebrechlichen und auch Verrückten ehren und versorgen wir ohnehin, was unsere Pflicht ist, sind ihre Seelen, das Eigentum der Götter, doch unserer Fürsorge übergeben. Aber tun wir es lieber, wenn wir uns an ihre vergangenen Taten erinnern und ihnen unsichtbare Siege einräumen, von denen nur die Götter wissen. Und sind sie erkrankt an Leib oder Seele, dann tragen sie in der Regel nicht nur selber keine Schuld daran, sondern können sich damit sogar rühmen, in dieser Welt einen schweren Kampf ausgetragen zu haben, der sie versehrte.”
“Ach meine kleine…”, Aureliana legte Beregis behutsam eine Hand auf die Wange und sah sie mit einem Blick an, der zwischen Mitleid und Bewunderung changierte. “So jung und schon so klug.”, fuhr sie schließlich fort und senkte dann betroffen ihren Blick. “Ich komme mir immer vor wie eine alte Frau, die in ihrem Leben kaum etwas gelernt hat, wenn ich aus deinem Munde solch weisen Worte vernehmen kann.” Dann sah sie ihre Nichte direkt an und ihr Blick hatte etwas Versöhnliches. “In dir scheint eine alte Seele zu wohnen. Es muss ein Geschenk der Götter sein.”
Beregis antwortete: "So eine alte und weise Seele merkt es auch sehr leicht, wenn man Spott mit ihr treiben will. Allerdings erkennt sie auch, dass es sich für die Jugend nicht gehört, dem Alter Ratschläge zu machen. Also entschuldige bitte.”
Sie kamen zu einem Buchenhain, der unterhalb der grasbewachsenen Hügelkuppe lag. Hier entsprang ein Bach, der zunächst langsam durch die Wiesen plätscherte und später über viele Stufen hinab ins Tal stürzte. Die Quelle hatte man mit großen Granitsteinen eingefasst, auf deren größtem ein Tsakreis eingemeißelt war. Direkt darunter füllte das Wasser ein flaches kreisrundes Becken, daneben stand eine Bank. Die Damen machten Rast und Jost reichte ihnen den Korb, in welchem Pasteten, weißes Brot und Waldbeeren eingepackt waren, danach entfernte er sich, um Steinpilze zu suchen. Der Hund legte sich neben die Bank.