Celissa - Kapitel 1

Kapitel 1: Ein Blick in die Vergangenheit

Elva ließ ihren Blick über die Weiden des Ambelmunder Landes schweifen und fröstelte. Der Perainemond war kühl, das Land begann gerade an wieder zu ergrünen und der Herr Efferd schien wieder oft im Disput mit seiner Schwester Rondra zu liegen. Graue Wolken, Regen und stürmische Winde beherrschten diesen Morgen. Entschlossen schloß sie das Fenster, das sich in einem Trakt der Burg Fadersberg befand. Seit drei Tagen war sie schon hier und nun endlich lag die junge Edle in den Wehen. “Glück habt ihr, Kindchen, das euer Baron euch zur Geburt auf seine Burg berufen hat. Stellt euch vor, wir müssten das ganze jetzt in einem zugigen Wehrturm machen. Und dass bei diesem Wetter!” Die Vierzigjährige Geweihte lächelte der Schwangeren zu. Celissa vom Schwarzen Tann lief in einer Schlafkammer auf und ab, während eine Zofe der Baronin ihr die Hand hielt. Kaum ein Wasserlauf war seit der ersten Wehe vergangen und die Edle sah jetzt schon erschöpft aus. Unzählige Geburten hatte Elva schon hinter sich und ihre Gefühl sagte ihr, dass diese keine leichte sein wird. Doch noch gab es etwas Zeit. “Macht noch ein paar Runden und ruht dann aus. Ich bin gleich wieder bei euch, Celissa.” Mit forschem Schritt verließ sie die Kammer und erreichte über einer steinernen Freitreppe den Rittersaal. Noch einmal straffte sie sich ihre orange Robe und richtete ihre rotes, lockiges Haar. Alleine war sie nicht gekommen und nur auf den Wunsch der Baronin Tsasalda von Schweinsfold hin. Vor zwei Götterläufen wurde sie und ihr Gemahl zu den Vorstehern des Gänsetempels zu Herzogenfurt berufen und seit dem bemühte sich die Landesmutter Schweinsfold zu einem regen Kontakt zu den Beiden. Der Glaube an alten Göttern war tief verwurzelt bei den Nordgratenfelser, aber nur mit Geduld und Verständnis konnte man diese erreichen. Man weihte sie in einer Prophezeiung ein und Elva konnte nicht anders, als einzuwilligen die Erbbaroness Senola zu begleiten, um sicher zu gehen, dass die Gebärende ganz nach den zwölfgöttlichen Geboten behandelt würde. Die Geweihte blieb kurz am Absatz stehen und betrachtete alle die gekommen waren, um Zeuge einer heidnischen Prophezeiung zu werden.

Als erstes stach Elva eine hübsche, junge Frau mit rückenlangen, rabenschwarzen Haaren und Aufsehen erregender Kleidung ins Auge. Sie war stark geschminkt, betonte dabei ihre edel geschwungenen Lippen mit dunkelrotem Lippenrot und hob ihre braunen Augen mit Kohlenstaub hervor. Auch bestach ihr emotionsloses Antlitz durch noble Blässe, die sich besonders deutlich von der Farbe ihrer Haare und der getragenen Kleider abhob. Die Garderobe der Frau war in diesen Breiten höchst auffällig und würde vom Gros der Nordgratenfelser wohl als viel zu freizügig angesehen. Unter einem offen getragenen schwarzen Reisemantel trug sie in schwarz und rot gehalten ein eng anliegendes, dunkelrotes Mieder, das ihre Oberweite und ihre schmale Taille schön zur Geltung brachten und mit schwarzer Spitze an Hals und Schultern ergänzt war. Ihre Unterarme und Ellbogen waren ebenso mit Ärmeln aus schwarzer Spitze bedeckt, in welche der eine oder andere Rubinsplitter eingearbeitet war. Dazu trug sie einen langen schwarzen Rock, der an den Seiten hohe Schlitze aufwies, die einen schönen Blick auf die ebenfalls schwarzen, über-Kniehohen Stiefel mit leichten Absätzen boten. An ihren schlanken Fingern und um ihren Hals fand sich allerhand Zierrat aus Silber, ergänzt mit Karneolen und Rubinen. Da sie in Begleitung des Baronets von Rickenhausen reiste, wusste die Traviageweihte, dass es sich bei ihr um Frenya vom Traurigen Stein handeln musste. Eine nachgeborene Tochter eines blutjungen, aber wohlhabenden und der Göttin Rahja nahestehenden Edlengeschlechts aus dem fernen Kyndoch und darüber hinaus ein regelrechtes Biest, das in der kurzen Zeit am Hof zu Rickenhausen schon zu einem gerne aufgegriffenen Gesprächsthema in der gesamten Grafschaft mutierte. Beim gegenwärtigen Anblick der jungen Edeldame wunderte sich die Altenbergerin darüber nicht.

Neben Frenya stand der junge Basin von Diebelsfink: mittelgroß, sehr schlank, ein wenig blass, bartlos, die kurzen, lockigen braunen Haare unter einem roten Samtbarett, welches von einem kleinen Busch Fasanenfedern geziert wurde, halb verborgen. Er trug eine enganliegende rote Hose, halbhohe Schnabelschuhe und ein blaues Brokatwams, dessen silberne Fäden im Licht der Kerzen gelegentlich aufblitzten, fiel doch von draußen zu wenig Licht durch die schmalen Fenster, um den Raum erhellen zu können, zumal bei diesem Wetter. Seine Laute hatte der Baronet in seinem Gemach gelassen, denn im Moment war den meisten der Anwesenden wahrscheinlich nicht nach Kunstgenuss zumute.
Die graublauen Augen blickten wie immer ein wenig erstaunt, als Basin die Versammlung der Adligen betrachtete, deren Stimmung sich ganz unterschiedlich angesichts des bevorstehenden Ereignisses ausdrückte. Seine Zeit an verschiedenen Höfen hatte seine Beobachtungsgabe geschult, so dass er in den Gesichtern der meisten Anwesenden lesen konnte wie in einem Buch. Nur bei Frenya fiel ihm das schwer. Die schöne Traurigsteinerin, die er erst auf seiner Reise hierher näher kennengelernt hatte, war ihm einerseits ein wenig unheimlich, andererseits zog sie ihn an mit ihrer zuweilen lasziven, offenherzigen Art, die sich wenig um Etikette scherte. Trotz seiner Profession war Basin doch von eher zurückhaltendem Wesen, so hatte er sein Interesse an der Hofdame seiner Eltern bisher hinter einer Maske betonter Unverbindlichkeit ihr gegenüber versteckt.
Der Baronet trat an ein Tischchen und schenkte aus einer bereitstehenden Karaffe zwei Weinkelche voll. Einen davon brachte er mit schüchternem Lächeln Frenya, den anderen führte er an die eigenen Lippen. Was der Tag wohl bringen mochte? Er zweifelte nicht an den Worten der Prophezeiung, doch wie es Prophezeiungen so an sich hatten, ließ deren Aussage doch einen gewissen Interpretationsspielraum offen. Nun, er würde sich im Hintergrund halten und beobachten, wie er es gelernt hatte.

Die Hofdame bedankte sich mit dem Anflug eines Lächelns für den Wein. Wirklich viel war dem Antlitz der jungen Frau wie immer nicht zu entnehmen. Gleich einer makellosen Statue stand Frenya im 'Thronsaal', nippte an ihrem Kelch und beobachtete die Menschen um sich. Besonders viel Aufmerksamkeit schien sie dabei Senola zu schenken, auch wenn ein vorzüglicher Menschenkenner das Funkeln in ihren Augen eher als Missgunst und weniger als Interesse auslegen könnte.

Stundenlang bereits war Leuenhard von Tannenfels in den teils zugigen Gängen von Burg Fadersberg auf und abgewandelt. Celissa, seine geliebte Celissa, hatte ihm heute in der Frühe mitgeteilt, dass seine Unruhe sie noch wahnsinnig machte: "Wie kann ein gestandener Mann sich vor einer Geburt nur so verrückt machen?" hatte sie ihn gescholten. Der Edle von Tannenfels hatte sie im Glauben gelassen, es sei nur seine Aufregung angesichts des gleich doppelten Segen Tsas, der eine Niederkunft bekanntermaßen riskanter machte. Wenn sie wüsste...
Jedenfalls hatte Elva, die treusorgende Travia-Geweihte, die sich ihrer angenommen hatte, ihm nachdrücklich geraten, sich noch ein wenig die Beine zu vertreten.
Leuenhards Gewissen lastete schwer auf ihm. Seit jener vermaledeiten Stunde, an dem Ansgar von Fadersberg ihm die Prophezeiung und seine daraus erwachsenden Pflichten eröffnet hatte und seine so unbeschwerte und glückliche Vorfreude auf seine beiden erstgeborenen Kinder jäh der Angst vor dem Termin ihrer Geburt gewichen war, war kein Tag mehr vergangen, an dem er nicht mit sich gerungen hätte, keine Nacht, in der die furchtbare Pflicht ihm nicht den Schlaf geraubt hätte. Er hätte seine Celissa einweihen müssen. Aber was hätte er ihr damit angetan... Rondra mochte Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit verlangen, aber manche Wahrheiten waren zu grausam, zu schrecklich, um diese anderen Schultern aufzubürden. Und Celissa hatte doch schon genug mit ihrer Schwangerschaft zu tragen.
Wieder erreichte er den Rittersaal, in dem sich inzwischen eine ganze Gruppe weiterer Personen eingefunden hatte, darunter auch sein Baron Ansgar von Fadersberg. Doch Leuenhard hatte nur Augen für die Travia-Geweihte, die wie er gerade in den Raum getreten war und auf die er, jeder Etikette zum Trotz - direkt zustürzte. "Wie geht es meiner Gemahlin? Ist es schon so weit?"

Ansgar lachte - ein tiefes, kehliges Lachen, das aus den Niederungen der beeindruckenden Gestalt des Barons aufwallte und den Saal erfüllte. Eine Hand, so breit und schwer wie eine Bärentatze, klatschte auf die Schulter des nervösen jungen Vaters, dessen Aufregung durch diese väterliche Geste keinesfalls schwand. “Eiei Leuenhard, wie wollt Ihr mehr als einmal Vater werden, wenn Ihr schon bei der ersten Geburt vor lauter Nervosität an einem Herzschlag sterbt.”, witzelte er jovial. Zwei-, dreimal klopfte er seinem Ritter auf den Rücken, was Leuenhard jedes Mal zusammenzucken ließ. Seine Frau hatte schon ein Kind ausgetragen und da hatte er keine solchen Anstalten gemacht. Dabei war sich der Baron um die Tragweite dieser Geburt mehr als bewusst, doch war er überzeugt davon, dass diesmal nichts würde schief gehen können: Waren doch die Kinder prophezeit worden.

‘Wie konnte Ansgar angesichts dessen, was heute auf sie wartete, noch witzeln? Meinte dieser das ernst, oder versuchte er, seine eigenen inneren Nöte zu überspielen?’ Leuenhard, der seinem Baron aus Überzeugung immerzu treu und ergeben war, wie alle Tannenfels seit ehedem, hatte sich diesem gegenüber noch nie so fremd gefühlt. Noch nicht einmal damals, als ihm dieser anvertraute, was ihn heute so verzweifeln ließ - da zeigte sein Lehnsherr wenigstens eine gebührende Ernsthaftigkeit und so etwas wie Anteilnahme.
Die zuerst in ihm aufsteigende Antwort schluckte Leuenhard herunter, weniger aus Etikette - er pflegte einen offenen Umgangston mit seinem Baron - als der Tatsache geschuldet, dass es in diesem Augenblick noch wichtigeres für ihn gab. Seine Aufmerksamkeit richtete sich ganz auf Elva.

Die schlanke Geweihte ging ein paar Schritte auf ihn zu und legte ihre Hand auf seine Schulter. “Keine Sorge, Tannenfels. Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Aber es wird noch eine Weile dauern.” Dann ging sie auf die Tafel zu ergriff sich einen Krug und goss sich ein wenig von dem Wein ein.

Leuenhards Gesichtston wirkte für seine Verhältnisse recht fahl und hob sich selbst gegen sein kurzes blondes Haar und den ebenfalls blonden, wohlgestutzten Bart, der seinen Mund umrandete, durch Helligkeit ab - zusammen mit seiner für seine Familie typischen hageren Statur und den von viel zu wenig Schlaf dunkel umrandeten Augen machte er einen ungesunden Eindruck und wirkte gerade auch älter als die Ende zwanzig, die er tatsächlich erst war. Das farbliche Wechselspiel mit seinem dunkelgrünen Wappenrock, auf dem das goldene Hirschhaupt derer von Tannenfels prangte, und seiner ansonsten schwarzen Gewandung, einer robusten ledernen Hose, einer Langtunika und festen Stiefeln, tat sein Übriges dazu. Seine Linke klammerte sich an die Scheide seines Schwertes, als ob er an diesem Halt suchte.

Ansgars Anblick bot dazu einen radikalen Kontrast: Der große, ungeschlachte Mann mit den gewaltigen Händen stand leicht nach hinten gebeugt, die Arme in den Gürtel gestemmt, hatte schon einige Sommer gesehen, doch hatten diese seine Gestalt gestählt, nicht gebeugt. Im Gegenteil. Die lederne, leicht braune Haut Ansgars wirkte robust und unverletzbar. Der braune Vollbart wies zwar das eine oder andere silbrige Haar auf, doch das dichte Haar ließ noch keine Anzeichen des Alters erkennen. Eingedenk des feierlichen Anlasses des Tages hatte er sich in seine besten Klamotten gehüllt, die den Baron jedoch weniger kleideten, als dass sie an ihm Fehl am Platz wirkten. Die Statur rief geradezu nach einer Rüstung oder wenigstens einem Wappenrock, die breite Brust verlangte ein Wappen, das davon prangen konnte. Einziger Makel dieser mächtigen Erscheinung war der Wohlstandsbauch, der erste Anstalten machte, den Gürtel zu spannen. Noch konnte sich der Baron selbst einreden, es seien nur Muskeln, die gelegentlich das Anlegen der Platte erschwerten. Die großen, ausladenden Bewegungen mit den beeindruckenden Armen und den Pranken an deren Ende überspielten gerade allerdings die Aufregung, die sich auch in Ansgar breitgemacht hatte. Heute zählte - für die Zukunft der Baronie.

Leuenhard nickte auf die Worte Elvas hin, auch wenn diese seine Unruhe nur wenig milderten. Eine kleine Galgenfrist… Sein Blick kreiste, besah rasch die teils aus Herzogenfurt, teils aus Rickenhausen angereisten Gäste. Gekommen, um beizuwohnen, wie sich eine große Prophezeiung erfüllt. Empfanden diese am Ende sogar so etwas wie Vorfreude auf das Bevorstehende?
Der Edle und Ritter nahm sich auch einen Becher Wein, nippte kurz an diesem, und gesellte sich dann zu Ansgar. Auch wenn er die Antwort längst wusste und er an deren Richtigkeit nicht wirklich zweifelte, alle Zeichen mehr als eindeutig schienen und sowohl seine weltlichen Pflichten als auch die Götter, die wahren Götter, es verlangten, flüsterte er dennoch, einem Ertrinkenden gleich nach dem letzten Strohhalm greifend, seinem Baron ins Ohr: “Seid Ihr wirklich sicher, dass wir die Prophezeiung richtig verstanden haben? Dass wir das richtige tun?”

Heridan nippte an seinem Becher Wein, während er sich mit der anderen am Kaminsims abstützte und die Flammen im Kamin betrachtete. Der mit 90 Fingern hochgewachsene Ritter wirkte für sich schon beeindruckend. Aber wo man beim Anblick des Barons an einen Bären denken mochte, fühlte man sich bei Heridan unwillkürlich an einen Wolf erinnert. Hager und wenig muskulös wirkte er, auch wenn der Eindruck täuschte und seine Bewegungen wirkten beinahe geschmeidig. Die widerspenstige Mähne dunkelblonden Haares und verlängerten Koteletten, die in einen Backenbart übergingen, verstärkten den Eindruck an den Wolf noch. Wie auch sein Baron hatte er für heute sein Praiostagsgewand angezogen und harrte nun der Dinge die da folgen mochten. Als der Baron laut auflachte und dem armen Leuenhart mehrmals kräftig auf die Schultern schlug, riss sich Heridan von der Betrachtung der Flammen los und lenkte den Blick seiner stahlgrauen Augen auf die anwesende Schar Adliger. Waren sie alle nur wegen dieser verdammten Prophezeiung gekommen?

Statt erneut einen Witz zu reißen blickte der Baron Leuenhard mahnend an. Die beiden standen an einem Fenster des Thronsaals, die Rücken den anderen zugewandt, sodass diese seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen konnten. Die Wandlung im Blick seines Lehensherrn war für Leuenhard ganz eindeutig zu erkennen. Eine rasche Handbewegung vor der Brust zeigte dem Ritter, dass dieses Thema ein für allemal erledigt war - besser noch, dass jetzt und hier niemand, aber auch keiner darüber reden sollte. Dann legte der baron seinen linken Arm um die Schulter des jungen Mannes und zog ihn väterlich zu sich heran. “Glaub mir Sohn, es wird alles gut. Deiner Holden wird es prächtig ergehen und deinem Spross ebenso.”, wobei er bewusst einen Begriff wählte, der weder Singular noch Plural verriet.

Ein paar Schritt über den beiden Männern, von der Dunkelheit eines nicht beleuchteten Winkels geschützt, beobachteten acht Augen das Gespräch. Es war Rotlöckchens Aufgabe gewesen die Empfindungen der Menschen betreffend die Prophezeiung zu beobachten und er war zufrieden - sofern man dies einem Arachniden überhaupt ansehen konnte. Die Zweifel des Kindesvaters würde seine Herrin bestimmt mit Wohlwollen aufnehmen.

Einem unser Sprösslinge, ja.’, dachte Leuenhard bitter, und seine Augen und seine starre Miene brachten das Unausgesprochene zum Ausdruck. ‘Celissa vielleicht - wahrscheinlich würde sie die körperlichen Strapazen gut überstehen - sie war eine starke Frau. Aber was würde das Bevorstehende mit ihrem tapferen Herzen machen? Celissa als Kind derer vom Schwarzen Tann und er, als Erbe und schließlich Edler von Tannenfels noch mehr, hatten ihr ganzes Leben in der Gewissheit der Aufgabe zugebracht, die ihren beiden Geschlechtern zukam, die Tannwacht inne zu haben. Sie mussten sich jederzeit bewusst sein, dass für deren Erfüllung auch Opfer zu erbringen waren. Er selbst hätte zum Schutze von Tannenfels und Ambelmund jederzeit sein Leben gegeben. Aber durfte er einer alten Prophezeiung und deren Deutung durch dieses Weib aus Herzogenfurt wegen, so treffend auch immer diese klingen mochte und so überzeugt sein Baron von dieser war, sein eigen Fleisch und Blut, unschuldig und rein und wehrlos, im Vertrauen auf die Liebe seiner Eltern in diese Welt getreten, darbringen? Konnte das wirklich der Wille der Mutter sein?
“Ich muss die Baroness dennoch um ein Gespräch ersuchen, vorher. Ich will es aus ihrem Munde hören.” flüsterte er Ansgar zu. “Ich hoffe, Ihr könnt das verstehen, Hochgeboren.”

Da grunzte der große Mann vernehmlich. Es war nicht einfach zu deuten, ob das nun ein abschätziger oder aber ein Laut voll Anteilnahme war. Es klang wie ein in der Kehle ersticktes Lachen.

Langsam löste Leuenhard seinen Blick vom Geschehen draußen - geistig teilgenommen hatte er ohnehin nicht am regen und ihm heute nachgerade absurd normal erscheinenden Treiben der Flößer, die nach dem langen Winter gerade wieder mit Mühe und Geschick ihre ersten Holzstämme die noch immer vom Frühlingsregen und der Schneeschmelze aufgewühlte Ambla hinabschafften und im Flößerhafen unterhalb der Burg zur Rast anlandeten - er suchte jene Senola. Dabei fielen seine Augen auf Selinde, die ihm noch gut aus der Zeit ihrer Knappschaft hier bei Hofe bekannt war. Jetzt begleitete sie ihre Schwester. Ob sie eingeweiht war? Wenn, so ließ sie sich nichts anmerken. Sie kam ihm heute genauso fremd vor, wie die anderen Gäste.

Währenddessen starrte der Baron weiter angestrengt aus dem Fenster, ohne auch nur im Ansatz zu realisieren, was draußen vor sich ging. Zu sehr kreisten seine Gedanken um eine Frage: Wann?

Selinde stand in der Nähe der Tür, von wo aus sie den gesamten Saal, und die dort anwesenden Zwei- und Vierbeiner, gut im Blick hatte. Sie war dienstlich hier und hatte deswegen versucht einen Kompromiss bei Schmuck- und Kleiderwahl zu finden. Sie wusste eh, dass sie es ihrer Schwester nicht recht machen konnte und diese auf sie herab blicken würde, wie eh und je. Also hatte sie sich dazu entschieden feste, schwarze Reiterstiefel über einer eng anliegenden, weißen Hose aus Schurwolle zu tragen. Über einer schlichten, roten Tunika trug sie ihr knielanges Kettenhemd, welches so gefertigt war, dass sie damit auch reiten konnte. Darüber ein gelber Wappenrock mit dem aufsteigenden roten Eber ihres Hauses. Der Schwertgürtel schnürte ihre Kleidung an der Taille ein, so dass ihre Figur gut zu erahnen war. Sie war schlank, groß gewachsen und hatte feste, runde Brüste, die mit der Größe einer halbierten Honigmelone mithalten konnten. Ihre rotblonden Haare hatte sie zu zwei langen Zöpfen geflochten, die ihr bis zur Taille reichten. In beide waren rote Bänder von oben nach unten eingewoben. Um den Hals trug sie ein zwei Finger breites Lederband, an welchem ein münzgroßes Amulett aus Silber hing. Es zeigte Schwert und Schild - das Symbol Rondras. Ihre Lippen waren nur sehr dezent mit einem Hauch von roter Farbe geschminkt. Feine, ebenfalls eher dezent gehaltene Lidstriche, betonten ihre blauen Augen. Ein silbernes Schapel hielt ihre Haare zusammen, ohne dass sie ein Kopftuch dazu trug. Trotz ihrer Mission lächelte sie stets. Sie war vielleicht nicht von der Mutter mit ihrer Gabe beschenkt worden, stattdessen hatte sie Schönheit und Anmut erhalten, ohne dass es sie eitel werden ließ.

Ansgar warf seiner ehemaligen Knappin einen verstohlenen Blick zu. Sie war ja schon immer eine wirklich schöne Frau gewesen, aber seitdem er sie aus der Knappschaft entlassen hatte war sie noch einmal schöner geworden. Und dennoch: Der Baron hatte was seine Schutzbefohlenen anging nie unzüchtige Gedanken. Insgesamt: Er mochte manchmal grobschlächtig und fahrig, vielleicht sogar notorisch nervös sein, doch achtete er die Regeln des Anstands - die alten Sitten. Nein, sein Blick galt nicht ihrer Erscheinung, vielmehr wollte er sie im Auge behalten. Die Kleine wusste zu viel - und wer zu viel wusste, der konnte gefährlich werden.

Selinde nickte freudig strahlend ihrem ehemaligen Schwertvater zu. Er hatte ihr alles beigebracht und sie hatte dieses Wissen freudig in sich aufgesogen. So schnell und nachhaltig, dass er sie bereits vor über zwei Götterläufen, als sie noch keine zwanzig Lenze zählte, zur Ritterin schlug. Sie mochte ihn, fast so sehr, wie sie ihren Vater mochte.

Ansgar winkte mit seiner Pranke zurück, dann wandte er sich wieder dem ängstlichen werdenden Vater zu. Verflucht - sie hatte seinen Blick gesehen. Er musste viel, viel vorsichtiger sein!

Komisch! Kam es ihr nur so vor, oder hatte er sich absichtlich hastig abgewandt. Sie runzelte die Stirn. Irgendwie wirkten hier alle so angespannt. Zuerst hatte sie es auf die schwierige Geburt geschoben, welche im schlimmsten Falle den Tod von Mutter und ihren Kindern bedeuten konnte. Aber, das allein war es nicht. Sie blickte zu ihrer Schwester. Ob es vielleicht doch etwas mit dieser Prophezeiung zu tun hatte? Worte, die eine heidnische Priesterin vor langer Zeit vor sich hin gebrabbelt hatte. Egal. Sie war hier, um sich um Senola und Elva zu kümmern. Allerdings meinte sie sich zu erinnern, dass von Blut und Opfer die Rede war. Verstohlen sah sie zu Heridan herüber. Würde er ihr beistehen, wenn sie Hilfe bräuchte?

Wenn Heridan ihren Blick wahrgenommen hatte, so zeigte er dies nicht. Noch immer stand er am Kamin und ließ seinen Blick über die Anwesenden streifen. Jetzt hatte der Ritter sein spezielles Augenmerk allerdings auf die Kyndocherin gelegt. Das war sie also, die Frau über die sich der halbe Gratenfelser Adel das Maul zerriss. Nun ja, ihr Stil hatte schon was al’anfanisches, jedenfalls hatte er sich in der Vergangenheit die frivolen Grandentöchter der Schwarzen Perle immer so vorgestellt. Nun ja, wie junge Knappen eben so sind, wenn sie die ersten Bücher über den Tiefen Süden lesen. Gegen seinen Willen musste Heridan darüber schmunzeln. Aber dann waren sie wieder da, seine Gedanken und Sorgen, die sich um diese Zusammenkunft und die Prophezeiung drehten. Sein Blick wanderte weiter zu Selinde. Vielleicht sollte er doch mit ihr darüber sprechen.

Ja, das hatte sie wohl verdient. Schließlich war sie nun verlobt und sie mussten größte Heimlichkeit walten lassen, aber dennoch war diese Ignoranz ein Stich ins Herz. Dabei war er doch der Hauptgrund, warum sie dieser Mission zugestimmt hatte. Sie konnte sich weitaus besseres vorstellen, als ihre Schwester zu beschützen. Dann wandte er den Kopf und ihre Blicke trafen sich wieder. Hoffnung und Sehnsucht schlichen sich in ihr Herz.

Frenya konnte die Blicke des Ritters förmlich fühlen und als sie sich ihm zuwandte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Ausdruckslos und kalt wirkte ihr Gesicht, wiewohl … vielleicht war es auch bloß eine Mischung aus Langeweile und Desinteresse, die ihm aus dem statuenhaften Antlitz entgegen schlug. Kurz schien es als zucke ihre linke Augenbraue hoch, dann nahm sie einen Schluck aus ihrem Weinkelch.

Diese Frau, so schön wie sie war, schreckte ihn ab. Seine Augen verengten sich als er ihren Blick erwiderte. Dieser maskenhafte Gesichtausdruck und ihre toten Augen ließen ihn an eine Schlange denken. ‘Er würde sie im Blick behalten müssen. Als er sein Augenmerk wieder Selinde zuwandte, wurden seine Züge wieder weicher, freundlicher. Er liebte sie noch immer, auch wenn sie verlobt war. Warum hatte sie erst was gesagt, als es schon zu spät war? Nun trug er den Ring, der für sie gedacht gewesen war, in einem kleinen Beutel mit sich. Ihr sehnsüchtiger Blick traf ihn vollkommen unvorbereitet. Zu sehr war er in seinen Gedankengängen gefangen gewesen. Heridan unterdrückte ein Seufzen. Hoffentlich hatte niemand sonst diesen Blick gesehen.

DA! Ein Sehnen auch in seinem Blick. Warum nur hatte sie nicht selbst wählen dürfen? Plötzlich bemerkte sie, wie der Kater ihrer Schwester um ihre Beine strich. Sie verfluchte sich gerade selbst und hoffte, dass das Vieh nicht allzuviel mitbekommen hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe und flüsterte wortlos: ”Ich muss Dich sprechen, nachher.” Sie hoffte, dass er verstanden hatte.

Als der Ritter von Quakenbrück sich von ihr abwandte - Frenya hatte von einem schwachen Geist auch nichts anderes erwartet - folgte sie seinem Blick hin zur Baroness Selinde. Es dauerte nicht lange da verstand sie. Kurz verzogen sich ihre Lippen zu einem grausamen und abschätzigen Lächeln, dann wandte sie sich von der, in ihren Augen unwürdigen, Szenerie ab und musterte die anderen Anwesenden. Dass Rotlöckchen sich beim werdenden Vater und dem Baron positioniert hatte, nahm sie dabei wohlwollend zur Kenntnis.

Der Ritter legte seine Hand auf den Knauf seines Schwerts und tippte mit dem Zeigefinger gegen den Griff, als Zeichen dafür, dass er verstanden hatte und dem zustimmte. Als beide noch Knappen waren, hatten sie sich während eines besonders langen und langweiligen Winters diese Geheimzeichen überlegt. Was zuerst als Spiel und Fingerübung begann erwies sich mit der Zeit als recht nützlich in allerhand Situationen, wie jetzt zum Beispiel.

Erleichtert rückte sie die Gürtelschnalle zurecht und strich mit zwei Fingern an einer Seite entlang. Das bedeutete, dass sie sich in 10 Minuten mit ihm in der entsprechenden Ecke treffen wollte.

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