Schwarz steht der Tann - Akt 6: Unterschied zwischen den Versionen

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=== Aleit ===
 
=== Aleit ===
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Befinna wusste nicht mehr, wie viele Windungen und Räume sie durchschritten hatten, war ihr doch bald - vielleicht auch ihrer Müdigkeit und den Erlebnissen der letzten Tage geschuldet - jede Orientierung verlustig gegangen. Die junge Baroness wusste nur, dass Suncuua, die eine brennende Fackel in der Hand trug, sie aufwärts führte, bis sie eine große, fast kreisrunde Höhle erreichten. Diese wurde nach oben teils durch eine Decke abgeschlossen, teils mündete sie in einem großen Loch, durch das der volle Mond verschwommen zu erkennen war, denn die Kaverne war von warmem Dampf erfüllt, der irgendwoher von unten in den Raum eindrang und für wohlige Temperaturen sorgte.<br>
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In der Mitte glühten die letzten Überreste eines Holzfeuers, und ein merkwürdiger, einerseits recht rauchiger, andererseits auch würziger Geruch hing schwach in der Luft. Am Boden erkannte Befinna einige Häufchen, von denen sich eines als Rondrards Habseligkeiten, ein anderes als die Robe Ulfarans erwiesen.<br>
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Die Schamanin deutete Befinna sich zu setzen, dann ging sie kurz nach draußen, um noch ein paar Äste hereinzuholen und das Feuer wieder zu entfachen.<br>
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Als sie dieses richtig im Gang hatte, warf Suncuua einige Kräuter hinein, die die Flammen für einen Moment zischend höherlodern ließen. Kurz darauf durchwirkte ein neuer, süßlicher Geruch den Raum, der Befinna rasch müde und ihre Lider schwer werden ließ.
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Derweil hatte die Schamanin aus einem Bündel, dass sie, von Befinna unbemerkt, irgendwo auf dem Weg aufgenommen haben musste, einige Beutelchen mit Farbpulvern und weitere Utensilien entnommen, mit denen sie begann, weiße und schwarze Farbe anzurühren.<br>
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Befinna war aller Anspannung zum Trotz kurz davor einzuschlafen, da schreckte sie jäh wieder hoch und sah das Gesicht Suncuuas unmittelbar vor dem ihren. "Malen Gesicht dein, Gesicht Suncuua. Dann Geister rufen. Aleit sehen." erklärte diese mit ruhiger Stimme.
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'G … Geister?', schoss der Baroness nun ein Wort ein, das sie zuvor noch überhört hatte. Doch wie sonst würde sie ihre Mutter sehen können? Sie würde doch kaum hier unter den Goblins leben. Nein, das wäre albern. Deshalb musste sie da jetzt durch. Immer noch wortlos nickte sie Suncuua an und ließ sich von ihr bemalen.
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Suncuua holte rasch die abgelegten Gewänder Rondrards und knüllte sie zu einer Art Kissen zusammen, das sie vor sich platzierte. Sie deutete Befinna, sich auf den Rücken niederzulegen und ihr Haupt darauf zu betten. Schließlich setzte sie sich im Schneidersitz an deren Kopf. "Zu Augen machen." forderte sie die Baroness leise auf.
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Was die junge Frau auch sogleich tat. Befinna war aufgeregt und ihr Atem ging schnell.
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Dann begann sie, ganz langsam und nur mit ihren Fingern, begleitet von ihrem eigenen, monotonen Gesang, zuerst in weiß die Wildschweinhauer Mailams zu malen, die die Menschenfrau vor etwaig mitangelockten bösen Geistern schützen sollten, darüber in schwarz einen Hirsch als Symbol des Orvai Kurim und zuletzt nochmals in weiß einen Vogel, der die Wjassus Kubukai symbolisierte, Windgeister, die ihrem eigenen Geist den Weg zu dem der Tochter Aleits vor sich weisen sollten. Obgleich die Hände alt und von den Jahren gezeichnet waren, fühlten sich diese warm und sanft auf Befinnas Haut an, auf ihre Weise sogar beruhigend.
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Und so zeigte sich der schmale Anflug eines Lächelns auf den Zügen der jungen Frau. Sie  versuchte all das zu vergessen, was ihr heute widerfahren war. Die Flucht in den Wald, das Umherirren, das Treffen mit Lioba und den anderen und schlussendlich auch die Gefangennahme - denn nichts anderes war es - durch die Goblins. Und dann war da noch diese seltsame Orgie, an der sich ihre menschlichen Begleiter so bereitwillig beteiligten. Was dies der Einfluss dieser großen Mutter? Ein Tollhaus, in welchem alle übereinander herfielen? Befinna war in ihren Gedanken nicht übermäßig prüde, aber hier zwischen verkleideten Fremden und Goblins … nein das hatte nichts mit dem Bild zu tun, das sie von einer rahja- und traviagefälligen Vereinigung hatte. Ihr Atem wurde etwas langsamer und sie wurde ruhiger, Last und Nervosität schienen abzufallen.
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Als die Schamanin damit fertig war, beugte sie sich noch einmal über das Feuer und atmete mehrmals tief den mit dem Dampf aus der Tiefe durchmischten Kräuterrauch ein, der von diesem aufstieg. Schließlich tauchte sie beide Handflächen tief in weiße Farbe und presste sich diese zuerst auf ihr eigenes Gesicht und direkt darauf auf die Wangen Befinnas, wo sie diese beließ, auch um die junge Frau, sanft, aber dennoch bestimmt festzuhalten. Dabei hatte sie ihr Haupt direkt über das der Baroness gesenkt, so dass sich beide aus nächster Nähe, nur wenige Halbfinger lagen dazwischen, gegenseitig in die Augen sahen.<br>
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Jetzt hieß es, auf das Wirken der Geister zu warten.
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Diese Annäherung der Schamanin, die so anders war als das zärtliche Streicheln zuvor, ließ Befinna wieder etwas unruhiger werden und es fehlte nicht viel, dass sie ihre Augen geöffnet hatte. Auch der Kräuterdampf biss sie in ihren Atemwegen, doch blieb sie für dieses eine Mal stark und ließ das Prozedere über sich ergehen.
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Die Zeit schien zu einem zähen Sirup zu gerinnen, während die Baroness darauf wartete, wie versprochen ihre Mutter zu sehen, und die Wirkung des Rauches tat ihr übriges dazu. Die gelben Augen, die so starr in die ihren blickten, schienen sich nach einer weiteren Weile zu drehen, erst ganz langsam und unmerklich, dann jedoch deutlicher und immer schneller, zu einem Mahlstrom werdend, der Befinna ins unergründliche Schwarz der Pupillen Suncuuas hinabriss. Der jungen Frau wurde schwindlig, sie verlor jede Orientierung und schließlich, so glaubte sie, ihr Bewusstsein.
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Es war warmer Sonnenschein, der ihre Haut kitzelte und sie weckte. Rasch setzte sie sich auf. Sie befand sich auf einer Waldlichtung, um sie herum blühten die Blumen in allen Farben, und es war ein reges Summen und Flattern. In der Nähe plätscherte Wasser, und es duftete Köstlich nach Wald und Gras und Frühsommer. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, dass es sich um die Lichtung handeln musste, auf der sie vorhin - war es wirklich erst vorhin oder nicht doch schon ewig her - die Fremden getroffen hatte.<br>
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Auf einmal sah sie die Frau, die durch die Wiese auf sie zukam, ein in ein wollenes, grünes Tuch gepucktes Neugeborenes auf dem Arm. Sie trug ihr leicht gewelltes langes, kastanienbraun in der Sonne glänzendes Haar offen, nur zwei eng geflochtene Schläfenzöpfe  verschwanden bald darunter und verliehen ihr ein albernisch anmutendes Aussehen. Unter ihrem ärmellosen und vorne offen getragenen, sehr figurbetonten Wams war ihre Decolletée gut zu erkennen und zeigte, dass sie nichts darunter trug, ihre Beine wurden durch einen erdbraunen Wickelrock verhüllt, unter dem nur die nackten Knöchel und Füße auszumachen waren.
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"Aleit!" hörte sie sich selbst sagen. "Schön Aleit da sein! Wie ist das Essen?" Sie sah sich selbst ihre rotbehaarten Hände und Arme entgegenstrecken.<br>
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"Suncuua!" erwiderte die Angesprochene den Gruß mit einer warmen und sanften Stimme. Befinna wurde dabei warm ums Herz. "Essen sein gut, Kinder sein satt. Suncuua Tuluukai hoffen auch! Ich, Alheyt, freuen mich, Suncuaa große Mutter wunderbar Geschenk, meine kleinekleine Tochter vorstellen, großer Mutter danken Segen." Alheyt zeigte ihr das Kind. "Reytrutt Befin-ná... Befin-ná."<br>
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"Wunderschön Kind Befin-ná!" Jetzt sah Befinna, wie sie mit ihren Händen, die Suncuuas waren, über den Kopf des Kindes, ihres früheren Ichs streichelte. Die kleine schien keine Angst zu haben. "Malen Zeichen?"<br>
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Alheyt nickte. "Aleit bitten Suncuua malen Zeichen."<br>
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Das Bild verschwamm. Im nächsten Moment sah Befinna, wie sie, selbst singend und summend, mit ihren Händen in verschiedenen Farben Tiermotive auf Stirn, Wange und Brust des Säuglings malte. Alheyt, ihre Mutter schien andächtig dabei zuzusehen und gelegentlich miteinzustimmen.<br>
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Als sie fertig waren, reichte sie, die Suncuua war, das Kind zurück zu seiner Mutter. "Befin-ná Tochter große Mutter." erklärte Aleyt Suncuua lächelnd. "Wu-min Kurim. Befin-ná Mailam." Dann schritt sie weg, es war bereits Abend geworden, auf einen kleinen Kreis von Menschenfrauen zu, die auf jener Lichtung auf sie warteten.
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Obgleich sie ihren Blick nicht abwenden wollte, schlossen sich ihre Augen und das Dunkel um sie begann zu kreisen. Nein! Sie wollte noch nicht weg, wollte ihren Blick nicht von ihrer Mutter wenden. Mit aller Kraft ihres Willens stemmte sie sich gegen das Ende dieser Erinnerung, und obsiegte.
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Das Dunkel wurde wieder hell, doch es war nicht das Licht eines Sommertages, das sie umfing. Es war grau, kalt und neblig, sie konnte kaum weiter als zu den übernächsten Bäumen sehen. Im Wabern entdeckte sie auf dem morastig-schwarzen, nass-quatschenden und von braunen Nadeln bedeckten Boden ein Bündel liegen. Sie rannte darauf zu und erkannte, dass es Alheyt war. Befinna sah, wie ihre haarigen Hände diese umdrehten. Die Haut ihrer Mutter war nicht nur bleich, sondern nahezu völlig weiß. Sie schien schwer verletzt, obgleich keine Wunde zu erkennen war.<br>
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"Aleit da bleiben. Suncuua rufen Geister helfen." Sie begann zu summen und in einem Beutelchen an ihrer Seite nach ihren Farben zu nesteln. Doch Alheyt schüttelte nur schwach ihren Kopf. "Spät. Suncuua... nein... Aleit... helfen können." flüsterte sie mit ersterbender Stimme. Dann bäumte sie sich nochmal auf. "Dunkel erwachen. Suncuua aufpassen Land. Aufpassen Wald. Aufpassen Wu'mar… Wu-min... Aufpassen Befin-ná!" Dann erschlaffte ihr Körper. <br>
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Offensichtlich wollte sie selbst, oder eher die Schamanin, durch deren Augen sie sah, nicht aufgeben und begann, mit weißer Farbe Zeichen auf das Gesicht der sterbenden oder bereits gestorbenen Alheyt zu malen.<br>
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Jetzt wollte Befin-ná nur noch weg, ihre Augen schließen, doch gelang ihr dies nicht, obgleich nicht nur sie, sondern offenbar auch Suncuua, in der Höhle an ihrem Haupt kauernd, sich gegen die Bilder stemmte.<br>
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Stattdessen sah sie, sahen beide nur Alheyts erschlafftes weißes Gesicht, das Gesicht ihrer Mutter.
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Auf einmal drehte sich die Tote ihr zu, und ihre Züge strafften sich. Aus ihrem Mund quoll kondensierender Atem.<br>
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"Befinna. Endlich bist Du gekommen." hörte sie sanft die Stimme ihrer Mutter, deren Augen feucht-glänzend auf ihr ruhten.
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“Mutter …”, die Augen der jungen Frau füllten sich mit Tränen, “... was … was ist mit dir geschehen? Du bist …”, die Stimme brach ihr und Befinna war unfähig dazu mehr als ein Schluchzen aus ihrer Kehle zu bekommen. In einer Mischung aus Angst und jener Liebe, die nur ein Kind für ihre Mutter empfinden konnte, focht sie einen Kampf mit sich selbst aus. Der Drang in ihr wuchs, sich abzuwenden und davonzulaufen - wie so oft wenn sie Furcht hatte - doch war es ihr nicht möglich.
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Auch aus Alheyts Auge, dessen Blau die einzige leuchtende Farbe an ihr war, löste sich eine Träne und rann zunächst schnell, dann immer langsamer ihre Wange hinab, bis sie auf halber Länge zu Eis erstarrte und haften blieb. "Ich bin dem alten Schatten begegnet, der noch immer lauert, wo Licht und Leben und einstige Schönheit längst verdorben und Finsternis, Tod und Fäulnis geworden sind. Nun bin in nur mehr ein Geist, ein Schatten, gefangen zwischen Leben und Tod... in dieser Welt gehalten von der Liebe... der Liebe zu diesem Land... zu Wunnemine..." sie legte ihre Hand auf Befinnas Wange - obgleich sie bleich und kalt wirkte und von Eis glitzerte, fühlte sie sich zugleich warm an. "zu Dir.” Alheyt lächelte, und es schwangen Liebe und Trauer darin. “Ich kann nicht gehen, denn meine heilige Aufgabe an euch ist unerfüllt. Wo bist Du nur geblieben, wo Deine Schwester?", fragte sie, aber in ihrer Stimme schwang kein Vorwurf. "Ich habe solange auf Dich gewartet, mein Kind. Aber jetzt bist Du da."
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"We … welcher Schatten …", Befinna verstand nicht wovon ihre Mutter sprach, "... was meinst du? Was ist dieser Schatten? Sag es mir. In Garrensand gibt es die Golgariten … die helfen … oder die Praioskir …", sie brach ab und ließ ihr Haupt hängen. Für einen Moment hatte die Baroness vergessen, dass sie sich mit einem Geist unterhielt. Oder war es ein Traum? Hatte dieses Bild am Ende gar nichts mit ihrer Mutter zu tun? Nein, Unsinn … Befinna konnte spüren, dass es ihre Mutter war. "Welcher Schatten … Mutter. Wie können Wunnemine und ich helfen?"
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"Der Schatten..." Alheyts Stimme wurde brüchig, kaum mehr noch als ein kalter Hauch, und ihr Atem zu dichten Wölkchen. "Er ist ein grausamer Jäger... und doch kein Jäger, denn wo der Jäger Leben nimmt, besteht es in anderer Gestalt fort und gedeiht von neuem und weiter, wie es Wille der großen Mutter ist. Der Schatten... verschlingt in seiner Gier alles Leben... reißt es ins Nichts... es stärkt nur seine Macht und stillt doch seinen ewigen Hunger nicht - er kann selbst nicht von ihm leben, es rinnt ihm davon und verlängert nur sein Schattendasein." Befinnas Mutter seufzte schwach und zog ihre mit jedem Wort weiter erkaltende Hand zurück. "Jetzt bist Du da... und fragst, wie ihr helfen könnt?... Er muss zurück in sein Gefängnis, ehe er... diesem Land... noch mehr seines Lebens entzieht. Erst dann kann ich Frieden finden. Aber du, auch Wunnemine... ihr werdet es nicht schaffen... Nicht alleine... Schließt den Bund... Vereint das Land wieder mit sich und euch... Vertraut auf die große Mutter und ihre Kinder. Ihr seid nicht allein... Du bist nicht allein, mein Kind."<br>
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Aleyts Augenlider waren inzwischen, wie ihr Gesicht nahezu von Tränen und Reif vereist, jetzt schien selbst das Weiß ihrer Gestalt noch zu verblassen, bald in kalten Eisnebel zu zerfließen.<br>
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"Ich liebe Dich, Befinna." waren die letzten, in ihre Seele gehauchten Worte ihrer Mutter, ehe sich diese und die Welt um Befinna in eisigen Nebelschwaden verloren.
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Die junge Frau schrak hoch und verfehlte dabei Suncuuas Kinn nur um Haaresbreite. Scharf sog sie die Luft ein und atmete diese hektisch wieder aus. Ihre Augen waren verweint und gerötet. Befinnas Blick ging für einige Momente um sie herum. Die entfernten Geräusche der Feiernden klangen für sie in diesem Moment wie eine Verhöhnung. "Was … was war das?", wandte sich die Baroness an die Schamanin. "Wovon hat sie gesprochen? Welcher Schatten? Was ist mit meiner Mutter passiert?"
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Befinna erhielt keine Antwort. Die Angesprochene wirkte zunächst wie erstarrt und reagierte überhaupt nicht. Anders als zu Beginn des Rituals atmete Suncuua schwer, beinahe keuchend und konnte kaum die Augen öffnen. Dann kippte sie mit einem seufzenden Stöhnen zur Seite, wo sie erschöpft und ohne Bewusstsein liegen blieb. Trotz der hohen Temperaturen und der Feuchte im Raum schienen ihre Augenpartien einen kurzen Moment weiß von Eis gewesen, das jedoch rasch getaut war und jetzt als dicke Tropfen durchs haarige Gesicht der Schamanin rann. Auch Befinna war kalt.
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Die Baroness fühlte die Kälte, doch störte sie sich gegenwärtig nicht daran. In ihr tobte eine Vielzahl anderer Gefühle, die keinen Platz für das profane Empfinden der Kälte ließ. "Hallo?", fragte sie zögerlich an die Schamanin gewandt, bevor Befinna sich gänzlich aufrichtete und dann neben Suncuua hin kniete.
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Die Schamanin regte sich nicht auf Befinnas Ansprache. Lediglich ihr Atem ging, jetzt weit flacher als noch wenige Augenblicke zuvor. So stark und Mittelpunkt ihres Stammes seiend, wie sie vorhin wirkte, so alt und gebrechlich, ja hilflos schien sie nun, wehrlos den Schatten ausgesetzt, die um sie herum kreisten und an ihr zu zerren drohten. War es wirklich nur der Schattenwurf der Dampfschwaden vor dem heruntergebrannten Feuer, das die einzig verbleibende, düster glimmende Lichtquelle im Raum war, jetzt, da die Mondscheibe weitergewandert war und nicht mehr ihren bleichen Schein hineinwarf?
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Völlig mit der sich bietenden Situation überfordert, rüttelte die Baroness an der Schamanin um sie wieder zu wecken. "Ha … hallo … Suncuua?" Befinna hatte Angst so ganz alleine und sie hatte so viele Fragen.
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Erschreckt musste Befinna feststellen, wie wenig Widerstand der erschlaffte Leib der Schamanin ihrem Schütteln leistete. Dennoch mühte sie sich vergebens - Suncuua wollte und wollte einfach nicht wach werden. Die Älteste hatte sich scheinbar verausgabt - es schien nicht gut um sie zu stehen, so schwach und leblos sie dalag, völlig weggetreten.
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Die Baroness hielt sich betroffen ihre Hand vor den Mund. Würde sie … nein, Befinna wusste, dass sie etwas tun musste um zu helfen. Als erstes kamen ihr Lioba und Khorena in den Sinn. Ja, die beiden wussten sicher was zu tun war. "Wartet hier …", meinte sie überflüssigerweise an die bewusstlose Goblinfrau gewandt, "... i … ich hole Hilfe." Die junge Frau streichelte kurz über Suncuuas Hände und ihre Wangen und lief dann ziellos aus dem Separee hinaus, indem sie sich befanden.
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Befinna hastete im Halbdunkel aus der Höhle. Da sie in ihrem Schrecken nicht daran gedacht hatte, eine Fackel zu greifen, fand sie sich bald im Volldunkel des schmalen Spaltes wieder, durch den sie gekommen war. Nahezu blind tastete sie sich weiter. Mit jedem Schritt, jedem Stolpern oder Entlangschrammen an in der Schwärze verborgenen Hindernissen und jeder Blessur, die sie sich dabei zuzog, wuchs ihre Panik. Sie glaubte schon fast daran, auf ewig in der Finsternis umherirren zu müssen, als sie endlich wieder Schemen in der Dunkelheit ausmachen konnten, die ihr den Weg bis zur großen Höhle wiesen.
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=== Nukku-Mulla ===
 
=== Nukku-Mulla ===

Version vom 5. November 2021, 00:53 Uhr

Mondengrauen

Akt 6 der Briefspielgeschichte Schwarz steht der Tann

Aleit

Befinna wusste nicht mehr, wie viele Windungen und Räume sie durchschritten hatten, war ihr doch bald - vielleicht auch ihrer Müdigkeit und den Erlebnissen der letzten Tage geschuldet - jede Orientierung verlustig gegangen. Die junge Baroness wusste nur, dass Suncuua, die eine brennende Fackel in der Hand trug, sie aufwärts führte, bis sie eine große, fast kreisrunde Höhle erreichten. Diese wurde nach oben teils durch eine Decke abgeschlossen, teils mündete sie in einem großen Loch, durch das der volle Mond verschwommen zu erkennen war, denn die Kaverne war von warmem Dampf erfüllt, der irgendwoher von unten in den Raum eindrang und für wohlige Temperaturen sorgte.
In der Mitte glühten die letzten Überreste eines Holzfeuers, und ein merkwürdiger, einerseits recht rauchiger, andererseits auch würziger Geruch hing schwach in der Luft. Am Boden erkannte Befinna einige Häufchen, von denen sich eines als Rondrards Habseligkeiten, ein anderes als die Robe Ulfarans erwiesen.
Die Schamanin deutete Befinna sich zu setzen, dann ging sie kurz nach draußen, um noch ein paar Äste hereinzuholen und das Feuer wieder zu entfachen.
Als sie dieses richtig im Gang hatte, warf Suncuua einige Kräuter hinein, die die Flammen für einen Moment zischend höherlodern ließen. Kurz darauf durchwirkte ein neuer, süßlicher Geruch den Raum, der Befinna rasch müde und ihre Lider schwer werden ließ. Derweil hatte die Schamanin aus einem Bündel, dass sie, von Befinna unbemerkt, irgendwo auf dem Weg aufgenommen haben musste, einige Beutelchen mit Farbpulvern und weitere Utensilien entnommen, mit denen sie begann, weiße und schwarze Farbe anzurühren.
Befinna war aller Anspannung zum Trotz kurz davor einzuschlafen, da schreckte sie jäh wieder hoch und sah das Gesicht Suncuuas unmittelbar vor dem ihren. "Malen Gesicht dein, Gesicht Suncuua. Dann Geister rufen. Aleit sehen." erklärte diese mit ruhiger Stimme.

'G … Geister?', schoss der Baroness nun ein Wort ein, das sie zuvor noch überhört hatte. Doch wie sonst würde sie ihre Mutter sehen können? Sie würde doch kaum hier unter den Goblins leben. Nein, das wäre albern. Deshalb musste sie da jetzt durch. Immer noch wortlos nickte sie Suncuua an und ließ sich von ihr bemalen.

Suncuua holte rasch die abgelegten Gewänder Rondrards und knüllte sie zu einer Art Kissen zusammen, das sie vor sich platzierte. Sie deutete Befinna, sich auf den Rücken niederzulegen und ihr Haupt darauf zu betten. Schließlich setzte sie sich im Schneidersitz an deren Kopf. "Zu Augen machen." forderte sie die Baroness leise auf.

Was die junge Frau auch sogleich tat. Befinna war aufgeregt und ihr Atem ging schnell.

Dann begann sie, ganz langsam und nur mit ihren Fingern, begleitet von ihrem eigenen, monotonen Gesang, zuerst in weiß die Wildschweinhauer Mailams zu malen, die die Menschenfrau vor etwaig mitangelockten bösen Geistern schützen sollten, darüber in schwarz einen Hirsch als Symbol des Orvai Kurim und zuletzt nochmals in weiß einen Vogel, der die Wjassus Kubukai symbolisierte, Windgeister, die ihrem eigenen Geist den Weg zu dem der Tochter Aleits vor sich weisen sollten. Obgleich die Hände alt und von den Jahren gezeichnet waren, fühlten sich diese warm und sanft auf Befinnas Haut an, auf ihre Weise sogar beruhigend.

Und so zeigte sich der schmale Anflug eines Lächelns auf den Zügen der jungen Frau. Sie versuchte all das zu vergessen, was ihr heute widerfahren war. Die Flucht in den Wald, das Umherirren, das Treffen mit Lioba und den anderen und schlussendlich auch die Gefangennahme - denn nichts anderes war es - durch die Goblins. Und dann war da noch diese seltsame Orgie, an der sich ihre menschlichen Begleiter so bereitwillig beteiligten. Was dies der Einfluss dieser großen Mutter? Ein Tollhaus, in welchem alle übereinander herfielen? Befinna war in ihren Gedanken nicht übermäßig prüde, aber hier zwischen verkleideten Fremden und Goblins … nein das hatte nichts mit dem Bild zu tun, das sie von einer rahja- und traviagefälligen Vereinigung hatte. Ihr Atem wurde etwas langsamer und sie wurde ruhiger, Last und Nervosität schienen abzufallen.

Als die Schamanin damit fertig war, beugte sie sich noch einmal über das Feuer und atmete mehrmals tief den mit dem Dampf aus der Tiefe durchmischten Kräuterrauch ein, der von diesem aufstieg. Schließlich tauchte sie beide Handflächen tief in weiße Farbe und presste sich diese zuerst auf ihr eigenes Gesicht und direkt darauf auf die Wangen Befinnas, wo sie diese beließ, auch um die junge Frau, sanft, aber dennoch bestimmt festzuhalten. Dabei hatte sie ihr Haupt direkt über das der Baroness gesenkt, so dass sich beide aus nächster Nähe, nur wenige Halbfinger lagen dazwischen, gegenseitig in die Augen sahen.
Jetzt hieß es, auf das Wirken der Geister zu warten.

Diese Annäherung der Schamanin, die so anders war als das zärtliche Streicheln zuvor, ließ Befinna wieder etwas unruhiger werden und es fehlte nicht viel, dass sie ihre Augen geöffnet hatte. Auch der Kräuterdampf biss sie in ihren Atemwegen, doch blieb sie für dieses eine Mal stark und ließ das Prozedere über sich ergehen.

Die Zeit schien zu einem zähen Sirup zu gerinnen, während die Baroness darauf wartete, wie versprochen ihre Mutter zu sehen, und die Wirkung des Rauches tat ihr übriges dazu. Die gelben Augen, die so starr in die ihren blickten, schienen sich nach einer weiteren Weile zu drehen, erst ganz langsam und unmerklich, dann jedoch deutlicher und immer schneller, zu einem Mahlstrom werdend, der Befinna ins unergründliche Schwarz der Pupillen Suncuuas hinabriss. Der jungen Frau wurde schwindlig, sie verlor jede Orientierung und schließlich, so glaubte sie, ihr Bewusstsein.

Es war warmer Sonnenschein, der ihre Haut kitzelte und sie weckte. Rasch setzte sie sich auf. Sie befand sich auf einer Waldlichtung, um sie herum blühten die Blumen in allen Farben, und es war ein reges Summen und Flattern. In der Nähe plätscherte Wasser, und es duftete Köstlich nach Wald und Gras und Frühsommer. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, dass es sich um die Lichtung handeln musste, auf der sie vorhin - war es wirklich erst vorhin oder nicht doch schon ewig her - die Fremden getroffen hatte.
Auf einmal sah sie die Frau, die durch die Wiese auf sie zukam, ein in ein wollenes, grünes Tuch gepucktes Neugeborenes auf dem Arm. Sie trug ihr leicht gewelltes langes, kastanienbraun in der Sonne glänzendes Haar offen, nur zwei eng geflochtene Schläfenzöpfe verschwanden bald darunter und verliehen ihr ein albernisch anmutendes Aussehen. Unter ihrem ärmellosen und vorne offen getragenen, sehr figurbetonten Wams war ihre Decolletée gut zu erkennen und zeigte, dass sie nichts darunter trug, ihre Beine wurden durch einen erdbraunen Wickelrock verhüllt, unter dem nur die nackten Knöchel und Füße auszumachen waren.

"Aleit!" hörte sie sich selbst sagen. "Schön Aleit da sein! Wie ist das Essen?" Sie sah sich selbst ihre rotbehaarten Hände und Arme entgegenstrecken.
"Suncuua!" erwiderte die Angesprochene den Gruß mit einer warmen und sanften Stimme. Befinna wurde dabei warm ums Herz. "Essen sein gut, Kinder sein satt. Suncuua Tuluukai hoffen auch! Ich, Alheyt, freuen mich, Suncuaa große Mutter wunderbar Geschenk, meine kleinekleine Tochter vorstellen, großer Mutter danken Segen." Alheyt zeigte ihr das Kind. "Reytrutt Befin-ná... Befin-ná."
"Wunderschön Kind Befin-ná!" Jetzt sah Befinna, wie sie mit ihren Händen, die Suncuuas waren, über den Kopf des Kindes, ihres früheren Ichs streichelte. Die kleine schien keine Angst zu haben. "Malen Zeichen?"
Alheyt nickte. "Aleit bitten Suncuua malen Zeichen."
Das Bild verschwamm. Im nächsten Moment sah Befinna, wie sie, selbst singend und summend, mit ihren Händen in verschiedenen Farben Tiermotive auf Stirn, Wange und Brust des Säuglings malte. Alheyt, ihre Mutter schien andächtig dabei zuzusehen und gelegentlich miteinzustimmen.
Als sie fertig waren, reichte sie, die Suncuua war, das Kind zurück zu seiner Mutter. "Befin-ná Tochter große Mutter." erklärte Aleyt Suncuua lächelnd. "Wu-min Kurim. Befin-ná Mailam." Dann schritt sie weg, es war bereits Abend geworden, auf einen kleinen Kreis von Menschenfrauen zu, die auf jener Lichtung auf sie warteten.

Obgleich sie ihren Blick nicht abwenden wollte, schlossen sich ihre Augen und das Dunkel um sie begann zu kreisen. Nein! Sie wollte noch nicht weg, wollte ihren Blick nicht von ihrer Mutter wenden. Mit aller Kraft ihres Willens stemmte sie sich gegen das Ende dieser Erinnerung, und obsiegte.

Das Dunkel wurde wieder hell, doch es war nicht das Licht eines Sommertages, das sie umfing. Es war grau, kalt und neblig, sie konnte kaum weiter als zu den übernächsten Bäumen sehen. Im Wabern entdeckte sie auf dem morastig-schwarzen, nass-quatschenden und von braunen Nadeln bedeckten Boden ein Bündel liegen. Sie rannte darauf zu und erkannte, dass es Alheyt war. Befinna sah, wie ihre haarigen Hände diese umdrehten. Die Haut ihrer Mutter war nicht nur bleich, sondern nahezu völlig weiß. Sie schien schwer verletzt, obgleich keine Wunde zu erkennen war.
"Aleit da bleiben. Suncuua rufen Geister helfen." Sie begann zu summen und in einem Beutelchen an ihrer Seite nach ihren Farben zu nesteln. Doch Alheyt schüttelte nur schwach ihren Kopf. "Spät. Suncuua... nein... Aleit... helfen können." flüsterte sie mit ersterbender Stimme. Dann bäumte sie sich nochmal auf. "Dunkel erwachen. Suncuua aufpassen Land. Aufpassen Wald. Aufpassen Wu'mar… Wu-min... Aufpassen Befin-ná!" Dann erschlaffte ihr Körper.
Offensichtlich wollte sie selbst, oder eher die Schamanin, durch deren Augen sie sah, nicht aufgeben und begann, mit weißer Farbe Zeichen auf das Gesicht der sterbenden oder bereits gestorbenen Alheyt zu malen.
Jetzt wollte Befin-ná nur noch weg, ihre Augen schließen, doch gelang ihr dies nicht, obgleich nicht nur sie, sondern offenbar auch Suncuua, in der Höhle an ihrem Haupt kauernd, sich gegen die Bilder stemmte.
Stattdessen sah sie, sahen beide nur Alheyts erschlafftes weißes Gesicht, das Gesicht ihrer Mutter.

Auf einmal drehte sich die Tote ihr zu, und ihre Züge strafften sich. Aus ihrem Mund quoll kondensierender Atem.
"Befinna. Endlich bist Du gekommen." hörte sie sanft die Stimme ihrer Mutter, deren Augen feucht-glänzend auf ihr ruhten.

“Mutter …”, die Augen der jungen Frau füllten sich mit Tränen, “... was … was ist mit dir geschehen? Du bist …”, die Stimme brach ihr und Befinna war unfähig dazu mehr als ein Schluchzen aus ihrer Kehle zu bekommen. In einer Mischung aus Angst und jener Liebe, die nur ein Kind für ihre Mutter empfinden konnte, focht sie einen Kampf mit sich selbst aus. Der Drang in ihr wuchs, sich abzuwenden und davonzulaufen - wie so oft wenn sie Furcht hatte - doch war es ihr nicht möglich.

Auch aus Alheyts Auge, dessen Blau die einzige leuchtende Farbe an ihr war, löste sich eine Träne und rann zunächst schnell, dann immer langsamer ihre Wange hinab, bis sie auf halber Länge zu Eis erstarrte und haften blieb. "Ich bin dem alten Schatten begegnet, der noch immer lauert, wo Licht und Leben und einstige Schönheit längst verdorben und Finsternis, Tod und Fäulnis geworden sind. Nun bin in nur mehr ein Geist, ein Schatten, gefangen zwischen Leben und Tod... in dieser Welt gehalten von der Liebe... der Liebe zu diesem Land... zu Wunnemine..." sie legte ihre Hand auf Befinnas Wange - obgleich sie bleich und kalt wirkte und von Eis glitzerte, fühlte sie sich zugleich warm an. "zu Dir.” Alheyt lächelte, und es schwangen Liebe und Trauer darin. “Ich kann nicht gehen, denn meine heilige Aufgabe an euch ist unerfüllt. Wo bist Du nur geblieben, wo Deine Schwester?", fragte sie, aber in ihrer Stimme schwang kein Vorwurf. "Ich habe solange auf Dich gewartet, mein Kind. Aber jetzt bist Du da."

"We … welcher Schatten …", Befinna verstand nicht wovon ihre Mutter sprach, "... was meinst du? Was ist dieser Schatten? Sag es mir. In Garrensand gibt es die Golgariten … die helfen … oder die Praioskir …", sie brach ab und ließ ihr Haupt hängen. Für einen Moment hatte die Baroness vergessen, dass sie sich mit einem Geist unterhielt. Oder war es ein Traum? Hatte dieses Bild am Ende gar nichts mit ihrer Mutter zu tun? Nein, Unsinn … Befinna konnte spüren, dass es ihre Mutter war. "Welcher Schatten … Mutter. Wie können Wunnemine und ich helfen?"

"Der Schatten..." Alheyts Stimme wurde brüchig, kaum mehr noch als ein kalter Hauch, und ihr Atem zu dichten Wölkchen. "Er ist ein grausamer Jäger... und doch kein Jäger, denn wo der Jäger Leben nimmt, besteht es in anderer Gestalt fort und gedeiht von neuem und weiter, wie es Wille der großen Mutter ist. Der Schatten... verschlingt in seiner Gier alles Leben... reißt es ins Nichts... es stärkt nur seine Macht und stillt doch seinen ewigen Hunger nicht - er kann selbst nicht von ihm leben, es rinnt ihm davon und verlängert nur sein Schattendasein." Befinnas Mutter seufzte schwach und zog ihre mit jedem Wort weiter erkaltende Hand zurück. "Jetzt bist Du da... und fragst, wie ihr helfen könnt?... Er muss zurück in sein Gefängnis, ehe er... diesem Land... noch mehr seines Lebens entzieht. Erst dann kann ich Frieden finden. Aber du, auch Wunnemine... ihr werdet es nicht schaffen... Nicht alleine... Schließt den Bund... Vereint das Land wieder mit sich und euch... Vertraut auf die große Mutter und ihre Kinder. Ihr seid nicht allein... Du bist nicht allein, mein Kind."
Aleyts Augenlider waren inzwischen, wie ihr Gesicht nahezu von Tränen und Reif vereist, jetzt schien selbst das Weiß ihrer Gestalt noch zu verblassen, bald in kalten Eisnebel zu zerfließen.
"Ich liebe Dich, Befinna." waren die letzten, in ihre Seele gehauchten Worte ihrer Mutter, ehe sich diese und die Welt um Befinna in eisigen Nebelschwaden verloren.

Die junge Frau schrak hoch und verfehlte dabei Suncuuas Kinn nur um Haaresbreite. Scharf sog sie die Luft ein und atmete diese hektisch wieder aus. Ihre Augen waren verweint und gerötet. Befinnas Blick ging für einige Momente um sie herum. Die entfernten Geräusche der Feiernden klangen für sie in diesem Moment wie eine Verhöhnung. "Was … was war das?", wandte sich die Baroness an die Schamanin. "Wovon hat sie gesprochen? Welcher Schatten? Was ist mit meiner Mutter passiert?"

Befinna erhielt keine Antwort. Die Angesprochene wirkte zunächst wie erstarrt und reagierte überhaupt nicht. Anders als zu Beginn des Rituals atmete Suncuua schwer, beinahe keuchend und konnte kaum die Augen öffnen. Dann kippte sie mit einem seufzenden Stöhnen zur Seite, wo sie erschöpft und ohne Bewusstsein liegen blieb. Trotz der hohen Temperaturen und der Feuchte im Raum schienen ihre Augenpartien einen kurzen Moment weiß von Eis gewesen, das jedoch rasch getaut war und jetzt als dicke Tropfen durchs haarige Gesicht der Schamanin rann. Auch Befinna war kalt.

Die Baroness fühlte die Kälte, doch störte sie sich gegenwärtig nicht daran. In ihr tobte eine Vielzahl anderer Gefühle, die keinen Platz für das profane Empfinden der Kälte ließ. "Hallo?", fragte sie zögerlich an die Schamanin gewandt, bevor Befinna sich gänzlich aufrichtete und dann neben Suncuua hin kniete.

Die Schamanin regte sich nicht auf Befinnas Ansprache. Lediglich ihr Atem ging, jetzt weit flacher als noch wenige Augenblicke zuvor. So stark und Mittelpunkt ihres Stammes seiend, wie sie vorhin wirkte, so alt und gebrechlich, ja hilflos schien sie nun, wehrlos den Schatten ausgesetzt, die um sie herum kreisten und an ihr zu zerren drohten. War es wirklich nur der Schattenwurf der Dampfschwaden vor dem heruntergebrannten Feuer, das die einzig verbleibende, düster glimmende Lichtquelle im Raum war, jetzt, da die Mondscheibe weitergewandert war und nicht mehr ihren bleichen Schein hineinwarf?

Völlig mit der sich bietenden Situation überfordert, rüttelte die Baroness an der Schamanin um sie wieder zu wecken. "Ha … hallo … Suncuua?" Befinna hatte Angst so ganz alleine und sie hatte so viele Fragen.

Erschreckt musste Befinna feststellen, wie wenig Widerstand der erschlaffte Leib der Schamanin ihrem Schütteln leistete. Dennoch mühte sie sich vergebens - Suncuua wollte und wollte einfach nicht wach werden. Die Älteste hatte sich scheinbar verausgabt - es schien nicht gut um sie zu stehen, so schwach und leblos sie dalag, völlig weggetreten.

Die Baroness hielt sich betroffen ihre Hand vor den Mund. Würde sie … nein, Befinna wusste, dass sie etwas tun musste um zu helfen. Als erstes kamen ihr Lioba und Khorena in den Sinn. Ja, die beiden wussten sicher was zu tun war. "Wartet hier …", meinte sie überflüssigerweise an die bewusstlose Goblinfrau gewandt, "... i … ich hole Hilfe." Die junge Frau streichelte kurz über Suncuuas Hände und ihre Wangen und lief dann ziellos aus dem Separee hinaus, indem sie sich befanden.

Befinna hastete im Halbdunkel aus der Höhle. Da sie in ihrem Schrecken nicht daran gedacht hatte, eine Fackel zu greifen, fand sie sich bald im Volldunkel des schmalen Spaltes wieder, durch den sie gekommen war. Nahezu blind tastete sie sich weiter. Mit jedem Schritt, jedem Stolpern oder Entlangschrammen an in der Schwärze verborgenen Hindernissen und jeder Blessur, die sie sich dabei zuzog, wuchs ihre Panik. Sie glaubte schon fast daran, auf ewig in der Finsternis umherirren zu müssen, als sie endlich wieder Schemen in der Dunkelheit ausmachen konnten, die ihr den Weg bis zur großen Höhle wiesen.

Nukku-Mulla

Wjassul Aluk


Vorlage eingerückt






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