LH11-Für Praios

11. Akt: Für Praios – Die Verhandlung

(14. Travia 1045 BF, mittags)

  • Die Verhandlung über Doratravas Schicksal.

Ein Kapitel der Lützeltaler Hochzeit

Die Verhandlung  

Auf dem Dorfplatz unter den Ulmen waren Tische und Bänke aufgebaut worden. Eine lange Tafel stand quer vor dem südlichen Ende des Platzes. Auf einem großen Lehnstuhl in der Mitte, den Rücken praioswärts gewandt hatte Friedewald von Weissenquell Platz genommen. Der Edle war in sein festlichstes Gewand gekleidet, den Wappenrock mit dem Lützeltaler Wappen darüber gezogen.

An die linke Seite des Tisches hatte sich – ebenfalls auf einem hohen Lehnstuhl – die gräfliche Vögtin Witta von Dürenwald gesetzt. Ihr Stuhl war etwas zum Publikum gedreht, doch sie hatte von der Seite einen Blick sowohl auf die Menge als auch auf Friedewald. Hinter ihr standen zwei Wachen aus ihrer persönlichen Bedeckung. Sie wirkte von ihrer Position ein wenig wie hinzugefügt, nicht Teil der Szenerie. Und so verhielt sie sich auch, wie eine Beobachterin, nicht Richterin und nicht Anklägerin.

Man hatte sich geeinigt, dass Friedewald die anstehende Verhandlung führen sollte. Die Gauklerin Doratrava war von dem Ritter Eoban von Albenholz verschiedener Verbrechen beschuldigt worden, doch gab es unter den Gästen der Hochzeit viele Stimmen, die den Anschuldigungen widersprachen. In der Anhörung sollte geklärt werden, ob und welcher Verbrechen die Delinquentin angeklagt werden sollte, und wessen Urteil darüber Anwendung finden sollte. Witta, deren Gedanken bei weit wichtigeren Fragen weilten, hatte die Verhandlungsleitung nur zu gerne dem örtlichen Lehnsherren überlassen, auf dessen Grund die Taten geschehen sein sollten.

Rechts neben dem Edlen saß der Dorfschulze Praiogrimm Waldgrun auf einem einfachen Stuhl. Normalerweise saß Bernhelm Lützelfisch bei solchen Anlässen dort an Friedewalds rechter Seite. Doch dieser war am Vortag von Schergen des Paktierers Pruch ermordet worden. Praiogrimm hielt eine Schreibfeder in der Hand, vor ihm auf dem Tisch stand ein Tintenfässchen und es lag ein Stapel Pergamente bereit. Auch eine zusammengefasste Ausgabe des Codex Raulis lag bereit. Dem Buch war sein Alter anzusehen, stammte es doch noch aus Kaiser Retos Zeiten.

Auf der anderen Seite des Tisches stand in einigem Abstand mittig ein einfacher, unbequemer Holzstuhl bereit für die Angeklagte. Dahinter standen mehrere Reihen Sitzbänke, auf denen die adeligen Gäste und die Familienmitglieder der Weissenquells Platz genommen hatten.

In der ersten Reihe saß auch Kalman von Weissenquell, Sohn des Edlen, der nach der überstürzten Abreise von Eoban von Albenholz zusammen mit Rondrard von Storchenflug, der neben ihm saß, die Rolle des Anklägers übernommen hatte. Neben ihm saßen Lucilla von Galebfurten, Rahjel von Altenberg (dessen Schwester hinter ihm Platz genommen hatte) und Tsalinde von Kalterbaum. Wichtige Zeugen wie Nivard von Tannenfels, Rionn, Merle von Weissenquell, Ardare von Kaldenberg, Adelchis von Pfaffengrund, Liana Morgenrot von Rodaschquell, Imelda von Hadingen und Baroness Caltesa von Immergrün füllten die erste Reihe oder hatten in der zweiten Reihe Platz gefunden.

Neugierige Dorfbewohner umrahmten diese in einem Halbkreis drum herum stehend. Im Hintergrund stand auch die Rondrageweihte Arika und beobachtete die Szenerie aufmerksam.

Die Zusammenkunft

Rondrard saß gespannt in der ersten Reihe und beobachtete argwöhnisch jede einzelne Bewegung der Tänzerin, als diese zum Richtplatz geführt wurde, schließlich könnte die kleinste Geste eine Zauberhandlung sein. Einmal schielte er zu Merle hinüber und überlegte dabei, ob diese per Zauberei von der Tänzerin zur Amazonenliebe gezwungen wurde, oder ob es in ihrer Natur lag. Aber vielleicht war sie auch nur ob Gudekars Verhalten verwirrt. Oder war es gar der Einfluss des Erzdämons? Er wusste es nicht. Und auch nicht, ob er es zur Sprache bringen sollte. Würde es ihr helfen oder schaden?

Es schmerzte, in das Antlitz der Herrin von Rodaschquell zu blicken. Denn ihre Schönheit wurde von Traurigkeit und Sorge überschattet - und einem Gefühl, das noch stärker in ihr zu pulsieren schien: Machtlosigkeit. Als Baronin und Zeugin gleichermaßen saß sie in der ersten Reihe. Und es war ihr anzumerken, dass sie dies als eine schwere Bürde betrachtete, die auf ihr lastete. Eine Bürde, die sie dennoch mit der ihr zu eigenen Gelassenheit trug.

Lucilla von Galebfurten saß in einem einfachen, hochgeschlossenen Kleid aus hellblauen Stoffen und mit niedrigem, steifen Stehkragen in der ersten Reihe der Versammlung. Ihre langen Haare hatte sie zu einem Dutt hochgebunden. Die Miene der noch jungen Frau war ausdruckslos. Die Hände hielt sie im Schoß verschränkt.

Auch in der ersten Reihe, doch auf einem Platz, der von Lianas Platz weitestmöglich weit entfernt lag, hatte Ardare von Kaldenberg Platz genommen. Die junge Baroness hatte gestern das nahezu Unmögliche geschafft, nämlich mit der milden Baronin in Streit zu geraten.

Auch jetzt blickte sie sich missmutig um, als behage ihr die gesamte Situation nicht.

Tsalinde saß neben der Baronin von Rodaschquell und spürte deren Gefühle, spiegelten sie doch ebenso ihre eigenen wieder. Diese Verhandlung hatte das Potential, Kriege zu entfachen und Freundschaften zu zerstören.

Die Edle atmete tief durch und versuchte sich zu konzentrieren. In dieser Verhandlung ging es um viel, sehr viel und sie würde nicht zulassen, dass ihre Gefühle mit ihr durchgingen.

Rionn hatte sich in die zweite Reihe gesetzt. Gerichtsverfahren mochte der Tsageweihte nicht. Meistens hatten die Verhandelnden die Freiheit des Denkens und der Menschen nicht in geeignetenm Maße im Blick, fand er. Aber gezwungenermaßen fügte er sich ein, weil es ihm wichtig war für Doratrava eben jene Freiheit zu erwirken.

Er hatte die Zeit vom Mahl bis zum Mittag genutzt, um zu versuchen, sein Gewand zu reinigen. Doch das bunte, regenbogenfarbene Gewand hatte schon sehr unter den Einflüssen der vergangenen Stunden gelitten. Vor allem das Regenwetter am Vortag als auch die nächtliche Wanderung zur Schutzhütte hatten dazu beigetragen.

Etwas missmutig saß der sonst eigentlich sehr fröhliche Geweihte auf seinem Stuhl in der zweiten Reihe und wartete auf das, was da kommen mochte.

Borix hatte sich mit Murla und Grimmgasch auf freie Plätze weit hinten gesetzt. Diese Verhandlung war in den Augen des Bergvogtes eher eine Farce, aber sollten die Kurzlebigen sich doch mit ihren Reden austoben.

Kurz bevor es losging, eilte Nivard noch heran, nur einige Schritt vor Doratrava und den Wachen, die sie heranführten. Rasch suchte er sich ein freies Plätzchen in der zweiten Reihe, in der Nähe von Merle und Tsalinde. Mit einem mulmigen Gefühl erwartete er den unmittelbar bevorstehenden Beginn der Verhandlungen. Ob das, was er über die Geschehnisse würde berichten können (und müssen), Doratrava helfen würde?

Nun wurde Doratrava von den beiden Wachleuten des Dorfes, die ihre Piken auf ihren Rücken gerichtet hatten, an den Sitzreihen vorbei zu jenem Stuhl geführt. Ihre Hände waren erneut auf den Rücken gefesselt. Die Wachen drängten die Tänzerin, sich auf den Stuhl zu setzen und stellten sich rechts und links hinter sie, die Waffen weiter auf sie gerichtet.

Die Praiosstunde war fast vorüber und das Praiosmal hatte seinen höchsten Stand vor kurzem überschritten. In der Mitte des Traviamondes hatte es eine Höhe erreicht, um zwar weit über die Dächer der umstehenden Häuser zu reichen, so dass nur der Tisch der Gerichtsbarkeit im Schatten stand, aber nicht hoch genug, um nicht die Sicht zu stören. So wurde Doratrava von den geißelnden Strahlen des Herrn Praios geblendet, wenn sie zu Friedewald blickte und musste unwillkürlich blinzeln.

Friedewald schaute besorgt auf die gefesselten Hände der Gauklerin, doch in Anbetracht der Tatsache, dass die Verhandlung nach altem Brauch im Freien stattfand, bestand natürlich sehr leicht die Gefahr eines Fluchtversuchs. Und da der Edle niemandem die Gelegenheit geben wollte, einen solchen potentiellen Versuch scheitern lassen zu wollen, entschied er, momentan nicht gegen die Fesseln zu protestieren.

Dennoch erinnerte sich Friedewald auch an die Worte seines Enkels von vorhin. “Die Angeklagte ist eine Elfe, richtig? Haben wir auch eine Ausgabe der Tralloper Verträge parat?”

“Nein, aber sie ist eine Halbelfe”, erklärte Praiogrimm. “Dieser Vertrag greift bei ihr nicht. Man geht davon aus, dass Halbelfen von ihrem menschlichen Elternteil hinlänglich über unsere Gesetze unterrichtet wurden, um Verantwortung für ihre Taten zu tragen.”

“Halbelfe, aha. Doratrava, nennt uns bitte Eure Eltern”, forderte Friedewald die Gauklerin daraufhin auf.

Die ganze Szenerie hatte einen einschüchternden Einfluss auf Doratrava, als sie so gefesselt und mit vorgehaltenen Waffen an ihren Platz geführt wurde. Vermutlich war das so beabsichtigt, aber das Wissen darum half ihr nicht, um gegen die Nervosität in ihrem Inneren anzukämpfen. Unruhig blickte sie hierhin und dorthin und musste sich ständig zwingen, nicht an Flucht zu denken. Als sie dann auf ihren Platz gezwungen wurde, konnte sie das Zucken in ihren Beinen zwar etwas besser kontrollieren, aber gleichzeitig fühlte sie sich eingezwängt wie in einem Käfig. Sie vermied es, in die Gesichter der Anwesenden zu schauen. Zwar sehnte sie sich nach einem aufmunternden Blick von Merle, aber wenn sie nach ihr suchte, würde sie auch vielen anderen Blicken begegnen müssen, und sie wusste nicht, ob ihre Kraft ausreichte, all die Feindseligkeit, die Verachtung und die Abscheu zu ertragen, welche sie in diesen Blicken zu erkennen fürchtete.

Als Friedewald sie ansprach, konzentrierte sie sich ganz auf diesen und versuchte ansonsten so unbeteiligt wie möglich zu wirken, doch ihre leicht zitternde Stimme verriet ihren inneren Aufruhr. Kurz schloss sie die Augen und atmete tief durch, um dann knapp zu antworten: "Meine richtigen Eltern kenne ich nicht. Ich wurde aufgezogen von den Traviageweihten Herdbrand und Malvine Breckenbruck aus Wildreigen, das ist ein Dorf in den Ambossbergen im Kosch."

“Eltern unbekannt. Aufgezogen von Herdbrand und Malvine Breckenbruck, Traviapaar in Wildreigen, Kosch.” Praiogrimm Waldgrun wiederholte die Informationen, während er sie ordnungsgemäß auf einem Pergament festhielt. “Im Traviatempel großgezogen?” kommentierte er das Festgestellte. “Das sagt zwar nichts über die Eltern aus, aber dann sind die göttliche Ordnung und die Gesetze des Kaiserreichs als ihr bekannt anzusehen.”

Verlesung der Anklagepunkte

Schließlich erhob sich Friedewald und wartete, bis auch alle anderen sich erhoben hatten. Dann begann er seine Ansprache.

“Hochgeborene, Wohlgeborene, Eure Gnaden, Hohe Damen und Herren, Volk von Lützeltal! Wir sind heute hier zusammengekommen, um über das Schicksal von Doratrava, Tänzerin und Gauklerin aus…” Friedewald schaute auf ein Pergament, das vor ihm lag, dann wandte er sich flüsternd an Praiogrimm.

Dieser wiederholte die Worte der Tänzerin nochmals. “Wildreigen im Kosch.”

Friedewald räusperte sich, während sich Praiogrimm noch weitere Notizen machte. “Wir sind heute hier zusammengekommen, um über das Schicksal von Doratrava, Tänzerin und Gauklerin aus dem Kosch zu entscheiden, die vielfältiger Verbrechen und Freveleien beschuldigt wurde. Dazu zählen:”, Friedewald las von seinem Pergament ab, “Stiftung von Unfrieden, Angriff auf einen Krieger von Stand, Anwendung von sanktionierter Magie, insbesondere das Öffnen des und die Reise durch den Limbus”, Friedewald blickte verwundert auf und fragte erstaunt: “Kann eine einfache Halbelfe tatsächlich so etwas erlernen? – Nun, weiter: Entführung der Tochter eines Edlen – das muss ja wohl eher Schwiegertochter heißen”, er blickte zu Merle, ”und eines Geweihten der Göttin Rahja, Angriff mit schweren körperlichen Folgen auf die soeben genannten, Verbündigung und Unterstützung mit einem Paktierer des Widersachers der gütigen Mutter Travia. Habe ich etwas vergessen?”

Doratrava ließ die Anschuldigungen mit ausdruckslosem Gesicht über sich ergehen, obwohl diese ihr so schienen, als hätte man wirklich jede einzelne ihrer angeblichen Untaten nochmals aufgebläht, um sie in einem möglichst schlechten Licht dastehen zu lassen. Seltsamerweise hatte die Aufzählung ihrer “Verbrechen” einen beruhigenden Einfluss auf ihr Nervenkostüm, sie spürte, wie die Nervosität sie verließ und eine kalte Ruhe sie überkam. Es war fast wie vor einem Kampf. Solange man nicht wusste, worauf man sich einließ, spielte die Phantasie einem Streiche und man war unruhig und nervös, wenn es dann aber losging und man dem Gegner in die Augen sehen konnte, war keine Zeit mehr für Gefühle, dann zählte nur noch, wer schneller und stärker war.

Nun hob Doratrava auch den Blick, den sie zunächst nur auf den Boden vor sich gerichtet hatte und schaute in die Menge, schaute, wo ihre Freunde waren und wo ihre Gegner. Wenn sie hier herauskam, würde sie sich merken, wer für sie gewesen war und wer gegen sie. Man traf sich immer zweimal im Leben. Mindestens.

Dann, nachdem sie jeden der Anwesenden gemustert hatte, kehrte ihr Blick zu Merle zurück und verweilte dort.

Arda suchte ihrerseits ebenfalls Augenkontakt mit der Angeklagten. Als sich ihre Blicke jedoch verfehlten, verschlechterte sich die Laune der jungen Edeldame.

Merle war in ein schlichtes und hochgeschlossenes, nachtblaues Kleid gekleidet. Das lange dunkelblonde Haar hatte sie sorgfältig zu einer strengen Hochsteckfrisur frisiert, darüber saß eine farblich zum Gewand passende Haube mit einer fein gestickten silbrigen Bordüre. Um den Hals trug die junge Frau das Amulett des Muschelfürsten, das Gudekar ihr vor etwas mehr als zwei Götterläufen geschenkt hatte, ein kunstfertig gearbeiteter, glänzender Anhänger aus Perlmutt und Aquamarin. Sie war sich nicht sicher, warum sie es wieder angelegt hatte, vielleicht aus derselben Anwandlung von Trotz heraus, mit der sie den Magiermantel ihres Mannes gestern Abend an sich genommen hatte; als Zeichen, dass nicht sie es gewesen war, die sich von Gudekar und ihrem Bund vor Travia abgewandt hatte. Merles Gesicht war blass, ungeschminkt und von dunklen Schatten der Erschöpfung um die Augen gezeichnet. Nach außen vermittelte sie das Bild, das man von einer ehrbaren jungen Witwe haben mochte, deren Gemahl erst kürzlich auf tragische Weise verschieden war. Die Formalitäten und die Auflistung von Doratravas angeblichen Verbrechen hatte sie mit unbewegter, fast versteinerter Miene hingenommen, doch als Doratravas und ihre Blicke sich trafen, wurde ihr Antlitz wieder warm und sanft, wenn auch sichtlich besorgt. Sie schenkte der Tänzerin ein zartes, liebevolles, wie sie hoffte aufmunterndes Lächeln, bevor sie nach einigen langen Augenblicken - bemüht, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen - wieder starr in Friedewalds und Kalmans Richtung schaute.

Wie erhofft bemerkte Merle ihren Blick, und Doratrava erwiderte das Lächeln in gleicher Weise und schöpfte Kraft daraus, auch dann noch, als Merle den Blick wieder abwandte und auch die Miene der Gauklerin wieder ausdruckslos wurde.

Tsalinde nickte Doratrava aufmunternd zu. Sie hatte sich heute für eine schlichte braune Hose aus Wildleder und dazu passende Stiefel entschieden. darüber trug sie eine einfache weiße Tunika und ihre dunkelgrüne Lieblingsjacke. Dieses Kleidungsstück hatte ihre Mutter genäht und sie selbst hatte es damals mit viel Mühe und innerlichen Flüchen mit gestickten Bäumen und Ranken versehen. Bei dieser Tätigkeit war gefühlt so viel Blut aus ihren zerstochenen Fingern in den Stoff getropft, dass er zu einem Teil von ihr wurde. Sie liebte diese Jacke und, was noch wichtiger war, sie brachte ihr Glück.

Lange Zeit hatte sie heute mit ihrem Haar gehadert. Normalerweise trug sie zu Verhandlungen stets einen streng geflochtenen Zopf mit dunklen Bändern, um das Rot etwas zu verdecken, doch heute hat sie sich anders entschieden.

Sie war hier nicht nur die Verteidigerin, sie war auch eine Adlige und es war wichtig, ihnen allen das klar zu machen. Daher hatte sie nur die vorderen Haare zu zwei kleinen Zöpfen geflochten, damit sie ihr nicht ins Gesicht wehten und den Rest offen gelassen. Ihre rote Mähne strahlte geradezu im Lichte des Praios.

Tsalindes Nicken hatte Doratrava aus dem Augenwinkel wahrgenommen und ebenfalls mit einem Lächeln beantwortet. Sie war froh, dass sie noch Freunde hatte, die zu ihr hielten.

Kalman, der Sohn des Edlen, erhob sich und sprach: „Ich denke, das trifft die Anschuldigungen recht gut, Vater, zumindest, soweit mir berichtet wurde.“ Selbstsicher blickte Kalman zu seinem Freund Rondrard, in dem er seinen stärksten Unterstützer sah, die Vorwürfe von Eoban von Albenholz vorzutragen. „Habt Ihr noch weitere Punkte, Hoher Herr von Storchenflug?“

"In der Tat, die habe ich!“, erklärte dieser. „Als da wären: Spionage, Feigheit vor dem Feind, Insubordination, Manipulation, Spaltung der Gruppe, Anstiftung zu und Durchführung von Ehebruch, Amazonenliebe und zu guter Letzt: grobe Fahrlässigkeit. Desweiteren stellt ihre unbekümmerte und offenbar auch ungebildete Anwendung von Madas Fre… Gabe… eine Gefahr für die Gemeinschaft dar. Sie hat sogar versucht der Anklage zu entgehen, indem sie mich und andere versucht hat zu behexen. Doch stand der Herre Praios - heilig, heilig, heilig - uns bei. Die Magie gehört ihr ausgebrannt!"

Bei Rondrards Vortrag zuckte Doratravas Blick zu dessen Gesicht, während sich eine eiskalte Hand um ihr Herz legte. Meinte der Ritter das wirklich ernst? Dass dieser sie nicht leiden konnte und ein loyaler Unterstützer Eobans war, hatte sie ja schon zu Beginn bemerkt, aber diese Anschuldigungen gingen ja noch weit über das hinaus, was Eoban vorgebracht hatte. Und bei dessen Vorwürfen konnte sie sich zumindest noch vorstellen, woher sie kamen, aber das hier? Feigheit vor dem Feind? Und wann sollte sie versucht haben, Rondrard zu 'behexen'? Erfand der Ritter nun munter Vorwürfe, damit sie auch ja verurteilt wurde? Und seit wann war es verboten, als Frau eine Frau zu lieben? Mal abgesehen davon, dass das hier eigentlich niemanden etwas anging ...

Doratrava presste die Lippen aufeinander, um dem Drang zu widerstehen, Rondrard hier und jetzt Widerworte zu geben, da sie wusste, damit ihrem Fall keinen Gefallen zu tun. Aber es fiel ihr schwer ... sehr schwer. Wenn Blicke töten könnten …

Tsalinde zuckte es in den Beinen. Sie wollte aufspringen und ihrer Freundin und Gefährtin beistehen, doch ihre Zeit war noch nicht gekommen.

Praiogrimm notierte fleißig sämtliche Vorwürfe, die nun noch von Rondrard geäußert wurden, ohne einmal von seinem Pergament aufzublicken.

Friedewald hingegen blickte mit besorgter Miene zu Kalman und Rondrard. Immer mehr zog er während der Rede des Ritters die Augenbrauen hoch. Mit jeder zusätzlichen Beschuldigung würde sich das Verfahren weiter in die Länge ziehen, das war ihm bewusst. Aber ihm war auch bewusst, dass er keinen der Punkte unbesprochen lassen konnte, ohne sich den Vorwurf anhören zu müssen, eine potentielle Gefahr für das Land zu ignorieren. Eigentlich, das wurde ihm auch immer mehr bewusst, konnte er hier heute am Ende nur selbst verlieren, egal zu welchem Urteil er am Ende kam. Sein primäres Ziel sollte es deshalb sein, unschuldiges Leben zu retten. Was auch immer das am Ende bedeutete. „Nun, das ist eine lange Liste an Anschuldigungen, von denen einige sicherlich eine genauere Erläuterung bedürfen, da sie mir so nicht wirklich plausibel erscheinen. Doch dazu später mehr.“

Unvermittelt erhob sich die Baroness von Kaldenberg: "Nun, da Protokoll geführt wird, möge auch zu Papier gebracht werden, dass dieses 'Gericht'" - der Blick und die Betonung des einen Worts ließ keine Zweifel daran aufkommen, was die junge Frau von dieser Versammlung hielt - "keineswegs über irgendjemandes 'Schicksal' entscheiden wird. Niemand an diesem Ort verfügt über das Recht, über diese Beschuldigungen, außer vielleicht die Mindersten unter ihnen, ein Urteil zu sprechen. Die schiere Anzahl und unterschiedliche, ja, teils widersprüchliche Natur der Beschuldigungen mag ohnehin erstaunen… Die Sammlung mag so sonderlich anmuten, dass ich mir die Frage stelle, ob hier nicht die Taten dieser Frau verhandelt werden, sondern diese Frau zum Sündenbock für alles mögliche gemacht werden soll." Da sie sich in Gefahr sah, unterbrochen zu werden, hatte sie innegehalten und die Hand gehoben.

"Wenn - nein, falls - hier eine Schuld festgestellt wird, werden sich ohnehin höhere Gerichte damit befassen müssen, die sich mit den Vorwürfen inhaltlich auseinandersetzen werden. Was dieses Gericht jedoch viel besser vermag, ist ein Charakterurteil über diese Frau zu sprechen und damit den Weg zu weisen, ob sich ein höheres Gericht mit diesen absurden Vorwürfen befassen muss."

Recht energisch setzte sich Arda wieder hin, die Arme verschränkend.

War das, was Arda jetzt vorgebracht hatte, gut oder schlecht für sie? Doratrava war sich nicht ganz so sicher ... einerseits freute sie es, dass die Baroness, mit der und Mika zusammen sie im Wald 'Freundschaft' geschlossen hatte, was immer das auch für Arda genau bedeutete, für sie eintrat, andererseits fürchtete sie aber auch die Überstellung an ein 'höheres' Gericht, das mit den Ereignissen hier nicht vertraut war und sich dann noch mehr auf Aussagen wie zum Beispiel die Rondrards stützen würde, um zu einem Urteil zu kommen - oder ganz generell eine andersartige 'Halbelfe' für schuldig halten würde.

Nachdem Arda geendet hatte beugte sich der Dorfschulze fragend zu seinem Herren und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

„Kaldenberg“, antwortete Friedewald deutlich vernehmbar. „Baroness Ardare von Kaldenberg.“ Der Edle wandte sich an die Versammelten: „Hohe Herrschaften, leider kennt Meister Waldgrun nur die wenigsten unserer verehrten Gäste und weiß ihre Namen nicht. Deshalb möchte ich alle Sprecherinnen und Sprecher bitten, bei ihrer ersten Wortmeldung für das Protokoll Namen, Titel und Rang zu nennen.“

Noch während er weitere Notizen auf dem Pergament niederschrieb, erklärte Praiogrimm, der in Rechtsfragen nicht ganz unbewandert war, mit ruhiger und dennoch kühler und belehrender Stimme: „Eure Wohlgeboren, Baroness von Kaldenberg, Ihr irrt und gleichzeitig habt Ihr auch recht. Mein Herr hat nicht nur in den belanglosesten Anschuldigungen die Befugnis, Recht zu sprechen. Denn selbst Vergehen wie Entführung oder Angriffe auf niederrangige Adelige oder Geweihte, so sie denn aus profanen Motiven erfolgt sind, unterstehen der Gerichtsbarkeit des Lehnsmannes, auf dessen Grund diese erfolgt sind. Erst bei Schwerverbrechen, wie zum Beispiel dem Vorwurf der Paktiererei, greift die gräfliche Gerichtsbarkeit, in diesem Falle vertreten durch die Vögtin Witta von Dürenwald. Hier sei jedoch ebenfalls angemerkt, dass Ihre Hochgeboren die Befugnis zur Rechtssprechung ebenfalls an seine Wohlgeboren Friedewald von Weissenquell delegiert hat.”

Witta nickte wortlos.

Doratrava erlaubte sich einen kurzen Anflug von Erleichterung, mehr aber auch nicht.

“Danke, Praiogrimm, für deine Ausführungen.” Der Edle nickte seinem Gehilfen anerkennend zu. “Außerdem stimme ich Euch, werte Baroness, darin zu, dass hier zunächst geklärt werden muss, ob die vorgebrachten Anschuldigungen es erforderlich machen, den Fall an andere Stellen weiterzugeben. Sollte dies nicht so sein, so werde ich jedoch sehr wohl heute ein Urteil über die Beschuldigte sprechen, in den Punkten, die schließlich zur Anklage stehen.”

Wieder erhob sich die Baroness. "Aber nichts anderes sage ich, Wohlgeboren! Dieser 'Prozess' hat nichts anderes zu tun, als zu prüfen, ob die vorgetragenen Anklagepunkte an einem anderen Gericht verhandelt werden müssen."

Besserwisserisch lächelnd, fuhr die Baroness fort: "Und erstens hat Meister Praiogrimm" - so, wie Arda das Wort betonte, hätte die Bezeichnung "Meister" genauso gut "Stümper" lauten können - "die Schwelle der Vergehen, die ureigenst durch Euch verhandelbar sind, deutlich zu hoch angesetzt. Die Edlen schlichten Streit und dürfen Hühnerdiebe aburteilen, Strafen an Leib oder gar Leben, die über den gelegentlichen Hieb mit der Rute hinausgehen, können sie nicht aussprechen. Und zweitens ist die Subdelegation der Gerichtsbarkeit, zumal der Halsgerichtsbarkeit, sicher nicht statthaft ohne das Einverständnis des originären Halters des Rechts, der Gräfin - oder zumindest höchst umstritten. Ich appelliere an Euch, Hochgeboren" - Ardas Kopf ruckte in Richtung der gräflichen Vögtin - "zu prüfen, ob hier nicht ohne Not Konstellationen geschaffen werden, die das Grafengericht und die Rechtsprechung in der Grafschaft in Zukunft schwer beschäftigen könnten." Die Wortwahl der Baroness war gewählt, das höfliche Lächeln gegenüber der Vögtin jedoch hatte die Kälte eines Haifischlächelns.

Ihr Blick legte sich wieder auf Friedewald: "Im Übrigen ist es empörend, dass Kläger und Richter in einem Prozess, der sich so wichtig nimmt wie dieser hier, Sohn und Vater sind. Praios steh' uns bei!" Damit blickte sie kurz gen Himmel (oder verdrehte sie die Augen?), bevor sie abermals Platz nahm.

“Soweit mir bekannt ist”, meldete sich Rondrard nun zu Wort, “ist der Wohlgeborene Herr Friedewald von Weissenquell weder mein Vater, noch der des Hohen Herrn Eoban von Albenholz, für den ich hier, in absentia, die Klage vortrage, verehrte Baroness.”

Praiogrimm schaute von seinem Pergament hoch und blickte die Baroness anklagend an. Mit kalter, scharfer Stimme fragte er sie, Rondrards Einwand außer Acht lassend: “Wollt Ihr andeuten, mein Herr würde nicht die nötige Unbefangenheit in dieser Angelegenheit an den Tag legen? Oder wollt Ihr ihm gar die nötige Legitimation aberkennen, im Namen der Gräfin ein gerechtes Urteil zu sprechen, wenn er dazu aufgefordert wird? Oder wagt Ihr es etwa sogar, Ihrer Hochgeboren, der gräflichen Vögtin die Autorität abzusprechen, das ihr erteilte Recht auf Gerichtsbarkeit im Namen Ihrer Hochwohlgeboren an einen Edelmann ihres Vertrauens zu delegieren?”

Corwyns Blick aus den Reihen des Publikums verweilte schon eine ganze Weile auf der gräflichen Vögtin. Er wollte sehen, ob die letzten Worte der für Diplomatie nicht sonderlich bekannten Baroness von Kaldenberg Witta zu einer Reaktion verleiteten. Von gräflichem Recht hatte Ardare kaum Ahnung, wie sie gerade peinlich aber großspurig selbstbewußt bewiesen hatte. In seinem Kopf entstand bereits ein Sang der in fröhlicheren Zeiten sicher einige Münzen in seinen Hut wehen würde. Witta blickte weiterhin unverändert interessiert dem Geschehen zu und nach den aufgebrachten Worten des Schreibers Meister Praiogrimm setzte die gräfliche Vögtin tatsächlich zum Reden an. Würde sie der Baroness erklären wie das mit der Halsgerichtbarkeit geregelt war? Dass Witta tatsächlich Barone enthaupten durfte? Das Dokument lag von der Gräfin Elfgyva gesiegelt schon lange vor. Nur weil Witta etwas nicht tat hieß es nicht, dass sie nicht das Recht dazu hatte. Die gräfliche Vögtin richtete, weiterhin sitzend, ihre ruhigen und klar vernehmbaren Worte jedoch an das gesamte Rund der Verhandlung. "Heute ist morgen wenn man es von gestern aus betrachtet." Corwyn verdrehte innerlich die Augen über Wittas Standardspruch, wenn man über einen Spießbraten redete bevor das Fleisch hierfür gejagt war. Ok, sein Spruch war auch nicht besser. Die Hand der Vögtin lag bei den nächsten, zur Sachlichkeit mahnenden Worten auf ihrem Praiosamulett, "Urteile benötigen Beweise, nicht Anschuldigungen."

Besänftigend legte der Edle seinem Getreuen die Hand auf den Unterarm und forderte ihn mit milder Stimme auf: “Lasst gut sein, Meister Waldgrun. Sie meint es sicher nicht so arg, wie es klingt. Ich nehme an, Ihre Wohlgeboren ist lediglich darüber besorgt, hier könnte vorschnell ein ungerechtes Urteil gefällt und vollstreckt werden. Doch wenn wir uns schon vorab zu lange über solch Fragen der Verfahrensführung auslassen und uns dabei unnötig gegenseitige Vorwürfe machen, kommen wir hier nie voran.” Dem Edlen war das ganze Prozedere mehr als lästig und er wollte es schnell hinter sich bringen, um dann in Ruhe über die Entführung seiner Tochter am Tag vor ihrer Hochzeit trauern zu können. “Lasst uns nun fortfahren.”

"Meister Praiogrimm, Ihr seid sehr scharfsinnig. Genau DAS beabsichtigte ich zu formulieren. Ich sehe, es ist mir geglückt!", antwortete Arda mit gespielter Liebenswürdigkeit.

An Rondrard gewandt, fuhr sie fort: "Wer genau Euer Vater ist, solltet Ihr mit Eurer Mutter besprechen, werter Herr von Storchenflug, nicht mit mir. Bis zur Klärung dieses Punktes geht mal davon aus, dass ich den JUNGEN Herrn von Weissenquell gemeint habe."

Nun wurde Friedewald doch ärgerlich. “Baroness von Kaldenberg!”, rief er während er mit der Faust auf den Tisch donnerte.”Wenn Ihr es wagt, noch einmal das hohe Gericht oder eine der anderen anwesenden Personen zu beleidigen, werden wir sehr ikonisch feststellen, wer hier welche Befugnisse hat!”

"Ich verlange eine Entschuldigung, Baroness Kaldenberg, oder ich sehe mich gezwungen, diese Schmach nach altem Brauch zu vergelten."

Nun stand Tsalinde auf und meldete sich ebenfalls zu Wort: “Mein Name ist Tsalinde von Kalterbaum und ich bitte euch, dass wir diese Verhandlung nicht zu einem Krieg über Kompetenzen und Zuständigkeiten ausarten lassen. Meine Mandantin wird bereits zu lange unschuldig ihrer Freiheit beraubt. Werte Baroness, lasst es doch bitte gut sein. Die ehrenwerte Vögtin Witta von Dürenwald wird sicherlich wissen, welche Befugnisse sie hat und welche nicht und diese auch entsprechend delegieren dürfen.” Dann wandte sie sich direkt an Friedewald: “Euer Wohlgeboren, bitte lasst uns diese Verhandlung beginnen und zu einem fairen und gerechten Ende bringen. Ich vertraue auf euer Urteil.”

“Hoher Herr von Storchenflug, zügelt Euch!” Friedewald lief rot vor Ärger an und eine pochende Ader schwoll dick an seiner Stirn an. “Ich untersage auf meinem Boden jegliche Forderung nach Satisfaktion! Das gilt für alle Anwesenden! Wir werden JETZT mit der Verhandlung über das weitere Vorgehen mit der Gauklerin fortfahren. Und zwar unter meiner Wortführung. Wem dies nicht passt, dem steht es frei, sofort abzureisen und bei der Gräfin in Albenhus vorzusprechen, so sie denn zur Zeit im Lande weilt.” Der Edle atmete tief durch, um seinen Puls zu beruhigen. Dann wandte er sich an Tsalinde. “Euer Wohlgeboren von Kalterbaum, ich entnehme Euren Worten, dass Ihr vorhabt, die Verteidigung der Delinquentin zu übernehmen? Danach hatte ich zwar noch nicht gefragt, aber da ihr dies bereits erwähnt habt, sei dies notiert.”

Tsalinde nickte bestätigend und fügte knapp hinzu: “Ja, euer Wohlgeboren, es ist mir eine Ehre die Künstlerin Doratrava vor diesem Gericht zu vertreten zu dürfen.”

Praiogrimm beeilte sich, dies zu notieren.

Offenbar hatte also Lucilla von Galebfurten nicht mit Tsalinde gesprochen, nachdem erstere sie in ihrer Zelle verhört hatte. Hatte sie nicht erwähnt, dass Tsalinde bereits vorher angeboten hatte, sie zu verteidigen? Sie hatte der Rechtsgelehrten so viel erzählt, dass sie sich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnerte. Nun war Tsalinde ihres Wissens nach nicht speziell in der Rechtskunde bewandert, aber sie würde sie mit dem Herzen verteidigen, da war sich Doratrava sicher. Lucilla hingegen war wohl eher eine Frau des kühlen Verstandes, welche sie wohl nur dann verteidigen würde, wenn während der Verhandlung nicht herauskam, dass sie in ihren Augen schuldig war.

Aber wie auch immer, es galt weiterhin, dass ihr selbst die Hände gebunden waren, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, und sie selbst keinerlei Möglichkeiten hatte, ihr Schicksal über das Beantworten von Fragen hinaus zu beeinflussen, außer, indem sie es verschlechterte, indem sie vorlaute Zwischenbemerkungen machte. So hielt sie auch weiterhin den Mund.

Rondrard kochte vor Wut und warf Friedewald einen entsprechenden Blick zu. Die Worte der Baroness waren doch mit Absicht so gewählt, dass die Ehre seiner Mutter in den Dreck gestoßen und dreimal durchgezogen wurde, und er durfte ihre Ehre nicht wiederherstellen, was wiederum ihn entehrte. Nun gut, wenn diese gräßliche Hochzeit vorbei ist, würde sein Herold eben zwei Briefe zustellen.

Die Dame Morgenrot schloss eine Weile ihre Augen - in einem Versuch, den Zank und Hader, der sie umgab, auszublenden, so gut sie es vermochte. So lange, bis dies hier irgendwann zu einem Ende gefunden haben mochte.

Sie gedachte nicht im geringsten, in dieser Angelegenheit von sich aus das Wort zu ergreifen. Sie selbst wusste ohnehin zu wenig über all dies, was sich zugetragen hatte.

Reglos saß sie da. Wie eine Statue.

Zeugen der Anklage

Nun schaute sich Friedewald in der Menge um. „Wer von den Anwesenden kann die vorgebrachten Vorfälle aus eigenem Beisein heraus bezeugen?“ fragte er mit leicht genervtem Unterton. Während er auf Antworten wartete, trommelte er nervös mit den Fingern auf der Tischplatte.

Rondrard stand nun auf. "Wenn es dem Gericht genehm ist," fing er mit kaltem Blick auf Friedewald an, "werde ich erst berichten, was der Hohe Herr Eoban von Albenholz mir aufgetragen hat und hernach meine eigenen Erlebnisse. Ich liste nun die Anklagepunkte auf und erläutere sie," erklärte er.

“Haltet ein, Hoher Herr von Storchenflug.” Friedewald hatte die rechte Hand erhoben und stoppend zu Rondrard gestreckt. “Ihr bekommt bald die Gelegenheit, eure Anklagepunkte zu erläutern. Da bin ich schon äußerst gespannt drauf, denn einiges scheint mir noch nicht plausibel zu sein. Doch momentan bin ich zunächst daran interessiert, wer noch außer Euch etwas zu dieser Verhandlung beizutragen hat.”

Praiogrimm, der die Feder in das Tintenfass getaucht und zum Aufschrieb auf ein neues Pergament angesetzt hatte, schaute nun verwundert auf, nahm dann aber das Blatt mit der Liste der Für- und Gegensprecher wieder vor sich, das er soeben zur Seite gelegt hatte.

Allmählich kam sich Rondrard ziemlich gegängelt vor. Wollte Friedewald nun Recht sprechen oder nicht? Aber gut, wenn er es so haben wollte…

Auffordernd blickte er nun zu Kalman.

Dieser lächelte Rondrard selbstsicher zu. “Hab Geduld”, flüsterte der Lützeltaler Ritter seinem Freund zu. “Vater hat einen festen Ablaufplan für die Anhörung, davon wird er nicht abweichen wollen. Jedwede Störung seines Protokolls wird ihn eher erzürnen als einsichtig werden lassen. Wenn wir abwarten, bis er uns zu Reden auffordert, wird das unser Vorteil sein. Ich habe den Eindruck, wenn wir nur lang genug warten, wird die Baroness von Kaldenberg seinen Unmut auf sich ziehen, was uns zum Vorteil gereichen mag.”  

"Meinen Unmut hat sie bereits schon", brummte Rondrard. "Aber Du hast Recht. Ich werde warten."

Nun wandte sich Kalman an seinen Vater. “Euer Wohlgeboren, auch ich spreche als Leumundszeuge für die Hohen Herren von Albenholz und von Storchenflug, von Ritter zu Ritter. Ich vertraue den Worten der Hohen Herren und unterstütze die Anklagepunkte gegen die Vagabundin.”

Die Verteidigung

Als sich keine weiteren Wortmeldungen abzeichneten, wandte sich der Edle von Lützeltal noch einmal an Tsalinde. “Wohlgeboren von Kalterbaum, Ihr habt angedeutet, für die Rechtschaffenheit der Tänzerin das Wort führen zu wollen. Ist das richtig?”

[ping Tsalinde]

Währenddessen hatte sich Mika lautlos und fast unbemerkt unter die Zuschauer geschlichen und hinter Arda Platz genommen. Als sich ein Moment der Stille bot, beugte sie sich vor und flüsterte Arda unerwartet ins Ohr: “Meinst du wirklich, sie könnten die fröhliche Gauklerin verurteilen und ihr etwas antun?”

"Nein. Und wenn sie es doch tun, werden sie keinen frohen Tag mehr haben, so wahr ich hier sitze!" raunte Arda selbstbewusst zurück. "Denke dran, wir wollen doch zusammen nach Punin!"

„Meinst du, es wäre hilfreich, wenn ich für Doratrava fürspreche?“ fragte die Novizin. „Oder würde es ihr eher schaden, nach dem, was ich gestern getan habe?“

“Kannst Du denn als Zeugin einen der Vorwürfe entkräften?” entgegnete Arda.

“Na, dass Doratrava eine Paktiererin ist, schließe ich aus”, war Mika überzeugt.

“Wer von den Anwesenden möchte außer der Edlen von Kalterbaum noch für den Leumund der Angeklagten sprechen und somit den Anschuldigungen widersprechen?” fragte Friedewald nun auch nach weiteren Leumundszeugen der Tänzerin.

Merle stand auf und hob vorsichtig die Hand. Leise und verlegen, offensichtlich nicht gewohnt, vor größeren Gruppen zu sprechen, ergriff sie das Wort: "Merle Dreifelder von Weissenquell, Anconiter-Schwester in Albenhus, Schwiegertochter des Edlen. Ich bin diejenige, die angeblich entführt wurde. Doch kann ich bezeugen, dass dies nicht der Fall war", ein kurzer, intensiver Blick ging zu ihrer Freundin, "und dass Doratrava mir keinerlei Harm angetan hat."

Diese Wortmeldung registrierte die Galebfurtenerin, die ansonsten reglos in der ersten Reihe saß, mit einem schmalen Lächeln. Lucilla hatte sich vorgenommen, zunächst alle Wortmeldungen abzuwarten, bevor sie selbst etwas beitragen würde.

„Danke, Merle. Das werden wir später noch einmal genauer besprechen. Jetzt möchte ich zunächst wissen, wer alles für wen sprechen mag.“ Friedewald lächelte Merle aufmunternd an, bevor er erwartungsvoll in die Runde blickte.

“Ich werde für die Angeklagte sprechen.” Ein weiteres Mal erhob sich die Baroness von Kaldenberg. “Die Angeklagte hat vor wenigen Wochen in der Baronie Kaldenberg Umtriebe aufgedeckt, die dem erzdämonischen Widersacher der Herrin Travia zuzusprechen sind. Dieses Unheil ist zweifellos aus Hlutharswacht, von wo diese schändlichen Umtriebe ihren Ausgang nahmen, nach Kaldenberg herüber geschwappt.” Sie blickte sich herausfordernd um: “Die Angeklagte hat damit hinlänglich bewiesen, dass sie eine Feindin des erzdämonischen Widersachers der Herrin Travia ist, und keine Unterstützerin desselben. Weiterhin hat sich die Angeklagte zu unzähligen Gelegenheiten um den Herzog und die Nordmarken verdient gemacht. Einige dieser Gelegenheiten kann ich persönlich bezeugen, da ich ebenfalls anwesend war. Beispielsweise bei der Aufdeckung dämonischer und namenloser Umtriebe in bereits erwähnter Baronie Hlutharswacht, oder als wir die sinistren Pläne der Waegel-Bande in den Ingrakuppen vereitelten, oder mehrfach unheiligen Geschehnissen in der Baronie Eisenstein das Handwerk legten. Nur um einige ihrer Taten zu benennen.”

Abschließend blickte sich die Baroness um: “Bei all jenen Geschehnissen war die Angeklagte stets an vorderster Stelle zu finden, ohne Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit. Ihr Vorgehen mag… unorthodox sein, ihre Absichten oder ihre Gesinnung sind jedoch so rein, wie sie nur sein können! Wenn Ihr also über diese Frau Euren Stab brecht, Anschuldigungen sprecht, die absurd und widersprüchlich sind wie jene, die wir uns hier anhören mussten, wenn Ihr diese Frau aburteilt, selbst wenn es Euch zusteht - dann seid IHR es, der Unrecht begeht!” Nachdem sie diese letzten Sätze leidenschaftlich ausgesprochen hatte, nahm sie ein vorerst letztes Mal Platz.

Nun war Doratrava beeindruckt. Arda mochte ein klitzekleines bisschen übertrieben haben bei der Beschreibung ihrer Taten, aber grundsätzlich stimmte ja, was sie sagte, auch wenn die Gauklerin selbst diese Dinge nicht an die große Glocke hing. Aber vor allem war Doratrava beeindruckt von der Größe der Lanze, die Arda da für sie brach. Ja, sie hatten sich im Wald Freundschaft geschworen, aber da sie Arda eigentlich als recht zynisch und wenig menschenfreundlich kennengelernt hatte, war sie nicht davon ausgegangen, dass diese 'Freundschaft' allzu weit gehen könnte. Nun, vielleicht hatte sie sich ja geirrt ...

“Noch wurde hier niemand verurteilt”, erklärte Praiogrimm, ohne von seinem Pergament aufzuschauen.

“Sehr wohl”, stimmte Friedewald zu. “Und inwieweit gute Taten der Vergangenheit mögliche Verfehlungen der Gegenwart ausschließen, wollen wir erst noch klären. Aber ich habe Eure Ansicht zur Kenntnis genommen, Eure Wohlgeboren.”

Inzwischen war auch Mika aufgestanden und nach vorne gelaufen. “Mika von Weissenquell, Novizin des weißen Jägers, des Alten vom Berg, des Meisters der Disziplin, unserem Herrn der inneren und äußeren Kälte, Lehrer der Gelassenheit, Schülerin von seiner Gnaden Firumar von Albenholz, Tochter des Edlen von Lützeltal. Auch ich spreche Zeugnis vom Leumund von Doratrava.”

“MIKA, setz dich wieder und sei still!”, wies Kalman seine kleine Schwester zurecht.

Friedewald ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken und presste mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand seine Augen zu.

“Nicht jetzt Kalman, halte deinen Mund! Du durftest eben sprechen, jetzt bin ich an der Reihe.” Mika wandte sich wieder ihrem Vater zu. “Vater, du weißt ganz genau, dass Doratrava keine Paktiererin ist und auch sonst nichts von den Anschuldigungen stimmen kann! Du hast ihr selbst gestern noch dein vollstes Vertrauen ausgesprochen, als du sie nach meiner Verletzung damit beauftragt hast, mich heil ins Dorf zurückzubringen. Und diese Aufgabe hat sie nach besten Kräften gewissenhaft ausgeführt, ohne jeden schlechten Hintergedanken. Wäre sie mit den Paktierern im Bunde gewesen, wäre es für sie ein Leichtes gewesen, mich dort allein im Wald zu überwältigen und zu entführen, wie sie es mit Gwenn gemacht haben. Aber nichts dergleichen hat sie getan, im Gegenteil, sie hat mich auf meinen Wunsch hin zunächst zu seiner Gnaden geführt, obwohl dieser es gar nicht gut mit ihr meinte. Und mehr noch, auf dem Weg habe ich sie nach ihrer Gesinnung den Göttern gegenüber gefragt. Und dabei habe ich nichts Unheiliges an ihr oder ihrem Verhalten bemerkt. Nein, sie hat mir glaubhaft versichert, dass sie treu zu den Zwölfen steht. Jawohl!”

Fast musste Doratrava schmunzeln, auch wenn ihr überhaupt nicht danach zumute war. Aber Mikas Aussage, so naiv sie vorgetragen wurde, war so sehr von Grund auf ehrlich gemeint, dass sie fast so etwas wie Rührung verspürte.

Das kratzende Geräusch, das Praiogrimms schnell geführte Schreibfeder auf dem Pergament erzeugte, war gut zu hören.

Friedewald hatte Mikas Erklärungen wort- und regungslos abgewartet. Er wünschte fast, seine Tochter wäre nur halb so schweigsam wie ihr Lehrmeister. Jetzt öffnete er wieder die Augen. Mit müder, erschöpfter und leicht resignierter Stimme sprach er zu ihr: “Danke Mika, ich habe auch deine Erklärung vernommen. Jetzt setz dich bitte wieder.” Mika tat, wie ihr geheißen, nicht ohne Arda ein stolzes Lächeln zuzuwerfen.

Nun stand die Hadinger Geweihte auf und trat vor. Sie verneigte sich vor dem Edlen Friedewald und erhob mit einem Räuspern das Wort. Ihre zunächst zittrige Stimme wurde schnell laut und deutlich: "Imelda Theodara von Hadingen, Gesellin des Ingra und Geweihte des Feuergottes im Tempel unseres Herrn Ingra zum lohenden Feuerquell zu Hadingen. Ich bin gemeinsam mit der Angeklagten Doratrava auf einer Queste gewesen, bei welcher wir gegen namenloses Treiben gefochten haben. Ich verbürge mich daher ebenso für die Gauklerin und kann bestätigen, dass sie ein offensichtliches Interesse daran hat, dem dunklen Treiben den Garaus zu machen." Die junge Geweihte biss sich auf die Unterlippe und fuhr dann nach kurzem Zögern fort. "Hätten wir in den vergangenen Stunden solche Leidenschaft im Kampf gegen das Böse, wie Doratrava es bisher tat, an den Tag gelegt… nun, dann…", Imelda zuckte mit den Schultern. "Aber über die Versäumnisse, Hilfe zu holen oder besser gesagt, sich dagegen auszusprechen sowie sich - statt sich um die wirklichen Probleme zu kümmern in die Anklage dieser unbescholtenen Frau zu verrennen, muss vermutlich ein anderes Gericht urteilen." Strafend sah sie bei den letzten Worten Kalman an, um sich dann wortlos zu ihrem Platz zurück zu begeben.

Offenbar hatte Doratrava mehr Eindruck hinterlassen, als sie gedacht hatte. Sogar die etwas polterige Ingra-Geweihte ergriff für sie Partei. Wenn es allein nach der Anzahl der Unterstützer gehen würde, müsste sie sich keine Sorgen machen. Zwar ging es eben nicht danach, aber andererseits hatte das Wort einer Geweihten Gewicht. Auch Imelda warf sie einen dankbaren Blick zu.

Kalman war sich jedoch keiner Schuld bewusst und verstand die strafenden Blicke der jungen Geweihten nicht.

„Danke, Euer Gnaden.“ Friedewald nickte Imelda zu. „Es geht hier jedoch weniger um das, was nicht getan wurde oder hätte getan werden können, als vielmehr, was Doratrava in den letzten Stunden getan hat. Sonst noch jemand?“

In den letzten Stunden? Da war Doratrava in einer Zelle gesessen, ohne irgendetwas tun zu können …

"Jawohl!" Nivard erhob sich von seinem Platz. "Nivard von Tannenfels, Absolvent der herzöglichen Kriegerakademie zu Elenvina, Burgoffizier Ihrer Hochgeboren zu Ambelmund - für die Angeklagte." Er ließ Praiogrimm Zeit, die laut vernehmbar benannten persönlichen Daten auf das Pergament niederzulegen. Als er merkte, dass der Schreiber fertig wurde, räusperte sich der Krieger, und fuhr fort.

"Ich kenne die Angeklagte inzwischen seit bald zweieinhalb Götterläufen, und habe sie in dieser Zeit bis einschließlich heute stets als zuverlässig zu ihren Freunden und Mitstreitern stehende, mutige und treu für die zwölfgöttliche Ordnung, jedoch unerbittlich gegen dämonische Umtriebe streitende Gefährtin erleben dürfen, für die ich alleine bereits deshalb meine Hand ins Feuer legen würde." Wieder pausierte Nivard, bis diese Teilaussage erfasst war.

"Gestern war ich aber auch ein Geschädigter jener Geschehnisse, die zum Verschwinden der Angeklagten mit der Dame Merle Dreifelder von Weissenquell und seiner Gnaden Rahjel von Altenberg führten. Vorausschickend möchte ich betonen, dass ich daraus keinerlei bleibende Schäden davongetragen habe. Ferner bin ich mir gewiss und würde auch beschwören, dass die Angeklagte die Kräfte, die auf mich so schmerzhaft einwirkten, nicht willentlich gegen mich angewendet hat, sondern dass es sich dabei...", er überlegte, welchen Begriff er verwenden sollte, "... um eine Art Unfall gehandelt hat. Meinerseits ist diese vermeintliche Tat jedenfalls vergeben und vergessen, und meine Freundschaft zur Angeklagten steht darob nicht im Zweifel. Ich ersuche daher das Gericht, die Anklage insgesamt, hilfsweise aber mindestens den auf mich als Opfer bezogenen Anklagepunkt 'Angriff auf einen Krieger von Stand' ersatzlos fallen zu lassen."

Doratrava warf Nivard einen dankbaren Blick zu, immer noch und jetzt erst recht froh, dass er ihr die Ohnmacht mit nachfolgenden Kopfschmerzen nicht nachtrug, in die sie ihn ohne Absicht geschickt hatte. Wenn er auch zuvor ihre dringliche Warnung, den Raum zu verlassen, ignoriert hatte. Aber so, wie er jetzt für sie sprach, hatte er auch dies aus Freundschaft getan, wofür sie ihm keinen Vorwurf machte. Er hatte ja nicht wissen können, was passieren würde - so, wie sie selbst auch nicht.

Friedewald beugte sich nach dieser Erklärung zu seinem Gehilfen und die beiden wechselten tuschelnd einige Worte, wobei Praiogrimm abwechselnd nickte oder den Kopf schüttelte. Schließlich räusperte sich Friedewald. “Gut, nach Rücksprache mit meinem Schulzen komme ich zu dem Schluss, dass der Anklagepunkt ‘Angriff auf einen Krieger von Stand’ tatsächlich von der Liste der Anschuldigungen gestrichen werden muss, wenn der vorgeblich Geschädigte diesem Tatbestand widerspricht. Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Gauklerin Doratrava weiterhin mannigfaltige Taten zur Last gelegt werden, weshalb das Verfahren unverändert weiterläuft. Weiter.”  

"Vater Friedewald", meldete sich nun Merle mit erhobener Hand und sich leicht überschlagender Stimme zu Wort, "müssten dann nicht ebenso die Anklagepunkte ‘Entführung der Schwiegertochter des Edlen’ und ‘Angriff mit schweren körperlichen Folgen auf dieselbe’ fallen gelassen werden? Ich möchte und kann bezeugen, dass Doratrava mich weder entführt noch angegriffen hat und daher hiermit das Gericht ersuchen, dies ersatzlos zu streichen.” Mit vor Aufregung geröteten Wangen sah sie Friedewald bittend in die Augen.

Diesmal war es Praiogrimm, der sich zu Friedewald beugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.

“Olport-Syndrom?” fragte Friedewald unvermittelt und irritiert.

Olport-Syndrom? Was sollte das denn sein? Aber wie es aussah, nichts, was Doratrava zum Vorteil gereichen würde …

Praiogrimm nickte und flüsterte Friedewald weitere Erklärungen zu, woraufhin der Edle verstehend zu nicken begann.

“Gut”, erklärte Friedewald schließlich, “wenn das so ist, sollten wir darüber noch einmal ausgiebiger reden”, woraufhin er sich seiner Schwiegertochter zuwandte und sie äußerst besorgt anschaute. “Nein, mein Kind, ganz so einfach ist das nicht. Über den Punkt sprechen wir gesondert. Denn euer plötzliches Verschwinden steht ja außer Frage und wurde soeben auch von dem Herrn von Tannenfels bestätigt.”

Merle war aufgestanden und einen Schritt auf Friedewald zugetreten. Sie schüttelte den Kopf. "Unser 'Verschwinden' war auch von Doratrava unbeabsichtigt und ein 'Unfall', ganz genauso wie der sogenannte 'Angriff' auf Nivard. Ich wurde nicht entführt!" Ernst suchte sie den Blick ihres Schwiegervaters. "Und ich verstehe nicht, weshalb Nivards Wort hier zählen soll, meines aber nicht."

„Ja, Merle, das verstehst du nicht“, stimmte Friedewald zumindest ihrem letzten Satz zu. Aber wie sollte er ihr auch erklären, dass er ihrem Wunsch nicht sofort entsprechen konnte, ohne den Vorwurf der Klüngelei über sich heraufzubeschwören? „Wir werden den Anklagepunkt der Entführung später noch diskutieren, so wie alle anderen auch. Jetzt geht es zunächst um die Feststellung der Anträge und der jeweiligen Leumundszeugen. Und dass du als Fürsprecherin von Doratrava auftreten willst, habe ich bereits zur Kenntnis genommen. Jetzt setz dich bitte wieder.“

Sichtlich unzufrieden mit der Reaktion ihres Schwiegervaters, aber erkennend, dass Friedewald in dieser Sache nicht auf sie eingehen würde, nickte Merle und nahm wieder Platz, wobei sie Doratrava und Nivard jeweils einen schnellen, frustrierten Blick zuwarf.

Doratrava gab den Blick zurück und versuchte zu transportieren, dass sie für Merles Einsatz mehr als dankbar war, diese sich aber auch nicht zu sehr grämen und schon gar nicht entmutigen lassen sollte. Sie bezweifelte, dass Merle auf die Entfernung mehr als die Farbe in ihren Augen erkennen konnte (welche auch immer das gerade war, sie hoffte inständig, nichts zu "unnatürliches"), aber dennoch legte sie so viel Gefühl wie möglich in den Blick. Und wer weiß, vielleicht war sie ja nun auch der Gedankenübertragung mächtig, wenn sie schon plötzlich Leute in Globulen entführen konnte, dachte sie in einem Anflug von sarkastischem Humor bei sich.

Arda konnte nicht anders - ein weiteres Mal stemmten sich ihre Füße in den Boden und ruckartig stand sie auf, ehe sie sich das richtig überlegt hatte (zugegeben, die vorigen Wortmeldungen hatte sie auch nicht sonderlich gründlich durchgedacht).

"Euer Wohlgeboren, auch ich verstehe diese Haltung nicht! Wenn ich jetzt, in diesem Moment, plötzlich verschwinden würde - alle Anwesenden wären Zeugen, und zweifellos würden sich einige sogar darüber freuen. Doch über die Umstände des Verschwindens ist dadurch noch NICHTS gesagt. Wenn Ihr dem Herrn von Tannenfels zugesteht, ein Geschehnis hier so zu bewerten, dass sich daraus kein Vorwurf gegenüber der Angeklagten ergibt - warum verweigert Ihr dasselbe Recht Eurer Schwiegertochter?"

„Ich sagte nicht, dass ich es ihr verweigere. Ich sagte, wir reden später ausführlich darüber. Und das ist mein letztes Wort in dieser Angelegenheit. Jeder weitere Widerspruch wird als Missachtung des Hohen Gerichts geahndet.“ Erneut schlug Friedewald kräftig mit der Faust auf die Tischplatte. “Setzt Euch, bis ich wieder zum Reden auffordere!“ Die Vorstellung, Arda könnte einfach so verschwinden, nahm an Anziehungskraft deutlich zu. Ach, würden sie doch alle verschwinden und das Tal wieder so einsam und friedlich zurücklassen, wie es vor nur wenigen Tagen noch war…

Arda verengte ihre Augen zu Schlitzen und nahm mit vor der Brust verschränkten Armen Platz. Mit Mühen verkniff sie sich einen Kommentar, doch Friedewald war soeben vollends bei ihr in Ungnaden gefallen. In Gedanken übte sie unverhältnismäßig brutale und überaus fantasievolle Rache an dem Weissenqueller.

Merle warf einen kurzen Seitenblick zur Baroness von Kaldenberg. Sie war sichtlich dankbar dafür, dass sie nicht die einzige war, die es als ungerecht empfand, wie Friedewald ihre und Nivards Aussage mit zweierlei Maß behandelte. Dann schaute sie wieder zu Doratrava und nickte ihr zu, um gleichermaßen ihrer Freundin und sich selbst Mut zu machen.

Der Tsageweihte räusperte sich und stand auf. Er hatte bislang unbeteiligt wirkend in der zweiten Sitzreihe gesessen. Er konnte so einem Gerichtsverfahren nicht wirklich etwas abgewinnen. Auch die scharfen Wortgefechte fand er zum Abgewöhnen. Doch nun stand er auf, da er sich durchaus als Leumundszeuge für Doratrava empfand. Er hatte sein regenbogenfarbenes Gewand so gut es ging gesäubert und den Dreck ausgebürstet. Dennoch konnte man seiner Gewandung immer noch die Spuren der zurückliegenden Ereignisse ansehen.

“Rionn, einfach nur Rionn”, sagte er zunächst dem Schreiber zugewandt. “Nun, ich möchte mich ebenfalls für Doratrava verbürgen. Ich durfte sie kennenlernen bei der Bekämpfung des Bäckerpruch-Paktierers. Da hat sie sich als wertvolle Mitstreiterin erwiesen. Ich bin froh, dass sie mit dabei ist. Mit viel Tapferkeit und Einsatz hat sie bereits dazu beigetragen, dass wir diesen Pruch in die Enge getrieben haben. Offensichtlich so sehr bedrängt, dass er sich zu diesen üblen Taten hier in Lützeltal genötigt fühlte, um uns einzuschüchtern.” Der Tsageweihte nickte anerkennend in Richtung der Gauklerin.

“Ich habe allerdings Anlass dazu, anzunehmen, lieber Friedwald”, wandte Rionn sich dem Richter zu, “dass alle Vorwürfe wider Doratrava nichtig sind, da sie keinesfalls eigenmächtig, erst recht nicht böswillig gehandelt hat, sondern in der wohlwollenden Gnade der Ewigjungen.”

„Seine Gnaden Rionn, Geweihter der Tsa“, ergänzte der Edle an seinen Schreiber gewandt, dann an Rionn: „Habt Dank, Euer Gnaden, für Eure Einschätzung.“

“Rionn, einfach nur Rionn”, korrigierte der Tsageweihte die Anmerkung Friedewalds.

Weitere Anträge

Als sich keine weiteren Zeugen meldeten, holte Friedewald tief Luft. „Und zu guter Letzt“, der Weissenqueller hoffte, dass es hierauf keine Wortmeldungen geben würde, um die Angelegenheit nicht noch weiter zu verkomplizieren, „gibt es noch weitere Anträge, die im Zusammenhang mit den Vorfällen um Doratrava stehen?“

Erneut räusperte sich der Tsageweihte. Er stand immer noch seit vorhin. “Ich möchte nicht unhöflich klingen, Friedwald”, wandte er sich erneut an den Richter. “Aber ich habe berechtigte Gründe zu der Annahme, dass du in diesem Fall gar nicht zuständig bist. Vielmehr möchte ich beantragen, dass Doratrava dem Tempel der Schönen Göttin zu Eisenstein überstellt wird, wo der Tempelvorsteher Rahjan Bader sich ihrer annehmen möge.”

Praiogrimm notierte auch diesen neuen und in eine ganz andere Richtung zielenden Antrag mit derselben Sorgfalt wie alle anderen Beiträge.

“Euer Gnaden”, wandte sich Friedewald an Rionn, “Euer Ansinnen in aller Ehren. Wer in diesem Fall zuständig ist, ist eines der Ziele, das in diesem Verfahren zu klären sein wird.” Dann wurden dem Edlen Rionns Worte erst richtig bewusst und er kratzte sich am Hinterkopf. “Dem Rahjatempel überstellen? Welchen Grund sollte es dafür geben? Verzeiht, Euer Gnaden, aber dieses Ansinnen erschließt sich mir momentan nicht im Geringsten.”  

Das interessierte die Galebfurtenerin auch ungemein, denn dieser Fall fiel nun wahrlich nicht in die Belange der Kirchen. Neugierig blickte sie zu Rionn.

“Wie vielleicht mittlerweile bekannt ist, bin ich ein versierter Exorzist”, behauptete Rionn. Er wusste nicht, wie er zu diesen Kompetenzen gelangt war, aber die Erlebnisse der zurückliegenden Monde, insbesondere die Ereignisse im Efferdtempel hatten ihm gezeigt, dass er über profunde Kenntnisse verfügte. Seine Erinnerung war leider nicht mehr vorhanden. Er hatte keine Ahnung, wie er dazu kam, wo er das gelernt hatte. Nur Fetzen und Splitter von Bildern seiner Vergangenheit waren in seinem Unterbewußtsein verblieben und stiegen von Zeit zu Zeit auf. Er konnte das nicht ordnen. Rionn war verzweifelt, nicht zu wissen, wer er war. Aber das spielte hier gerade keine Rolle. Er musste sich seiner möglichst sicher sein, um das folgende deutlich zu machen.

“Ich habe nach dem Entschwinden Merles, Rahjels und Doratravas das Kaminzimmer untersucht, eine `Auraprüfung´ vollzogen, so nennt man das. Dabei durfte ich feststellen, dass das Entschwinden nicht auf das Wirken eines niederhöllischen Einflusses zurückgeführt werden kann. Da war nichts in diesem Raum, was auf die Widersacher der Zwölfe hinwies. Vielmehr bin ich der Überzeugung, dass uns die Zwölfe in unserer bedränglichen Situation helfen wollten. Wir haben aber nicht jeden Fingerzeig verstanden. Es war ein Fehler, Doratrava wegsperren und so auf ihre Hilfe bei der Bekämpfung des Übels zu verzichten. Sie steht unter einem besonderen Schutz der Ewigjungen. Ja, das macht sie nicht erhaben darüber, dass sie verantwortlich ist für ihre Taten. Aber das, was dort in dem Kaminzimmer geschehen ist, bedarf einer weiteren Untersuchung der Kirchen. Und der Eisensteiner Tempelvorsteher Rahjan Bader verfügt über die Kenntnisse, diese Untersuchungen zu vollziehen. Dazu kann aber Rahjel sicher besser Auskunft geben, als ich.”

Bei den letzten beiden Sätzen blickte er zum Rahjageweihten Rahjel von Altenberg.

“Kein dämonisches Wirken während der Entführung”, murmelte Praiogrimm vor sich hin, während er mitschrieb.

Der Edle von Lützeltal folgte Rionns Blick zu seinem Neffen, während er kommentierte: “Nun, das ist ja schon eine interessante Feststellung, auch wenn wir über den Vorwurf der Paktiererei dennoch später noch einmal reden müssen. Das Fehlen einer dämonischen Präsenz bei den Vorfällen im Kaminzimmer bedeutet ja nicht zwangsläufig, dass die Angeklagte keine Paktiererin ist. Aber immer eins nach dem Anderen. Zunächst sollte die Anklage ihre Vorwürfe genauer darlegen und begründen, bevor hier versucht wird, ein pauschales Gefühl der Unschuld der Tänzerin zu erzeugen.”

Der Rahjageweihte Rahjel hob die Hand, doch bevor er sprechen konnte, tippte ihm die alte Baroness von Immergrün auf die Schulter und flüsterte diesem ins Ohr. Dieser nickte verständig und sagte nur kurz: ”Ich, im Namen der Gemeinschaft der Rahja und als Zeuge der sogenannten Entführung, möchte mich später zu Worte melden. Ich fordere die Übergabe der Angeklagten in die Hände der friedvollen Schwestergöttinnen Rahja und Tsa.” Dann nickte er Rionn zu.

Der Tsageweihte verstand. Er war zu früh mit dem Anliegen vorgeprescht. Darum nahm er sich zurück. Rionn nickte seinerseits Rahjel zu und setzte sich wieder.

“Danke, Euer Gnaden”, nickte der Edle zu Rahjel. “Ich werde auf Eure Aussage gerne später zurückgreifen.”

Beweisaufnahme

“So”, wandte sich Friedewald nun wieder den Anklägern zu. “Hoher Herr von Storchenflug, nun würde es mich doch interessieren, wie ihr die vielfältigen Anklagepunkte gegen die Gauklerin begründen wollt, und welche der Missetaten Ihr selbst bezeugen könnt. Vorhin schnitt ich Euch das Wort ab, nun bitte ich Euch zu sprechen. Meister Waldgrun, würdet Ihr bitte sorgfältig mitschreiben?”

Praiogrimm nickte nur, während er sich ein leeres Pergament nahm.

“Wie ich vorhin schon sagte, will ich die Liste der Anklagepunkte nun erläutern”, begann der Storchenfluger etwas genervt von dem ganzen Prozedere.

"Erstens: Spionage. Wie den meisten hier bekannt ist, ist der dreimal verfluchte Paktierer der Gruppe immer einen Schritt voraus. Folglich lässt sich, unter anderem, der Schluss ziehen, dass es jemanden gibt, der ihn unterrichtet. Bei der hiesigen Entführung aus Eurem Haus heraus, fiel dem Hohen Herrn auf, dass die Gauklerin sich nicht einmal im selben Stockwerk befand und dennoch wusste, was im Erdgeschoss vor sich ging. Wie konnte sie das wissen?”

Mika war kurz davor aufzuspringen und den Worten zu widersprechen, beziehungsweise zu erklären, was vorgefallen sein könnte, doch ihr Vater erkannte ihr Vorhaben rechtzeitig und machte ihr mit einer Geste deutlich, sich hier zurückzuhalten, so dass sich Mika sogleich wieder hinsetzte.

Insubordination

So konnte Rondrard ungestört fortfahren. “Zweitens: Anwendung von Magie: Übermenschlich schnell war sie dann im Raum erschienen. Sie scheuchte diverse Anwesende hinaus und verschwand dann auf magische Weise mit Eurer Schwiegertochter und dem Geweihten. Zuvor hat sie den Krieger Nivard von Tannenfels magisch attackiert. Wenn ich ihr wohlwollend keine Absicht unterstelle, dann sind dies Beweise für die unbekümmerte und offenbar ungelernte Anwendung von Magie. Drittens: Insubordination. Als der Albenhuser Efferdtempel angegriffen wurde, ertönte der Befehl zum Sammeln. Was macht die Gauklerin? Sie rennt los. Welche Folgen hatte das? Diverse Menschen, darunter Geweihte, folgen ihrem 'Beispiel'. Am Ende sind alle tot - außer Doratrava - Zufall?“

„Wartet, wartet! Haltet ein!“ unterbrach Friedewald den Ritter. „Zunächst, die Anklage wegen des Angriffs auf den Krieger von Tannenfels haben wir bereits fallen gelassen. Aber das andere muss ich genauer wissen: Bei dem Angriff auf den Efferdtempel in Albenhus vor einem Götterlauf, wer genau war da am Ende ‚alles tot‘? Wenn ich richtig informiert bin, war mein Sohn, der Gelehrte Herr Adeptus Gudekar von Weissenquell, bei jenem Angriff ebenfalls anwesend und berichtete mir von einer erfolgreichen Zurückschlagung der Paktierer. Von toten Verteidigern sprach er nicht, lediglich von getöteten und gefangen genommenen Paktierern. Wart Ihr selbst Zeuge des Vorfalls, Hoher Herr?“

"Ihr wollt tatsächlich Euren Herrn Sohn, der letzte Nacht mit seiner Metze geflohen ist, mehrfach Ehebruch begangen hat und die Gemeinschaft, welche gegen den Pruch streitet, schändlich im Stich lässt als Leumundszeugen für die Gauklerin hernehmen? Bei den Zwölfen, das kann ja heiter werden. Und ich dachte schon, eine Geweihte, die des Herren Praios Werk, die diese Gerichtsverhandlung darstellt, als Zeitverschwendung sieht, sei mein einziges Problem." Er musste erstmal tief Luft holen, bevor er fortfuhr: "Wenn Ihr mir vorhin zugehört hättet, dann wüsstet Ihr, dass ich nicht Zeuge dieser Ereignisse sein kann, da es die Erlebnisse des Hohen Herrn Eoban von Albenholz sind, die ich, wie vorhin erklärt, zuerst schildern möchte, da er der eigentliche Kläger ist. Darf ich fortfahren?”

Bei diesen Worten hob die Galebfurtenerin eine Augenbraue. Ihre Miene verzog sich zu einem spöttischen Lächeln und sie schüttelte unmerklich den Kopf. Es galt keiner Person im Speziellen, sondern vielmehr dem vorherrschenden Ton bei dieser ‘Verhandlung’. Sie hätte bereits einige Anwesenden vom weiteren Verlauf ausgeschlossen.

“Die Taten meines Sohnes stehen hier nicht zur Debatte. Ich berufe mich auf Aussagen, die mein Sohn vor einem Götterlauf machte, als er angesehenes Mitglied jener Gemeinschaft war und durchaus traviagefällig bei Weib und Kind hier am Tag der Treue zu Besuch weilte. Ich werte seine Aussage auch nicht als die eines Leumundszeugen der Gauklerin Doratrava, sondern als Widerspruch zu den Vorwürfen des Hohen Herren von Albenholz, die Ihr hier vorgetragen habt. Darum lasst uns bitte noch einen Moment bei den Vorfällen in Albenhus bleiben. Hier stehen sich nun wohl zwei Aussagen gegenüber von zwei Beteiligten, die jedoch beide nicht selbst sprechen können, da sie beide hier durch Abwesenheit glänzen. Gibt es denn hier jemanden, der oder die bei jenem Ereignis beteiligt war und Zeugnis über jene Vorfälle ablegen kann?”

"Jawohl!" Wieder erhob sich Nivard.

"Nivard von Tannenfels, für die Angeklagte. Ich kann als an den Kämpfen im Albenhuser Efferdtempel unmittelbar Beteiligter den Bericht seiner Wohlgeboren über die erfolgreiche Zurückschlagung der Angreifer, zu der auch die Angeklagte durch ihr Handeln beigetragen hat, bestätigen. Eine Insubordination der Angeklagten, die zu einer erhöhten und ohne diese gesichert vermeidbaren Opferzahl geführt hätte, habe ich nicht wahrgenommen."

Der Krieger dachte kurz nach, dann entschied er sich, doch noch darauf einzugehen, warum er diesen Anklagepunkt Eobans für besonders unsubstantiert hielt. “Ferner ist anzumerken, dass es sich bei der Angeklagten um eine Tanzkünstlerin und nicht um eine im Kriegsdienst geschulte Streiterin handelt, noch nicht einmal um eine Landwehrsoldatin. An ihr Handeln und ihren Gehorsam in einem unübersichtlichen Kampfgeschehen darf daher keineswegs derselbe Maßstab angelegt werden wie an militärisch erfahrene Adlige oder auch Gemeine.” Er räusperte sich. “Das sollte ein erfahrener Anführer wie der Hohe Herr von Albenholz auch wissen…”

“Ähm, Unwissenheit ist nun wahrlich kein Maß für Insubordination. Letzteres spielt hier also keinerlei Rolle”, relativierte Friedewald sogleich Nivards Aussage. “Doch, wenn ich Euch richtig verstanden habe, gab es bei jenen Vorfällen durchaus Tote zu beklagen, wenn auch nicht alle tot sind? Stimmt dies?”

"Ja. Es gab Tote. Doch ging die Sache dafür, dass wir überraschend von zwei, … nein, es waren sogar vier Dämonen, einem Magier und etlichen, durchaus versierten Kämpfern sowie teils aus dem Hinterhalt angegriffen wurden, wenn Ihr nach meinem Urteil fragt, überraschend glimpflich aus… auch wenn selbstverständlich jeder Tote einer zu viel ist”, ergänzte Nivard nach einem Räuspern.

“Entscheidender als dieser Befund ist jedoch, dass ich - obschon ich in dem Getümmel selbst in Gefechte verwickelt war und daher nicht alle Geschehnisse mit voller Aufmerksamkeit mitverfolgen konnte - davon überzeugt bin, dass keiner der Toten auf unserer Seite der Angeklagten direkt oder indirekt anzulasten ist. Als der Feind über uns hereinbrach, existierte keine Schlachtordnung unter uns, die durch die Angeklagte hätte zerstört werden können. Ferner befand selbige sich praktisch sofort selbst in brenzliger Situation, war folglich also nicht imstande, irgendwelchen Sammelbefehlen entsprechend schnell Folge zu leisten. Die Efferdgeweihten haben sich daher bei der Verteidigung ihres Tempels wider dämonische Kräfte höchst eigenverantwortlich und nicht des Vorbilds der Angeklagten wegen in die Gefahr gestürzt! Ich glaube und hoffe jedoch nicht, dass Ihr," er blickte Rondrard an, "jenen jetzt den Vorwurf der Insubordination machen wollt, nur weil sie im Hause ihres Gottes den Befehlen des dort lediglich Gaststatus genießenden Eoban von Albenholz nicht Folge leisteten... Ihr sagt", nun galt sein Blick dem Protokollanten, "wenn Ihr das niedergeschrieben habt?"

Praiogrimm nickte, während er weiterschrieb.

Wieder wartete Nivard auf den Schreiber. "Zuletzt möchte ich darauf hinweisen, dass die Vorwürfe des Herrn von Albenholz hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts zu hinterfragen sind - nicht weil ich ihn der Lüge zeihen wollte - nein, ich halte ihn für einen zutiefst vertrauenswürdigen Mann und bezeuge dies hiermit auch gerne. Doch war er in diesem Kampf nicht gänzlich Herr seiner Sinne. Er schien, und das mögen die anderen Teilnehmer bezeugen, bereits während, aber auch noch nach Ende der Kampfhandlungen deutlich verwirrt, vermutlich durch magischen oder sogar dämonischen Einfluss. Ich zweifle daher nicht die guten Absichten, dafür aber umso deutlicher die Erinnerungen des Herrn von Albenholz an die Geschehnisse in jener Nacht an und halte die daraus abgeleiteten Anklagepunkte für substanzlos."

Das Flussfest in Albenhus mit dem Kampf um den Efferdtempel war nun auch schon wieder mehr als ein Jahr her, daher erinnerte sich Doratrava nicht mehr an alle Einzelheiten, zumal sie vor Ende der Kämpfe durch einen Zauber des gegnerischen Magiers niedergestreckt worden war und daher den Ausgang gar nicht bewusst mitbekommen hatte. Aber an eines erinnerte sie sich noch sehr gut: Der Herr von Albenholz hatte recht unentschlossen gewirkt und auch nicht viel zum Gelingen des Unterfangens beigetragen.

Friedewald schaute sich erwartungsvoll in der Runde um, ob die von Nivard angesprochenen anderen Teilnehmer die Worte des Kriegers bestätigen konnten.

Tsalinde erhob sich und fügte mit lauter Stimmer hinzu: “Tsalinde von Kalterbaum für die Angeklagte. Zwar war ich beim Angriff auf den Efferdtempel nicht zugegen, dennoch kann ich bezeugen, dass der edle Herr von Albenholz dazu neigt, sich schnell ein Urteil zu erlauben und dann nur schwer von seiner Meinung abzubringen ist. Umso schwieriger finde ich es, dass wir hier in seiner Abwesenheit Anklagepunkte verhandeln, die er vorgebracht hat, ohne die Chance zu haben, ihn zu diesen Punkten selbst zu befragen.”

“Guter Punkt”, kommentierte Lucilla von Galebfurten leise, nicht zum Edlen, der die Verhandlung leitete, sondern nur zu denjenigen, die neben ihr in der ersten Reihe saßen. Sie würde dies später ebenfalls aufgreifen.

“Also”, räusperte sich der Tsageweihte nun schon zum wiederholten Male. “Ich war bei den Ereignissen rund um den Efferdtempel mit dabei. Und ich kann bestätigen, dass Eoban nicht Herr seiner Sinne war, verwirrt durch das Wirken eines Dämons. Daher hat er sicherlich kein geeignetes Urteilsvermögen in diesem Punkte. Ich habe in Erinnerung, dass Doratrava vielmehr erheblich dazu beigetragen hat, dass wir den Angriff des Paktierers und seiner Gesellen sowie die massive Attacke aus der Domäne des Widersachers der Gütigen Mutter zurückschlagen konnten. Somit hat sie entgegen dem Vorwurf eher dafür gesorgt, dass es nicht noch weitere Tote und Verletzte gab. Also ist dieser Anklagepunkt tatsächlich zurückzuweisen.”

Nivard nickte bekräftigend. Damit war dieser haltloseste und lächerlichste unter allen Anklagepunkten wohl ebenfalls ausgeräumt, wenigstens ging er fest davon aus.

Adelchis saß fast regungslos beobachtend abseits in der zweiten Reihe und nickte ebenfalls lediglich bestätigend bei Nivards und Rionns Ausführungen.

Schließlich wandte sich Friedewald wieder an Rondrard. “Hm, Hoher Herr von Storchenflug, aufgrund der zahlreichen Zeugenaussagen in dieser Angelegenheit, darunter einige, die bei Vorfällen im Efferdtempel zu Albenhus anwesend waren, insbesondere auch einem Geweihten der Zwölfe, kann ich den Vorwurf der Subordination aufgrund des aufgeführten Beispiels nicht nachvollziehen. Ich weiß nicht, was Euch der Hohe Herr von Albenholz tatsächlich sagen wollte, doch scheint es mir, dass er entweder seine Worte falsch gewählt hat, oder Ihr ihn in dieser Angelegenheit falsch verstanden haben mögt. Keinem von Euch mag ich dabei etwas unterstellen, doch scheint hier ein tiefes Missverständnis vorzuliegen. In dem Punkt der Insubordination spreche ich die Tänzerin Doratrava hiermit in dem vorliegenden Fall frei von jeglicher Schuld. Es mag zu einem anderen Zeitpunkt ein anderer Richter zu einem anderen Ergebnis kommen, wenn ihm andere Leumundszeugenberichte vorliegen, doch für heute ist die Anschuldigung für mich nicht nachvollziehbar.” Friedewald beugte sich auf seinem Stuhl nach vorne in Richtung von Kalman und Rondrard. “Hohe Herren, ich rechne Euch hoch an, dass Ihr die Werte der Zwölfe hochzuhalten und Gefahren von unserem Land abzuwehren versucht, die durch subversive Elemente unseren Frieden bedrohen. Und zu gut verstehe ich, da jedem Verdacht nachgehen zu wollen. Doch, ohne Euch oder dem Albenholzer irgendetwas unterstellen zu wollen, möchte ich Euch warnen. Ihr riskiert Euren guten Leumund, wenn Ihr Anklagepunkte hervorbringt, die auf Hörensagen basieren, und mit Eurem Namen zu bezeugen versucht, obwohl Ihr bei jenen Vorfällen nicht anwesend wart, und diese dann durch glaubhafte Augenzeugenberichte widerlegt werden. Ihr solltet nur solche Anklagepunkte hervorbringen, die Ihr auch selbst plausibel begründen und bezeugen könnt. Ansonsten droht Euch die Gefahr, dass Ihr selbst der Rufschädigung bezichtigt werdet. Natürlich nicht von mir, doch sollte ein solcher Vorwurf fallen, so müsste ich auch diesen Vorwurf untersuchen.” Der Edle blickte in die Richtung, in der Doratrava und ihre Verteidiger saßen und sprach deutlich lauter und eindringlicher: “Und dies wollen wir doch alle nicht!”

Merle hörte aufmerksam zu, reagierte aber in keiner Weise auf das Gesagte, außer, dass sie Kalman und Rondrard mit leicht zusammengekniffenen Augen fixierte.

Zwar bereitete es Doratrava eine gewisse Genugtuung, von diesem ungerechten Vorwurf freigesprochen zu werden und zu sehen, wie ihre Ankläger zurechtgewiesen wurden, und auch wenn sie nun am liebsten selbst die Anklage wegen Rufschädigung führen würde, blieb sie doch weiterhin stumm, da sie genau wusste, dass sie damit nichts erreichen würde. Auch der Hinweis auf einen anderen Richter weckte eine gewisse Sorge in ihr. Würden die Kläger, sollten sie hier keinen Erfolg haben, sie vor ein anderes Gericht zerren? War das möglich? Sie hoffte nicht.

Nivard nickte zustimmend. So sehr er sich zunächst für Doratrava und auch ihre gesamte Gemeinschaft freute, dass der nächste, ganz und gar falsche Anklagepunkt ausgeräumt worden war, so sehr war er sich bewusst, dass längst noch nicht der volle Prozess gewonnen war. Außerdem schmerzte es ihn, miterleben zu müssen, wie der absente Eoban sich mittels seiner Vertreter gegen Doratrava stellte und damit den Spaltkeil immer tiefer ins Herz ihrer Gruppe trieb. Er vermochte daher auch - trotz der gerechtfertigten Mahnung Friedwalds an die Kläger - keine Genugtuung zu empfinden.

Rionn hatte Friedewald aufmerksam zugehört. Als dieser den Anklagepunkt zurückwies, nickte er ernst, aber zufrieden, und setzte sich wieder.

Paktiererei

Friedewalds Kehle war trocken und er winkte Harka zu sich, damit sie ihm etwas zu trinken bringen konnte. Schon kurze Zeit später stellte sie vor Friedewald einen Krug und einen Becher auf den Tisch. Der Edle goss sich ein, und als er bemerkte, dass in dem Krug lediglich Wasser war, schüttete er seinen Becher mit einer schwungvollen Geste zur rechten Seite aus, so dass das kühle Nass nur so spritzte. “Bringt mir besser etwas Ordentliches, einen Wein oder so. Das wird wohl heute hier noch länger dauern.”

Harka beeilte sich, den Wunsch des Edlen zu erfüllen.

Friedewald wartete auf die Magd und erst als er einen großen Schluck Wein getrunken hatte, setzte er wieder zu reden an. “Bevor wir uns mit den vielen kleinen und unwichtigen Anklagepunkten verzetteln, möchte ich doch zunächst klären, ob es Anlass gibt, diesen Fall an eine höhere Instanz weiterzureichen, sei es nun die Gräfin höchstselbst oder auch die heilige Inquisition des Herren Praios, nachdem meine Rechtskompetenz in diesem Fall ja bereits in Frage gestellt wurde. Und das einzige Verbrechen aus der Liste der Anklagepunkte, das ein solches Gewicht hat, dass nicht ich das Recht hätte, darüber ein Urteil zu fällen ist nach meinem Dafürhalten die Paktiererei beziehungsweise die Verbündigung mit einem Paktierer des Widersachers der gütigen Mutter Travia und die Unterstützung desselben.” Der Richter wandte sich Rondrard und Kalman zu. “Meine Hohen Herren, würdet Ihr diese Anklagepunkte bitte genauer erläutern?”

Zunächst erhob sich Kalman. “Euer Wohlgeboren, mit Verlaub, der Vorwurf der Paktiererei ist ein sehr umfassender Punkt, der viele Aspekte enthält, auch jene, die Ihr als klein und unwichtig nach hinten gestellt sehen mögt. Doch all diese Punkte sind ein Beleg für das Wirken der Gauklerin gegen die Lehren der Mutter Travia beziehungsweise die Stärkung des Unfriedens, den ihr Widersacher zu stiften versucht. Da wäre die Entführung von Merle und meinem Vetter, seiner Gnaden Rahjel von Altenberg, durch den Limbus. Ein Vorgehen, das auch Pruch in der Vergangenheit immer wieder angewendet hat, sei es bei Vater Winrich im Schweinsfoldischen, von dem im Greifenspiegel zu lesen war, sei es bei dem Novizen Eoinbaiste seiner Gnaden Rionn, aber sei es auch bei meiner Schwester - bei EURER Tochter, Euer Wohlgeboren - Gwenn von Weissenquell. Stets war es das gleiche Vorgehen wie bei dem Entschwinden von Merle. Betrachtet die Aspekte, die der Hohe Herr von Storchenflug bereits genannt hat, und die ich hier noch einmal nennen möchte, da sie von äußerster Relevanz in diesem Punkt sind. Die Spionage. Es wurde immer wieder beklagt, auch von Eurem Sohn, Wohlgeboren, von meinem Bruder Gudekar von Weissenquell, dass die Pläne und Strategien der Gemeinschaft gegen den Pruch immer wieder dem Paktierer verraten wurden, und dies musste durch eines der Mitglieder der Gemeinschaft erfolgt sein. Verstärkt sei dies aufgetreten, seitdem die Gauklerin der Gemeinschaft hinzugefügt wurde. Und dass sie Spionage betreibt, wurde wohl durch den Vorfall am gestrigen Nachmittag bewiesen, denn wie sonst hätte sie von den Vorfällen im Kaminzimmer erfahren können, wenn das stimmt, was der Hohe Herr von Storchenflug berichtet hat? Oder möchte einer der Gegenzeugen die Vorfälle leugnen? Und ihre übernatürliche Geschwindigkeit, mit der sie zu Merle geeilt sein soll, um diese zu entführen? Ein typisches Paktgeschenk des Rastlosen, wie mir berichtet wurde. Zu den weiteren Vorfällen im Herrenhaus sollte sich der Hohe Herr von Storchenflug selbst äußern, da ich dort nicht anwesend war, denn zu der Zeit versuchte ich Gwenn zu suchen, was ja bekanntlich vergebens war, da diese zwischenzeitlich von den Schergen des Paktierers entführt worden war und von Pruch, wie wir feststellen mussten, ebenfalls in den Limbus verschleppt wurde. An Ort und Stelle von Gwenns Verschwinden fanden wir im Übrigen niemand geringeren als - na? - genau, die angeklagte Tänzerin Doratrava, zusammen mit jener verfluchten Kiste, die den Kopf des Herrn von Tannenfels enthielt, und die erneutes dämonisches Wirken über uns brachte, ins Dorf getragen von der Gauklerin. Doch war dies nicht die einzige unheilvolle Kiste, die in der Nähe der Gauklerin auftauchte. Auch in Scheidgrasweiler, so wurde berichtet, fand die Gemeinschaft im Beisein der Gauklerin eine Kiste, deren Öffnung unheilige Zwietracht verstreute. Vielleicht mögen die anwesenden Zeugen hier darüber berichten. Und, als wäre dies nicht genug, wurde heute Morgen vor der Zelle der Gauklerin eine dritte verfluchte Kiste aufgefunden, diesmal mit der abgeschlagenen Hand meiner Schwester Gwenn. Nur der hohen Aufmerksamkeit der Wachen und dem schnellen Wirken unserer Geweihten ist es zu verdanken, dass hier nicht noch mehr Unheil über uns gebracht wurde.” Der Lützeltaler Ritter verbeugte sich vor seinem Vater und setzte sich wieder, um Rondrard das Feld zu überlassen.

Doratrava verdrehte lediglich innerlich die Augen, fast schon resigniert. Wenn das so weiterging, würde man sie noch beschuldigen, weil sie die gleiche Luft wie Eoban geatmet hatte. Aber auch wenn sie spürte, wie die dumpfe Wut in ihr langsam stärker wurde bei all den Absurditäten, die man ihr unterstellte, versuchte sie sich weiterhin zu beherrschen. Hoffentlich schaffte sie das bis zum Ende …

Friedewald kräuselte die Stirn und pustete tief aus, während Praiogrimm die Aussagen sorgsam auf Pergament festhielt. “Nun gut”, gab Friedewald nach, “Hoher Herr von Storchenflug, dann bringt Eure Erklärungen bitte nun vollständig zum Ausdruck. Es scheint vielleicht wahrlich alles in einem engeren Zusammenhang zu stehen.”

Leise murrend schüttelte Nivard den Kopf. Es machte ihn wütend, wie all ihre gemeinsamen Erlebnisse, den anwesenden Anklägern teils nur vom Hörensagen bekannt, genutzt... nein missbraucht wurden, um daraus einen Vorwurf und eine dünne Beweiskette gegen Doratrava zu konstruieren. Wer hier wohl am ehesten mit dem Pruch im Bunde steckte? Am liebsten hätte er laut dazwischengerufen. Aber er würde sich im Zaum halten. Sollten besser die anderen den Unmut des Gerichts auf sich ziehen - er würde sich an die Form halten.

Ardare von Kaldenberg hatte weniger Bedenken als Nivard. Die Anwesenden mochten sich in Sicherheit gewogen haben, dass der Edle mit seiner richterlichen Autorität der Baroness beigekommen war, doch weit gefehlt.

Wieder stand sie. “Hohes Gericht!”, rief sie. Ihre Mundwinkel zuckten leicht, als sie versuchte, die Ironie in Stimme und Mimik möglichst gering zu halten. “Mir ist bewusst, dass Ihr nicht mir, sondern dem Herrn von Storchenflug das Wort erteilt habt. Doch erlaube ich mir, einen wichtigen Aspekt zur Sprache zu bringen, BEVOR die Anklage spricht. Im allseitigen Interesse, nicht zuletzt im Interesse des Herrn von Storchenpflugs selbst.” Sie räusperte sich, wirkte kurz fahrig. Würde sie die Zeit bekommen, ihr Argument vorzutragen?

Friedewald verdrehte die Augen, gab jedoch nach. „Nun gut, sprecht, was Ihr zu sagen habt, aber haltet Euch kurz!“

“Der Vorwurf der Paktiererei ist ein scharfes Schwert, und nur wenige wissen es zu führen. Herr von Storchenflug mag ein Ritter sein, der das Kriegshandwerk versteht - aber was weiß er bitteschön von Dingen wie überderischen Phänomenen, von Dämonenbündelei und dergleichen? Er mag ihnen begegnet sein, vielleicht sogar vielfach, doch das allein macht ihn nicht zum Experten auf diesem Gebiet. Ich selbst habe zum Beispiel viele Stunden in Kutschen erlebt, ohne sie fahren oder gar bauen zu können. Ich bin im Schoße einer Kirche der Zwölfe aufgewachsen, habe Kirchengeschichte studiert - und doch maße ich mir keine ausreichenden Kenntnisse von der Lehre über die Widersacher der Zwölfe an, um einen solchen Vorwurf so sicher auszusprechen, wie es hier geschieht.”

Es mochte der Eindruck entstehen, dass die Baroness sich tatsächlich kurz gefasst hatte, doch als Arda zwei Finger in die Höhe hielt: “Zweitens, ein wahrlich scharfes Schwert ist dieser Vorwurf, und eine Waffe, die denjenigen in arge Bedrängnis bringt, gegen den es geführt wird - ob nun schuldig, oder NICHT!” Ihre Intonation ließ keinen Zweifel daran, dass sie Doratrava in letzterer Gruppe verortete. “Und es ist gut so, dass es ein scharfes Schwert ist. Aber es muss scharf bleiben. Auch für das schärfste Schwert gilt, je öfter es geführt wird, desto stumpfer wird es. Sobald der Vorwurf gegen alles und jeden geäußert wird, der in irgendeiner Weise suspekt ist, oder zur Einschüchterung, oder weil der Anklage sonst nichts einfällt, so wird dieser Vorwurf beliebig, allgegenwärtig, zum Teil des gerichtlichen Getöses. Und zwar zu dem Preis, dass der Vorwurf nicht mehr ernst zu nehmen ist, dass diejenigen, denen der Vorwurf zurecht angelastet wird, unbehelligt ihr unheiliges Werk verrichten können! Einen solchen Vorwurf fälschlich zu äußern, sei es aus böser Absicht, sei es aus Ignoranz und Unkenntnis, ist eine Gefährdung der göttlichen Ordnung!” Die Baroness war zum Ende hin immer lauter geworden, die einst erhobenen Finger waren nun vorwurfsvoll auf Rondrard und Kalman gerichtet.

Wieder an Friedewald gerichtet, schloss sie: “Deshalb warne ich davor, solchen Vorwürfen eine Bühne zu geben, ohne dass stichhaltige Beweise - ein Dämonenmal, ein Geständnis, eine priesterliche Examinatio - vorliegen. Und es MUSS Konsequenzen geben für diejenigen, die den Vorwurf voreilig aussprechen! Schwerwiegende Konsequenzen! Vor diesem, oder vor einem… anderen Gericht!” Ehe sie dazu aufgefordert werden konnte, nahm Arda wieder Platz.

„Habt Dank, Baroness, für Eure mahnenden Worte.“ Friedewalds Stimme wirkte erschöpft und er trank einen weiteren großen Schluck des Weines der vor ihm stand, bevor er sich besann und auch der Vögtin einen Becher anbot, die jedoch dankend ablehnte. Nun sprach Friedewald weiter. „Ich bin gewiss, die Hohen Herren der Anklage werden sich Eure Worte zu Herzen nehmen. Dass in den letzten zweimal zwölf Stunden hier im Tal dämonisches Wirken stattgefunden hat, ist nur schwer zu leugnen. Und dass die Tänzerin Doratrava dabei immer wieder in Zusammenhang stand, hat mein Sohn plausibel dargelegt. In welcher Form sie daran beteiligt war und ob sie eine Mitschuld daran tragen könnte, muss jedoch im Interesse aller Beteiligten stichhaltig geklärt werden, denn ich muss entscheiden, ob ich die Angelegenheit zur weiteren Untersuchung an eine andere Stelle übergeben muss, oder ob die Vorwürfe gegen Doratrava ein für alle Mal aus der Welt geräumt werden können. Dafür muss ich jedoch sämtliche Vorwürfe und die Indizien dafür und dagegen kennen. Deshalb möchte ich den Hohen Herren von Storchenflug jetzt darum bitten, seine Vorwürfe weiter auszuführen, sofern er stichhaltige Argumente für seine Behauptungen hat.“ Friedewald donnerte mit der Faust auf den Tisch, sodass sein Becher zu schwanken begann und sich etwas Wein über die Holzplatte ergoss. Geistesgegenwärtig griff er nach dem Becher, um diesen in einem Zug zu leeren, bevor er noch umkippen konnte.

Noch geistesgegenwärtiger sprang Praiogrimm auf, zog ein Schnupftuch aus seiner Tasche und wischte den verschütteten Wein auf, bevor dieser über die Gerichtsdokumente oder gar die kostbaren Rechtsfolianten laufen konnte.

Erneut schüttelte Doratrava innerlich den Kopf, es fiel ihr immer schwerer, ruhig zu bleiben. Bei der Hälfte aller Verbrechen, welche auf dem Dererund geschahen, stand die Sonne am Himmel, und bei der anderen Hälfte das Madamal. Nach der Logik der Anklage müsste man also ebenfalls entweder das Praios- oder das Madamal der Dämonenpaktiererei beschuldigen! Die Absurditäten nahmen kein Ende … wenigstens ließ sich Arda nicht einschüchtern, und sie hoffte, ihre Worte gaben den Anklägern, die alles nur vom Hörensagen mitbekommen hatten, zu denken.

Nun reichte es endgültig. “Möchte vielleicht noch jemand auf Seiten der Verteidigung etwas sagen, bevor ich des Albenholzers und anschließend meine Klagen vortragen kann, oder darf ich endlich fortfahren? Und darf ich die Herrschaften dann auch nach jedem zweiten Satz unterbrechen?”, fragte er kühl in die Runde. “Soweit ich weiß gibt es eine Zeit, in der die Kläger sprechen und eine Zeit, in der die Verteidigung spricht, oder irre ich da? Die Prozessordnung zu stören wird mich nicht von meinem Vorhaben abbringen, sondern könnte eher dazu führen, dass ich die Klage andernorts erneut einreiche. Dort, wo ich Gehör finde und wo der Richter nicht so milde urteilen mag, wie es Wohlgeboren Weissenquell vielleicht tun wird. Natürlich müsste die Delinquentin bis dahin hier festgesetzt werden. Falls das das Ziel der Verteidigung ist, ich habe nichts dagegen. Allerdings scheint es mir, als ob die Gauklerin ihre Freiheit liebt und hinter Gittern sehr, sehr unglücklich ist. Aber bitte, wenn ihr das wollt.” Fragend schaute er in die Runde, ob noch jemand etwas sagen wollte.

“Ich hoffe”, entgegnete Friedewald dem Ritter mit leicht verärgertem Gesichtsausdruck, “Ihr wollt nicht andeuten, ich würde unbegründet milde urteilen? Wollt Ihr das? Wenn nicht, so bringt nun endlich Eure Anklagepunkte hervor, wie ich Euch bereits gebeten habe!”

‘Ugh’, dachte Rondrard, ‘ich sagte vielleicht und sprach im Konjunktiv. Die Leute hören nur, was sie hören wollen.’ Er rollte mit den Augen. “Selbstverständlich nicht, Euer Wohlgeboren und was das zweischneidig Schwert angeht, so habe ich es bisher nicht gezogen oder steht im Protokoll, dass das Wort Paktiererei aus meinem Munde kam? Wenn also Frau Baroness dieses Schwert fürchtet und sich, so kamen ihre Worte jedenfalls bei mir an, als größere Expertin in diesen Dingen sieht, als mich, so stelle zumindest ich mir die Frage: Warum? Aber, das ist nicht Teil dieser Verhandlung. Folgende Klagen durfte ich bisher zu Gehör bringen: Spionage, Anwendung von Magie und Insubordination. Darauf folgt viertens: Manipulation und Spaltung der Gruppe. Ich fasse die beiden Punkte zusammen, da sie ähnlicher Natur sind. Die Angeklagte hat durch Wort und Tat immer wieder zu traviaungefälligem Verhalten aufgefordert, was in Schneidgrasweiler darin gipfelte, dass Tsalinde von Kalterbaum den Einflüsterungen des Feindes erlag. War sie doch an jenem Tage isoliert von der Gruppe. Zufall oder Absicht? Glücklicherweise konnte die Edle errettet werden. Fünftens: Anstiftung zu und Durchführung von Ehebruch in Kombination mit Amazonenliebe. Durch Geständnis der Angeklagten belegt. Sechstens: grobe Fahrlässigkeit. Nicht nur im Umgang ihrer eigenen Magie - ich erinnere daran, dass seine Gnaden Rionn hier vor allen bestätigt hat, dass bei der magischen Entführung keinerlei Hinweise auf dämonische Magie festgestellt wurden, so dass es sich einzig um ihre eigene handeln kann - ,sondern auch im Umgang mit den ‘Botschaften’ des Bäcker-Pruchs an die Gemeinschaft. Den Punkt Feigheit vor dem Feind lasse ich fallen, wurde hier schon zu Hauf beteuert, man würde der Gauklerin blindlings das eigene Leben anvertrauen.

Bleibt mir nur noch meine eigene Klage zu nennen: Verzauberung eines Ritters. Während des Verhörs starrte sie mich an. Ihre Augen wechselten dabei die Farbe: schwarz mit roten, wirbelnden Schlieren. Plötzlich stand sie vor mir, obgleich sie noch in der Zelle war. Sie hat versucht mich irgendwie geistig zu isolieren und zu beeinflussen. Einzig mein starker Glaube schützte mich vor ihrem Schadzauber und ich konnte ihrem Bann entgehen. FALLS dies keine Absicht war, so gehört sie untersucht und wenn sich dann herausstellt, dass ihre Magie bösartig oder gefährlich ist, so gehört sie ihr ausgebrannt.” Damit endete Rondrard.

Doratrava hatte irgendwann während des Vortrags Rondrards die Fäuste geballt, so dass sich ihre Nägel schmerzhaft in die Handflächen bohrten, und am Ende die Augen geschlossen und die Zähne zusammengebissen, um die heiße Wut, die spätestens seit der 'Anstiftung zum Ehebruch in Verbindung mit Amazonenliebe' ihre Adern durchflutete, irgendwie im Zaum zu halten, um diesem unverschämten, hasserfüllten, Tatsachen verdrehenden kleinen Wicht von Ritter nicht an die Gurgel zu gehen, Fesseln hin oder her. Sie hatte einmal von den Tugenden gehört, welche so ein Ritter doch verkörpern sollte. Wahrheitsliebe schien auf jeden Fall nicht dazuzugehören.

Mit erröteten Wangen rutschte Merle unbehaglich auf ihrem Platz herum. War sie wirklich eine Ehebrecherin? Zwar war sie sich ziemlich sicher, den einzigen und dringend notwendigen Weg ihrer Rückkehr aus der Feenwelt als Mittel zum Zweck erklären zu können, zumal es unter ‘Anleitung’ und Mitwirkung eines Geweihten geschah, also vergleichbar mit dem Rahjadienst in einem Tempel. Doch wollte Doratrava ja, der sie einen schnellen, zaghaften Blick zuwarf, bevor sie die Lider wieder senkte, wenn dies hier - hoffentlich - zu einem guten Ende kam, eine richtige Liebesbeziehung mit ihr, und wenn Merle ganz ehrlich mit sich war, wünschte sie sich das auch, sehnte sie sich nach Liebe, Zuneigung und Zärtlichkeit der schönen Tänzerin, empfand es als nur zu recht und billig, Gudekar seine jahrelange Untreue mit gleicher Münze zu vergelten… Machten solcherlei Gedanken sie bereits zur Ehebrecherin und Frevlerin gegen die Gute Mutter? Ein weiterer flackernder Blick Merles ging zu ihrem Bruder Travian. Was der eifernde, scheinheilige, selbstgerechte Ritter Rondrard über sie sagte, war ihr herzlich egal, doch hatte sie tatsächlich Angst vor dem Urteil, das die Familie von Weissenquell, ihre Adoptiveltern in Albenhus und letztendlich die Göttin selbst über sie fällen würden. Alles in der jungen Frau drängte danach, aufzuspringen und sich zu erklären, aber sie wusste, dass sie geduldig abwarten musste, bis sie befragt wurde. Hier ging es schließlich nicht um sie, sondern um Doratravas Leben und Freiheit. Sie musste jetzt Ruhe bewahren und sich zusammenreißen, auch wenn Rondrards Worte sie noch so sehr bis ins Mark trafen. Sehr angespannt und merklich beschämt starrte sie nach unten auf ihre Schuhe und versuchte sich zu zwingen, die Hände still zu halten.

„Habt Dank, hoher Herr von Storchenflug“, entzog Friedewald dem Ritter das Wort. Seine Miene war kühl und beherrscht, er ließ sich nicht anmerken, wie absurd er die meisten der Vorwürfe empfand. Lediglich die unkontrollierte Anwendung von Magie machte auch Friedewald Sorgen. „Das ist eine Vielzahl von Anschuldigungen, und ich würde nun zunächst die Beschuldigte bitten, ihre Sichtweise auf die Anklagepunkte darzulegen, bevor ich weitere Zeugen dazu befrage.“

Doch kam es nicht gleich zu Doratravas Aussage, denn ein anderer Mann trat nach vorne.

Friedewalds Aufforderung traf Doratrava unvorbereitet, während sie noch versuchte, ihre wild schäumenden Gedanken und Gefühle unter Kontrolle zu bringen. So war sie zunächst fast erleichtert, als sich jemand anders meldete, aber als sie erkannte, wer es war, wich diese Erleichterung gleich neuer böser Vorahnung.

Travias Schild und Lanze

Von der hinteren Reihe erhob sich eine Person, die bis dato mit noch keinem Beitrag aufgefallen war. "Ich denke, an dieser Stelle ist es angebracht, auch ein paar Worte zu sagen. Travian Dreifelder, für Euer Protokoll.”

Er hielt einen Moment inne, schaute sich einmal um, blickte freundlich in die Gesichter der Anwesenden - und als er sich sicher war, dass man ihm das Gehör schenkte, räusperte er sich, faltete in einer ruhigen Bewegung die Hände vor seinem kaum vorhandenen Bauch, trat einen Schritt zur Seite und sprach väterlich: "Ich bin heute hier, nicht nur als Trauvater. Nicht nur als Bruder, Schwager oder Gast des Hauses Weissenquell. Ich bin auch hier als ein Vertreter der Gütigen Mutter." Er machte eine kurze Pause, sah noch einmal in die Gesichter der Anwesenden und machte dann einen Schritt in Richtung Friedewald. Seine orange Robe wiegte sanft und verströmte eine angenehme Ruhe um ihn herum.

Freundlich und dennoch mit einer gewissen Skepsis blickte Friedewald zu Travian. „Euer Gnaden, sehr gerne, sprecht! Doch sagt mir zunächst bitte, wollt Ihr die Anklagepunkte bekräftigen und widerlegen? Oder habt Ihr gar weitere Punkte zu nennen?“

Ohne auf die Frage Friedewalds näher einzugehen, sprach Travian weiter, seine Stimme wie klares, reines Quellwasser: "Hier ist etwas Schreckliches geschehen. Etwas…", er blickte streng in die Gesichter der Menschen zu seiner Linken. "Etwas Erschütterndes." Er schaute nach rechts und streckte tadelnd einen Zeigefinger gen Himmel. "Es wirkt noch immer. Wir können es spüren. Und es wird noch viele Zeit wirken." Er faltete die Hände.

"So ein Verlust wiegt schwer. Etwas so Schreckliches wiegt schwer." Und er legte einer Person beruhigend eine Hand auf die Schulter und blickte ihr ins Gesicht, während er ruhig weitersprach. "Dieses Wirken ist ein schleichendes Gift." Er löste seine Hand wieder und sprach in die Runde. "Langsam zersetzt es unsere Hoffnung. Es zersetzt unsere Zuversicht. Es zersetzt unseren Glauben an das Gütige, den Glauben an die Familie, an die ewig währende Liebe eines Traviabundes."

Für einen Moment blickte er freundlich in die Gesichter um sich herum. Dann machte er einen Schritt in Richtung Friedewalds. Mit klarer lauter Stimme fuhr er fort, sanft mit den Händen gestikulierend: "Wir leben in einer Zeit, in der sich die Feinde der Gütigen erheben. Ihre Taten sind schrecklich und hinterlassen tiefe Wunden." Er pausierte und blickte sich um. "Doch! So wie ein Nadelstich schmerzt, so schmerzen auch die Taten gegen die Gebote der Gütigen. Sie schmerzen … wie tausend Nadelstiche." Er nickte zustimmend. "Diese Taten schwächen uns. Sie vergiften uns. Und schlimmer, sie schüren so weiteres Unheil." Dann schaute er, mit prüfendem Blick, in die Gesichter Einzelner. "Die Mutter, die den Vater nicht zum Kinde lässt Die Bäckerin, die ihren Zorn in den Teigling bringt.“ Mika blickte betreten zu Boden. „Die Ehefrau, die schlecht von ihrem Gatten spricht.”

“Du weißt ganz genau, was Gudekar getan hat!” warf Merle mit gepresster, halblauter Stimme in Richtung ihres Bruders ein. Aber Travian schloss nur die Augen und fuhr mit monotoner Stimme fort.

“Der Gast, der das Haus der Wirtin entzündet.“ Adelchis, der sich keiner Schuld bewusst war, schaute unbeteiligt in die Menge. „Der Krieger, der einem Gefangenen Folter androht. Die Tänzerin, die ihren Rausch und ihre Begierde über den Schutz der Schwachen stellt."

Nivard schüttelte den Kopf. "Wir mussten den Scheißkerl zum Reden bringen, und zwar schnell! Gemessen an seinen Taten war die reine Drohung - bei der es auch geblieben ist - nichts, gar nichts, und sie erschien angesichts des Ziels, im besten Fall sogar an Pruch heranzukommen, gerechtfertigt und verhältnismäßig. Hätten wir Erfolg gehabt, hätte all das hier verhindert werden können!"

Schon als der junge Krieger die Worte aussprach, spürte er, dass sie, so wahr und richtig sie auch waren, zugleich hohl klangen. Die Worte des Geweihten hatten einen wunden Punkt getroffen. So wie er selbst Gudekar unterstellte, in den Jahren ihres Kampfes Schaden an der Seele davon getragen zu haben, Travias Widersacher zu nahe gekommen zu sein, so konnte es ihm ohne Weiteres genauso ergangen sein. Er würde sich prüfen lassen, wie es gestern bereits einmal beschlossen worden war…

Und wieder kochte der Zorn in Doratrava hoch. Das hatte sie niemals getan, aber es war ja klar, dass ein Geweihter der Travia - der ebenfalls alle Geschehnisse nur vom Hörensagen kennen konnte - ihr dies vorwarf. In Gedanken führte sie die Aufzählung des Traviageweihten weiter: Der Ritter, dem es wichtiger war, eine unschuldige Tänzerin zugrunde zu richten, weil er sie als Bedrohung seines travianischen Weltbildes empfand, als der Gemeinschaft zu helfen. Der Travia-Geweihte, der alles glaubte, was er hörte, ohne es zu hinterfragen, und mit seinen Vorwürfen und Anschuldigungen Streit und Zwietracht nur noch anfachte, statt sie zu mindern.

Travian hatte noch immer die Augen geschlossen und ließ noch einen Moment wirken, was hier eben auf seine Rede geantwortet wurde. Leicht nickend, die Hände gefaltet, fuhr er mit ruhiger Stimme fort: "Wir leben in unruhigen Zeiten. Und um diesen zu begegnen, hat uns die Gütige Mutter zu Taten gerufen." Mit dem rechten Zeigefinger streng erhoben: "Ein traviagefälliges Unterfangen ausgerufen! Die Quelle des Giftes zu finden, auszumerzen und den Frieden wiederherzustellen!"

Dann wand er sich von der Gruppe ab, verschränkte die Arme hinter dem Rücken: "Doch wie soll so ein Unterfangen glücken, wenn die Ritter im Namen der Gütigen die Gütige nicht ehren, ihre Gebote verletzen." Er blickte auf den Boden vor sich, so als würde die Antwort auf seine Frage im Staub des Platzes liegen. "Wie Nadelstiche schmerzen, so schmerzen diese Verfehlungen. Und wirken wie Gift. Ein schleichendes Gift."

Dann drehte er sich zu Friedewald um und sprach kraftvoll: "Und irgendwann! Irgendwann, wenn zu viel Gift zu lange wirkt, wird der Vergiftete zum Vergifter."

Friedewald ertappte sich dabei, wie er dachte, dass dieser junge Geweihte hier wohl über sich selbst zu sprechen schien. Da er jedoch allein diesen Gedanken als Frevel betrachtete, äußerte er nichts dergleichen. Stattdessen beobachtete er Travian besorgt mit festem Blick.

Travian drehte sich wieder der Menge zu und faltete die Hände vor sich. "Wie die Wege der Gütigen es wollten, sind mir die Ritter dieses traviagefälligen Unterfangens bekannt. Und ich weiß, dass einige von ihnen hier sind." Wieder streckte er den rechten Zeigefinger gen Himmel und sprach mahnend: "Doch! Anders als erhofft, haben viele dieser Ritter das Band zu Travia nicht gestärkt. Manche es sogar mit ihren Taten geschwächt. … Etwas hat diese Gruppe vergiftet. Langsam, aber stetig." Die Stimme des Geweihten wurde nun zunehmend laut und streng. "Und wie ich hörte, haben sich nur wenige dieser Gruppe von diesen Giften rein gewaschen. Unruhe, Misstrauen und Zweifel herrschen unter ihnen. So haben sie Travias Widersacher Tür und Tor geöffnet!" Dann auffordernd: "Die Quelle dieses Giftes muss gefunden werden."

Dann sah er zu Doratrava und sprach mit ruhiger Stimme weiter: "Wiederholt habe ich in jüngster Zeit Berichte über die hier Angeklagte gehört. Nicht nur über sie", und er warf einen Blick über die Schulter in Richtung der sitzenden Menge, "aber doch so einiges. Und dies in Verbindung mit dem, was sich hier ereignet hat, was soeben geschildert wurde …" Er pausierte kurz. "Übernatürliche Geschwindigkeit, Öffnen und Passieren des Limbus. Dazu das Überbringen verfluchter Gaben, Aufruf zum und Bruch des Traviabundes. Aber auch zuvor den Rausch dem Schutz der Wehrlosen vorziehen, sich den eigenen Trieben hingeben statt die Gemeinschaft zusammenzuhalten. Alles Taten gegen Travias Gebote. Und umso überraschter war ich zu hören, dass die Angeklagte Tochter eines Traviatempels ist."

Und wieder leierte der Geweihte gebetsmühlenartig die immer selben Vorwürfe herunter. Doratrava konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Eoban mit Travian gesprochen und ihn aufgehetzt haben musste, und offenbar war seine vergiftete Saat auf fruchtbaren Boden gefallen.

Er pausierte, öffnete die Hände gen Himmel und sprach mit väterlicher Stimme in Richtung der Menge: "Es stellt sich nicht die Frage, ob die Angeklagte vergiftet wurde. Ganz gewiss ist das geschehen. Wie lange muss dieses Gift schon wirken … Es stellt sich nicht die Frage, ob sie schon vergiftet. Wie oft hat dieses Gift wohl schon gewirkt … Es stellt sich hier nur noch die Frage, ob sie damit, willentlich oder nicht, dem Feind Travias dient." Dann legte er die Hände ineinander, den Kopf nickend fuhr er fort: "Und um diese Frage zu klären, um den wohlwollenden Blick Travias auf uns zu lenken, wieder auf diesen Ort zu lenken, Lützeltal," damit blickte er in Richtung Friedewalds, "gibt es nur einen Weg." Und mit mahnendem Blick und gehobenem Zeigefinger fasste er für die Anwesenden zusammen: "Eine Prüfung der Angeklagten im Haus der Gütigen. Dort! Dort, kann sie auch von ihrem Gift reingewaschen werden."

Aha, sie war es also, die nach Travians Meinung ohne Zweifel bereits vergiftet war. Nun, von dem, was der Geweihte als Gift ansah, wollte sie gar nicht 'reingewaschen' werden, denn wenn sie gerade nicht Paktierer oder Namenlose jagte, tat sie nichts anderes, als sich und anderen rahjagefällige Freude zu bereiten. Das war das einzige 'Gift', das sie versprühte. Und daher würde sie sich nach Kräften wehren, in einen Traviatempel zu einer Prüfung gebracht zu werden, schon gar nicht zu einer Prüfung durch so einen voreingenommenen Geweihten, dessen Urteil schon im Vornherein feststand.

“Euer Gnaden”, ergriff nun Friedewald das Wort. “Ihr mögt in bester Absicht sprechen. Doch fürchte ich, dass Eure Worte nicht hilfreich sein könnten, das Gift aus der Gemeinschaft zu saugen. Mit Euren vielfältigen Anschuldigungen gegen meine Gäste und meine Familie gießt Ihr vielmehr weiteres Öl ins Feuer und tretet das traviagefällige Gebot der Gastfreundschaft mit Füßen. Wollt Ihr hier alle und jeden beschuldigen, dem Paktierer und seinen Schergen verfallen zu sein?”

Nun erhob sich Rionn erneut. Er stand auf und schaute den jungen Traviageweihten ernst an. “Du hast deutlich gesprochen und gemahnt, mein Freund. Du sprichst mit Autorität und Selbstsicherheit. Und dennoch geleitet dich die Gnade der Jugend und der Unerfahrenheit. Du hast sehr wohl recht: Wir alle sind dem Gift des Widersachers der Gütigen Mutter erlegen. Unruhe, Streit, Unrast, Spaltung, Verrat und Zwietracht… all dieses Übel hat in den zurückliegenden Stunden hier in Lützeltal gewirkt und hat uns alle vergiftet. Alle! Auch die Anklagenden, die Richtenden und die Verteidiger! Du hast Recht, mein Freund. Und dennoch: Hast du dich selbst geprüft? Bist du frei von all diesen üblen Einflüssen? Denn wer sich selbst als immun wähnt, der unterliegt am ehesten der Gefahr. Du klagst hier vor allem die Tänzerin an. Doch siehst du nicht, dass du uns alle hier anklagen müsstest? Die ganze Gemeinschaft: Eoban, Gudekar, Tsalinde, Grimmgasch, Ardare, Corwyn, Radulf, Lares, Adelchis, Nivard,. Doratrava und auch mich. Wir müssten hier alle auf der Anklagebank sitzen mit Doratrava. Wir alle hätten mit ihr im Kerker sitzen müssen. Doch bedenke: Damit verrichtest du, mein Freund, das Werk des Widersachers. Denn bei all unseren Fehlern und unserer Unvollkommenheit, bei all dem Gift, das bereits unter uns wirkt, bei all unserer Schwäche und Ohnmacht, sind wir dennoch die auserwählten Streiter der Gütigen Mutter. Wir sind ausgesandt, dem Paktierer das Handwerk zu legen. Und wenn du uns anklagst und verurteilst, mein Freund, so handelst du nicht im Sinne Travias. Und schon tust du selbst das Werk des Widersachers. Prüfe dich selbst, mein Freund!”

Als der Tsageweihte dies gesprochen hatte, flatterte erneut ein kleiner Schmetterling heran und setzte sich in das Haar des Geweihten. Rionn blickte dann zu Friedewald: “Überstelle Doratrava, überstelle uns alle den Kirchen. Ich fordere dich erneut auf, uns nach Eisenstein zu Rahjan Bader zu bringen. Er kann und wird das nötige tun.”

Friedewald nickte zustimmend zu Rionns Worten, denn genau dies war es, was er gemeint hatte.

Imelda bewunderte mit einem staunenden Schmunzeln den Schmetterling, welcher sich zu dem Tsageweihten gesellte. Das mit dem Gift, das in ihnen allen schwärte, konnte die junge Hadingerin nur schwer beurteilen. In der Tat, es waren einige ungewöhnliche, schreckliche Dinge geschehen und gerade jene, welcher sich der Aufgabe verschrieben hatten, den Paktierer zu jagen, verhielten sich allesamt seltsam. Sehr seltsam. Überhaupt war diese Gemeinschaft, befand Imelda, ein ziemlich wild zusammengewürfelter Haufen. Anscheinend hatte die Herzogenmutter die Angelegenheit am Anfang unterschätzt, doch weshalb griff diese nach Jahren der erfolglosen Jagd nicht durch und suchte Hilfe von Leuten, die sich mit derlei Problemen auskannten? Warum war die Praioskirche noch nicht eingeschaltet worden? War etwa auch die Herzogenmutter vergif… Nein, das konnte nicht sein. Imelda seufzte leise in sich hinein und schüttelte den Kopf, verzichtete aber darauf, das Wort zu erheben.

Rondrard erhob sich. “Das sollte nicht nötig sein, denn die Frau Vögtin hatte gestern Abend eigentlich gefordert, dass wir uns heute ALLE der Seelenprüfung durch das Albenhuser Tempelpaar stellen sollen. Da das aber verhindert ist, stellt sich die Frage, ob deren Ersatz ebenfalls dazu in der Lage wäre.” Fragend schaute er den Traviageweihten an.

“Ich für meinen Teil willige gerne ein”, erwiderte der Tsageweihte. “Doch für Doratrava erbitte ich die Überstellung nach Eisenstein.” Der Schmetterling auf seinem Haaren begann zu flattern, als ob er das Gesagte bestätigen wollte, flog aber nicht weg.

Travian fuhr ruhig fort, bevor Friedewald das Wort ergreifen konnte: "Der junge Ritter hat Recht. Nach dem, was sich hier ereignete, sollten wir uns alle zum Traviatempel begeben. Und ja, es stimmt, es sollten sich viele, so wie bereits gefordert, einer Prüfung unterziehen. Doch vermag ich nicht alleine dies in so kurzer Zeit zu tun. Die Prüfung einer Person ist eine Aufgabe für Tage, die nicht nur den Prüfling, sondern auch den Prüfenden fordert. Daher ist weise zu wählen, mit wem begonnen wird. Und losgelöst von allen Erklärungen, Deutungen und Diskussionen: Was passiert ist, ist passiert. Das Warum ist zu klären. Daher macht es Sinn, mit der Angeklagten zu beginnen. Und da es hier wider dem Feinde Travias geht, ist der beste Ort für eine Prüfung, ein Traviatempel. Ein Geweihtenpaar, die besten Prüfenden.

Bruder Rionn, die Göttin hat Euch zu Ihren Streitern ernannt. Doch seid gewiss, dieses Unterfangen ist nicht nur eine Aufgabe, dem Wirken des Widersachers Einhalt zu gebieten, es ist auch eine Prüfung für Euch. Euch zu prüfen, ob Ihr wahrlich auf dem Pfad der Gütigen wandert. Denn nur der, der auf diesem Pfad geht, kann die Wärme des Herdfeuers in den Herzen der Menschen, Zwerge und Elfen entfachen.

… Und, Bruder Rionn, es stimmt mich traurig, dass Du mir unterstellst, nicht im Reinen mit der Gütigen zu sein, sondern im Sinne ihres Widersachers zu handeln. Was ist hier geschehen, dass dieser Verdacht so einfach über Deine Lippen kommt … "

Der Edle von Lützeltal hatte bereits Luft geholt, um die Forderungen nach den Seelenprüfungen zu kommentieren, doch da Rionn zuletzt direkt von Travian angesprochen wurde, ließ er dem Tsa-Geweihten zunächst das Wort.

“Ich habe dich nicht verdächtigt, mein Freund”, widersprach der Tsageweihte, “ich habe dir anempfohlen, dich zu prüfen. Denn eine Kompromittierung per se auszuschließen, spielt dem Widersacher in die Hände.” Der Schmetterling in Rionns Haaren flatterte wild mit den Flügeln. “Ich schlage einen Kompromiss vor: Wir suchen den Traviatempel auf und schicken nach Rahjan Bader, dass er Doratrava untersucht. Er ist eine Autorität auf diesem Gebiet.”

Travian, der noch immer vor der Gruppe stand, antwortete darauf mit ruhiger Stimme: “Mich wundert, warum in diesem traviagefälligen Unterfangen gegen den Widersacher der Travia selbst kein Vertrauen in die Gütige und Ihr Gefolge gesetzt wird. Wie passt das zusammen? Wie kann hinterfragt werden, dass in dieser Situation die Traviakirche unterstützt und aufklärt, dass sie dazu fähig ist oder dass es richtig ist, dass die Gütige Mutter ihren prüfenden Blick auf diese Angelegenheit richtet?” Er schüttelte den Kopf.

“Nun, Bruder Travian”, schaltete sich Mika mit trotzigem Tonfall ein, die bereits sprach, während sie noch von ihrem Sitz aufsprang, “selbst unter den Geweihten der Zwölfe kommt es vor, dass sie von ihren Widersachern verführt werden. Auch in Albenhus sind, wie Ihr selbst berichtet habt, furchtbare Dinge geschehen und das Wirken ihres Widersachers erfolgte in unmittelbarer Nähe des Traviatempels. Es ist zunächst nicht auszuschließen, dass auch Ihr von diesem Gift betroffen sein könntet, von dem Ihr die ganze Zeit redet!”

“Ist das so?”, fragte Friedewald mit strenger Stimme nach. “Dann ist der Vorschlag seiner Gnaden Rionn nicht von der Hand zu weisen.”

Doratrava hatte kein Problem mit der Göttin Travia an sich, aber damit, wie ihre derischen Vertreter ihre Gebote auslegten und sich - ziemlich oft ziemlich rechthaberisch - gebärdeten, da standen sie den Geweihten des Praios nicht nach. Und außerdem: wieso musste man sich bei der Bekämpfung eines Lolgramoth-Paktierers besonders "traviagefällig" im Sinne der allerstrengsten Auslegung verhalten? Als sie vor eineinhalb Jahren in Eisenstein einen Belkelel-Paktierer gejagt hatte, wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, mit ihren damaligen Gefährten den ganzen Tag zu singen und zu tanzen und sich der fleischlichen Lust hinzugeben. Und auch ihre Gefährten, nicht zuletzt Rahjan Bader, hatten keinerlei derartige Tendenzen gezeigt.

"Ich möchte seiner Gnaden beipflichten," meldete sich nun Nivard laut und für alle vernehmbar zu Wort, "dass wir uns - nach allem was geschehen ist - alle gemeinsam der gütigen Mutter anvertrauen und in den Traviatempel begeben sollten, um zu beten und uns dort prüfen zu lassen. Wie es gestern bereits im Gespräch war, obgleich derjenige von uns, der nach meinem persönlichen Dafürhalten als allererster und am dringendsten geprüft werden sollte, nicht mehr unter uns weilt." Er sah in die Runde, hoffte auf weitere nickende oder anderweitig zustimmende Reaktionen gerade auch aus dem Kreise seiner Gefährten im Kampfe gegen Pruch und dessen Leute.

Dann wandte er sich Travian direkt zu. "Doch in einem möchte, nein, muss ich Euch widersprechen, Euer Gnaden: es stellt sich sehr wohl die Frage, ob die Angeklagte überhaupt vergiftet wurde, und falls ja, ob sie tatsächlich die am stärksten betroffene unter uns ist - Ihr habt selbst Beispiele genannt, dass genausogut wir anderen viel stärker vom Bösen berührt sein könnten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der gütigen, und bei aller manchmal auch nötigen Strenge immer liebenden Mutter ein allzu voreingenommener oder gar vorverurteilender Blick auf einzelne Kinder ihrer großen Familie, so widerspenstig sie auch wirken mögen, wohlgefällig ist.

Als Zeichen dafür, dass Doratrava eine unter gleichen und keine alleinige Verdächtige oder gar vorverurteilte Schuldige ist, biete ich mich selbst als ersten Prüfling an!”

Travian nickte anerkennend.

“Ich mag anzweifeln”, warf Mika nochmals ein, “dass der Traviatempel in Albenhus zur Zeit der richtige Ort wäre, um einen Einfluss ihres Widersachers zu entdecken.”

“Was meinst du damit?” fragte Friedewald seine Tochter mit strengem Tonfall.

“Vater, lasst Euch doch mal erzählen, was in Albenhus tatsächlich passiert ist, warum das Tempelpaar nicht hier ist.” Mika schaute erst zu Travian und dann zu den anderen Geweihten, die bei der Besprechung vorhin dabei waren. Schließlich blieb ihr Blick hilfesuchend bei Imelda hängen.

“Was ist in Albenhus geschehen?” fragte Merle mit alarmierter Stimme. “Travian, du sagtest doch, dass bei Mutter und Vater alles in Ordnung ist!?”

Die junge Ingrageweihte verdrehte leicht die Augen und erhob sich mit einem leisen Seufzen. “Ich entschuldige mich, Bruder Travian. Aber genau wie Mika halte ich, im Gegensatz zu Euch, nichts davon, die Wahrheit zu verschwiegen.” Ihre Stimme war laut und klar und in ihrem Blick lag ein Hauch von Anklage, mit der sie den Traviageweihten für einige Augenblicke eindringlich anschaute. Dann wandte sie sich jedoch mit sichtlichem Sanftmut Merle zu. Gut für alle Versammelten hörbar flüsterte sie: “Mache dir keine Sorgen, Merle. Das Tempelpaar ist wohlauf und erfreut sich bester Gesundheit. Das ist die gute Nachricht, welche ich dir überbringen kann.”

“Die gute?” hakte Merle besorgt nach. “Was ist dann die schlechte Nachricht?” Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie zwischen Imelda, Mika und Travian hin und her.

“So, wie uns von Bruder Travian berichtet hat, gibt es Hinweise darauf, dass sich der Pruch in den Katakomben unterhalb des Albenhuser Traviatempels eine Zeit lang eingenistet hatte. Das wirklich Gute ist, dass bei der Erstürmung niemand zu Schaden gekommen ist; der Paktierer hat sein Versteck wohl über den Limbus verlassen. Jedoch wurde der Tempel durch das frevelhafte, unheilige Geschehen geschändet und muss wohl neu geweiht werden, nicht wahr?” Mit fragendem, um Bestätigung bittenden Blick sah sie Rionn und Travian an.

Rionn war sich unsicher, ob das hier jetzt der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt war, die Informationen aus Albenhus kundzutun. Andererseits ging es ja gerade um den rechten Ort für die Untersuchungen der Seelen der Beteiligten. Dann war jetzt wohl klar, dass es nicht Albenhus sein konnte. So fühlte er sich bestätigt in seiner Forderung, Rahjan Bader einzubeziehen. Darum nickte er Imelda zu.

Friedewald stockte der Atem, als er die wahren Gründe für die Abwesenheit der Dreifelds erfuhr, noch dazu nicht aus dem Munde Travians, sondern von der Ingrageweihten. Wann hatte der Traviageweihte vor, ihn in die wahren Hintergründe einzuweihen?

Mika hingegen nickte Imelda mit einem Anflug von Genugtuung zu.

Merle stieß erschüttert die Luft aus und wurde schlagartig sehr bleich. “Er war… unter dem Tempel? Der Paktierer?! Während wir unsere Gebete an Travia richteten, uns bemühten, der Gütigen Mutter zu dienen und ihr wohlgefälliges Werk zu tun, hat er unter uns gefrevelt, die Göttin verhöhnt und ihrer Widersacherin gehuldigt? Hat unseren Tempel entweiht und geschändet?” Sie schluckte mühsam, als wäre ihr übel. “Wie lange, Travian? Wie lange schon?”

"Wenn ich einwenden darf, ändern die Ereignisse um den Albenhuser Tempel nichts an der Tatsache, dass bei diesem Unterfangen und wider den Untaten des Widersachers der Travia die Traviakirche der beste Ort für klärende Gespräche ist. Es gibt mehr als einen Tempel der Gütigen Mutter in den Nordmarken. Und mindestens einer davon liegt näher als das Haus Rahjan Baders. Und seid gewiss, die Albenhuser Geweihtenschaft tut alles, um den Tempel wieder herzustellen - schließlich gibt es ja auch zahlreiche Waisenkinder und Hilfsbedürftige, die versorgt werden wollen.”

“Ich muss so schnell wie möglich nach Albenhus…”, murmelte Merle zu sich selbst. Sie war sich sicher, dass ihre Eltern ihre Hilfe und Unterstützung jetzt dringend brauchten.

“Und wenn ich nochmal das Wort aufgreifen darf, das mir nun wiederholt entgegengebracht wurde. Wenn hier selbst in Frage gestellt wird, dass ein Gesandter der Gütigen Mutter vom Widersacher eben dieser verführt wird, welchen Grund sollte es geben, dass gerade die Angeklagte davon verschont sein soll. Selbstverständlich werde ich meine Seele dem prüfenden Blick der Gütigen zeigen. Aber wisset, aus praktischer Erfahrung weiß ich, je größer der Widerstand gegen eine solche Prüfung, desto sicherer ist, dass sie dringend angebracht wäre."

Einmal mehr schüttelte Doratrava innerlich den Kopf, als sie von der Entweihung des Albenhuser Traviatempels hörte. Es gäbe so viel besseres zu tun, als eine Verhandlung über ihr angebliches Fehlverhalten abzuhalten. Und wenn sie jetzt alle geprüft werden sollten, dann gingen noch weitere Tage, Wochen gar ins Land, um zu irgendeinem geeigneten Tempel zu gelangen, wo dann jeder und jede einzelne mühsam tagelang auf die Probe gestellt werden sollte. Da war es doch schon rein aus praktischen Erwägungen besser, die Prüflinge, wenn es denn unbedingt sein musste, auf mehrere Tempel zu verteilen. Und gerade bei Rahjan wusste sie sich in guten Händen, bei einem unbedarften Dorfpfarrer irgendwo im Nirgendwo eher nicht. Gut, Erdeschenbach war auch ein Dorf im Nirgendwo, aber Rahjan war eben ... Rahjan.

Aber zuerst musste mal jemand diesem arroganten, von sich überzeugten jungen Schnösel von Traviageweihtem seine Grenzen aufzeigen. Er war ein glänzendes Beispiel dafür, warum Doratrava die Vorbehalte vor allem gegenüber Traviageweihten hatte, die sie eben hatte: rechthaberisch und verbohrt auf die schlimmste Weise, überzeugt, ihre eigene Meinung wäre das allein maßgebende Element auf dem Dererund und daher habe jeder ihnen zu gehorchen. Leider war sie nicht in der Position, ihm das ins Gesicht zu sagen.

Mit großer Aufmerksamkeit hatte Friedewald nicht nur den Erklärungen der jungen Geweihten des Feuergottes gelauscht, sondern erst recht der Erwiderung des Traviageweihten. Mit Bedauern und Besorgnis resümierte der Edle, dass dieser den Fragen und Erklärungen über die Ereignisse in Albenhus auswich, die doch in einem zentralen Zusammenhang mit den Vorfällen hier in Lützeltal zu stehen schienen. Dennoch war Friedewald der Ansicht, dass Travian aus reiner Überzeugung sprach und ernsthafte Sorge um das Seelenheil der Anwesenden hatte. Deshalb versuchte er versöhnlich zu klingen, auch wenn er sich hinterher nicht sicher war, ob ihm dies gelang. „Euer Gnaden Travian, ich danke Euch für Eure offenen Worte. Ich denke wir alle haben verstanden, zumindest für mich gilt dies, dass Ihr ernsthafte Bedenken ob der Integrität all jener habt, die direkt oder indirekt von dem Wirken des Paktierers der Widersacherin unserer gütigen Mutter betroffen sind. Wir alle haben unter seinem Wirken gelitten, nicht nur diejenigen, die sich dem Kampf gegen den Vergifter verschrieben haben, nein, auch meine Familie, unsere Gäste, das Volk von Lützeltal. Und niemand ist davor gefeit, den Einflüsterungen der Mutter der Zwietracht zu erliegen. Dies gilt für die Tänzerin Doratrava, die sich im Übrigen zu keinem Zeitpunkt der Forderung nach einer Seelenprüfung zu entziehen versuchte, soweit mir bekannt ist, im gleichen Maße wie für jeden anderen hier auch. JEDEN.“ Hatte Friedewald seinen Blick zunächst über alle Versammelten schweifen lassen, schaute er beim letzten Wort intensiv auf Travian.

Dieser reagierte mit einem freundlichen Lächeln. “Ich sehe, Ihr habt meinen Gedanken verstanden.” Dabei sah er den Edlen an, sein Lächeln wurde noch satter. “Jeden”, wiederholte er mit sanfter Stimme. “Doch noch eine Frage, wenn sich die Angeklagte einer Seelenprüfung durch die Traviakirche gar nicht verschließt, warum debattieren wir dann hier, anstatt zu beginnen?” Und beinahe war es so, als würde man das zufriedene Schnattern einer Gans hören, die über den Himmel zieht.

Doch bevor Friedewald antworten konnte, bemerkte er Imelda, die scheinbar etwas zu sagen hatte.

Mit einem Räuspern stand die junge Ingrageweihte erneut auf. “Wenn ich noch einmal kurz das Wort ergreifen dürfte?“ Friedewald nickte ihr zu, dankbar, dass er einer Antwort auf Travian damit zunächst ausweichen konnte. „Ist es denn notwendig, die Geweihten zu prüfen?” Imelda nahm von ihrem Schmiedegürtel ihre kleine Laterne mit der heiligen Flamme des Feuergottes. “Wenn einer der Geweihten einen Pakt mit einem Gegenspieler der Zwölf einginge, so würden die Götter dies doch wissen und der- oder diejenige wäre nicht mehr von der Macht der Zwölf gesegnet.” Sie fuhr nun mit der Laterne an dem kleinen Schmetterling in Rionns Haar vorbei, wobei die heilige Flamme kräftig aufloderte, was Imelda mit einer gewissen Faszination beobachtete.

Oh, zumindest der Namenlose hatte da Mittel und Wege, wie Doratrava wusste. Die Traviageweihte in Herzogenfurt, Schwester Lichthild hatte sie geheißen, hatte ziemlich lange unerkannt das Werk des Dreizehnten verrichtet, bis sie nicht zuletzt von ihr zur Strecke gebracht worden war. Leider waren daher auch Geweihte nicht über jeden Verdacht erhaben.

Als Imelda mit der Laterne an Rionns Kopf vorbei fuhr und die heilige Flamme aufloderte, flatterte der Schmetterling mit seinen Flügeln, als würde er sich freuen. Der kleine Falter blieb aber sitzen. Der Tsageweihte dachte aber immer noch über die Worte Travians nach, was den Widerstand gegen eine Seelenprüfung anbetraf. Gudekar hatte sich heftig gewehrt. “Freiheit”, flüsterte er. Dann ergänzte er lauter: “Eine Bedingung für die Seelenprüfung ist die Freiwilligkeit. Wer die Seele beugt und zwingt, macht sich schuldig an den Zwölfen. Ich könnte mir vorstellen, dass Doratrava möglicherweise bereit wäre, sich in die Hände Rahjan Baders zu geben, weil sie ihm vertraut. Dann wäre er einer Traviageweihten vorzuziehen. Das ist keine Aussage wider die Kompetenzen der Traviakirche. Ich schlage vor, wir fragen Doratrava, ob sie sich einer Seelenprüfung durch Rahjan Bader stellen würde.” Erneut schlug der Schmetterling in seinem Haar mit den Flügeln. Dann blickte er zu Imelda und erwiderte ihr: “Ich lasse mich sehr gerne prüfen, wenn das dazu beiträgt, dass Frieden und Vertrauen einkehren und gestärkt werden. Die albernische Tsageweihte Uisce Beatha hat mich vor zwei Götterläufen geprüft, als ich, nachdem man mich aufgefunden hatte, bei ihr abgegeben wurde. Dadurch haben wir Gewissheit gewonnen, dass ich der Ewigjungen geweiht bin. Ich bin sehr dankbar dafür, dass sie dieses Ritual mit mir vollzogen hat.”

‚Interessant!‘ dachte Friedewald, bevor er das Wort ergriff. „Lasst mich versuchen, die Situation noch einmal zusammenzufassen. Wir alle unterlagen und unterliegen den Einflüssen des Vergifters. Dies steht außer Frage. Wir alle sollten die Unversehrtheit unserer Seelen überprüfen lassen, wie es Ihre Hochgeboren von Dürenwald“, Friedewald blickte zu Vögtin Witta, die dies mit einem Nicken bestätigte, „bereits gestern gefordert hat und Ihr, Euer Gnaden, heute wiederholt habt. Nun bin weder ich noch Ihr noch die Vögtin in der Position, dies von jedem Freien, Geweihten oder gar Adeligen hier einzufordern. Wir können dies nur empfehlen und ich spreche diese Empfehlung insbesondere für all jene unter Euch aus, die sich bereits länger mit dem Wirken des Paktierers beschäftigen. Und ich werde diese Empfehlung auch mit einem Schreiben an das Herzogenhaus unterstreichen, dass bei denjenigen, die mit den Investigationen beauftragt sind, die Unbedenklichkeit durch einen Geweihten des Vertrauens bezeugt werden sollte. Aus welcher der zwölf Kirchen der bezeugende stammt, sei dabei unerheblich, solange er die Mittel und Wege hat, die Reinheit einer Seele zu prüfen.“ Der Mund des Edlen war trocken und er nahm einen großzügigen Schluck Wein, bevor er fortfuhr.

„Nur zu gerne würde ich eine solche Prüfung gleich hier vor Ort durchführen lassen, doch wie Ihr selbst erklärt habt, ist dies nicht möglich, da ihr nicht in der Lage seid, annähernd 400 Seelen in adäquater Zeit zu prüfen, das Tempelpaar nicht wie erwartet erschienen ist und aufgrund der Lage in Albenhus auch nicht zu kommen vermag. Abgesehen davon, dass es schier nicht möglich ist, dass alle Betroffenen umgehend nach Albenhus pilgern, erscheint mir der dortige Tempel zur Zeit auch nicht der rechte Ort zu sein, um frei von dämonischen Einflüssen die Reinheit der Seele und die Nähe zur Göttin Travia zu prüfen. Eine Seelenprüfung aller scheidet somit aus.

Ihr fordertet, dass aufgrund der Anschuldigungen die Dame Doratrava zuerst zu prüfen sei. Und ich vermute, dies an einer Person durchzuführen, wäret Ihr hier und heute in der Lage. Ich stimme dieser Forderung zu, jedoch nur dann, wenn sich die Anklagepunkte gegen sie bestätigen sollten. Sollten sich die Anschuldigungen jedoch als haltlos erweisen, dann ist sie genauso zu behandeln wie jede und jeder andere auch aus der Ermittlergruppe, wie Seine Gnaden Rionn, wie der Hohe Herr von Ambelmund, wie die Edle von Kalterbaum, wie der Hohe Herr von Albenholz, wie Ihre Hochgeboren von Dürenwald und ihr Bruder, … wie mein Sohn.” - ‘mein räudiger Sohn’, ergänzte er in Gedanken. “Und um zu klären, wie mit der Tänzerin weiter zu verfahren sei, sind wir heute hier versammelt.”

Mit außerordentlich ruhiger, angenehm melodischer Stimme fiel Travian dem Edlen ins Wort. “Verzeiht, dass ich Euch unterbreche”, dabei lächelte er ihn freundlich an, “aber so ganz stimme ich Euch nicht zu. Ich kann dem Gedanken meines Bruders Rionn folgen - entspricht es doch ganz und gar dem freiheitsliebenden Denken seiner Göttin. Aber wo kämen wir hin, wenn wir nur dann prüfen, wenn sich eine Seelenprüfung nur mit Freiwilligkeit umsetzen ließe. Jeder Paktierer würde sich dann einer solchen Prüfung entwinden. Auch wenn nicht das erste Mittel der Wahl, aber eine Prüfung kann auch ohne Zustimmung erfolgen.” Sanft wiegte sich seine orange Robe im Rhythmus seiner Gestik.

“Und dennoch hat niemand von den Anwesenden die Autorität, dies von irgend jemandem unter uns zu erzwingen, solange nicht ausreichend Verdachtsmomente vorliegen. Also, lasst uns bitte endlich mit der Verhandlung weitermachen.” Doch eine Frage brannte Friedewald noch im Kopf, fast im wahrsten Sinne des Wortes. Er wandte sich nun der Hadingerin zu. “Eure Gnaden Imelda, wir wurden soeben Zeuge, wie Eure Laterne in der Nähe Seiner Gnaden Rionn hell erstrahlte. Was hat es damit auf sich? Und was würde geschehen, wenn Ihr die Laterne in die Nähe eines Paktierers bringt? Könnte er sein Wirken vor diesem göttlichen Licht verbergen? Oder wäre ein Pakt mit diesem Licht eindeutig erkennbar?”

Der Schmetterling brachte die junge Geweihte zum Staunen und für einen kurzen Moment war sie von all der Trauer und Anspannung abgelenkt. Dann schaute sie jedoch wieder ernst zu Friedewald. “Bedauerlicherweise nicht. Das ewige Licht in meiner Laterne reagiert auf die Macht der Zwölfgötter. Es ist ja auch selbst etwas heiliges…”, hob sie erklärend die Schultern. “...daher kann ich höchstens sehen, wo die Macht der Götter gestört wird oder besonders stark zu sein scheint. Bei Rionn und seinem Begleiter brannte die Laterne für einen Moment etwas stärker und bei dem erzdämonischen Wirken, das wir hier an verschiedener Stelle vorfanden, wurde sie schwächer. Doch fürchte ich, dass bei jemandem, der zwar einen Pakt geschlossen hat, sich jedoch zur ‘Tarnung’ ganz normal verhält und nicht gerade durch unheiliges Tun die Präsenz der Götter stört, meine Flamme kein Indikator ist.”

Doratravas Verteidigung

Die Enttäuschung über diese Antwort ließ sich der Richter nicht anmerken. Es wäre so ein einfacher Indikator gewesen, um Frevler und Paktierer unter den Anwesenden auszumachen. Man hätte sich vielleicht die Diskussionen um die zahlreichen Seelenprüfungen schenken können. “Nun gut. Können wir dann wieder mit der Frage fortfahren, ob die Dame Doratrava dem Paktierer Pruch zuarbeitet? Ich glaube, die Indizien der Anklage wurden nun ausführlich dargelegt. Ich würde nun gerne von der Angeklagten selbst hören, was sie zur Widerlegung der Vorwürfe beitragen kann.” Sein Blick traf Doratrava wie ein scharfes Schwert.

Aber Doratrava hatte sich gestern und heute schon so viele Unverschämtheiten anhören müssen, dass sie Friedewalds Blick nicht sonderlich schreckte. Nun also durfte sie auch endlich etwas sagen, aber ihr war schon klar, dass sie den Anklägern ihre Absurditäten nicht in gleicher Münze würde heimzahlen können, sie musste wohl ausnahmsweise sehr genau darauf achten, was sie sagte - und was nicht. Ein schöner Vorsatz, der sich bald in Wohlgefallen auflösen sollte.

Die Gauklerin stand auf und wurde sich erneut bewusst, wie demütigend sie die Fesseln und überhaupt die ganze Situation empfand, aber sie verdrängte diese Gedanken, um sich auf ihre Verteidigung zu konzentrieren. Sie holte tief Luft und rief sich die Anklagepunkte wieder in den Kopf, dann begann sie zu sprechen, bemüht um eine ruhige Stimme: "Also ... Spionage: bei besagtem Vorfall war ich im Herrenhaus im Stockwerk darüber, um mich umzuziehen, weil meine Kleidung völlig durchnässt und verdreckt war. Der Kamin aus dem Kaminzimmer führt wohl an dem Raum, in dem ich mich befand, vorbei, so dass ich die Gespräche unten, sofern sie laut genug waren, mitverfolgen konnte.”

“Das stimmt!” warf Mika vorlaut ein, was ihr mit einem strengen Blick ihres Vaters vergolten wurde. Rondrards Blick war nicht weniger streng. Travian blickte gleichmütig.

“Und im Übrigen: ich bin Teil der Ermittlergruppe, hätte ich mich nicht umgezogen, wäre ich sowieso im Kaminzimmer mit dabei gewesen. Also, was hat das mit Spionage zu tun?"

Doratrava machte eine Pause und schaute erst Friedewald, dann Rondrard und dann Kalman an, um dann fortzufahren: "Dann ... Anwendung von Magie." Sie tippte sich mit einem Finger an eine Ohrenspitze. "Ich bestreite nicht, Fähigkeiten zu haben, die ich von einem meiner Elternteile geerbt haben muss. Und soweit mir bekannt ist, ist es unter Elfen keine ungewöhnliche Fähigkeit, sich mit Hilfe ihrer Magie besonders schnell bewegen zu können. Ich nehme nicht an, dass alle Elfen diese Fähigkeit von Travias Gegenspieler erhalten haben." So sehr sich Doratrava bemühte, ganz konnte sie nicht aus ihrer Haut, ihr Verstand sagte ihr jetzt schon voraus, dass dies vermutlich nicht die einzige Spitze in ihrer Verteidigungsrede bleiben würde. Wieder schaute sie vor allem Rondrard und Kalman intensiv an.

"Was nun unser Verschwinden anbelangt ... ich war verrückt vor Sorge um Merle und habe gespürt, dass gleich etwas passieren wird, daher habe ich auch alle Anwesenden eindringlich gebeten, den Raum zu verlassen. Nivard, der sich seinerseits um mich sorgte, hat leider nicht darauf gehört und ist wohl ... von einem Nebeneffekt unseres ... Verschwindens getroffen worden. So, wie wenn man eine Wand mit Gewalt durchbricht und die umherfliegenden Steine jemanden verletzen, der zu nahe dabei steht, ohne dass man diesen gezielt angegriffen hätte. Und Rahjel hat auch nicht auf mich gehört, er stand hinter mir und hat wohl sein heiliges Tuch in dem Moment auf mich geworfen, als ... es passiert ist und wurde so mitgerissen, ohne meine Absicht. Ich gebe zu, nicht zu wissen, was in jenem Augenblick genau geschehen ist, aber ich habe nicht versucht, aktiv zu 'zaubern' oder jemanden anzugreifen oder zu verletzen, und so etwas ist mir bisher auch noch nie passiert. Ja, mag sein, dass ich nicht alle meine Fähigkeiten beherrsche oder gar kenne, aber ich bin damit geboren wie so viele Halbelfen und Elfen, nur hatte ich leider keine Eltern, welche mir den Umgang damit beigebracht hätten."

“Kann sich nicht an eigene Taten erinnern. Häufige Nebenerscheinung bei Minderpakten...", kommentierte Travian. “Keine Kontrolle über gefährliche Magie. Bewiesener Einsatz inmitten einer Gruppe Unbeteiligter...", sprach er weiter.  

“Aha!”, merkte Rondrard triumphierend an, sagte aber weiter nichts.

“Hm-hm”, räusperte sich Friedewald aufgrund der mehrfachen Zwischenbemerkungen. “Wir lassen hier der Tänzerin das Wort, meine Herren!” Doch trieb Doratravas Offenbarung einige Sorgenfalten auf Friedewalds Stirn, denn genau dieses Geständnis konnte man gegen die Gauklerin auslegen, wenn man wollte.

Wieder musste die Gauklerin eine Pause einlegen, um Luft zu holen und sich zu sammeln. Irritiert schaute sie zwischen Friedewald und Travian hin und her, dann warf sie Merle einen Blick zu, um Kraft zu schöpfen und dann weiterzureden: "Und dann der Blödsinn mit 'Insubordination' beim Angriff auf den Tempel in Albenhus. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir Ermittler eine militärische Einheit bilden, davon hat die Herzogenmutter nichts gesagt.”

“Kann sich nicht erinnern”, kommentierte Travian erneut, als hätte er Friedewald nicht gehört.

“Wir sind beim Tempel angekommen, er wurde angegriffen, ich bin losgerannt, um zu helfen, so einfach war das. Es gab keine 'Befehle', schon gar nicht vom Herrn von Albenholz, der sich eher zögerlich ins Gefecht gestürzt und meiner Erinnerung nach auch nicht viel bewirkt hat.“

“Ruhe ist eine Eigenschaft der Gütigen. Hast der Ihres Widersachers”, sprach Travian mit geschlossenen Augen leise vor sich hin.

“Euer Gnaden! Zügelt Euch, bitte! Ihr hattet Eure Zeit zu reden, nun hat die Dame Doratrava ihre Zeit.” Friedewald blickte zunehmend verärgert zu dem Geweihten.

Wieder schaute Doratrava erst zu Friedewald und dann zu Travian und presste kurz die Lippen zusammen, bevor sie den Faden wieder aufnahm.

“Von einem 'Befehl zum Sammeln' weiß ich auf jeden Fall nichts, vielleicht ist dieser ja ausgesprochen worden, als ich schon zu weit weg und auf die Verteidigung des Tempels fokussiert war. Und wie hier schon von anderen Beteiligten ausgeführt wurde, waren am Ende nicht 'alle tot'. Daher gehe ich auf diesen verleumderischen Unsinn auch nicht weiter ein. - Dann die Sache mit den Kisten. Die in Schneidgrasweiler wurde uns von der Wirtin des Gasthofes gebracht, jemand hatte sie für uns abgegeben. Ich habe das Ding nicht einmal berührt. Was sollte ich also damit zu tun haben? Die Kiste am See haben ich, Merle und Rahjel gemeinsam gefunden, und wir mussten sie irgendwie transportieren, also kam sie auf den Wagen, auf dem ich ebenfalls saß, weil ich nicht laufen konnte. Rahjel wurde fortgeschickt, Angehörige von Opfern zu benachrichtigen, Merle ließ man kaum zu Wort kommen, also blieb es an mir hängen, von der Kiste zu berichten. Offenbar soll hier mal wieder der Botin die Schuld für die Nachricht in die Schuhe geschoben werden. Und die dritte Kiste hat jemand nachts vor das Haus des Dorfschulzen gestellt, während ich in der Zelle saß. Will mir jetzt noch jemand unterstellen, dass ich durch Wände gehen kann?”

“Bereits bewiesen”, murmelte Travian.

Doratrava wollte weitersprechen, aber wieder murmelte der Geweihte etwas und sie musste Friedewalds Reaktion abwarten. Hinter dem Rücken ballte sie erneut die Fäuste, damit der Schmerz der Fingernägel in ihren Handballen sie von ihrem Ärger ablenkte.

“Euer Gnaden, auch Ihr untersteht hier der weltlichen Gerichtsbarkeit, und wenn Ihr weiterhin die Worte des Gerichts missachten wollt, dann werdet Ihr auch die weltlichen Konsequenzen zu tragen haben”, sprach Friedewald nun eine deutliche Warnung an den Traviageweihten aus.

Neugierig beobachtete Travian den Adeligen.

“Wenn ich zu all diesen Dingen fähig wäre, würde ich bestimmt nicht mehr hier gefesselt vor euch stehen!"

Doratravas Stimme war lauter geworden, sie merkte, dass der Zorn schon wieder mit ihr durchgehen wollte, und kämpfte die Anwandlung nieder, was einige Augenblicke benötigte. "Was die Vorwürfe der Paktiererei angeht", sprach sie dann weiter, "fand ich den Vortrag Ihrer Wohlgeboren von Kaldenberg höchst erhellend und habe dem nichts hinzuzufügen. Nur fürs Protokoll: Ich habe keinen Pakt mit einem Erzdämonen geschlossen. Auch wenn sofort das Gegenargument kommt, das würde jeder Paktierer behaupten, will ich das festgehalten wissen. Dann zu den weiteren Vorwürfen des Herrn von Storchenflug." Doratrava presste die Lippen zusammen, da diese ihr besonders nahe gingen und es schwer war, darauf einigermaßen ruhig zu antworten. "Bei der angeblichen Aufforderung zu untraviagefälligem Verhalten spielt der Herr von Albenholz, der dem Herrn von Storchenflug ja seine Anschuldigungen eingeflüstert hat, vermutlich wieder auf Schneidgrasweiler an, wo ich zusammen mit dem Herrn Corwyn von Dürenwald eine andere Taverne aufsuchte und wir dort Musik machten und tanzten - ohne dass die meiste Zeit andere Gefährten dabei anwesend waren und hätten 'verführt' werden können. Dies geschah, um Informationen zu sammeln, aber auch, um den unsäglichen Diskussionen zu entgehen, die die Gruppe führte, um endlich den Herrn von Albenholz davon zu überzeugen, wichtige Informationen preiszugeben, die er zwar zugab erlangt zu haben, deren Natur und auch die Art, wie er sie erlangt hatte, nicht verraten wollte, obwohl alle der Anwesenden ihn beknieten. Diese Anschuldigung gegen mich ist wie die meisten anderen also wiedermal völliger Schwachsinn und liegt nur darin begründet, dass der Herr von Albenholz von Anfang an etwas gegen mich hatte. Und dass das etwas mit der Beeinflussung von Tsalinde von Kalterbaum zu tun haben sollte, ist genauso komplett an den Haaren herbeigezogen, denn diese ist dem dämonischen Einfluss des Kästchens erlegen, mit dem ich wie schon ausgeführt nichts zu tun hatte."

“Gerät aus der Ruhe”, bemerkte Travian. Jedoch ließen seine Blicke offen, wen genau er damit meinte.

Friedewald hatte zwar allein bis hierhin etliche Fragen, die ihm unter den Nägeln brannten, doch wollte er zunächst den vollständigen Bericht der Gauklerin hören, bevor er seine Fragen stellte. Und er erwartete dasselbe Verhalten auch von den Anwesenden. Mit einem Blick zu Travian notierte er sich etwas auf einem Pergament, das er sich von Praiogrimm reichen ließ.

Nun suchte der Blick Doratravas erneut den Merles, während sie gleichzeitig wieder die Fingernägel in ihre Handballen trieb, bevor sie fortfuhr: "Inwieweit 'Amazonenliebe' eine Straftat ist, erschließt sich mir nicht. Vielleicht sollte der Herr von Storchenflug dazu einmal die Amazonen selbst befragen. Und inwieweit das Spenden von Trost und Zuneigung für jemanden, deren Ehe bereits von ihrem Partner gebrochen wurde, eine götter- und vor allem der Rahja ungefällige Tat sein soll, erschließt sich mir auch nicht, zumal ein Geweihter der Rahja anwesend und unterstützend tätig war." Wieder wanderte Doratravas Blick, der einen mörderischen Ausdruck - was Travian aufmerksam beobachtete - angenommen hatte, zu Rondrard. "Und dann scheint der Herr von Storchenflug Angst vor mir zu haben, und zwar gehörige. Wie anders ist seine Anschuldigung zu erklären, ich hätte ihn verzaubert, nur, weil ich ihm in die Augen geschaut habe? Woher soll ich, sollt ihr alle wissen, was er in meinen Augen gesehen haben will, außer ihr glaubt ihm, der ja, wie ich nun schon ganz schön lange ausführe, durchaus nicht unbedingt zur Wahrheitsliebe neigt - oder aber hoffnungslos naiv ist - vorbehaltlos, und das, bevor er selbst sich einer Seelenprüfung unterzogen hat, die belegen würde, dass er frei von dem 'Gift' ist, das laut seiner Gnaden Travian ja in jedem von uns steckt? - Und überhaupt, seine Gnaden Travian! Wie kommt er denn darauf, dass ich 'meinen Rausch und meine Begierde' über den Schutz der Schwachen stelle? Erstens ist es gar nicht meine Aufgabe, die Schwachen zu schützen als einfache Tänzerin und Gauklerin. Dass ich es trotzdem tue, soweit es mir möglich ist, liegt allein daran, dass Not und Leid Anderer mir nahe gehen und ich daher oft das Bedürfnis spüre, ihnen zu helfen. Was mir zuweilen, und ganz besonders in letzter Zeit von ganz gewissen Personen, die von Standes wegen dazu verpflichtet wären, den Schwachen zu helfen, schlecht gedankt wird. Seine Gnaden Travian kennt mich überhaupt nicht, vermutlich weiß er nur das über mich, was Eoban von Albenholz ihm erzählt hat. Und dass der Herr von Albenholz da nicht ganz unvoreingenommen gesprochen hat, auf diese Idee könnte man schon kommen, wenn man all die Ereignisse heute und gestern und auch schon früher einmal von außen betrachtet. In dieser Beziehung hat Seine Gnaden schon recht: wie sollen wir gegen die dämonischen Umtriebe um uns erfolgreich ankämpfen, wenn 'die Ritter im Namen der Gütigen die Gütige nicht ehren'? Ist Eoban nicht auch einer dieser Ritter? Tritt er Travias Gebote nicht genauso mit Füßen, wenn er an den Haaren herbeigezogene Anschuldigungen ausspricht, welche dazu führen, dass wir uns tagelang nur damit befassen, statt die Kraft der Gruppe in den Kampf gegen den Widersacher zu stecken? Wir verrichten hier sein Werk, behaupte ich, besser, als es jeder Paktierer uns einflüstern könnte! Der Pruch muss gar nichts mehr tun. Er hat einen winzigen Stein ins Rollen gebracht, aber es sind Gefährten aus unseren eigenen Reihen, die dem nicht Einhalt gebieten, sondern sich willfährig mitreißen lassen, so dass aus dem kleinen Stein eine gewaltige Lawine wird, die uns alle unter sich zu begraben droht!"

Praiogrimm, der die gesamte Aussage der Gauklerin ebenso sorgfältig notiert hatte, wie auch alle Aussagen zuvor, schüttelte in der kurzen Redepause seine verkrampfte Schreibhand. Ein hoher Stapel Pergament fing an, sich vor ihm zu türmen und er blickte besorgt auf das Tintenfass, das sich allmählich leerte. Deshalb winkte er seine Frau zu sich, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Diese machte sich sofort auf in das Haus des Dorfschulzen, um für Nachschub an Tinte, Pergament und gespitzten Gänsekielen zu sorgen.

“Nun, der Hohe Herr von Albenholz ist nicht derjenige, über den zu richten wir heute hier zusammengekommen sind”, erklärte Friedewald. “Ebensowenig wie über den Hohen Herren von Storchenflug oder seine Gnaden Travian. Doch lassen wir das. Eure Ausführungen haben die eine oder andere Frage bei mir aufgeworfen. Zunächst möchte ich wissen, wer damals in Schneidgrasweiler jene Kiste geöffnet hatte, wenn Ihr diese nicht berührt hattet? Und wer hat die Kisten hier in Lützeltal geöffnet?”

“Nun … die Kiste war eigentlich eher ein kleines Kästchen”, antwortete Doratrava und fuhr dann betont sachlich fort: “Gudekar hat - trotz mehrfacher Warnung - die Verschnürung gelöst, dann hat er einen Zauber von außen darauf gewirkt, ob es magisch ist, aber er konnte seinen Worten nach nichts feststellen, dann hat er es kurzerhand geöffnet. Die Kiste, die wir am See gefunden haben, hat Nivard geöffnet. Und zu der Kiste beim Dorfschulzenhaus kann ich nichts sagen, nur, dass ich die Büttel gewarnt habe, sie zu öffnen, nachdem sie mir davon berichteten.”

Die Schilderung von Gudekars Handlung ließ den Edlen verdrießlich blicken. “Gudekar? War das so?”

“Ja, so war es”, pflichtete Corwyn von Dürenwald bei, und auch Adeptus Adelchis nickte zustimmend.

“Nivard von Tannenfels”, nannte der Besagte zuerst seinen Namen, wie er es gelernt hatte, wenn Befragungen stattfanden und zu protokollieren waren. “Auch ich bestätige, dass es Gudekar von Weissenquell war, der die erste Kiste… die in Schneidgrasweiler… geöffnet hatte. Genauso wie die Kiste, die gestern am See gefunden worden war, durch meine Hand geöffnet wurde, wie gewiss etliche der hier Anwesenden bestätigen können - an mich war sie im Übrigen auch adressiert. Die letzte in Rede stehende Kiste wurde aufgrund der Vorerfahrungen nur in äußerster Vorsicht von Eurem Sohn Kalman im Beisein etlicher Zeugen und begleitet durch geweihten Beistand geöffnet.” Nivard endete zunächst. Genau genommen hatte er schon mehr ausgesagt, als er gefragt worden war. Einen weiteren Satz konnte er sich allerdings, da er gerade beim Sprechen war, doch nicht verkneifen, und schob diesen rasch nach:

“Im Übrigen decken sich auch die sonstigen Aussagen der Angeklagten zu den von mir miterlebten Ereignissen mit meinen Erinnerungen an diese.”

Legitimation

“Gut, ich denke, Eure alleinige Anwesenheit beim Auftauchen dieser unheiligen Objekte kann man Euch wohl kaum zum Vorwurf machen, wenn Ihr ein Teil der Gemeinschaft seid, gegen die die Flüche gerichtet waren, die auf den Objekten lagen. Dass Ihr an der Auslösung der Flüche aktiv beteiligt wart, sehe ich nicht. Alles andere mag Spekulation sein.” Friedewald beugte sich zu dem Pergamentstapel hinüber, der zwischen ihm und Praiogrimm lag, und blätterte darin, um die Aufzeichnungen noch einmal zu lesen. “Paktiererei. Wir waren beim Vorwurf der Paktiererei. Gibt es dazu weitere Beweise, die für oder gegen den Vorwurf sprechen? Irgendjemand?”

“Hier, Travian Dreifelder”, meldete sich der Traviageweihte zu Wort. “Verzeiht, Friedewald, aber allein diese Schilderungen erklären nach meinem Verstehen leider gar nichts. Verfluchte Objekte können platziert und Überbringer manipuliert werden. Es ist keine Seltenheit, dass sich die Verursacher mit Unschuld tarnen, indem sie die Ereignisse so gestalten, dass sie selbst als Opfer dastehen. Nichts gesagt hat die Angeklagte oder einer der anderen Anwesenden dazu, ob und wie diese Objekte auf sie gewirkt haben. Ebenso nicht, warum sie die Erfahrung aus Schneidgrasweiler nicht auf die Vorgänge in Lützeltal angewandt hat. Auch wurde hier ausgelassen, was genau nach dem Verschwinden im Kaminzimmer passierte. Wie ich hörte, kam die Angeklagte verwundet zurück. Was war geschehen? Weiterhin: Eine Frau im Traviabunde zu verführen ist durchaus nicht im Sinne der Travia. Hilfsbedürftige zurückzulassen, um Tanzen und Trinken zu gehen, auch nicht. Und die Hast der Ruhe und Planung vorzuziehen, ist auch keine förderliche Argumentation bei dieser Untersuchung. Alles in allem, Erklärungen hin, Interpretationen her. Die beobachteten Vorfälle sind besorgniserregend. Klarheit wird uns nur eine Prüfung verschaffen. Die Redebeiträge führen uns nur in die Nebel des Großen Flusses. Ich frage daher nochmal, wenn die Angeklagte doch eine Prüfung nicht ablehnt, warum haben wir noch nicht begonnen? Ich möchte auch ergänzen: Eine Prüfung kann ja auch zeigen, dass die Angeklagte unschuldig ist. Würde uns das nicht unser aller Herz erleichtern?”, schloss er seinen Beitrag fragend, mit ruhiger, sanfter Stimme. Dann strich er eine Falte in der orangen Robe sanft glatt.

“Euer Gnaden, Euer Vorwurf, allein die Beteuerung der eigenen Unschuld sei ein Indiz der Schuld ist derart absurd, dass ich meinen Ohren kaum glauben mag, diese Worte aus dem Munde eines Geweihten der göttlichen Zwölfe gehört zu haben. Definitiv ist dies kein Beweis für ihre Schuld”, entgegnete Friedewald.

Travian hob sanft eine Hand. “Lieber Friedewald, Ihr habt mir nicht zugehört. Ich sagte nicht, es sei ein Indiz für ihre Schuld. Ich sagte, die Schilderungen helfen leider nicht.”

Das war einfach zu viel, nun konnte Doratrava nicht mehr an sich halten. Was glaubte dieser unerfahrene Jungspund, wer er war? "Hört Ihr Euch überhaupt selbst zu?", fuhr sie auf. "Wenn man Euren Worten folgt, wäre es ja völlig egal, was ich sage, denn es könnte ja alles konstruiert sein. Ihr traut mir wahrlich Dinge zu, die nicht mal dem Pruch möglich wären, scheint mir. Entweder auch Ihr habt eine Heidenangst vor mir, oder Ihr wollt einfach einen Sündenbock, um von Eurer eigenen Unzulänglichkeit abzulenken. Ein letztes Mal will ich auf Eure Vorwürfe eingehen, um Euch, aber vor allem den anderen hier die Absurdität derselben aufzuzeigen, zumindest, wenn man der Logik folgt.

Also: die Frage der Wirkung der Objekte wurde nicht gestellt. Ich selbst habe keine Wirkung verspürt, was Ihr mir sicher wieder negativ auslegen werdet.

Was mit mir, Merle und Rahjel nach dem Verschwinden passiert ist, wurde an anderer Stelle abgefragt, nur zu Eurem Vergnügen werde ich das jetzt nicht wiederholen.

Was das angebliche 'Verführen' einer Frau im Traviabund angeht, sagte ich auch nicht, dass das der Travia gefällig wäre. Aber es gibt noch elf andere Götter, falls Ihr das schon mitbekommen habt, und Rahja ist eine davon. Ihr solltet vielleicht einmal einen Rahjatempel aufsuchen, zur Erweiterung des Horizonts, der bei Euch direkt vor den Füßen aufzuhören scheint.

Was Schneidgrasweiler angeht, scheint Ihr etwas mit den Ohren zu haben. Welche 'Hilfsbedürftigen' haben ich und Herr Corwyn denn zurückgelassen? Zu dem Zeitpunkt, an dem wir die andere Taverne aufgesucht haben - wohlgemerkt mit dem Segen der Gruppe und um unauffällig Informationen einzuholen - hat noch niemand von uns Anzeichen eines Fluches gezeigt.

Und was gibt es da zu planen, wenn Dämonen durch die Wand eines Efferdtempels brechen und sofort zum Angriff übergehen? Was hat schnelle Reaktion mit ungebührlicher Hast zu tun? Mal abgesehen davon, dass Ihr gar nicht dabei wart und die Lage daher gar nicht beurteilen könnt. Aber die Aussagen von Leuten, die dabei waren, wie zum Beispiel die des Herrn Nivard, zieht Ihr ja vor zu ignorieren.

Und eines sage ich Euch auch gleich: ja, ich bin zu einer Prüfung bereit, durch Rahjan Bader in Eisenstein. Von Euch werde ich mich ganz sicher nicht prüfen lassen, denn Ihr seid offenbar darauf aus, alle Tatsachen so auszulegen, dass sie mich in einem möglichst schlechten Licht dastehen lassen. Wenn Ihr also darauf besteht, mich zu prüfen, dann müsst Ihr mich zwingen."

Erhitzt und mit leicht geröteten Wangen beendete Doratrava ihren Wortschwall. Hätte sie können, hätte sie nun die Arme vor der Brust verschränkt, so reichte es ebenfalls nur für einen mörderischen Blick in Travians Richtung.

Bevor Travian hierauf etwas erwidern konnte ergriff Friedewald mit deutlicher Stimme das Wort und jeglichem Versuch, ihm in das selbige zu fallen quittierte er damit, lauter zu reden und gleichzeitig einen weiteren Strich auf seinem Pergament zu notieren. “Zu den Vorfällen in Schneidgrasweiler hat der Herr von Tannenfels ja bereits ausgesagt, dass die Darstellungen der Dame Doratrava der Wahrheit entsprechen. Kein dort Anwesender hat dieser Darstellung hier vor Gericht widersprochen und das Ehrenwort des Herrn von Tannenfels in Frage gestellt. Ich spreche somit an dieser Stelle jegliche Schuld an dem Verhalten der Tänzerin in jenem Flecken unwiderruflich ab. Über die Vorgänge in Albenhus im Zusammenhang mit dem Angriff auf den dortigen Efferdtempel habe ich keinerlei Autorität zu richten. Dies ist eine Angelegenheit der Reichsstadt beziehungsweise der Gräfin höchstpersönlich. Doch wenn die Efferdkirche innerhalb von göttergefälligen zwölf Monden keinen Anlass dazu gesehen hat, hier weitergehende Ermittlungen einzufordern, so sollten auch wir uns nicht über das Urteil der Metropolitin stellen. Wer bei einem solchen Angriff wie hätte an der Verteidigung agieren müssen, steht hier nicht zur Debatte. Ich jedenfalls möchte allen, die an der Verteidigung eines Tempels unserer Zwölfgötter mitgewirkt haben und ihr Leben dafür riskiert haben, danken und meine höchste Anerkennung dafür aussprechen! Ich kann nach der Vielzahl der Schilderungen auch hier kein frevlerisches Verhalten der Tänzerin erkennen. Fokussieren wir uns also bitte auf die Ereignisse, die hier in Lützeltal stattgefunden haben.” Der Edle griff zu seinem Weinbecher, füllte aus einer Kanne nach, nahm einen tiefen Schluck und knallte den Becher kräftig zurück auf den Tisch.

“Im Übrigen”, fuhr Friedewald unbeirrt fort, “habt Ihr trotz mehrfacher Aufforderung durch das Gericht und der Androhung von Konsequenzen die Aussage der Dame Doratrava wiederholt unterbrochen, was ich als Missachtung des Hohen Gerichts werte und mit einer Geldstrafe in Höhe von”, Friedewald zählte kurz in seinen Notizen nach, “fünf Silbertalern, zahlbar bei nächster Anwesenheit dort an den Albenhuser Traviatempel, belege.” Natürlich war Friedewald bewusst, dass dies nur eine symbolische Strafe war, doch wollte er damit für mehr Disziplin während der Versammlung sorgen.

“Lieber Friedewald, habt Dank für diese Klarstellung. Aber Ihr seid meiner Frage nun schon zweimal ausgewichen. Warum nochmal beginnen wir nicht jetzt mit einer Seelenprüfung?”, fragte der junge Geweihte erneut freundlich, die Hände sanft vor dem Bauch gefaltet.

“Nun, scheinbar habt IHR nicht MIR zugehört”, wurde Friedewald zunehmend ärgerlich. “Ich sagte bereits, dass niemand hier die Autorität besitzt, eine Seelenprüfung von irgendjemandem zu verlangen, solange die Schuld nicht bewiesen ist. Und darum geht es in dieser Verhandlung.” ‘...die schon längst abgeschlossen sein könnte, wenn wir uns nicht andauernd mit unqualifizierten Zwischenbemerkungen beschäftigen müssten’, ergänzte Friedewald in Gedanken

“Warum hat hier niemand die Autorität? Ich denke, es sind zahlreiche Vertretungen der Kirchen vor Ort", erkundigte sich der Geweihte freundlich.

“Weil, zum letzten Mal, in der Hoffnung, dass auch Seine Gnaden es nun versteht, die Schuld der Dame Doratrava nicht bewiesen ist und hier weder die Gräfin noch ein Hochgeweihter des Herrn Praios anwesend ist, die einen solchen Schritt vielleicht anordnen könnten.” Friedewalds Finger trommelten nervös mit den Fingern. “Darf ich nun in meiner Befragung fortfahren? Ihr habt eine Frage aufgeworfen, über die ich gerne als nächstes Aufklärung betreiben würde.”

“Ich stimme Euch nicht zu, aber gerne will ich auch die anderen sprechen lassen”, antwortete Travian freundlich lächelnd. Eine Gans schnarrte irgendwo am Himmelszelt.

Travian machte einen Moment Pause und atmete ruhig aus und ein. “Doch, eine Sache noch, lieber Friedewald. Ich möchte anmerken, dass mich Eure Führung dieser Sitzung doch sehr verwundert. Als ich einen Redebeitrag hatte, ebenso der Hohe Herr von Storchenflug, haben uns andere Beteiligte fortlaufend unterbrochen. Ja, Ihr habt diese sogar positiv kommentiert, was vielleicht zu weiteren Unterbrechungen motivierte. Umgekehrt gesteht Ihr eben diesen Personen, also dem Hohen Herr von Storchenflug und mir, keine Unterbrechungen zu, sondern ahndet diese. Das finde ich wenig nachvollziehbar. Die Art, wie Ihr Redebeiträge fördert und abbindet, wie Ihr kommentiert und auch wie Ihr auf Gegenreden reagiert, lässt in mir den Verdacht aufkommen, dass Ihr innerlich bereits eine Entscheidung getroffen habt. Auch Verleumdungen der hier Anwesenden, darunter wiederholte Verleumdungen von Geweihten, lasst Ihr ungestraft zu. Darüber hinaus die Verleumdung von Abwesenden, die sich nicht erwehren können, was zugleich aber der Argumentation der Angeklagten und ihrer Verteidiger zu Gute zu kommen scheint. Daher möchte ich von Euch wissen, ist das hier nur ein Schauprozess, der Eure bereits getroffene Entscheidung nur legitimieren soll? Und, wenn Ihr den Schaden nicht unterbinden wollt, bitte sagt mir, wie wollt Ihr den entstandenen Schaden am Ruf der Abwesenden und an dem Leumund der Traviakirche begleichen?”, fragte der junge Geweihte freundlich und mit sanfter Stimme. Zwei Gänse schnarrten abwechselnd am Himmel, so als würden sie ihm zustimmen wollen.

Rondrard nickte zustimmend. Sagen durfte er ja nichts, das hätte ja die Verhandlung unterbrochen.

Friedewald verdrehte die Augen. “Ich möchte es einmal so sagen: allein die Abwesenheit des Anklägers würde mich nach gültiger Rechtsprechung dazu ermächtigen, diesen ganzen Prozess zu beenden. Ihr kennt vielleicht die Redewendung: ‘Wo kein Kläger, dort kein Richter’? Und das, was die Hohen Herren von Storchenflug und von Weissenquell hier vortragen, ebenso Eure Worte, Eure Gnaden, basieren auf reinem Hörensagen.”

“Meine Worte basieren auf reinem Hörensagen? Wie kommt Ihr darauf? … und … Wo kein Kläger, dort kein Richter? Seid Euch gewiss, die Gütige Mutter blickt stets auf Euch, so wie die Familie der Zwölfe”, antwortete Travian freundlich.

“Weder Ihr noch die beiden Hohen Herren waren bei den Ereignissen im Efferdtempel oder in Schneidgrasweiler anwesend, im Gegensatz zu dem Herren von Tannenfels, Meister Adelchis, dem Hohen Herren von Dürenwald, der Hohen Dame von Kalterbaum, seiner Gnaden Rionn, und vielleicht einigen anderen mehr. Ihr tragt nur Dinge vor, die Euch erzählt wurden, von wem auch immer. DAS nenne ich Hörensagen. Und sollten sich diese Aussagen als unwahr herausstellen, dann sind Eure Worte als Verleumdung zu werten, nicht die der Verteidigung. Dass ich mich hier überhaupt mit der Geschichte auseinandersetze, soll allerdings sehr wohl der Wahrheitsfindung dienen, und ein Urteil habe ich keinesfalls bereits getroffen. Wollt Ihr dieses weiter behaupten, so werde ich ebenfalls in Betracht ziehen, Euch vor der Gräfin der Verleumdung mir gegenüber anzuklagen.”

Der junge Geweihte hob seine Hand. “Lieber Friedewald, mir scheint, Ihr seid nicht darüber im Bilde, welche weiteren Aufklärungen auch außerhalb der hier anwesenden Gruppe geschehen sind. Ihr könnt davon ausgehen, dass die Ereignisse rund um den Efferdtempel ausgiebig untersucht wurden. Und die Gespräche, die ich führte, beschränken sich nicht auf einen kurzen Austausch auf der Straße, sondern waren teils viele Tage intensiver Arbeit unter dem strengen Blick der Gütigen Mutter. Ich finde es schade, dass Ihr mir an dieser Stelle, ja allen anderen Bemühungen zur Klärung der Ereignisse außerhalb dieser Gruppe, so wenig Respekt gegenüberbringt. Aber so sei es. Für mich stellt das die hier ohnehin dünnen, weil in aller Öffentlichkeit teils auf wagen Behauptungen und Verleumdungen, darunter auch der Kirche, erarbeiteten Ergebnisse leider nur noch weiter in Frage. Das tut mir sehr Leid für Euch und die hier Anwesenden. Aber ich denke, ich werde Euch mit meinem Hörensagen nun nicht weiter behellen”, sprach der Geweihte ruhig. Eine Gans schnarrte laut am Himmel. Damit verließ er die Sitzung.

“Nun, dann klärt mich bitte auf, mit wem Ihr Gespräche über diese Ereignisse geführt habt, und von welcher Stelle Ihr legitimiert wart, Ermittlungen in dieser Angelegenheit zu führen”, rief Friedewald dem Geweihten noch hinterher.

Das würde Doratrava allerdings auch interessieren, zumal es sie ja direkt betraf, wenn Travian daraus die Legitimation für ihre Anschuldigungen zog.

Der Geweihte blieb kurz stehen. “Lieber Friedewald, ich habe mein Schlusswort bereits gesprochen. Aber so viel möchte ich noch ergänzen: Seid Euch bitte darüber bewusst, dass alle Beteiligten enorme Aufwände betrieben haben, um die Vorgänge in Albenhus rund um den Efferdtempel und Traviatempel, aber auch sonstige Vorgänge rund um das Herz der Nordmarken möglichst still zu halten. Dass wir nun hier, in aller Öffentlichkeit, weit außerhalb des berufenen Rahmens der Ermittler, über diese Angelegenheiten sprechen, wird Konsequenzen haben müssen. Aber das liegt nicht in meinem Ermessen”, sprach er und ging weiter.

Ach, jetzt zog sich Travian auf das Geheimhaltungsgebot zurück, das einigen Ermittlern auferlegt worden war? Seit wann war denn der Geweihte einer der Ermittler? Davon wusste sie ja gar nichts. Und wenn er keiner der Ermittler war, wer von diesen hatte wohl ihm gegenüber das Schweigegebot gebrochen? Interessante Fragen, die sie gedachte, an berufener Stelle vorzubringen, wenn sie das hier irgendwie überstanden hatte.

“Nun, gegen die Dame Doratrava wurde Anklage erhoben aufgrund der Vorfälle hier in Lützeltal und so ist dieses Gericht nach altem Brauch öffentlich unter freiem Himmel unter dem Blick des Gerechten Herren hier zusammengetreten, wie von Alters her überliefert. Dass hier auch die Vorfälle in Albenhus diskutiert werden, liegt allein in der Verantwortung der Anklagenden, zu denen ich auch Euch zählen mag, Euer Gnaden, die die Vorfälle in Schneidgrasweiler, in Albenhus und hier miteinander verknüpft haben. Wenn es Euch lieber ist, so reden wir ab nun nur noch über die gestrigen Ereignisse hier in Lützeltal. Wie ich schon betonte, liegen die Ereignisse in Albenhus oder darüber hinaus eh nicht in meiner Gerichtsbarkeit.” Friedewald schüttelte den Kopf. “Geht oder bleibt, Euer Gnaden. DAS liegt allein in EUREM Ermessen.”

“Travian!!” rief Merle mit heller Stimme in Richtung ihres Adoptivbruders. “Travian, du kannst jetzt nicht gehen! Bitte bleib und höre dir an, was ich zu deinen Vorwürfen gegen Doratrava - und gegen mich - zu sagen habe!” Kurzentschlossen sprang die junge Frau auf und eilte ihm hinterher, um ihn am Arm zu fassen und sich vor ihm aufzubauen. Der Blick ihrer großen, braunen Augen, mit denen sie dem Geweihten direkt ins Gesicht schaute, nahm einen fast flehenden Ausdruck an. "Meinst du nicht, dass du das deiner Schwester schuldig bist... Mir hier und jetzt einmal zuzuhören?"

“Merle, verzeih mir, ich sehe nicht, dass die hiesige Zusammenkunft dazu gedacht ist, Wahrheit zu finden. Meine Anwesenheit würde diesen Prozess nur weiter legitimieren. Bevor ich zu Deinen Belangen komme, will ich zur Gütigen Mutter sprechen. Du kannst gerne mitkommen und mit mir beten”, dabei strich er sanft die Hand Merles ab.  

“Diese Verhandlung hat volle Legitimation”, bemerkte die Vögtin Witta knapp, bevor sie wieder in ihre schweigende Zuhörerrolle verfiel.

Merle schaute dem jungen Travia-Geweihten intensiv in die Augen. “Bitte, Travian, bitte bleib zumindest so lange, bis ich meine Aussage gemacht habe. Ich…”, sie schluckte hart, “es ist nicht einfach für mich, vor so vielen Menschen zu stehen und über das Geschehene zu sprechen. Auch wenn du von diesem Prozess nichts hältst, auch wenn dir Doratravas Schicksal egal ist, so bleibe doch zumindest hier an meiner Seite und sei für mich da. Höre dir an, was ich sage. Als mein Bruder. Bitte, Travian, ich brauche dich jetzt.” Sie blieb weiter vor ihm stehen, so dass er um sie herumgehen müsste, wollte er den Gerichtsplatz verlassen. Nun senkte sie die Stimme, damit nur noch er ihr vertrauliches Flüstern hören konnte: “Du hast mir eben vorgeworfen, schlecht über meinen Mann zu reden. Und von Doratrava zum Ehebruch verführt worden zu sein. Es schmerzt mein Herz, dass mein Bruder so von mir denkt und noch nicht einmal meine Sicht der Dinge anhören möchte. Bitte gib mir die Chance, darauf zumindest zu antworten. Dann magst du gehen und mich im Stich lassen, Bruder.”

“Also gut, Merle. Aber das bedeutet auch, ich werde mich zu Wort melden, wenn ich etwas höre, das ich so nicht stehen lassen kann. … Auch bei Deinen Ausführungen - in der Öffentlichkeit. Willst Du das wirklich?”

Merle legte nachdenklich den Kopf schief, als sie versuchte, in Travians Antlitz zu lesen. Ihr Adoptivbruder schien ihr verändert; unbarmherziger und kälter, strenger und selbstgerechter als je zuvor. Sie vermutete, dass all die schlimmen Erlebnisse, das grausame Tun des Paktierers in Verbindung mit Travians unerschrockener Entschlossenheit und Hartnäckigkeit, das Böse zu bekämpfen, sein Herz verhärtet hatten - oder dass er selbst es verhärtet hatte, zum eigenen Schutz verhärten musste - und fragte sich, ob er ihr jemals wieder der Bruder sein konnte, den sie kannte und über alles liebte. Dennoch nickte Merle zustimmend, auch wenn ihr dabei die Tränen über die Wangen liefen. “Natürlich. Danke, Travian”, murmelte sie mit schwacher, belegter Stimme. “Ich meine, wir müssen miteinander reden, oder? Wir sind doch Geschwister…” Noch einmal schien sie die Hand nach ihrem Bruder ausstrecken zu wollen, doch senkte sie den Arm wieder und ging stattdessen langsam zu ihrem Platz zurück.

Der Geweihte blieb an der Stelle stehen, an der ihn Merle aufgehalten hatte. Er drehte sich wieder zu Friedewald um und schloss die Augen, die Hände in die Ärmel des jeweils anderen Armes geschoben.

“Es freut mich, dass Ihr Euch entschlossen habt, zu bleiben, Euer Gnaden. Auch, wenn ich nicht allen Eurer Argumentationsfäden beipflichten kann, sehe ich Eure Ansichten als einen wichtigen Aspekt zur Klärung der Situation.” Friedewald nickte Travian zu.

Das Entschwinden

“Gut, und damit möchte ich eine Frage von Seiner Gnaden aufgreifen, nämlich die Frage danach, was geschehen ist zwischen dem Verschwinden im Herrenhaus und dem Auffinden der Tänzerin, meiner Tochter und Seiner Gnaden Rahjel. War dies eine Entführung? Hat die Angeklagte dabei Gewalt gegen die Opfer ausgeübt? Und wo haben diese Ereignisse stattgefunden? Ich möchte die Zeugen bitten, dazu Stellung zu nehmen.” Friedewald blickte zu seiner Schwiegertochter und seinem Neffen.

Doratrava, welche die Zurechtweisung Travians mit Genugtuung verfolgt hatte, wenn auch offensichtlich war, dass er keine Einsicht zeigte, verdrehte die Augen. Sie hatte nun schon mindestens zweimal über die Ereignisse in der Globule berichtet, zuletzt Lucilla von Galebfurten. Warum sagte diese eigentlich nichts? Aber sie kannte sich nicht mit dem Gerichtsprotokoll aus, vielleicht war sie einfach noch nicht dran, wie auch Tsalinde ja noch keine Gelegenheit für eine Verteidigungsrede bekommen hatte.

Auf jeden Fall blickte sie sich nach Merle und Rahjel um. Vielleicht wollten diese etwas dazu sagen, denn ihr würde man vonseiten der Anklage sowieso wieder das Wort im Munde herumdrehen.

Merle erhob sich, strich ihr Kleid glatt und schaute Friedewald respektvoll an. “Darf ich beginnen, etwas dazu zu sagen?” fragte sie mit leiser, fast zaghafter Stimme und wartete ab, fast schon damit rechnend, dass jemand sie unterbrechen würde. “Also, wenn es recht ist, dann würde ich jetzt berichten, wie es zu unserem Verschwinden aus dem Gutshaus kam und was danach passierte?”

Friedewald nickte ihr zu. “Ja, bitte! Wir sind alle sehr gespannt.”

Kurz schien die junge Frau durchzuatmen, dann begann sie mit verhaltener, aber klarer Stimme zu sprechen: “Merle Dreifelder von Weissenquell, für das Protokoll. Wie ich bereits sagte, es war keine Entführung. Sondern stattdessen ein Versuch Doratravas, mich zu schützen. Denn, was inzwischen die meisten der Anwesenden wissen”, sie verzog ihr Gesicht zu einer bitteren, unbehaglichen Miene, “mein Gemahl, der Magus Gudekar von Weissenquell, erschien zur Hochzeit seiner Schwester in Begleitung einer Frau, mit der er seit nunmehr zwei Götterläufen eine ehebrecherische Beziehung unterhält. Er kam nicht nur mit dem Ansinnen hierher, mich über diese Affäre zu unterrichten, sondern auch, weil er plante, mich und unsere kleine Tochter zu verlassen, zu verstoßen, unsere Familie zu zerstören. Das, Travian”, sie warf ihrem Bruder einen flackernden Blick mit einem halb verunsicherten, halb verletzten Ausdruck zu, “das war der Grund, warum ich ‘schlecht über meinen Ehemann geredet’ habe.” - Travian hielt die Augen geschlossen und zeigte keine Reaktion auf das Gesagte - “Es stimmt, dass ich dort im Gutshaus, bei der Besprechung, wo wir versuchten, Gudekar von der Notwendigkeit einer Seelenprüfung zu überzeugen, in einem heftigen Gefühlsausbruch zu Boden gegangen bin. Und ja, in meinem Entsetzen und meinem Zorn über das frevlerische Tun meines Mannes habe ich unschickliche Worte gebraucht, die in jeder Weise unangebracht waren. Ich bitte darum, mir dies angesichts der extremen Gefühlslage zu verzeihen, in der ich mich befand. Immer noch befinde.”

Friedewald nickte nur, hörte seiner Schwiegertochter jedoch aufmerksam zu, als wäre er bei diesen Vorfällen nicht selbst im Nebenzimmer gewesen.

Die junge Frau schluckte, um das Zittern, das mehr und mehr von ihrer Stimme Besitz ergriffen hatte, unter Kontrolle zu bekommen, warf einen langen, warmen Blick zu Doratrava und sprach dann langsamer, ruhiger und deutlich gefasster weiter. “Doratrava ist meine Freundin. Ich habe sie sehr lieb. Wir haben uns vor zwei Tagen bei der Nachtwanderung kennengelernt und gleich festgestellt, dass wir uns sympathisch sind und viel gemeinsam haben. So sind wir zum Beispiel beide in einem Waisenhaus aufgewachsen, auch wenn unsere Lebenswege danach anders verlaufen sind. Jedenfalls hat Doratrava durch den Kaminschacht gehört, wie ich mich… aufgeregt habe, also wie ich weinend und schreiend zusammengebrochen bin, ist zu mir geeilt und hat versucht, mich aus dieser für mich aufwühlenden, unerträglichen Situation herauszuholen. Doratrava trägt als Halbelfe magische Kraft in sich, was nicht ihre Schuld und an sich kein Verbrechen ist, oder sehe ich das falsch? Jedenfalls hat sie - instinktiv und unbeabsichtigt - anscheinend einen Zauber gewirkt, der uns aus dem Herrenhaus heraus an einen anderen… Ort versetzte. Uns und seine Gnaden Rahjel. Es war ein seltsam flaches, nebliges Land im Zwielicht, das augenscheinlich nicht mehr zu Dere gehörte. Wir drei haben vermutet, es wäre eine Art… Feenwelt? Ähm, mit diesen Dingen kennen sich andere sicherlich besser aus…” Merle hob ratlos die Schultern, als sie fragend in die Gesichter der Versammelten blickte, auf der Suche nach so etwas wie Verstehen oder Zustimmung. Und tatsächlich nickte ihr der Feenfreund Rionn unterstützend zu und der Schmetterling flatterte mit seinen Flügeln, bevor Merle fortfuhr. Eine Gans am Himmel gackerte frech. “Jedenfalls haben wir versucht, von dort wieder weg und nach Hause zu gelangen, zumal wir in dieser Nebelwelt nicht allein waren. Da war eine Art… Wesen, das uns nicht wohlgesonnen war, sondern sich anscheinend von Angst und Schmerz nährte… Es hat mit uns in unseren Gedanken gesprochen, wollte uns nicht fortgehen lassen, uns zu seiner Erquickung dort behalten. Es wollte, dass wir uns gegenseitig weh tun.” Jetzt öffnete auch Travian die Augen und beobachtete Merle sowie Doratrava prüfend. “Das war schon sehr beängstigend. Und je mehr Angst wir fühlten, umso fester schien uns der Griff dieses Wesen zu umklammern.” Merle schloss kurz die Augen. Sie war sich nicht sicher, ob sie zuviel gesagt und damit Doratrava vielleicht geschadet hatte, auch widerstrebte ihr, über das nun Folgende zu sprechen, war es doch eine private Sache zwischen ihr und Doratrava, vielleicht noch Rahjel; war sie sich ihrer eigenen Gefühle doch selbst nicht sicher. Dennoch atmete sie ein weiteres Mal tief durch und fuhr in ruhigem, leisen Tonfall fort: “Wir befanden uns also an einem fremdartigen Ort, fernab von Dere; wir wussten, dass dieses Wesen, das dort lauerte, sich an Gram, Leid und Zwietracht ergötzte. Deshalb mussten wir, um den Griff des Biests lösen zu können, Freude und Harmonie erfahren. Positive Gefühle, Glück. Dies gelang uns gemeinsam, durch das segenreiche, heilige Wirken der Schönen Göttin und unter dem Schutz, der Anleitung und Mitwirkung eines ihrer Diener, Seiner Gnaden Rahjel, so dass wir drei - wenn auch mit kleineren und größeren Verletzungen, denn diese Kreatur hat im letzten Moment noch mit Gewalt versucht, uns dort festzuhalten - den Bann brechen und diese sonderbare ‘Welt’ verlassen konnten. Am Quellsee fanden wir uns dann wieder.” Merle versuchte, sich allein auf Doratrava zu konzentrieren und nicht in die Gesichter der anderen Zuhörer zu blicken, fürchtete sie sich doch davor, was sie darin sehen würde.

Praiogrimm hatte Merles Ausführungen mit mehr und mehr werdender Spannung zugehört und dabei schließlich das Mitschreiben vergessen. Erst als Friedewald ihn kurz an den Ellenbogen stieß, beeilte er sich, das Gehörte zu Papier zu bringen.

Doratrava schenkte Merle ein warmes, wenn auch etwas verkrampftes Lächeln, konnte sie sich doch denken, was Travian aus dieser Geschichte machen würde. Nichtsdestotrotz spürte sie ein wohliges Kribbeln im Bauch, wenn sie an diese Episode ihres ... "Ausflugs" zurückdachte. Es war nicht alles schlecht gewesen gestern.

Travian blickte die Gauklerin prüfend an, die wohl aus diesem Grund die Ereignisse nach dem Verlassen des Kaminzimmers aussparte. Es hätte genauso gut ein Dämon sein können, der von ihr Besitz ergriffen und die Gemeinschaft geleitet hat. In jedem Fall war es für alle drei gefährlich, wenn nicht auch für weitere Unbeteiligte. Wie oft mag das schon passiert sein? Gab es bereits Opfer? Dazu der Bruch des Traviabundes. Das wohlige Grinsen im Gesicht der Gauklerin zeigte, dass das Liebesspiel mit Merle zu ihrem Gefallen war.

“Und genau das ist der Grund, weshalb es die Gilde gibt und weshalb nur jene zaubern sollen, die unter der Aufsicht der Gilde das Zaubern erlernt haben. Diese ‘Person’ ist eine Gefahr!”, entfuhr es Rondrard. “Sie weiß ja selber nicht einmal wann, wie und wo sie zaubert, wie sie vorhin selbst gesagt hat. Ich sage: die Magie gehört ihr ausgebrannt!”

“Moment, Moment, Moment, Moment!” Versuchte Friedewald vergeblich der sich anbahnenden Diskussion Einhalt zu gebieten.

“Und weil ich gut mit Dolchen umgehen kann, wollt Ihr mir da auch die Hand abhacken?”, entfuhr es Doratrava wütend. Sie merkte deutlich, dass es mit ihrer Beherrschung nicht mehr weit her war, und biss sich auf die Lippen, weil ihr Verstand wusste, dass sie sich mit solchen Ausbrüchen keinen Gefallen tat. Aber wie so oft blieb für ihren Verstand mal wieder nur der zweite Platz.

“Keine schlechte Idee”, antwortete Rondrard kühl.

“Jetzt reicht es!” Friedewald donnerte mit der Faust auf den Tisch. “Urteile fällt und Strafen verhängt immernoch ausschließlich das Gericht! Auch wenn das hier nicht in jedermanns Schädel passen mag: in diesem Prozess bin ich der legitime Vertreter des Gerechten Herren Praios.”

"Doratrava kann doch nichts dafür, dass sie nun einmal eine Halbelfe ist!", rief Merle aufgewühlt in Rondrards Richtung, während sie sich insgeheim vorwarf, Doratrava durch ihre Aussage noch tiefer ins Unglück gerissen zu haben. Inzwischen liefen wieder bittere Tränen über ihre Wangen, die sie fahrig abwischte. "Ja, vielleicht muss sie lernen, die Zauberkraft besser zu kontrollieren, die in ihr ist. Ich meine, eventuell kann ihr Ihre Hochgeboren von Rodaschquell dabei zur Seite stehen oder andere Elfen...?" Hilfesuchend blickte die junge Frau zu Liana.

Liana sah den Blick Merles. Und erwiderte ihn. Sie wirkte traurig, wissend - und selbst gleichermaßen hilflos.  

Travian empfand Mitleid für seine Schwester. Hoffte er doch inständig, dass Merle hier die ganze Wahrheit erzählt hatte, und nicht nur wieder eine verkürzte und geschönte Version der Ereignisse wie zuletzt von der Tänzerin gehört. Prüfend blickte er zu Friedewald. Würde Friedewald diese Person, die nach der letzten Aussage, bei unkontrollierten Handlungen, getrieben von bösartigen Kräften, eine Gefahr für Leib und Leben der Mitmenschen darstellt, einfach ziehen lassen? Was wäre, wenn “unbeabsichtigt” eine hilflose Person von ihr fortgetragen würde? Wie oft war das schon passiert? Und welche Macht hatte dieses Wesen auf die Gauklerin? Wirkt sich der bösartige Willen auf die Taten auf Dere aus? Von welchen dieser Taten hatte die Tänzerin ganz oder teilweise Erinnerungen verloren? Sehr, sehr beunruhigend. … Doch Travian blieb ruhig. Er zeichnete das Symbol der Gütigen mit der rechten Hand in die Luft und küsste sanft den Rücken seines Zeigefingers. Er würde es in einem Bericht verfassen und an die Kammern senden. Sicherlich würde Friedewald, überfordert von der gesamten Situation, seine Unruhe mit einem weiteren großen Schluck Wein betäuben. Schlussendlich würde er die Verantwortung dafür tragen, wenn nach einer solchen Enthüllung, keine Taten folgten.  

Doch Friedewald verfolgte die Ausführungen mit hoher Konzentration und machte keine Anstalten, weiter Wein zu trinken. Im Gegenteil, als Harka einen frischen Krug des edlen Gesöffs brachte, winkte er ab und warf ihr kurz “Wasser!” zu.

“Hier schließen sich für mich mehrere Fragen an”, resümierte der Richter. “Zum einen, bezüglich des Wechsels in diese, ähm, nun, wie hast du es genannt? In diese Feenwelt. Und inwiefern dieser durch Einsatz von Magie erfolgte, beziehungsweise welcher Natur diese Magie war. Dazu würde ich gleich gerne Ihre Hochgeboren Liana Morgenrot von Rodaschquell befragen, wenn Ihr mir diese Ehre erweist?”

Die Elfe schloss ihre Augen, als Friedewald sie direkt ansprach, und saß weiterhin regungslos an ihrem Platz. Insgeheim hatte sie gehofft, dieser Kelch würde an ihr vorbeigehen. Sie hatte falsch gelegen, wie ihr nun schmerzlich bewusst wurde.

Nach einer kleinen Weile, die jedoch zu kurz war, um als unhöflich zu gelten, gab sie wieder ihre strahlenden Amethyste preis.

“Wenn ich behilflich sein kann, Licht ins Dunkel zu bringen in dieser Angelegenheit, so will ich es tun”, sagte sie schlicht.

Der kleine Stein in der Mitte des mondsilbernen Diadems, das sie wie so oft auch heute trug, hatte sich langsam, sehr langsam, verdunkelt. Er war nun fast so schwarz wie ein Onyx - was jedoch nur sehr aufmerksame Beobachter bemerkt hatten.

“Habt Dank, Eure Hochgeboren. Doch zuvor”, fuhr der Edle fort, “habe ich noch eine Frage an die, ähm, Begleiter der Dame Doratrava in diese Feenwelt. ”Euer Gnaden Rahjel, Junge Dame von Weissenquell, dieses Wesen, das Euch dort angegriffen und verletzt hatte, wurde dies von der Dame Doratrava herbei gerufen, kam es von selbst, oder war es bereits dort, als Ihr diese Welt betratet?”

Merle räusperte sich, im Versuch, die Fassung zu wahren und ihre Stimme in den Griff zu bekommen. "Ganz genau kann ich das nicht sagen", antwortete sie nach kurzem Zögern und starrte ins Leere, um sich an Details dieser ‘Reise’ zu erinnern, die sich im Nachhinein fast so surreal anfühlte wie ein Traum. "Doch hatte ich schon den Eindruck, dass das Wesen, es nannte sich 'Thu', glaube ich, bereits Teil der Feenwelt war. Wir sind ja zuerst eine Zeit lang über diese Ebene gelaufen, da waren viele kleine Blumen, gelbe und blaue - und plötzlich hat sich eine der Blüten geöffnet und ein Auge uns angestarrt." Die junge Frau verzog das Gesicht, als sie an das unheimliche, glotzende Froschauge dachte. "Da haben wir gemerkt, dass wir in dieser Welt nicht allein sind, dass da etwas lauert... Außerdem hab ich aus dem Augenwinkel bemerkt, wie sich in dem Nebel was bewegt, schnell um uns herumhuscht... Und kurze Zeit später ist dieses 'Thu'-Ding aufgetaucht." Merle schaute ihren Schwiegervater mit zwar tränennassem, aber festen Blick an. "Jedenfalls denke ich nicht, dass Doratrava ein Wesen herbeirufen würde, das ihr mit seinem Tentakelarm - oder was auch immer das war - bei unserer Flucht das halbe Bein zerfetzt."

Ach, wenn seine Schwester doch nur wüsste … Paktierer rufen nie kleine, freundliche Lämmer herbei. Nein, sie sehnen sich nach den Mächten der Unwesen, die sie ebenso vernichten könnten. Und in diesem Dilemma bewegen sie sich, bis sie in die Niederhöllen gerissen werden.

Doratrava konnte Rondrard und Travian die Gedanken förmlich ansehen, die bei Merles Bericht und Erklärungen in ihrem Kopf herumschwirrten. Dennoch war es besser gewesen, ihre Freundin sprechen zu lassen, denn ihr selbst glaubte man auf Seiten der Anklage sowieso kein Wort und hätte jedes Zögern, jede vermeintliche Ungenauigkeit, jede vermutete Auslassung, jede Aussage, in die man mehr als eine Bedeutung hineindeuten könnte, wenn auch im Zweifel mit Gewalt, in eine neue Anklage gegen sie verwandelt. Sie hoffte, dass man Merles Worten mit wenigstens ein bisschen mehr Unvoreingenommenheit begegnete.

Da stand Travian nun und blickte die Angeklagte an. Ganz ohne Zweifel, ihre Sprachlosigkeit, ihre Zurückhaltung zeigten, dass das Gericht sie ertappt hatte. Und das, obwohl sie zuvor mit Auslassungen, Ungenauigkeiten und gespielter Zurückhaltung ihre Geschichte schönfärben, die Gefahr, die von ihr ausging, verheimlichen wollte. Er würde prüfen müssen, ob er daraus zu gegebener Zeit eine andere Anklage wandeln sollte. Eine Gans schnarrte zufrieden am Himmel.

Als dann in der Ferne das Wiehern eines Pferdes zu vernehmen war, nahm der Rahjageweihte Rahjel es als Zeichen aufzustehen und sich zu Worte zu melden. Lange hatte er gewartet und seine Stimmung war auf und abgegangen von den gesagten Worten gegen die Angeklagte. Doch noch konnte er nicht seinen aufgestauten Emotionen freien Lauf lassen, denn wieder nahm die alte Baroness von Immergrün die Hand des Geweihten sanft in ihre und deutete ihm, sich wieder zu setzen. Kurz schaute er verwundert, doch fügte er sich dem Wunsch der Adligen. Caltesa pochte dreimal mit ihrem Gehstock auf den Boden und sprach dann. “Verzeiht, Edler von Lützeltal, dass ich nun das Wort ergreife. Doch bat mich seine Gnaden Rahjel, ihm beizustehen in dieser ´gerichtlichen´ Angelegenheit.” Die stark geschminkte Edeldame mit ihrem aufgetürmten violetten Haar und ausladendem Dekolleté schaute würdevoll in die Runde.

“Es ist mir eine Freude, Euch das Wort zu erteilen, Eure Wohlgeboren”, erklärte Friedewald mit der gebotenen Höflichkeit. Dann flüsterte er leise zu Praiogrimm hinter vorgehaltener Hand: “Baroness Caltesa von Immergrün.”

“Es wurde offenbar vom Richter vergessen, mich vorzustellen, so dass ich es nachholen werde, für alle, die nicht wissen, wer ich bin. Mein Name ist Baroness Caltesa Imelda von Immergrün, Botschafterin der Reichskanzley zu Elenvina. Als Dienstälteste in Rechtsangelegenheiten würde sicherlich mir der Vorsitz als Richterin zustehen, denn an Erfahrung und Kenntnissen würde sich hier kaum einer mit mir messen können. Dennoch respektiere ich den Wunsch des Edlen, seinen Pflichten für das Reich nachzukommen, auch wenn es sich hier nur eine Gemeine handelt und dies meiner Meinung nach eindeutig ein Fall für das Kirchengericht wäre.”

Praiogrimm schüttelte den Kopf und tuschelte zu Friedewald, allerdings nicht leise genug, dass nicht auch andere dies hören konnten. “Sie irrt, das Kirchengericht ist nur für kircheninterne Streitfälle zuständig.”

“Lasst sie einfach weiterreden, Praiogrimm”, wiegelte Friedewald ab.

Kurz hielt Caltesa inne, sprach dann aber weiter. “Seit Jahrzehnten diene ich dem Reich, war an unzähligen Gerichtsverhandlungen beteiligt, habe Friedensbündnisse zwischen zerstrittenen Parteien geschaffen und habe dazu beigetragen, dass die Nordmarken stärker sind denn je. Ich weiß zu dienen im Namen der Gerechtigkeit. Und so möchte ich Euch einen guten Rat geben, Wohlgeboren Friedewald von Weissenquell. Denn nur profanes Wissen kann sicherstellen, welche Gesetzesgrundlage und welche Instanz hier Befugnis hat. Ich gehe davon aus, dass Ihr wisst, die weltlichen von geistlichen Angelegenheiten zu trennen und dementsprechend zu bewerten. Und Ihr seid eindeutig nur für die Weltlichen zuständig. Ich erkenne mit Wohlwollen, dass Ihr nun den Wein mit Wasser getauscht habt. Auch wenn der Rausch durchaus etwas göttinnengefälliges ist, gilt es nun einen klaren Kopf zu behalten, um hier Recht zu sprechen und alte Gewohnheiten zur Seite zu legen. So biete auch ich Euch meinen Rat an, solltet Ihr ihn benötigen. Aber um zu einem Ende zu kommen möchte ich euch alle wissen lassen, dass ich als hochrangige Adlige den Antrag der Geweihten Rahjel von Altenberg und Rionn unterstütze.”

“Ihr irrt, Eure Wohlgeboren”, widersprach Praiogrimm ungefragt. Mit monotoner Stimme erklärte der Dorfschulze: “Nach den Rechten des Raulschen Reiches, festgehalten im Codex Raulis und ergänzt in diversen Traktaten und Verträgen, wie dem Ius Concordia, dem Garether Pamphlet und der Ochsenbluter Urkunde, um nur die bekanntesten Werke diesbezüglich zu nennen, obliegt die Gerichtsbarkeit ausschließlich dem weltlichen Herrscher des Landes, auf dem eine Tat vollbracht und zur Anklage gebracht wurde, vom Rang her gestuft nach der Schwere der Anschuldigungen, über die wir hier entscheiden wollen. Dies gilt selbst dann, wenn es sich um Verbrechen wider die Zwölfe handelt. Ein Kirchengericht ist lediglich dann zuständig, wenn es sich um kircheninterne Streitigkeiten handelt, ein Gildengericht ausschließlich dann, wenn der Beschuldigte Mitglied einer der drei anerkannten Gilden ist. Das Gerichtsregal obliegt hier ausschließlich dem Edlen von Lützeltal, Friedewald von Weissenquell, solange nicht die Zuständigkeit eines übergeordneten Gerichts festgestellt wurde.”

“Habt Dank, Meister Waldgrun.” Friedewald wandte sich seiner Tante zu. “Trotz der ausführlichen Ausführungen meines Assistenten, bin ich Euch, Tante Caltesa, für Euer Angebot zur Unterstützung äußerst dankbar und werde bei Bedarf darauf zurückgreifen. Dass Ihr den Antrag seiner Gnaden unterstützt, nehmen wir selbstverständlich wohlwollend zur Kenntnis. Doch nun würde ich gerne den Ausführungen seiner Gnaden, meines Neffen Rahjel von Altenberg zuhören.”

Nun endlich erhob sich Rahjel und ließ dabei ´zufällig´ sein Gewand von der Schulter fallen, so dass er nun mit nacktem Oberkörper vor allen stand. Seinen wohlgeformten Leib mit der Rosentätowierung hatte er vor der Verhandlung mit Mandelöl eingerieben, das ihm nun einen gesunden und schönen Glanz verlieh. Er strich sich kurz durch das volle braune Haar und lächelte in die Runde. “Im Namen der Liebholden und Friedfertigen danke ich Euch für Eure Unterstützung, Baroness von Immergrün.” Nochmals machte er eine Pause und war sich sicher, dass das Licht des Tages sein schönes Gesicht betonte. ”Merle von Weissenquell wurde entführt … doch nicht nur sie.” Sein Blick wanderte zu Doratrava. “Auch die Angeklagte wurde entführt, von einer Wesenheit, die ich den Feen zusprechen würde. Meine Person wurde tatsächlich nicht entführt, sondern von der Liebholden Rahja persönlich mitgeschickt, um beide zu retten!” Nun schaute er den Traviageweihten an. “Niemand kann mir hier absprechen, das Göttliche und die Mission nicht erkannt zu haben. Zu lange schon stehe ich im Dienst der Göttin der Freude.” - Bei der Gütigen, und Travian dachte schon, die Angeklagte würde sein ruhiges Gemüt überstrapazieren … Er würde Salbard zu dieser Person zu gegebener Zeit befragen, dachte Travian. Erinnerte er sich doch nur zu genau an die Demonstration der Verspeisung einer Bananas an traviagefälliger Tafel. Seine orange Robe schlug eine krauselige Falte. Wie gern würde er jetzt das Schnattern einer Gans am Himmel hören. - Rahjels blauen Augen richteten sich nun an Friedewald. “Ich gehöre der Gemeinschaft zur Förderung der Heilung an Körper, Geist und Seele von Kriegsopfern und Heilungssuchenden zu Ehren der Hoffnungsvollen Schwestern Travia, Tsa, Peraine und Rahja an, sprich den Vierschwesternorden. Ich habe mich in meiner Tätigkeit als Geweihter in der Heilung der Seele im Sinne der Liebholden geschult und kann durchaus erkennen, wenn diese in Gefahr ist und was es zu tun gilt. Zum Unglauben einiger hier ist dieser Fall durchaus etwas für die Domäne der Rahja und der Tsa, so steht doch der Seelenfrieden im Vordergrund. Auch kann ich schwören, dass hier keine Beherrschung eines Dämons vorliegt, dies wäre mit dem Wirken der Göttin offenbart worden. Mit heiliger Handlung der Liebholden ist es mir gelungen, uns alle drei wieder sicher nach Dere zu bringen.” - Bei der Vorstellung einer solchen heiligen Handlung mit einer Frau im Traviabunde blieb dem jungen Travia-Geweihten die Spucke weg. Es brauchte drei kräftige Räusperer, um wieder ohne Kratzen im Hals atmen zu können. - “Ich bin mir sicher, dass dieser Fall nichts mit dem ´Pruch´ zu tun hat. Ich muss aber zugeben, dass Gefahr besteht … allerdings nur für Doratrava. Ihre Seele ist es, an der das Wesen zerrt. Und deswegen muss sie in den Tempel der Rahja zu Eisenstein. Mit Rahjan Bader gibt es dort einen Experten, der ihr helfen kann.” Dann erhob er die Hand, als er schon sehen konnte, dass ihm einige ins Wort fallen wollten. “Die Rettung und Heilung ihrer Seele steht an erster Stelle. Sollte bewiesen werden, dass sie gegen weltliches Recht verstoßen haben sollte, so kann sie erst nach dem Aufenthalt im Tempel behelligt werden.” Dann setzte er sich wieder.

“Wenn ich an dieser Stelle kurz einwenden könnte”, setzte Travian vom Rand der Gruppe zu sprechen an.

“Bitte, Euer Gnaden, tut dieses”, erteilte Friedewald dem Traviani das Wort.

“Ich dachte, wir wären im Orden zur Übereinkunft gekommen, dass wir die Werte der jeweils anderen Kirche respektieren. Mich wundert, dass hier eine verheiratete Frau zum Dienst mit einer anderen außerhalb ihres Traviabundes begleitet wurde. Das entspricht nicht ganz dem, was nach meinem Verständnis vereinbart ist. Statt Seelenfrieden scheint dieser Vorgang vielmehr einen Zwiespalt in der Betroffenen ausgelöst zu haben. Sie verwirrt zu haben. Bruder Rahjel, wir sollten uns zu diesem Vorgang noch einmal unterhalten.”

Merles Kopf drehte sich zu ihrem Bruder. Ihr Blick war ruhig und gelassen, sie ließ sich keine Schuld oder Verunsicherung anmerken. “Es war ein Rahjadienst mit dem Zweck, das Dunkle und Unheilige in seine Schranken zu verweisen, unter den heiligen Tuch der Liebholden und in Anwesenheit und Mitwirkung eines Geweihten der Herrin Rahja. Ich weiß, dass es vielleicht nicht dem Göttinnendienst in einem Tempel gleichzusetzen ist, weil wir uns nicht mehr auf Dere befanden, dennoch entsprang unser Tun der Intention, den Schutz der Schönen Göttin zu erflehen und in ihrer Gnade Rettung zu erfahren - was Rahja sei Dank auch gelang. Natürlich werde ich mich mit den Geschehenen auseinandersetzen, auch mit meinen Eltern darüber reden und mich selbst der Frage stellen, inwieweit ich mich gegenüber meinem Ehemann und der Gütigen Mutter versündigt habe - und selbstverständlich werde ich jede mir dafür auferlegte Buße demütig annehmen. Dennoch - unsere Absichten waren reinsten Herzens und unsere Handlungen aus der extremen Notlage geboren, in der wir uns befanden.”

Friedewald beobachtete den Wortwechsel zwischen Merle und Travian einen Moment und deutete dann zu Praiogrimm, dass er diesen Disput unter Geschwistern nicht aufzeichnen sollte. Er selbst ließ den beiden Zeit, sich auszusprechen.

Praiogrimm blickte daraufhin auf den Anfang des aktuellen Pergaments und zerriss dieses dann.

“Was leider nicht darüber hinweghilft, dass an diesem einst traviagefälligen Tag, zu diesem einst traviagefälligen Fest, der heilige Schwur eines Traviabundes vielleicht über die Maße gedehnt wurde. Dies scheint hier in jüngster Zeit gehäufter vorgefallen zu sein, was erklären könnte, warum der Widersacher der Travia über diesen Ort so viel Macht erlangen konnte”, sprach Travian, halb in Gedanken.

Merle sprach ihren Bruder jedoch direkt an, mit leiser, aber sehr eindringlicher Stimme. “Mein Mann Gudekar hat bereits vor zwei Götterläufen unter dem Einfluss eines Feenzaubers gesündigt. Dies habe ich ihm verziehen, unter anderem, weil er nichts für die Situation konnte, in die ihn äußere Umstände brachten. Und auch wenn es natürlich keine Entschuldigung oder Absolution ist - Doratrava und ich waren in einer seltsamen, fremdartigen Feenwelt, in der Gewalt eines beängstigenden Wesens… der heilige Rahjadienst erschien uns in dieser Situation als der einzige Weg, das unheilige Gezücht zu bekämpfen und in unsere Welt zurückzukehren. Somit war es vielleicht ein Pfad, auf dem ich in Travias Augen gesündigt habe - hier bitte ich jedoch die Taten meines Gemahls mit in die Waagschale zu werfen - auf jeden Fall war es der einzige Weg, den wir hatten. Und Dank des Segens der guten Göttin Rahja hat dieser Weg uns nach Hause zurückgeführt.”

“Zweimal Unrecht ergibt also Recht”, grummelte Rondrard leise vor sich hin.

“Mir scheint, wenn Deine Worte wahrhaftig sind, dass der Wille der Feen hier mehrfach etwas nach Dere getragen hat, was wider der Gebote der Gütigen Mutter war. … Vielleicht stehen wir hier keiner Verbindung mit den Gegenspielern der Göttin gegenüber”, sprach er in Richtung Rahjel und Rionn. “Ein Pakt mit einer dunklen Fee kann allerdings auch gefährliche Triebe entwickeln. Mich würde interessieren, inwiefern die hier Anwesenden das glauben ausschließen zu können.” Dann wieder zu Merle: “Und auch, warum Du nicht einen Dienst an der Gütigen Mutter gewählt hast, statt eines Dienstes an der Lieblichen. Als Tochter eines Traviatempels, als Frau in einem Traviabunde, wäre das nicht viel naheliegender gewesen?”

Ruhig erwiderte Merle den Blick ihres Adoptivbruders. "Weil wir in einer nebligen Einöde waren, wo uns weder eine traviagefällige Mahlzeit oder ein wärmendes Herdfeuer zur Verfügung standen, wohl aber glücklicherweise ein Geweihter der Schönen und sein gesegnetes Tuch.” - “... wohl aber die Verführung durch das Fleisch des anderen?”, ergänzte Travian halb murmelnd den Satz seiner Schwester. - “Außerdem”, fuhr Merle fort, ohne sich von Travians Einwurf irritieren zu lassen, “...ging es ja gerade darum, die Angst und Pein, die das Wesen in uns wecken wollte, durch schöne Gefühle der Liebe und des Glückes zu ersetzen, um den Griff, der uns festhielt, zu durchbrechen.” - “Und hat Dir die Gütige keine Liebe und kein Glück in Dein Leben gebracht?”, fragte der Geweihte mit trauriger Stimme. - Merle seufzte. “Natürlich! Aber wir mussten da sehr schnell weg. Und Doratrava musste sehr schnell Freude und Harmonie erfahren. Dies gelang uns nur, weil wir durch Rahjels Hilfe den Segen Rahjas auf uns herabziehen konnten. Das hat uns gerettet, davon bin ich fest überzeugt. Und letztendlich sind doch alle Zwölfgötter Geschwister und Verbündete im Kampf gegen das Böse, oder etwa nicht?”

Rondrard verdrehte die Augen und dachte: ‘So so, der Zweck heiligt die Mittel.’

“Das sind sie. Und aus eben diesem Grund hätte Dein Traviabund respektiert werden müssen, und Ruhe und Wärme durch ein Gebet an die Gütige in diesen dunklen Moment gebracht werden können. Du erinnerst Dich doch an die Gebete an die Gütige?”, fragte Travian nun mit prüfendem Blick.

"Natürlich erinnere ich mich", entgegnete Merle mit einem leicht angestrengten Unterton, "doch war es in dieser speziellen Situation, nach unserer Einschätzung und speziell der Seiner Gnaden Rahjel sehr viel naheliegender und auch aussichtsreicher, die Unterstützung der Liebholden anzurufen. Ich bitte dich, Bruder, da meiner Aussage zu vertrauen." Ernsthaft schaute sie ihm in die Augen. "Auch wurde mich stets gelehrt, dass der rahjagefällige Göttinnendienst in einem Tempel oder mit einem Rahjageweihten keinen Verstoß gegen einen Traviabund darstellt. Das siehst du doch auch so, oder nicht?"

Dazu schwieg der Traviageweihte. Er hatte genug gehört. Schon immer gab es einen gewissen Zwiespalt zwischen der Gütigen und der Lieblichen. Aber er hätte in diesen Zeiten doch mehr Achtsamkeit von seinem Bruder erwartet. Und auch von Merle. Was würden nur Mutter und Vater davon halten …

Merle biss sich frustriert auf die Unterlippe. Sie sah Enttäuschung, ja fast Abscheu in Travians Miene, und obwohl es sie verletzte, dass ihr Bruder ihr Verhalten derart verdammte und anscheinend als so viel schlimmer empfand als Gudekars jahrelangen Betrug und Ehebruch, seine schamlosen Lügen und Demütigungen, sein Vorhaben, die eigene Familie einfach so zu verlassen, weil ihm eine andere Frau besser gefiel - hier schien der Geweihte einen blinden Fleck zu haben oder absichtlich die Augen zu verschließen, schien vor allem oder ausschließlich in Doratrava und ihr die Sünderinnen sehen zu wollen - so sehr sie sich über Travians Engstirnigkeit und Prüderie ärgerte, so sehr traf sie seine Ablehnung auch bis ins tiefste Mark, tat ihr sein schlechtes Urteil über ihr Tun doch im Herzen weh. Ja, ihr war die Meinung ihres Bruders wichtig; sie sehnte sich nach seiner Anerkennung, seinem Verständnis, seiner Liebe. Aber, machte sie sich klar, während sie noch einmal versuchte, die Tränen herunterzuschlucken, es ging hier nicht um sie selbst und ihren Bruder, auch nicht um ihre Beziehung zur Gütigen Mutter Travia - es ging zunächst einmal um Doratrava und deren Schicksal, deren Leben und Zukunft. Merle schaute zu ihrer Freundin, suchte den Augenkontakt mit ihr und fokussierte sich wieder aufs Hier und Jetzt. Tatsächlich war auch Rahjels Aussage äußerst besorgniserregend, wie er darauf beharrte, Doratrava würde irgendwie mit dem Thu-Wesen in Verbindung stehen und sei gefährlich... Angespannt, mit einem unbehaglichen Gefühl, wandte Merle sich in Rionns Richtung, als dieser seine Stimme erhob.

Friedewald hatte den Disput der beiden Geschwister mit geschlossenen Augen verfolgt. Hier wurden Dinge vorgetragen, die er eigentlich lieber nicht gehört hätte, die jedoch alles in allem betrachtet nicht unwesentlich waren. Nun, da Merle und Travian ihr Gespräch scheinbar beendet hatten, öffnete er wieder die Augen und nickte Praiogrimm kurz zu, dass er sich bereit machen sollte, wieder mitzuschreiben.

Im Hintergrund war das heisere Krächzen von Federvieh zu vernehmen, als Rionn sich erhob. Er hatte geduldig gewartet, bis die Adoptivgeschwister Travian und Merle sich ausgesprochen hatten. “Friedwald”, wandte er sich an den Edlen von Lützeltal. “Ich möchte sehr gerne noch einmal auf die Ausführungen von Frau Immergrün und von meinem Bruder im Glauben an die Zwölfe, Rahjel, sowie unseren Antrag zurückkommen. Auch das Einlenken von Bruder Travian, dass wir nicht über das Wirken des Widersachers der Gütigen Mutter sprechen, sondern um einen Einfluss aus der Feenwelt, möchte ich gerne bekräftigen. Wie ich bereits zuvor berichtet hatte, habe ich das Kaminzimmer, aus dem Rahjel, Merle und Doratrava entschwunden waren, mittels eines heiligen Rituals untersucht. Ich kann nur eindringlich bestätigen, dass dort KEIN unheiliges Wirken von Dämonen oder durch den Paktierer Pruch zu verzeichnen war. Auch gibt uns die Theorie des Sternenkundlers Hesindiard von Rickenbach zur `Limbusbreitenverschiebung´ genug Anlass, die Annahme zu bestätigen, dass der Übertritt in die Feenwelt, den uns die Zeugen beschrieben haben, NICHTS mit den Toren in den Limbus zu schaffen hat, welche durch den Paktierer Pruch initiiert worden sind. Vielmehr möchte ich die Einschätzung von Rahjel bestätigen, dass es sich um einen Übergriff aus der Feenwelt in die unsere gehandelt hat. Das bedeutet: Doratrava hat KEINESWEGS selbst Magie angewandt. Vielmehr ist sie wie Merle Opfer dieses Übergriffs von Außen geworden. Rahjel sagte ja, dass er durch den Willen der Liebholden mit den beiden geschickt wurde, um diese zu retten. Dass es nun in der Feenwelt ein Wesen gibt, dass es auf Doratrava abgesehen hat, ist KEIN Anlass dafür, sie hier anzuklagen oder gar zu verurteilen. Vielmehr bestärke ich die Forderung, Doratrava in die Obhut Rahjan Baders zu geben, damit er einen Weg mit ihr sucht, sie davor zu schützen.” Dann wandte der Tsageweihte seinen Blick zu Praiogrimm. “Auch widerspreche ich Dir, Meister Waldgrün, dass dies keine Angelegenheit der Kirchen sei. IM GEGENTEIL. Bei den Fragen rund um die Feenwelt, betrifft es Dinge, die der Ewigjungen heilig sind. Hier ist die Tsakirche zuständig. Ein Eingreifen oder ein Urteilen eines weltlichen Gerichtes ist aufs Schärfste zurückzuweisen.” Er schaute wieder zum Edlen von Lützeltal. “Ich bitte dich, Friedwald, sollte es wirklich noch Anklagepunkte geben, die der weltlichen Gerichtsbarkeit unterliegen, so verhandle diese und unterlasse es, hier Dinge zu verhandeln, die hier nicht hingehören. Und bist du dann mit deiner Untersuchung fertig, so möchte ich mit Rahjel und der Frau Immergrün deutlich darum bitten, Doratrava an Rahjan Bader zu überstellen.” Während Rionn all dies sprach, war der Schmetterling aufgeflogen und war einige Male um den Kopf des Tsageweihten geflattert und hatte sich dann auf der Schulter desselben wieder niedergelassen.  

Friedewald überlegte noch, wie er dem Geweihten klarmachen sollte, dass es hier um eine Anklage eines Adeligen gegen eine Gemeine ging und damit jegliche Entscheidung sehr wohl in seiner Autorität lag. Erst wenn er entschied, dass die Gauklerin die Obhut einer Kirche bedurfte, würden diese die Verantwortlichkeit für sie übernehmen. Doch bis er die richtigen Worte gefunden hatte, schaltete sich bereits einer der Ankläger ein.

“Also, nur dass ich das richtig verstehe, Euer Gnaden. Eurer Meinung nach ist die Entführung lediglich eine Naturkatastrophe, die theoretisch jedem von uns passieren könnte? Man geht fröhlich pfeifend und nichts Böses ahnend zum Markt und puff landet man in einer Feenwelt, aus der man nur entkommt, wenn man mit anderen Entführten Sex hat, unabhängig davon ob man verheiratet ist, oder nicht und ob die anderen Entführten dem eigenen Geschlecht angehören oder nicht?” An Friedewald gewandt: “Mit Verlaub Euer Wohlgeboren, mich wundert, wieviel Experten der magischen Künste anwesend sind, ohne dass diese der Gilde angehören. Ich jedenfalls hatte in meinem bisherigen Leben nicht die Zeit mich mit Limbusreisen, Verschiebungen oder Dämonologie zu beschäftigen.”

Die Herrin von Rodaschquell wandte sich ihm zu. Langsam. Und warf ihm einen Blick zu, der – völlig frei von jeglichem Hochmut – einfach nur ein tiefes Bedauern ausstrahlte, eine gewisse Traurigkeit. Sie sagte nichts.

“Ich hatte das erbauliche Vergnügen, mir die Ausführungen des anerkannten Sternenkundlers und Sphärologen Hesindiard von Rickenbach in dieser Sache anzuhören. Er hat das Vorgehen des Paktierers Pruch begutachtet und uns bei unseren Nachforschungen gegen diesen üblen Gesellen unterstützt. Ich nehme an, dass du die Erfahrung und Kompetenz dieses versierten Gelehrten nicht anzweifeln möchtest, Rondrard. Schnell könntest du dich der Lächerlichkeit preisgeben.” Streng erwiderte Rionn dies auf den Angriff des Anklägers. “Auch bin ich selbst ein ausgebildeter und erfahrener Exorzist. Als solcher muss ich mich mit diesen Themen auseinandersetzen, um mein Handwerk zum Wohle der Menschen und zur Ehre der Zwölfe ausüben zu können. Zweifelst du meine Kompetenz an, Rondrard? Wieviel Dämonen hast du denn schon in die Niederhöllen zurückgeschickt? Muss ich nun annehmen, dass du nicht geeignet bist, hier vor Gericht zu sprechen, weil dir die Erfahrung fehlt?” Dann wandte der Tsageweihte sich an den Edlen von Lützeltal: “Und nein! Ich sprach nicht von einer Naturkatastrophe. Ich sprach von einem gezielten Überfall, einer Entführung, initiiert durch ein Wesen aus der Feenwelt. Wenn Doratrava dafür angeklagt wird, dass sie Opfer dieses Übergriffs geworden ist, dann bist du der Nächste, Friedwald, denn dein Gut Lützeltal wurde vom Paktierer Pruch angegriffen und du und deine Familie sind Opfer des unheiligen Wirkens eines Widersachers der Zwölfe.” Dann blickte der Tsageweihte zu Rondrard. “Der Sex war eine heilige Handlung angeleitet durch einen Geweihten der Zwölfe. Wenn du die Götter beleidigen möchtest, Ankläger, dann bist du der Nächste, der auf der Anklagebank sitzt!” Aufgeregt flatterte der Schmetterling davon, als Rionn so energisch wurde.  

“Niemand hat hier vor Gericht die Götter beleidigt. Und, sofern hier keine Schlacht von Verleumdungsklagen und Gegenverleumdungsklagen entfacht werden soll, wird hier auch niemand wegen Gotteslästerung angeklagt. Bisher jedenfalls nicht.” Friedewald wirkte zunehmend genervt. Von beiden Seiten, Anklage und Verteidigung.

Rondrard ergriff wieder das Wort. “Euer Gnaden, wir sind hier vor Gericht und es ist mein gutes Recht, die Dinge zu hinterfragen. Die Verteidigung hat vorhin aufgeworfen, und der Richter scheint ähnlicher Auffassung zu sein, dass es eine Klage in absentia nicht geben kann. Aber jetzt werden Experten in absentia zur Verteidigung gerufen. Ich, im Übrigen, kenne diesen Rickenbacher nicht, vermutlich weil ich mich nicht mit der Sternenkunde befasse, und da er nicht anwesend ist, kann er die gestrigen Ereignisse nicht kennen. Wenn also Experten in absentia die Angeklagte verteidigen dürfen, dann darf auch der Hohe Herr von Albenholz in absentia klagen. Zumal er ja auch zwei Vertreter gefunden hat, die hier für ihn sprechen.”

“Der gelehrte Herr von Rickenbach wurde hier keinesfalls als Zeuge aufgeführt”, erklärte Friedewald, “sondern wurde lediglich als Quelle des Wissens seiner Gnaden genannt, die Ihr zuvor angezweifelt hattet, Hoher Herr.”

“Was die Naivität angeht”, fuhr Rondrard fort, “die vorhin mir zugesprochen wurde, so sehe ich keinen Grund, dem Wort eines Ritters ohne Fehl und Tadel zu misstrauen. Und nein, Euer Gnaden, ich zweifle nicht Eure Kompetenz an, sondern die derjenigen”, hier blickte er zur Baroness, die er bislang ignoriert hatte, “die ein Wissen vorgeben, das sie eigentlich nicht haben dürften. Was den ‘Heiligen Akt’ angeht, so wissen wir alle, so hoffe ich zumindest, dass der Herrin Rahja jedweder Zwang zuwider ist. Folglich haben es die Beteiligten freiwillig getan. Was der Herrin Rahja wohlgefällig, ist aber der Herrin Travia ein Dorn im Auge und es gibt andere Wege der Herrin Rahja zu huldigen. Viel zu oft wird sie für sexuelle Handlungen missbraucht und missverstanden und muss als Entschuldigung herhalten. Dies ist eigentlich eine Beleidigung der Herrin Rahja gegenüber. Ich gebe Euch aber insofern Recht, dass die Anleitung durch einen Geweihten diese Beleidigung wohl ausschließt. Dennoch bleibt die Frage, wie sinnvoll es sein mag, sich auf einer Queste der Herrin Travia gegen ihren Widersacher, von den Geboten der Herrin Travia zu entfernen.”

Wieder schloss Friedewald die Augen, den es schmerzte, immer wieder das Sexualleben seiner sensiblen Schwiegertochter diskutiert zu hören.

Rionn atmete tief durch, um wieder zu Ruhe und Gelassenheit zurückzukehren. “Schon gut, schon gut, Rondrard. Ich wollte deine Rechtschaffenheit und dein aufrichtiges Bemühen nicht in Frage stellen. Ich habe den Sternenkundler herangezogen, um meine eigene Expertise zu untermauern. Du beziehst Dich auf den Raul´schen Kodex, ohne dass wir Kaiser Raul in den Zeugenstand rufen müssen oder die Verhandlung solange vertagen, wie er absent ist. Was die theologische Frage zwischen den beiden Kirchen anbetrifft, so ist es eine Angelegenheit, die Travian und Rahjel bei Gelegenheit klären werden, wie Travian vorhin bereits gesagt hat.” Dann wandte der Tsageweihte sich an den Edlen von Lützeltal: “Ich bitte dich um Verzeihung für meinen Ausbruch. Die Angelegenheiten der Kirchen bitte ich jedoch auch in ihre Hände zu legen. Wende dich doch bitte den verbliebenen weltlichen Fragen zu.”

“Ich sehe hier bei Euch keinen ungebührlichen Ausbruch, Euer Gnaden”, beschwichtigte Friedewald, “doch, ob und inwiefern es sich hier um eine Angelegenheit der Kirchen handelt, und wenn ja, welcher, soll dieses Gericht ja beurteilen. Wenn wir deshalb bitte ENDLICH fortfahren dürfen?”

“Bruder Rionn, Du sagst, bei Themen rund um Feen ist die Kirche der Tsa zuständig. Es ist so einfach. Und genauso ist bei Themen gegen die Gütige Mutter Travia die Traviakirche zuständig. Es ist so einfach. Hast und Unruhe leben, brechen eines Traviabundes, überbringen verfluchter Geschenke. Es ist so einfach. Die Gütige ist in diesem Fall zuständig, nicht die Liebliche. Vielmehr will ich noch einmal betonen, dass das Wirken unseres Bruders Rahjel eine Frau im Traviabunde verwirrt hat.”

“Rahjel hat mich nicht verwirrt!” warf Merle mit einem genervten Augenrollen ein. Insgeheim war sie zwar durchaus wütend auf den Rahja-Geweihten, weil er zwischen Gudekar und seiner blöden Buhle einen Rahjabund geschlossen hatte, mitten in Lützeltal und am Ende direkt vor den Augen von Gudekars Ehefrau. Merle war überzeugt, dass so etwas nicht im Sinne der zwölfgöttlichen Harmonie sein konnte; doch gehörte dies hier nicht hin und würde Doratravas Sache eher schaden. Fast ebenso ärgerte es sie, wie Travian und dieser Ritter Rondrard ihr jede eigene Urteils- und Entscheidungsfähigkeit absprechen wollten und es darstellten, als wäre sie die ganze Zeit bloß ein willfähriger, willensschwacher Spielball anderer gewesen. So versuchte sie, Augenkontakt mit ihrem Bruder zu bekommen, um ihm einen intensiven, grimmigen Blick zuzuwerfen.

Woraufhin der Traviageweihte die Augen schloss und fortfuhr.

“Darüber hinaus ist noch nicht gänzlich ausgeschlossen, dass hier kein Pakt mit einem Wesen der Widersacherin oder einem anderen dunklen Wesen gegen die Gütige Mutter geschlossen wurde. Diese Wesen sind trickreich und haben eine bösartige Schläue”, dabei blickte er kurz zu Doratrava. “Manchmal braucht es Tage, solche Pakte, ja sogar die Besessenheit einer Person zu erkennen. Ich habe sogar davon gehört, dass Paktierende manchmal viele Monde, ja Jahre gemeinsam mit Dienern der Zwölfe wirkten, ohne dass diese es bemerkt haben. Paktgeschenke verursachen außerdem nicht in jedem Fall eine Aura ihrer Herkunft. Und könnte, Eurer Argumentation folgend, nicht jeder Paktierer behaupten, das Wesen aus der anderen Welt hätte ihn nur gerufen, seine unschuldigen Hände wären nur fremdgesteuert durch die Einflüsse von außen? Ihr macht es Euch zu einfach, Bruder Rionn”, antwortete Travian.

“Aber ich sagte ja, es ist eine Angelegenheit der Kirchen. Du hast es bestätigt”, pflichtete Rionn dem Traviageweihten bei. “Es ist zumindest ein geeignetes und göttinnengefälliges Bußwerk zu erörtern. Das will ich nicht bestreiten. Aber das möchtest du sicherlich nicht Friedwald überlassen, dass er dies bestimmt. Auch ist eine weitergehende Untersuchung des Seelenzustandes - nicht nur von Doratrava - angemessen. Aber auch das ist keine Sache eines weltlichen Gerichtes. Ich beantrage die Überstellung. Darin dürften wir uns einig sein. Und das ist keineswegs zu einfach, Bruder Travian. Das ist eine Aufgabe und eine Pflicht, welche die Kirchen sicherlich gewissenhaft erfüllen werden. Aber das weltliche Gericht kann das nicht klären.”

Travian nickte zustimmend.

Einmal mehr ging Doratrava der Gedanke durch den Kopf, dass sie sich angesichts des Gezerres um Zuständigkeiten und ihre Person beziehungsweise die Deutungshoheit, wie ihre Taten zu bewerten und überhaupt erst zustande gekommen waren, am liebsten lachend auf dem Boden wälzen würde. So aber erfüllte sie eher ein zunehmendes Gefühl der Sorge und der Ungeduld, wann dieser Prozess wohl endlich zu einem Ende kommen würde. Und nicht alles, was vor allem die Geweihten gesagt hatten, konnte ihr gefallen, auch wenn sie sich bis auf Travian unterstützend für sie aussprachen.

Doch vor allem Travians Ansichten brachten jedes Mal ihr Blut in Wallung. Es zeigte sich einmal mehr, dass man mit verbohrten Fanatikern, die keine Meinung und Deutung außer ihrer eigenen zuließen und Fakten und Tatsachen einfach nicht anerkannten, nicht diskutieren konnte. Gerade die Sache, ob denn der Liebesdienst im Namen der Rahja nicht hätte durch ein Gebet von Merle an Travia ersetzt werden können, regte sie besonders auf. Die Argumentation des Traviageweihten könnte man so in ein Bild fassen: Das wäre ja so, als wäre man im Zuge einer gefährlichen Mission von seinen Widersachern in einen Keller gesperrt worden, zu dessen Tür aber eine der Gefangenen glücklicherweise den Schlüssel hatte. Nur sollte sie diesen aber nicht benutzen, sondern eine andere Gefangene sollte einen rostigen Nagel verwenden, um das Schloss zu knacken, obwohl sie abgesehen von der Unzulänglichkeit des Werkzeuges überhaupt keine Erfahrung damit hatte. Zudem bestand noch die Gefahr, dass die Widersacher bald zurückkommen würden und daher Eile geboten war. Innerlich schüttelte Doratrava wieder einmal den Kopf. Auf so eine Idee konnte nur jemand kommen, der die Situation nicht kannte, daher nicht beurteilen konnte und auch sonst keinerlei Erfahrung im Umgang mit außergewöhnlichen Gefahren hatte.

Einen Effekt hatte die ganze Diskussion über die Natur der einwirkenden Gewalten allerdings: Doratrava war sich nun nicht mehr so sicher, was bei ihrem Verschwinden genau passiert war und ob sie das wirklich selbst und aus sich heraus ausgelöst hatte. Was die Geweihten über den Angriff eines Feenwesens auf sie vorgebracht hatten, würde möglicherweise das ein oder andere erklären, das sich ihrer Deutung bisher entzogen hatte. Nur wusste sie nicht, ob das nun besser wäre als wenn sie selbst solcherart Fähigkeiten hätte und nun ständig in Angst vor weiteren Übergriffen leben musste, denn wer weiß, ob die Rahja- oder die Tsa-Kirche - oder auch die Travia-Kirche, der Vollständigkeit halber - überhaupt die Mittel besaßen, sie vor einem mächtigen Feenwesen, das es auf sie abgesehen hatte, dauerhaft zu beschützen.

Doch einmal mehr behielt sie all diese Gedanken für sich und würde sich weiterhin darauf beschränken, Fragen zu beantworten. Soweit nicht erneut ihr Temperament mit ihr durchging.

Da meldete sich noch einmal der Traviageweihte zu Wort. “Bruder Rionn, ich denke, Du hast insofern Recht, dass es sich hier auch um eine Angelegenheit der Kirchen handelt. Ich verstehe Eure Beziehung zu den Feen. Und auch den Gedanken Rahjels, hier eine Aufgabe für den Vierschwesternorden zu erkennen. Und gerade deshalb geht es nicht ohne die Traviakirche. Der Orden sollte nicht nur als Grund genutzt werden, ungescholten gegen die Gebote einer ihrer Kirchen zu verstoßen“, dabei blickte er in Richtung Rahjel. “Der Bund hat zur Aufgabe, gemeinsam, unter Beachtung der Gebote aller vier Schwestern, zu helfen. Aus diesem Grund schlage ich einen Kompromiss vor: die Angeklagte wird zum Kloster Storchengarten überstellt. Dort wird unter dem Blick der vier Schwestern das Seelenheil der Angeklagten überprüft und so nötig oder überhaupt noch möglich, wiederhergestellt. Storchengarten ist ein guter Wirkungsplatz. Hier wurde die Gründungsurkunde gezeichnet. Alle vier Schwestern sind mit Räumlichkeiten ausgestattet. Die Vorsteherin wird uns sicher mit Kräften unterstützen. Und zu guter Letzt ist auch Rahjan Bader Mitglied im Orden. Ansonsten können wir die Zuständigkeit auch gerne nach diesem Gericht klären. In diesem Fall würde ich seine Ehrwürden Karolan aus dem Praiostempel in Weilheim ebenfalls einladen. Ich denke, auch die Praioskirche hat ein großes Interesse, zur Aufklärung beizutragen.”

Storchengarten ... Ivetta ... wenn es denn sein musste, aber Rahjans Tempel wäre Doratrava dennoch lieber. Aber ... drohte der Traviageweihte da etwa, wenn er einen Praiosgeweihten ins Spiel brachte? Für sie hörte sich das verdächtig danach an …

Nun reichte es Friedewald endgültig. “Der anwesende Klerus scheint diese Verhandlung anscheinend zu einem Konvent der zwölfgöttlichen Kirchen ausweiten zu wollen, um über die Zuständigkeiten der einzelnen Kirchen über die verschiedenen Domänen zu diskutieren. Wenn dies Eure Absicht sein sollte, so bitte ich Euch, die Hochgeweihten der unterschiedlichen Kulte hierher einzuladen, um dies in der friedlichen Abgeschiedenheit unseres lieblichen Tals in Ruhe zu diskutieren. Gerne bin ich bereit, gegen Übernahme der Unkosten für eine solche Versammlung die nötigen Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Heute jedoch geht es ausschließlich um die Frage, ob es ausreichend Belege dafür gibt, dass die angeklagte Tänzerin unerlaubte dunkle Magie angewendet hat, mit dem Paktierer Pruch im Bunde steht oder gar selbst einem Pakt mit den Dämonen der Niederhöllen unterliegt. Und auf diese Fragen möchte ich mich nun weiter fokussieren. Sollte sich für einen dieser Punkte ein Beleg herausstellen, so werde ich die Angeklagte sofort in die Obhut der Kirchen überstellen lassen und ich werde persönlich überwachen, dass sie dort wohlbehalten ankommt. Und um endlich weiterzukommen, entziehe ich hiermit allen Anwesenden, die ich nicht explizit zum Reden auffordere, das Wort. Sollte sich irgendjemand, egal welchen Standes, nicht daran halten, werde ich dies mit einer Strafzahlung belegen.”    

Travian hob die Hand.

„Habt Ihr noch etwas zu sagen, was hier nicht schon mehrfach vorgetragen wurde, Euer Gnaden?“

“Ja”, antwortete der Geweihte ruhig.

Friedewald blickte ihn auffordern an. „Dann sprecht!“

“Bitte nehmt noch auf: Steht eventuell im Pakt mit einer bösartigen Präsenz, vielleicht einer Dunkelfee. Ist eventuell derisches Werkzeug dieser bösartigen Präsenz. Habt Dank.”

Praiogrimm schaute seinen Herrn zweifelnd fragend an, doch Friedewald nickte ihm wortlos bestätigend zu. Praiogrimm schrieb etwas auf sein Pergament.

Die Einschätzung der Baronin

Friedewald atmete tief durch, als sich die Diskussion endlich beruhigt hatte. Er genoss die wenigen Momente der Stille, als alle abwartend auf den Edlen schauten. Schließlich holte er noch einmal Luft, bevor er wieder redete. “Gut, ich denke, wir haben bereits vieles über die Vorgänge im Herrenhaus und nach dem, ähm, Verschwinden der Gauklerin und ihrer Begleiter erfahren. Dennoch gibt es, sagen wir mal, unterschiedliche Sichtweisen darauf, wie oder mit welchen Fähigkeiten die Tänzerin das Herrenhaus verlassen hatte. Und über die Wesenheiten, mit denen sie dort konfrontiert wurde. Nun, es ist wohl allgemeiner Konsens, dass Doratrava eine Halbelfe ist und damit gewisse magische Fähigkeiten wohl in ihrer Natur liegen. Und wer mag sich wohl besser mit der Natur dieser Art magischer Fähigkeiten auskennen, als unser hochgeschätzter Gast, Ihre Hochgeboren Baronin Liana Morgenrot von Rodaschquell? Euer Hochgeboren, dürfte ich Euch nun bitten, mir einige Fragen zu beantworten?”

Die Elfe neigte einmal in Zustimmung ihr Haupt. Dann erhob sie sich von ihrem Platz und schritt in die Mitte. Sie mochte es nicht, im Sitzen zu sprechen. Und mehr noch: Sie wollte in die Gesichter aller blicken, wenn sie selbst sprach.

“Bitte, stellt Eure Fragen. Ich will sie beantworten, so gut ich es vermag.”

“Ich danke Euch, Euer Hochgeboren. Wir haben vernommen, dass sich die Tänzerin in meinem Haus mit unnatürlicher Geschwindigkeit bewegt hat. Es wurde vermutet, dass diese Geschwindigkeit einem Pakt mit der Rastlosen geschuldet ist. Seht Ihr dies ebenso?”

„Ich will nicht vermuten in dieser Angelegenheit", erwiderte die Baronin. Ihre Stimme klang ruhig. Neutral. „Es gibt auch andere Möglichkeiten, sich schnell zu bewegen. Ein ... Zauber ... wie Ihr sagen würdet. Ich selbst vermag ihn zu bewirken. Er ist nicht allzu schwer."

“Ist ein solcher Zauber etwas, das für Wesen mit elfischer Abstammung üblich ist?” fragte Friedewald nach. “Ich meine, auch ohne Ausbildung, könnte sie so etwas beherrschen?”

Praiogrimm half dem Edlen: “Er meint, könnte sie so einen Zauber intuitiv wirken, nennt man das glaube ich?”

“Intuitiv, ja, intuitiv meine ich”, lächelte Friedewald seinem Helfer zu.

„Elfen nutzen ihr Mandra ... ihre Astralkraft, wie ihr sie nennt ... sehr häufig intuitiv. Allerdings lernen auch wir vorher, sie einzusetzen. Von unseren Müttern und Vätern. Von unseren Geschwistern. Oder von weisen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern. So, wie man lernt, eine Laute zu spielen. Wenn man das Instrument zu führen weiß, mögen intuitiv neue Lieder entstehen. So ist es auch mit unserem Mandra.”

Sie zögerte einen Moment. Warf unweigerlich einen Blick in Richtung des Traviapriesters. Sah ihn traurig an.

„Ich weiß nicht, ob Doratrava eine Halbelfe ist oder nicht. Oder wo sie erlernt haben könnte, das Mandra fließen zu lassen. Es mag durchaus denkbar sein, dass sie keinerlei Unterweisung erhalten hat. Das wäre aus so vielen Gründen schlimm."

Ihr Blick glitt wieder zu Friedewald.

„Und so mag es sein, dass sie im Laufe der Zeit in gewisser Weise selbst einige Dinge erkannt, erfasst und entwickelt hat. Dieser ... Zauber ... ist nicht grundsätzlich üblich bei den Angehörigen meines Volkes. Manche haben Geschick darin, andere nicht. So, wie es auch unter euch Menschen jene gibt, die Dinge gut können, die anderen versagt sind."

“Zählt dazu auch die Fähigkeit, durch den – wie heißt das? Limbus? – durch den Limbus zu reisen?” fragte Friedewald nun konkret. “Oder wie auch immer eine Reise in eine Feenwelt vonstatten geht? Also, es wurde ja berichtet, dass sie in eine Feenwelt gereist seien. Ich kenne Legenden und Sagen über solche Reisen, aber in denen wurde stets von Feentoren berichtet, die an einen bestimmten, besonders magischen Ort oder ein Artefakt gebunden sind. Meint Ihr es könnte in der Macht der Tänzerin liegen, ein solches Tor bewusst oder unbewusst gezielt zu öffnen, um mit anderen da durch zu schreiten?”

Die Baronin zog ihre schmalen Brauen zusammen, als Friedewald vom Limbus sprach.

„Der ... Limbus ... oder besser: die große Leere, ist nichts, das wir als erstrebenswert erachten. Es ist ein Ort bar jeglichen Lebens. Er zehrt an uns. Ich hörte, jegliches Leben, das sich dorthin verirrt, sei wie ein Leuchtfeuer, das ..."

Angewidert schloss sie ihre Augen und neigte ihren Kopf zur Seite.

„Ich würde ihn niemals betreten, wenn mich nicht allergrößte Not zwänge. Er ist mir zuwider. Daher wüsste ich auch nicht, ein Tor in ihn zu öffnen. Menschliche Magier indes vermögen dies, wie ich hörte. So, wie es meine Ahnen einst taten. Vor so langer Zeit ... in anderen Zeiten."

Sie sammelte sich wieder.

„Was Eure Frage nach den ... Feenwelten ... und Toren dorthin anbelangt: Ich ... ich weiß nur wenig darüber. Und ich weiß zu wenig über Doratrava."

Wieder zögerte sie einen Augenblick.

„Ich war selbst in diesen Landen. Ein, zweimal. Wisset: Es gibt derer viele. Und es ist müßig, zu versuchen, ihre Vielfalt in Regeln zu bannen, die Euch verständlich sind. Das Tor dorthin, das ich kenne, führt geradewegs in diese Lande. Man reist nicht in den Limbus, um ihn an anderer Stelle wieder zu verlassen. Man schreitet wie durch eine Tür in einen anderen Raum, an einen anderen Ort. So mag es auch in diesem Fall gewesen sein. Der … Limbus …ist nicht der einzige Weg. Sogar eher der unwahrscheinlichste.”

Der vormals dunkle Stein, der ihre Stirn zierte, glomm leicht auf. Wurde langsam klarer und nahm, während sie sprach, die Farbe eines Aquamarins an.

„So, wie ich es weiß, sind solche Zugänge an wenige Orte gebunden. Und Elfen, die hier auf unserer Seite leben, sind nicht in der Lage, aus dem Nichts neue Tore in diese Welten zu schaffen. Zumindest habe ich dies noch nie vernommen. Zu fern sind diese Lande. Kein Elf diesseits besitzt meines Wissens diese Macht. Solche Tore zu öffnen ist jedoch nicht unbedingt an Mandra ... Astralmacht ... gebunden. Manchmal schon, aber nicht immer. Es gibt Tore, durch die kann ein jeder hindurchschreiten. Manchmal auch nur zu bestimmten Zeiten. Oder dann, wenn die Bewohner jener Lande es wollen."

„Einige ... wenige ... Elfen wissen, einen Blick auf diese ... Nebenwelten ... zu erhaschen. Es sind Welten, die so fremd und schön wie auch vertraut und grausam sein mögen. Wie kann ich Euch das nur beschreiben?"

Nun, da die elfische Baronin in ihrer Rede stockte, erhob sich die Galebfurtenerin und begann zu sprechen, nachdem der Edle ihr knapp zugenickt hatte.

“Wir können an dieser Stelle festhalten, dass ihre Hochgeboren von Rodaschquell, die als einzige über offenkundig fundiertes Wissen über die Völker der Fey besitzt, keine Aussage zu der Natur von Doratrava und der Quelle ihrer Magie trifft”, sprach sie nüchtern und sachlich, dann setzte sie sich wieder.

“Danke, Euer Wohlgeboren, für Eure zusammenfassende Erkenntnis.” Friedewald stimmte ihr zu, doch hatte er das ungute Gefühl, dass die Galebfurtenerin andere Konsequenzen daraus ableiten würde, als er.

Zeit des Nachdenkens

Friedewald blickte sich unter den Versammelten um, er begann, nacheinander jeden für einige Momente abschätzend zu betrachten, unabhängig davon, ob sie der Anklage oder der Verteidigung zuzuordnen waren, oder als neutrale Beobachter und Zeugen auftraten. Zuletzt blieb sein Blick bei Doratrava hängen, die er besonders lange betrachtete. Er brachte sich seine Beobachtungen am Morgen in der Zelle ins Gedächtnis, als er Doratrava provoziert und versucht hatte, sie dazu zu bringen, ihn selbst zu diesem Wesen Thu zu bringen, es ihm jedoch nicht gelungen war. Hatte sie sich da einfach gut genug unter Kontrolle? Oder konnte sie tatsächlich diese Tore nicht öffnen, wie er Lianas Aussage interpretierte? Was war es, was dort zwischen ihr und dem Ritter Rondrard geschehen war? Hatte sie tatsächlich einen Zauber über ihn gewirkt? Oder war es lediglich der Aberglaube des Ritters, der ihn das glauben ließ? Dies waren Dinge, die sie nie endgültig erfahren würden. Fakt war für Friedewald jedoch eines: es gab keine zweifelsfreien Beweise, dass Doratrava diese Dinge beherrschte und zum Bösen angewandt hatte. Dass sie der Paktiererei schuldig war, schloss er aus. Dass diese Halbelfe eine Gefahr für andere darstellte, konnte er nicht ausschließen, doch gab es auch keine Belege dafür. Da fiel ihm ein Satz ein, den ihm vor Urzeiten sein eigener Schwertvater einst gepredigt hatte, als er noch ein junger Knappe war: ‘Im Zweifel für den Angeklagten'. Er fand diese Einstellung als Jüngling falsch. Denn wenn es Zweifel gab, war dann nicht lieber eine Gefahr vorsorglich abzuwehren, bevor Unschuldige Schaden nehmen konnten, weil man einen Schuldigen laufen ließ? Doch dann erlebte er den Fall, als ein Fleischhauer angeklagt und verurteilt worden war, seine Tochter getötet und zu Wurst eingekocht zu haben. Es gab Zweifel an seiner Schuld, doch diese wurden abgetan. Der Mann wurde bei lebendigem Leibe verbrannt. Am Tag darauf wurde seine Tochter mehr oder weniger wohlauf gefunden, weil sie sich im Wald verlaufen hatte. Friedewald dachte kurz an Joleante, die über Jahre als verschollen galt und erst heute wieder aufgetaucht war. Travia hatte seine Familie nicht wirklich vergessen.

Doch die Familie des Fleischhauers lebte damals fortan in bitterer Armut und im nächsten Winter starb der jüngste Bruder des vermissten Mädchens am Hunger. Seit jenem Tag verstand Friedewald, was sein Schwertvater ihm zu erklären versucht hatte. Eine vorschnelle Strafe konnte mehr Leid verbreiten als eine ungesühnte Tat.

Und die Gauklerin? Hatte sie irgendjemandem Leid angetan? Der Edle blickte zu seiner Tochter, zu seiner Schwiegertochter. Nein, niemand war ernsthaft durch die Hand der Gauklerin zu Schaden gekommen oder durch ihre Taten. Es gab keinen Beweis, dass Doratrava dieses Wesen beeinflussen konnte oder von ihm beeinflusst wurde. Doch würde man sein Urteil akzeptieren? Anerkennen? Denn diesen Grundsatz seines Schwertvaters kannte das Gesetz nicht. Vielmehr galt, wessen Wort mehr Gewicht hatte, wer die einflussreicheren Leumundszeugen aufbringen konnte. Und dieser Grundsatz war richtig, denn wenn man nicht den Worten wichtiger Persönlichkeiten von hohem Stand, Personen, die von den Göttern in diesen Stand berufen wurden, vertrauen konnte, wem sollte man dann auf Dere noch vertrauen? Er brauchte noch eine weitere Einschätzung, jemand, dem die meisten vertrauten würden, um die richtige Entscheidung treffen zu können. Jemandem von hohem Stand und gutem Leumund. Jemanden wie Liana von Morgenrot, Baronin von Rodaschquell.

Doratrava war es müde. Diese ganze Diskussion, was sie konnte oder nicht konnte und warum sie es konnte oder nicht konnte oder welchen Einflüssen sie unterlag oder nicht unterlag und welche Pakte sie geschlossen oder nicht geschlossen hatte, verwirrte sie zunehmend. Auch die Ausführungen Lianas hatten in ihren Augen eigentlich nichts zu irgendeiner Klärung beigetragen, aber wie sollten sie auch, zumindest, wenn es über Dinge wie den Limbus ging, mit dem Elfen an sich nichts zu schaffen hatten und haben wollten, wie die Baronin ja deutlich betont hatte. Und wie sollte sie auch, da Liana sie ja gar nicht wirklich kannte, wie sie richtig bemerkt hatte. Was im Übrigen nicht an ihr, Doratrava, lag, sie hätte diesen Umstand gern geändert. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es dazu wohl keine Gelegenheit mehr geben würde, auch nicht, wenn das alles hier beendet war.

Und die "Quelle ihrer Magie" ... warum war das so wichtig? Was sollte das überhaupt sein? Was war denn die "Quelle der Magie" eines Magiers? Warum konnte ein Magier zaubern? Oder eine Elfe? Erstere vielleicht, weil Hesinde ihnen diese Gabe verliehen hatte? Aber für Elfen galt das sicher nicht ... und für maraskanische Magier, die gar nicht an Hesinde glaubten? Was war die "Quelle der Magie" einer Fee? Eines Grolms? Eines Drachen? Eines ... Dämons? Wobei ... Dämonen konnten gar nicht zaubern, soweit sie wusste, sie wurden lediglich durch Magie gerufen. Wie auch immer, sie verstand die Wichtigkeit dieser Frage nicht. War denn die Quelle der Magie eines "guten" Magiers nicht dieselbe wie bei einem "bösen" Magier? Genau wie man eine Waffe dazu verwenden konnte, einen Unschuldigen aus Gier oder Rache oder Lust oder was auch immer zu töten, konnte man sie verwenden, um einen Unschuldigen vor einem Angriff zu beschützen. Eine Waffe war ein Werkzeug, und die Nutzerin des Werkzeugs bestimmte, ob aus der Nutzung Gutes oder Böses erwuchs, und es spielte keine Rolle, wer das Werkzeug geschmiedet hatte. Und so war Magie doch auch nur ein Werkzeug, das zum Guten und zum Bösen angewandt werden konnte, egal, wer das Werkzeug bereitgestellt hatte. Also war die Frage nach der "Quelle der Magie" völlig irrelevant, so wie man einen Mörder auch nur nach seiner Tat beurteilte und nicht danach, wer seine Waffe geschmiedet hatte.

Blieb die Frage der Tat. Und da war Doratrava eben komplett der Willkür ihrer Umgebung ausgeliefert, denn obwohl sie absolut nichts getan hatte, was sie sich vorzuwerfen hatte oder was auch objektiv einen bleibenden Schaden hinterlassen hatte, reichten wilde, an den Haaren herbeigezogene Anschuldigungen, dass sie nun hier stand, gefesselt, ihrer Würde beraubt, zerpflückt, seziert, gezwungen, ihre innersten Gedanken und Gefühle vor allen Anwesenden auszubreiten und doch nur immer Hohn und Häme vonseiten der Anklage erfahrend. Wenn sie etwas sagte, das ihre Unschuld untermauerte, wurde es in Zweifel gezogen oder rundheraus abgetan, selbst wenn es Zeugen gab, die ihre Aussage bestätigten. Sagte sie etwas, das den Anschein von Unsicherheit oder "Unnatürlichkeit" erweckte, so wurde das sofort herangezogen als Beweis ihrer Unehrlichkeit und Gefährlichkeit. Und sagte sie nichts, so verschwieg sie die "Wahrheit". Also war es völlig egal, was sie sagte oder ob sie überhaupt etwas sagte, am Ende entschieden andere über ihr Schicksal, und sie konnte nur hoffen, dass ihre Befürworter sich durchsetzten.

Wobei die Anklage, namentlich Travian, die ganze Zeit versuchte, ihre vehementesten Befürworter in schlechtem Licht dastehen zu lassen. Ihre geliebte Merle musste sich die ganze Zeit anhören, dass sie angeblich verführt worden war und die Ehe brach, die ihr Mann seit zwei Götterläufen mit Füßen trat. Und sogar Rahjel als Geweihter musste sich von einem Traviageweihten anhören, wie er seiner eigenen Göttin richtig zu dienen hatte. Tsalinde wurde vorgeworfen, den Vater nicht zu seinem Kind zu lassen, als wäre das hier überhaupt relevant und komplett ohne Berücksichtigung der Umstände, warum das so war. Nivard wurde beschuldigt, einem Gefangenen Folter angedroht zu haben. Alle sollten "vergiftet" sein, eine billige Masche, um ungestraft jede ihrer Aussagen in Zweifel ziehen zu dürfen, wie auch ihre eigenen.

Warum erkannten die anderen nicht Travians Spiel? Warum unterzogen sie nicht ihn einer Prüfung, denn er konnte genauso "vergiftet" sein, wie er es allen anderen vorwarf? Warum hatte ihn Friedewald nicht längst des Platzes verwiesen, hatte er doch sogar die Legitimation des Gerichts in Zweifel gezogen? Warum hörten alle seinen unbewiesenen Anschuldigungen immer wieder und wieder zu, ohne ihn in seine Schranken zu weisen? Was würde Praios wohl zu so etwas sagen? Vielleicht hätte man doch einen Geweihten des Gottes der Wahrheit dabei haben sollen. Und wie weit war es mit ihr schon gekommen, wenn sie so etwas dachte?

Und es blieb noch die Frage, woher Travian so viel über die Interna der Ermittlergruppe und ihrer Ermittlungen wusste und aus welchem Grund er das nicht preisgeben wollte. Ob er einem Geweihten des Praios auf die entsprechende Frage wohl ebenfalls die Antwort verweigern würde? Vielleicht wäre der dann in seinen Augen ebenfalls "vergiftet", dass er es wagte, eine solche Frage an ihn, den Geweihten der Travia ohne Fehl und Tadel, die moralische Instanz erster Güte und einzig wahren Richter über Recht und Unrecht (wer war schon Praios?) zu stellen.

Eine Schar Gänse schnarrte aufgeregt am Himmel.  

Das Begehren einer Frau im Traviabunde, eine Frau im Traviabunde zum Brechen von diesem motiviert an einem der Travia heiligen Tag zu einem der Travia heiligen Fest, einen Ritter durch das Anwenden unbekannter Magie verletzt, das Unterbrechen der Seelenheilung eines Geweihten an einer Bedürftigen zur Befriedigung der eigenen Triebe, Anwenden unbekannter potentiell gefährlicher Magie im Umfeld von Familien unter Anwesenheit von Schwachen und Wehrlosen, einen Geweihten und eine Hilflose in eine potentiell tödliche Situation gebracht, in Verbindung mit einer dunklen Wesenheit stehen welche sich an Schmerz und Leid der Lebenden ergötzt, trotz Vorerfahrung ein vom Widersacher verfluchtes Geschenk in die Runde gebracht, woraufhin mindestens eine Person gestorben ist und mindestens eine den Verstand verlor, Hilflose zurückgelassen um den eigenen Rausch auszuleben woraufhin eine Person den Einflüsterungen des Widersachers der Travia erlag, trotz Aufforderung die militärische Ordnung durchbrochen und damit Leib und Leben der Gemeinschaft riskiert mit Todesfolge unter anderem für Geweihte, das Auslassen entscheidender Informationen bei einer praiosgefälligen Befragung, Beleidigung von Geweihten. Travian war sich sicher, Friedewald würde diese Person freisprechen. Dass er das einen Irrsinn fand, behielt er für sich.

Diese Verhandlung war eine Farce, ein reiner Schauprozess. Friedewald war bewusst, dass der Hohe Herr von Albenholz aufgebrochen war, weitere Gefahren abzuwenden und unheilvolle Vorkommnisse zu untersuchen. Er hätte von Anfang an mitteilen müssen, dass er dessen Klage nicht verhandeln wollte, eben weil er nicht persönlich anwesend war. Ja, er hätte die Verhandlung von vornherein für beendet erklären sollen. Aber nein, stattdessen fabrizierte er diesen Prozess nur, um hinterher sagen zu können, er habe Recht gesprochen und sich mit der Problematik befasst. Da macht es natürlich auch Sinn, wenn er es unkommentiert zulässt, dass Rondrard und seine Mutter in aller Öffentlichkeit beleidigt werden und diese noch nicht einmal eine simple Entschuldigung einfordern durften. Und es machte auch Sinn, dass er selbst Rondrard vorführte, wie einen Pagen, der zu dumm war den hohen Herren das Wasser zu reichen. Der Ritter war sich sicher, dass Friedewalds Urteil von Anfang an feststand und er die Gauklerin freisprechen würde, weil er überhaupt keine Lust verspürte, des Herren Praios heiliges Werk in aller Ernsthaftigkeit zu verrichten. Das war für alle sichtbar. Wahrlich, ein Schlag in das güldene Antlitz des Fürsten der Götter.

Ob hier wirklich „Recht" gesucht wurde? Oder gar echte Aufklärung betrieben? Liana hatte ihre Zweifel. Zweifel, welche sie von Anfang an begleitet hatten.

Sie blickte sich einmal mehr um, zuletzt auf die Dame von Galebfurten, die recht vorschnell eine Zusammenfassung geboten hatte, die dem Worte nach vielleicht richtig sein mochte, aber dennoch am Kern vorbei ging.

Einzelne Lager schienen zuvörderst darauf erpicht, sich gegenseitig das Wort im Munde zu drehen oder nach Schwachstellen zu suchen, die es auszunutzen galt. Sie schienen darauf versessen, ihre Meinungen, Ansichten, Verdächtigungen und Anschuldigungen zu verteidigen oder zu entkräften – koste es, was es wolle. Seien sie nun im Sinne der Angeklagten ausgesprochen, um deren vermeintliche Unschuld zu belegen, oder aber eine vermeintliche Schuld.

Liana fühlte sich unwohl.

Und all diese Gedanken waren nicht der einzige Grund dafür. Denn ein weiterer Zweifel keimte in ihr auf. Wuchs. Verschaffte sich Raum. Und bahnte sich letztlich einen Weg empor.

Bin ich denn selbst besser?

Dort, wo sie vielleicht hätte beitragen können, hatte sie geschwiegen. Vielleicht, weil sie glaubte, ohnehin nichts bewirken zu können in einem Gericht der Menschen.

Sinnlos … ?

Was bedeutete es, „Recht" zu sprechen. Etwa: den „Gesetzen" entsprechend? Oder um der Gerechtigkeit willen, die die Anhänger des Sonnengottes beschworen?

Sie hatte ihn einst geschworen, diesen Eid der Barone des neuen Reiches. Vor einem halben Menschenleben. Als Menschen es waren, die sie damals baten, das Reich der Mitte mit ihren Ansichten, ja ihrer Sicht auf das Leben zu ergänzen. Gewissermaßen vielleicht als eine Mittlerin zwischen Menschen und Elfen – wie einige wenige andere auch, die von ihrem Volk waren. Dieser Eid wog schwer. So, wie das Amt, das mit ihm verbunden war und auf ihr lastete. Und all die Erwartungen, die daran geknüpft waren. Sie hatte gelernt, was dieser Eid bedeutete. Und mehr noch: Wie bedeutsam er war. Elfen hatten das Salasandra. Menschen hatten Schwüre.

Es ist nicht dasselbe. Aber es ist sehr ähnlich.

Sie warf einen Blick auf die Angeklagte. Sie hegte keinerlei Groll. Eher waren da ehrliches Mitgefühl und Bedauern. Man hatte Doratrava etwas vorenthalten. Hätte sie mehr über sich und ihr Inneres erfahren, ja, wäre sie unterwiesen worden, wäre sie vielleicht nicht in diese Lage geraten.

Liana glaubte nicht, dass dieses Wesen böse war. Es trug keine Schuld daran, was es war. Doch konnte all das nicht darüber hinwegtäuschen, dass Doratrava gefährlich war. Nicht, weil sie womöglich über gefährliche Fähigkeiten verfügte, die nicht jedem gegeben waren. Fähigkeiten, die ihr vielleicht verliehen worden waren von einem machtvolleren Wesen mit eigenen Ambitionen? Das wusste Liana nicht. Tore zu öffnen war jedenfalls nichts, was Elfen oder Halbelfen taten – und schon gar nicht ohne jegliche Ausbildung. Und dass Doratrava eine Halbelfe war, schien ihr mehr und mehr unwahrscheinlich.

Nein, sie war gefährlich, weil die weißhaarige junge Frau sich nur allzu schnell verleiten ließ von dem, was sie selbst wollte. Sie handelte, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Sie war fordernd, verlangend. Sie missachtete Grenzen und Wünsche, um zu bekommen, was sie wollte. Und schnell war sie selbst dabei, ein Urteil zu fällen über jene, die taten, was ihr missfiel. Oder wenn sie nicht bekam, wonach es sie verlangte.

Dieser geradezu hasserfüllte Blick in den Raum, kurz vor Merles Verschwinden: Liana würde ihn nie vergessen. Und sie konnte nur zu gut verstehen, dass Menschen sich davor fürchteten. Sie selbst tat es auch.

Sie wusste von Elfensippen, die Angehörige aus der Gemeinschaft ausschlossen, wenn jene dieses … Drängen oder … Verlangen in sich trugen. Sie hatte versucht, Doratrava zu erreichen. Es war ihr nicht gelungen. Der Schmetterling war stets weitergeflogen. Mal in Tränen. Mal im Zorn. Hätte sie mehr tun können? Mehr tun müssen?

Ich hätte es erkennen müssen.

Liana war nicht sicher, ob all jene, die ihr zugehört hatten, verstanden hatten, was sie bislang gesagt hatte. Aber sie beschloss, nun ihrem Schwur gemäß zu handeln.

Hoffentlich war dieser Prozess bald vorbei. Nivard konnte noch immer nicht verstehen, warum Eoban und durch ihn aufgestachelt Rondrard von Storchenflug und Kalman von Weissenquell diese nichtige Anklage gegen Doratrava anstrengten. Vor allem Eobans Handeln schmerzte ihn. Wie hatte sich der Albenholzer nur so verrennen können, dass er in seinem Bestreben, die Gemeinschaft zu retten, diese nun untergrub und immer weiter beschädigte. Wenn er ihn wieder sah, musste er ihm ins Gewissen reden.

Doch er machte sich noch mehr Sorgen um Doratrava. Auch wenn hier am Ende nur ein Freispruch für sie stehen konnte, so galt doch allzu oft der Grundsatz 'Aliquid semper haeret'. Und von alldem unbenommen war da dieses merkwürdige Wesen, dieses Thu, dessen Eigenschaften noch alles andere als ergründet waren, und vor dem Doratrava, aber auch die Menschen um sie herum, unbedingt geschützt werden mussten.

Wenn es Verdíenste dieses Prozesses gab, dann war einer davon, dass sich Doratrava danach hoffentlich aus freien Stücken einer eingehenden Untersuchung unterziehen würde. Ein anderer war, dass er schonungslos offenlegte, welch starker Schaden der Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft bereits genommen hatte, durch das Tun Pruchs, aber auch ihr eigenes Wirken. Leider schien die Verhandlung die bereits bestehenden Gräben weiter zu vertiefen.

Es war daher an der Zeit, zum Abschluss zu kommen. Während sie sich hier teilweise geradezu mit Worten zerfleischten, trieb irgendwo da draußen Pruch weiter sein Unwesen - der Zerstörer des Herzens der Nordmarken, der Mörder Rondrards. Pruch und seinen Schergen musste ihr Eifer, ihr Zorn gelten, nicht ihren eigenen Gefährten.

Über Doratravas Verhör

Nachdem er seinen Gedanken nachgegangen war, wandte sich Friedewald erneut an Liana, die noch immer zur Befragung bereitstand. „Euer Hochgeboren, nach meinen Unterlagen wart Ihr gestern Abend auch beteiligt, als die Dame Doratrava nach ihrer Festnahme unter der Leitung ihrer Hochgeboren Vögtin Witta von Dürenwald“, sein Blick ging zu der unbeteiligt da sitzenden Vögtin, „befragt wurde. Ihr habt Euch dazu noch nicht geäußert. Welchen Eindruck hattet Ihr von ihr? Machte sie den Eindruck, mit dem Paktierer zu kooperieren?“

„Nein, diesen Eindruck machte sie nicht auf mich", antwortete die Baronin. „Sie hat dies energisch von sich gewiesen. Zumal sie – wenn ich es recht erfasst habe – unter einem zwingenden Bann des Herrn Adelchis stand. Einem ... sehr unangenehmen Bann." Die Art, wie sie es sagte, machte recht deutlich, was sie von dieser Art Befragung hielt, deren Zeugin sie gewesen war.

Friedewald schaute sehr skeptisch und besorgt zu Meister Adelchis.

Und auch Doratrava presste die Lippen zusammen und warf dem Magier einen giftigen Blick zu.

Dann änderte sich der Klang ihrer Stimme. Wie es ihre Art war, sprach Liana leise. Unaufdringlich. Angenehm.

Diese Stimme war eine Einladung. Ein Angebot, ihr zuzuhören. Sanft. Fast einlullend für all jene, die bereit waren, sich darauf einzulassen. Wie ein Gesang ohne klare Melodie.

„Darüber hinaus gibt es so einige Dinge, zu denen ich mich bislang noch nicht geäußert habe. Aber ich will es jetzt tun. Denn ich versprach vor langer Zeit, genau dies zu tun, wenn es geboten ist."

Ein Moment verstrich. Ein Moment, in dem sie Friedewald fest ansah. Ihr Blick schien abwartend, und zugleich auch bestimmt. Doch es lag keine Forderung darin.

Voller Erwartung blickte Friedewald auf die Elfe und lauschte ihren Worten, die sich anfühlten wie ein sanftes Bett aus Watte und die so einladend waren wie der Duft von mit Honig gesüßtem heißem Gewürzwein an einem kühlen und feuchten Herbstabend. Jedes einzelne ihrer Worte sog er wie in Trance in sich ein und verwob es mit seinen Gedanken.

„Bin ich der Ansicht, dass Doratrava gefährlich ist?" Sie schaute die ... Halbelfe? ... eine Weile an. „Ja", hauchte sie dann schlicht, und eine gewisse Traurigkeit in dem leisen Gesang war offenkundig. „Trägt sie eine Schuld an dem, was sie ist? Und sollte sie bestraft werden für das, was sie ist? Soll man sie gar ... ausbrennen ... wie Herr Rondrard es verlangte?"

Doratrava stockte der Atem, als sie Lianas Worte hörte. Der sanfte Klang ihrer Stimme perlte von der Gauklerin ab wie Wasser von manchen Dschungelpflanzen, nur die harte Bedeutung der Worte kam bei ihr an. Offensichtlich war Liana nichts daran gelegen, ihr zu helfen, sie hatte sich wohl für kompromisslose Neutralität entschieden und sagte, was sie dachte und zu wissen glaubte. Und ja, sie hatte recht, Doratrava war gefährlich, denn als Gemeine, die niemandem verpflichtet war, hatte sie lernen müssen, sich ihrer Haut zu erwehren, auch wenn man ihr das nicht ansah. Doch die Worte, so wie sie Liana wählte und der Zusammenhang, in dem sie gesprochen wurden, würden ein Fest sein für die Ankläger, die sich davon in allem bestätigt sehen würden, wog das Wort Lianas doch als Baronin und Elfe schwer - sehr schwer. Und die Ankläger würden alles, was an Erklärungen vielleicht noch folgen und die reine Aussage vielleicht relativieren würde, beiseite wischen und wieder nur das hören und verstehen, was ihnen in den Kram passte und sich erst recht im Recht fühlen. Kurz schloss die Gauklerin die Augen, wieder presste sie die Fingernägel in die Handballen, um nicht Tränen des Zorns zu vergießen.

Ihr Blick wanderte zu dem genannten. Keine Klage lag darin. Nur ehrliches Bedauern.

„Ich bin nicht der Ansicht, dass sie eine Paktiererin ist, wie einige es vermeinen. Vielleicht könnte ich Gewissheit erlangen – vielleicht nicht. Auch wenn meine Art, dies zu tun, eine gänzlich andere wäre als jene, die Herr Adelchis einzusetzen weiß.

Doch mag es sein, dass sie einst vielleicht das Interesse ... anderer Wesen geweckt hat. Was ihre besonderen Fähigkeiten erklären könnte, sofern sie diese nicht aus sich selbst heraus entwickelt hat. Das Interesse von Wesen, die „Gut" und „Böse" so wie wir es einstufen, nicht unbedingt kennen. Wenn dem so ist, stünde für mich nicht die Frage nach Doratravas Schuld im Raum, sondern vielmehr jene, wie ihr zu helfen wäre."

Abwechselnd blickte sie in die Augen ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer. Ließ ihre leisen Worte wirken.

Rionn atmete tief ein. Er hörte der Elfe aufmerksam und mit dem Herzen zu. Liana sagte mit sanfter und einnehmender Stimme, was er die ganze Zeit irgendwie erklären wollte. Es bedurfte nicht des Verurteilens. Vielmehr brauchte Doratrava womöglich Hilfe und Unterstützung. Diese erhoffte sich der Tsageweihte bei Rahjan Bader, dass er der Gauklerin helfen können würde.

‘Helfen’, dachte Travian. Das war ein gutes Wort. Die Gütige Mutter würde wissen, wie sie einem verlorenen Kind am besten helfen kann. Er würde sich Rat einholen. Sollte doch die Hilfe der Praioskirche zielführender sein, dann wäre es so.

„Und wenn sie diese Kräfte aus sich selbst heraus anwendet – und sei es unbewusst? Was dann? Ihre Herkunft mag vielleicht im Unklaren liegen. Aber die Entwicklung der ... Gauklerin? ... Halbelfe? ... wie auch immer ihr sie nennt, zeigt dann, was geschieht, wenn man einem Menschen oder Elfen verwehrt, was er braucht, wenn er Mandra in sich trägt."

Sie schaute nun Travian an. Sanft. Einladend.

„Ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass Eure Brüder und Schwestern es gut meinten, als sie das Kind bei sich aufnahmen im Namen der Travia. Das versichere ich Euch aus vollem Herzen.”

Travian auch nicht. Sie halfen einer Waisen. So wie sie auch ihm und Merle geholfen haben. Aber irgendetwas hier war anders. Diese Waise schien sich gar nicht für die Gebote der Gütigen zu interessieren. Etwas hat sie verdorben.

“Doch wäre es wohl besser gewesen, sie hätten den Rat der Kirche der Tsa eingeholt, bevor sie dies taten. Ich denke, dass jene Anhänger der jungen Göttin, wie sie geheißen wird, diesem Kind viel näher standen und ihm vielleicht eher hätten geben können, was es brauchte, um sich selbst zu erkennen. Oder sie hätten Elfen um Rat ersuchen können angesichts ihrer offenkundigen Züge. Stattdessen zogen die Diener Travias Doratrava auf in dem Sinne, wie sie es für das Beste hielten. Ohne zu berücksichtigen oder zu wissen, dass sie mehr brauchte als ein warmes Bett, eine gefüllte Schüssel und Liebe, die sie ihr gegeben haben."

Da waren sie, die Erklärungen, die Relativierungen, die Ratschläge, die niemand mehr befolgen konnte, weil es nun zu spät dafür war. Die die Ankläger als irrelevant und ihrer Sache nicht dienlich vom Tisch wischen würden.

Ja, vielleicht wäre es hilfreich gewesen, wenn sie beispielsweise bei Ise von Eisenstein aufgewachsen wäre. Für `Glöckchen´ schien das ja ein Glücksfall gewesen sein. Auf jeden Fall erahnte Rionn, dass Doratrava etwas mit dem Heiligen zu tun hatte, was unter dem besonderen Schutz der Ewigjungen stand. So musste er sie vor Schaden bewahren und behüten, wenn sie seine Hilfe annehmen wollte. Rionn spürte, dass er die Pflicht hatte, alles dafür zu tun, dass Doratrava durch dieses weltliche Gericht keinen Schaden erhalten würde. Er musste alles dafür tun, damit Rahjels und sein Vorschlag angenommen werden würde.

Und war das nicht besser, als ein Kind auf der Straße verhungern zu lassen? Die Gütige Mutter würde am Ende wissen, dachte Travian, was für das Kind das Beste ist und seine Eltern leiten. Nur den Mangel zu sehen und nicht das Geschenk, ist doch sehr undankbar. Vielleicht ist es auch dieses Urteil über ihr eigenes Schicksal, das Doratrava am Ende verdorben hat.

Erneut wanderte ihr sanfter und zugleich trauriger Blick zu der Angeklagten. Diese schaute mit brennenden Augen und unendlich enttäuscht zurück und spürte, wie sich die Tränen sammelten, die sie jetzt nicht vergießen wollte.

„Wenn diese Kräfte, deren Zeuge ihr wurdet, in ihr selbst schlummern, dann hat sie wohl niemals Unterweisung erhalten, damit umzugehen. Das ist schlimm. Dann hat sie vielleicht gespürt und instinktiv erkannt, dass da mehr ist. Wie ein Kind, dass man in eine enge, dunkle Kammer sperrt. Eine Kammer mit einem kleinen Fenster. Unerreichbar hoch, durch das es die Wolken vor dem blauen Himmel sieht – und ahnt, dass es mehr gibt als das, was es kennt. Und diese Kräfte haben sich wie ein Feuer, das auf Zunder trifft, mit der Zeit einen Weg gebahnt. Vor allem in Momenten des Zorns, wie wir ihn sahen, als sie Frau Merle zu Hilfe eilte. Denn ihr Wesen scheint mir ... ungestüm. Frei. Doch ohne ein rechtes Gespür für die Freiheit anderer."

Die Liebe der Gütigen Mutter mit einer dunklen Kammer zu vergleichen war doch sehr befremdlich, fast schon dreist in den Augen des Travia-Geweihten. Vielleicht war das die Weltfremdheit, von der man so oft im Zusammenhang mit Elfen sprach. … Aber sie hatte Recht in dem, was sie über das fehlende Gespür der Angeklagten für die Freiheit, vielleicht auch die Rechte, den Schutz, die Verletzlichkeit, die Bedürfnisse, die Bündnisse anderer sagte. Die Angeklagte war eine Gefahr.   

Sie schloss ihre Augen.

So sah Liana sie also. Was hatte Doratrava nur falsch gemacht, dass dieser Eindruck bei der Elfe entstanden war? Ja, die Gauklerin liebte und lebte ihre Freiheit, aber sie verstand Lianas Worte so, dass die Elfe der Meinung war, damit verletze sie die Freiheit anderer. Das verstand sie nicht. Und das machte es nur noch schlimmer, denn so konnte sie diesem Vorwurf nicht einmal vor sich selbst begegnen. Aber das spielte jetzt wohl auch keine Rolle, denn wenn sie aufgrund der Aussage der Elfe verurteilt werden sollte, müsste sie sich darüber wohl keine Gedanken mehr machen.

Der Edle von Lützeltal ließ die Worte der Elfe noch einige Augenblicke auf sich und die anderen Anwesenden wirken, bevor er die Wortführung in der Verhandlung wieder aufnahm. “Habt vielmals Dank, Euer Hochgeboren. Eure Einschätzung bedeutet mir viel für meine Urteilsfindung. Doch sagtet Ihr anfangs etwas, das mir durchaus Sorgen bereitet. Sein Blick wanderte zu Adelchis von Pfaffengrund, der nun etwas unruhig auf seinem Platz herumrutschte. “Ihr sagtet, die Befragung der Tänzerin habe unter einer Art Bann stattgefunden?” Friedewalds Blick wanderte zwischen Liana, Doratrava und Adelchis hin und her.

“So ist es”, antwortete die Elfe. “Doch denke ich, dass es an Herrn Adelchis ist, dies zu erläutern.”

Ihr Blick wandte sich kurz dem Magier zu.

“Darüber hinaus hoffe ich, dass ich ein wenig habe beitragen können. Ich glaube, bei der Frage nach einer vermeintlichen Schuld der Angeklagten sind zu viele Dinge noch im Unklaren geblieben oder nicht berücksichtigt worden. Dinge, die ihr meiner Ansicht nach nicht angelastet werden können.”

Das kam spät ... zu spät vermutlich. Doratrava konnte die Befürchtung nicht abschütteln, dass ihre Ankläger bereits alles gehört hatten, was sie hören wollten, und sich nur das herauspicken würden, was ihre hanebüchenen Anschuldigungen untermauerte.

Schuldig, dachte Travian.

Laut sagte sie, weil die Erwähnung des Magiers jene Szene wieder schmerzhaft in ihrem Kopf aufleben ließ: "Er hat mich regelrecht überfallen und geistig vergewaltigt." Ihre krächzende Stimme versagte, aber sie hatte eh nicht mehr dazu sagen wollen.

Friedewald schaute noch einmal besorgt zu Doratrava, bevor er sein Wort nochmals an Liana richtete. “Nochmals herzlichen Dank für Eure aufrichtige Einschätzung, Euer Hochgeboren. Ich bin gewiss, dass sie viel dazu beigetragen hat, hier eine nüchterne Sicht auf die Vorkommnisse zu gewinnen, als zuvor in der sehr emotionalen Diskussion möglich war.”

Liana nickte nur. Warf einen letzten Blick auf die Angeklagte. Sah erneut den Zorn in ihren Augen, die unterdrückte Wut. Die Enttäuschung.

Katzenzorn nannten die Elfen diesen Gemütszustand.

Schwer sog Liana die Luft ein.

Doratrava benötigte ihrer Ansicht nach eine Zuwendung und eine Hilfe, die die meisten Menschen oder gar Elfen ihr nicht geben konnten.

Der Schaden, den die beiden unglückseligen Diener der Travia in Unwissenheit angerichtet hatten …. vielleicht war es nun zu spät.

Sie schritt wieder zurück zu ihrem Platz.

Merle, die von Lianas Ausführungen eher verwirrt war - wie konnte auch sie noch aussagen, dass Doratrava gefährlich war?! - richtete einen schockierten, wütenden Blick in Richtung des Magus Adelchis. “Er hat sie verzaubert? Gegen ihren Willen? Das ist ein Verbrechen; er gehört angeklagt dafür!” Ihre Stimme war immer lauter geworden, doch war es ihr egal, ob Friedewald sie nun zurechtweisen würde. “Eine unter Zwang gewonnene Aussage darf vor Gericht überhaupt nicht verwendet werden!”

Travian wunderte sich über seine Schwester. Sie wurde ohne ihre Zustimmung mit Hilfe von Magie an einen fremden Ort gebracht. Einen gefährlichen Ort. Das zeigte wieder einmal, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wurde. Und dass Merle nachhaltig verstört war.

“Das ist so nicht ganz richtig”, korrigierte Rondrard. “Die Aussage unter magischem Zwang ist nichtig. Weltlicher Zwang wie Folter ist unter bestimmten Umständen zur Wahrheitsfindung erlaubt. Hierfür gibt es Gesetzestexte, die das regeln.”

“Wie abscheulich”, entfuhr es Liana.

“Und wo ist der Unterschied zu einem magischen Zwang? Und mehr noch: Wie soll so die Wahrheit gefunden werden? Die Folterer bekommen nur zu hören, was sie zu hören wünschen. Soll so Gerechtigkeit aussehen?”

„Bevor hier schon nach der nächsten Anklage gerufen wird“, wandte Friedewald sein Wort beschwichtigend an Merle, „lassen wir doch erst einmal den Herrn Magus selbst sprechen.“

Merle biss sich frustriert auf die Unterlippe und sagte nichts mehr, fixierte den Magier jedoch mit finsterer, erboster Miene.

Das war eine Drohung, das wusste Doratrava. Wenn die Erkenntnisse, die Adelchis gewonnen hatte, als er sie gewaltsam zum Reden gezwungen hatte, für nichtig erklärt wurden, würde Rondrard dann verlangen, dass sie gefoltert wurde? Zutrauen würde sie es ihm.

Dennoch warf Doratrava Merle einen warmen, dankbaren Blick zu für den erneuten Beweis, dass ihre Freundin fest zu ihr stand.

Meister der Beherrschung

Friedewald Blick richtete sich scharf gegen den Magier der Elenviner Akademie. “Doch nun gibt es wohl noch eine andere Frage zu klären. Meister Adelchis, würdet Ihr bitte vortreten?”

Adelchis trat langsam und zögerlich vor. Er war im Laufe der Gerichtsverhandlung bewusst zurückhaltend gewesen. Vielleicht in der Hoffnung, übersehen und vergessen zu werden oder vielleicht, um keinen zusätzlichen Unmut auf sich zu ziehen. Nervös spielte er mit dem Saum seiner Magierrobe. „Euer Wohlgeboren?“

“Ihr seid Adelchis von Pfaffengrund, Adeptus Minor der Akademie der Herrschaft zu Elenvina. Ist das richtig? Und Ihr habt die Beschuldigte zu den gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen befragt?”

„Das ist richtig, Euer Wohlgeboren. Tatsächlich befragte ich Doratrava mit einem Respondami in jener schicksalhaften Nacht.“ Sagte Adelchis mit niedergeschlagener Stimme. „Rückblickend bin ich mir der Problematik dieser Aktion bewusst. Allerdings möchte ich die Vorwürfe der geistigen Vergewaltigung weit von mir weisen.“ Jetzt sprach er mit etwas mehr Selbstbewusstsein. „Meine Absicht war stets nur eine mögliche Entlastung der hier Angeklagten zu erzielen. Außerdem bin ich als Weißmagier der Magierakademie zu Elenvina befugt, solche Magie anzuwenden. Doch bin ich mir sehr wohl bewusst, dass die Umstände nicht optimal waren und ich wohl überhastet und nachlässig meine Gabe angewendet habe. Ich bin auch gewillt, die Konsequenzen für dieses Fehlverhalten zu tragen. Außerdem werde ich die unter diesen Umständen erhaltenen Informationen nicht mit der Öffentlichkeit teilen, um das entstandene Leid nicht noch weiter zu vermehren. Zumal die Informationen nicht in dieser Verhandlung zur Urteilsfindung verwendet werden dürfen. Ich für meinen Teil kann mich aber mit Sicherheit für die Unschuld Doratravas hinsichtlich des Paktierens aussprechen.

Eine Schande nur, dass ihre Magie nie in kontrollierte Bahnen geleitet wurde. Eine Ausbildung an der Elenviner Akademie hätte eine unkontrollierte Aufwallung ihrer Magie verhindern können.“

Zu Adelchis hatte Doratrava nie eine Beziehung aufbauen können. Dazu war sie nicht oft genug mit dem Magier zusammengetroffen, und wenn, dann war er meist eher still und zurückhaltend gewesen. Insofern hatte es sie auch sehr erschreckt und beschämt, als er in der Zelle mit seinem Respondami über sie hergefallen war. Aber immerhin zeigte er sich nun reuig und sprach sich für ihre Unschuld aus. Das war mehr, als sie von anderen hier oder anderswo sagen konnte, die, statt eigene Verfehlungen zuzugeben, immer stärker darauf beharrten, die Schuld bei ihr zu suchen.

Travian war stolz auf den jungen Magier. Mit Blick auf die Angeklagte und einige andere der Albenhuser Ermittler wünschte er sich, sie hätten Reue bezüglich ihrer Taten gezeigt. Stattdessen haben sie die Gebote der Gütigen Mutter immer weiter getreten. Bis zu diesem der Travia heiligen Tag, an dem sie nicht davor zurückschreckten, den heiligen Traviabund seiner Schwester zu besudeln und mit ihren Untaten weitere Opfer dem Widersacher der Travia zu überbringen.

Friedewald runzelte die Stirn. „Ihr lenkt ab, Gelehrter Herr! Dieser ‚Respondami‘-Zauber, das ist ein Beherrschungs-Zauber, oder? Ihr hattet an der Akademie mit Sicherheit auch Unterricht in arkaner Rechtskunde? Dann ist Euch sicherlich bewusst, dass ein solcher Zauber einen massiven Eingriff in die Persönlichkeit der Verzauberten darstellt und auch von Mitgliedern Eurer Gilde nicht unrechtmäßig angewendet werden darf? Und dass der Einsatz von Beherrschungsmagie selbst im Rahmen einer Wahrheitsfindung nicht zulässig ist. Ich vermute, das wisst Ihr. Ihr habt es ja quasi zugegeben. Ihr hättet zumindest um meine Erlaubnis fragen müssen, wenn Ihr einen solchen Zauber auf meinem Land ausführt, egal wie sehr Eure Absichten auch hehr gewesen sein mögen.“

“In der Tat. Dieser Verfehlung bin ich mir sehr wohl bewusst. Ich hoffe, Ihr seht mir jedoch nach, dass ich aufgrund der Dringlichkeit und der Gefahr, die von einem Paktierer ausgeht, im Affekt diese Reglementierungen vernachlässigte. Zumal bei der letzten Befragung eines Paktierers, bei der ich zugegen war, der Paktierer nach nur wenigen Fragen kurzerhand von seinem Meister in die Niederhöllen gezogen wurde, ohne dass alle Informationen erhalten werden konnten.”

„Nun, im Zweifel müsste ein Gildengericht klären, ob die Situation einen vorschnellen Einsatz dieser Art von Magie doch irgendwie rechtfertigen könnte.“ Friedewald dachte nach und schien für sich eine Entscheidung heraufzubeschwören, insbesondere, da der Magier äußerte, schon mehr Paktierer befragt zu haben. Ob er dabei auf ähnliche Methoden zurückgegriffen hatte? Doch äußerte er diese Gedanken noch nicht. „Ich weiß, dass das Ergebnis Eurer Befragung hier in dieser Verhandlung folglich keine Relevanz hat, aber was genau habt Ihr die Angeklagte gefragt?“

An dieser Stelle hob Travian die Hand. “Lieber Friedewald, bitte erlaubt mir kurz zu sprechen.” Friedewald schaute den Geweihten einige Augenblicke an, nickte dann aber. “Mir scheint, die Anwendung von Magie durch Adeptus Pfaffengrund, wenn auch nach hiesigem Recht verboten, wird hier mit Worten stärker geahndet, als die Anwendung der Magie durch oder im Zusammenhang mit der Angeklagten.”

“Nun”, erklärte Friedewald, “die Frage, die sich hier stellt, ist, welche Art von Magie angewendet wurde, in welchem Bewusstsein und zu welchem Zweck. Das Anwenden von Magie ist in diesen Landen nicht per se verboten, die Beherrschungsmagie jedoch schon. Über die Magie, die die Tänzerin angewandt hat oder auch nicht, wurde bereits diskutiert. In der Anwendung jenes Geschwindigkeitszaubers sehe ich kein Vergehen, da diese Art von Magie im Albenhuser Land nicht sanktioniert ist, doch dieser Respondami scheint mir nicht rechtens gewesen zu sein. Und gerade von einem Gelehrten Herren können, nein müssen wir erwarten, sich strikt an Regeln zu halten.”

“Wenn ich an dieser Stelle noch einmal nachhaken dürfte - es sei jedoch angemerkt, es werden sich noch ein oder zwei Punkte von mir anschließen.” Travian atmete ruhig ein und aus, “Schon als Kind lernte ich den Spruch - wohlgemerkt von einem Praiosgeweihten - ‘Dummheit schützt vor Strafe nicht’. Warum also sollte hier zwischen einem gelehrter Herrn und der Angeklagten ohne nennenswerte Ausbildung unterschieden werden? Und ist die Frage nicht, was wir unter Beherrschung verstehen? Vielleicht eine Person zu etwas zwingen, das sie aus freien Stücken nicht getan hätte. Nun, der Schilderung der Angeklagten zu folgern, wussten weder sie und folglich auch nicht die Entführten, dass sie räumlich entrückt würden. Ist das dann nicht gleichzusetzen mit ‘Beherrschung’?,” fragte der Geweihte.

Praiogrimm schüttelte abweisend den Kopf, woraufhin Friedewald diesen Einwand wortlos ignorierte, obwohl seinem Kopf eine hohe Anspannung anzusehen war.

Doratrava hoffte, dass wenigstens alle anderen hier die plumpen Versuche des Traviageweihten durchschauten. Was hatte Dummheit mit Unwissenheit zu tun? So jung, wie Travian war, gab es bestimmt viel, was er noch nicht wusste, da würden wohl sehr viele Strafen auf ihn warten ...

Und was eine unvorhersehbare Ortsversetzung mit geistiger Beherrschung zu tun haben sollte, erschloss sich ihr überhaupt nicht. Eigentlich sollte sie sich wünschen, dass der Traviageweihte gerade so weiter redete, irgendwann müsste dann sogar der Dümmste der Anwesenden einsehen, was für einen Blödsinn er da von sich gab.

“Zugleich”, fuhr Travian fort, “frage ich mich, wenn doch verboten, welche Relevanz die Aussage von Adeptus Pfaffengrund hat. Darüber hinaus, nach meinen Erfahrungen bei Befragungen ist die Herausforderung im Umgang mit dem genannten Werkzeug, die richtigen Fragen zu stellen, um nicht einen falschen Eindruck zu erlangen. An dieser Stelle frage ich mich daher auch, ob wir nicht die Fragen selbst anhören müssten, um zu verstehen, was erfragt wurde und was nicht erfragt wurde. Nur weil man ein Rezept für Brot beherrscht, ist man noch lange kein guter Bäcker. Mit Blick auf das Alter des jungen Adeptus Pfaffengrund frage ich mich daher auch, ob hier ein erfahrener Meister der Befragung von Gefangenen steht.”

“Ich verstehe Euren Einwand nicht, denn genau die Frage nach der Frage habe ich dem Gelehrten Herren soeben gestellt. Also setzt Euch wieder, Euer Gnaden, und lasst Meister Adelchis meine Fragen beantworten!” Friedewald wandte sich wieder an Adelchis. “Also, welche Fragen habt Ihr der Angeklagten unter Einfluss Eurer Magie gestellt?”

„Ich möchte meinen Fehler bei der Befragung nicht leugnen. Ich hatte nur die Hoffnung, die Umstände des Fehlverhaltens würden das Strafmaß Eures – zweifelsohne gerechten – Urteils mindern. Was die Fragen an jenem Tag betrifft,“ zuerst wandte er sich in etwas kaltem Ton Travian zu, „bringen meine Fähigkeiten nur qualitativ hochwertige Ergebnisse hervor“, nun wandte er sich fragend an Doratrava, „trotzdem möchte ich das Leid jener Nacht nicht wiederholen. Außer die Angeklagte wünscht dies?“

Die Frage des Magiers kam für Doratrava völlig überraschend. Solches Maß an Rücksichtnahme hatte sie überhaupt nicht erwartet nach dem, was sie sich gestern und heute schon alles hatte anhören müssen. Dennoch presste sie zunächst unwillkürlich die Lippen zusammen, da Adelchis schon recht hatte mit seiner Annahme, durch die Wiederholung könnten Wunden neu aufgerissen werden. Dann aber dachte sie an Rondrards versteckte Drohung mit der Folter und ihre Gedanken dazu und nickte. "Ich ... Ihr dürft die Frage beantworten", krächzte sie heiser, da sie immer noch mit den Nachwirkungen von Lianas mehr oder weniger vernichtendem Urteil, zumindest würde es so sicher aufgefasst werden, zu kämpfen hatte.

Friedewald blickte zwischen Doratrava und Adelchis hin und her. “Nun, Meister Adelchis, Ihr scheint zu denken, mit Eurem Reuegeständnis sei die Sache so einfach vom Tisch? Doch ist Euer Vergehen derart, dass, sollte ich oder die Geschädigte dies zur Anklage bringen, die Gilde, vertreten durch die Akdademieleitung in Elenvina, das Recht hat, einzufordern, selbst über Euren Fall zu verhandeln, welche Konsequenzen Euer Verhalten hier - und dann vielleicht auch an anderen Orten? – haben mag. Dies ist das Recht der Gilde und würde Euch vor einer von mir verhängten Strafe schützen, das auch Ihr einfordern dürft.” Friedewald hoffte jedoch, dass dem jungen Magus klar war, dass das Urteil der Gilde unter Umständen nicht milder ausfallen würde. Der Edle wandte sich an den Dorfschulzen, der ihm bereits die gesamte Zeit beratend zur Seite saß, und wechselte mit diesem einige Worte, die von den Umsitzenden jedoch nicht zu verstehen waren. Praiogrimm begann daraufhin nachzudenken und zu rechnen, während Friedewald weiter fragte. “Um zu entscheiden, ob eine solche Anzeige vor dem Gildengericht zwingend erforderlich ist, müsste ich jedoch mehr über Euer Vergehen wissen. Also, bitte, Meister Adelchis, beantwortet nun die Frage: Welche Fragen habt Ihr der Tänzerin gestern gestellt und welche Antworten habt Ihr erhalten?”

Etwas resigniert nahm Adelchis einen tiefen Atemzug. Dass er seine Gabe etwas voreilig eingesetzt hatte, konnte er verstehen. Doch der Umgang mit diesem Vergehen frustrierte ihn. Dann begann er zu reden: „Ich stellte zwei Fragen. Die eine, ob Doratrava mit dem Bäckerpruch Kontakt gehabt hätte und die zweite, ob sie in einem anderen Interesse als den Pruch aufzuhalten arbeiten würde.“ Er konnte sich nicht verkneifen, eine kurze dramatische Pause einzulegen: „Auf beide Fragen antwortete sie wahrheitsgemäß mit einem ‚Nein!‘.“

Doratrava nickte knapp und wortlos, immer noch mit einem verkniffenen Zug um den Mund.

Friedewald war frustriert. Nicht, weil diese Aussage zeigte, dass Doratrava in dem Hauptanklagepunkten unschuldig war, sondern weil diese Erkenntnis nicht verwendet werden durfte, um Doratrava freizusprechen. Gut, Friedewald hatte genug Argumente gehört, um die Anschuldigungen gegen Doratrava abzuweisen. Und letztlich musste er sich nicht offiziell für seine Entscheidung rechtfertigen, aber letztlich gefährdete die Aussage des jungen Magus seinen guten Leumund als Richter und damit den erfolgreichen Abschluss dieses Verfahrens. Und dies war eine Lektion, die der Sohn von Friedewalds Nachbar zu lernen hatte. Noch einmal wandte sich Friedewald an Praiogrimm, der diesmal seinerseits Friedewald etwas ins Ohr flüsterte. So setzte der Edle an: “Meister Adelchis von Pfaffengrund, Adeptus der Akademie der Beherrschung zu Elenvina. Eure Motivation mag durchaus guter Natur gewesen sein, und Ihr mögt in jenem Moment von der Rechtschaffenheit Eures Handelns überzeugt gewesen sein. Doch der Weg, den Ihr gegangen seid, ist keineswegs rechtens, und das hätte Euch bewusst sein müssen. Dieses Vergehen muss geahndet werden, auf dass dies nicht eines Tages zu seelischem Leid führen kann. Eure Gilde hat das Recht, hierüber das Urteil zu fällen und Ihr hättet das Recht, dies einzufordern, sollte ich oder die Geschädigte das Ansinnen haben, Euch deswegen anzuklagen. Ich bin gewiss, dass die Tänzerin Doratrava”, sein Blick wanderte eindringlich zu der genannten, “keine Ambitionen hat, Anklage gegen Euch zu erheben, denn letztlich wurde ihr durch Euer Handeln kein bleibender Schaden angetan. Doch Ihr habt meinem Ansehen geschadet, wenn Ihr Gäste auf meinem Grund durch verachtenswerte Schadmagie angreift. Ihr deutet an, dass Ihr auf Euer Recht verzichten würdet, eine solche Anklage vor das Gildengericht zu delegieren, und eine Strafe von mir zu akzeptieren. So mag auch ich diese Unbedachtheit Eurer Jugend zuschreiben und über eine Anklage hinwegsehen, sofern Ihr im Gegenzug bereit seid, Euch an den Unkosten dieser Versammlung in Höhe von…”, Friedewald schaute zu Praiogrimm, der halbwegs verdeckt sieben Finger streckte, “sieben Dukaten zu beteiligen. Ich werde stattdessen lediglich das Gespräch mit Eurem Vater suchen, der die Angemessenheit Eures Handeln dann mit Euch diskutieren kann.”

Kein bleibender Schaden? Oh, wie leichtfertig der Edle über diese Sache hinwegging. Doch unabhängig davon, dass Doratrava den Wink schon verstanden hatte, sich ja zu unterstehen, Anklage zu erheben, hatte sie das sowieso nicht vorgehabt. Erstens zeigte der Magus selbst Reue, und es schien ihr nicht geheuchelt zu sein, zweitens würde man sie wahrscheinlich bei einer Gilde sowieso auslachen, wenn sie Klage erhob, drittens, falls man eine Klage doch annehmen würde, käme die ganze Sache dann nochmal hoch und man würde sie garantiert erneut zerpflücken, und viertens gab es eben doch einen bleibenden Schaden, nur war der durch eine Klage nicht mehr zu reparieren.

Und überhaupt war die gewaltsame Befragung durch Adelchis nichts gegen den bleibenden Schaden, den ein Eoban von Albenholz, ein Rondrard von Storchenflug, in Vertretung zwar, doch dafür mit bemerkenswerter Vehemenz, und ein Travian Dreifelder angerichtet hatten. Würde sie verurteilt werden, nun, dann wäre der 'bleibende Schaden' vermutlich recht greifbarer Natur. Aber auch, wenn sie freikäme, würde sie die Welt niemals wieder so unbeschwert erleben können, wie es zuvor zumindest oft der Fall gewesen war. Sie würde sich von nun an wohl immer ganz genau überlegen müssen, wessen Bitten oder Aufträge sie annahm und ob und wer sie dabei begleiten würde. Sie würde vermutlich für immer auf der Hut sein müssen vor dem Dolch, den ein vorgeblich harmloser Begleiter oder eine nette Begleiterin ihr womöglich in den Rücken stoßen könnte. Und sie würde es hassen.

Damit konnte Adelchis leben. Auf das Gespräch mit seinem Vater freute er sich nicht und auch war ihm sehr wohl bewusst, dass er damit noch nicht aus dem Schneider war. Doch trotzdem war ihm bewusst, dass er hier noch glimpflich entkommen war. Es hatte ihn selbst erschreckt, wie leicht er im Eifer des Gefechts seine in der Akademie eingeprägten Lehren vergessen hatte. Obwohl er oft an der Sinnhaftigkeit der strengen Gesetze der Nordmarken gegenüber Magie zweifelte, war es doch nicht an ihm, über ihren Nutzen zu urteilen. Er nickte langsam: „Ein weises Urteil, Euer Wohlgeboren. Ich hoffe, in der Zukunft eine solche Weisheit auch an den Tag legen zu können.“

“Kein Urteil”, hakte Friedewald mit aufgesetzt ernstem Blick nach, “nur eine Entscheidung. Urteilen über Euch dürfte ich nicht, das steht allein Eurer Gilde zu.”

Adelchis verbeugte sich und machte sich auf den Weg, wieder seinen Sitzplatz einzunehmen. Er hatte richtig gehandelt, Reue und Einsicht zu zeigen, doch trotzdem schaute er mit gemischten Gefühlen in die Zukunft. Würde dieser Fehler negative Folgen für seine Karriere haben oder sie gar beenden? War das gerecht? Nur wegen eines kleinen Ausrutschers seiner gerechten Magie. Vielleicht sollte er wieder zurück zu Luch gehen und dort seine Magie frei vom Joch der Nordmärker entfalten lassen. Oder der Magie ganz abschreiben, wenn sie doch laut den hier Anwesenden so großen Schaden anrichtete? Er schaute sich hilfesuchend um, doch niemand schien geeignet, sein Dilemma in vollem Ausmaß zu verstehen.

Nun war es die sehr junge Ingrageweihte, welche sich nach langer Zeit erhob und räusperte. “Herr Friedewald, wie könnt Ihr Euch da so sicher sein, dass der Schaden an Doratrava nicht genauso große Narben hinterlassen hat, wie jene Narben, welche Merle zuteil geworden sind, als Ihr Ehemann einen Schadzauber auf sie anwandte? Nicht alle Narben, alle Wunden, sind auf den ersten Blick zu erkennen.” Dann sah sie zu dem Diener der Gütigen Mutter. “Bruder Travian, ich schätze sehr, wie Ihr im Glauben an Travia für Recht und Ordnung kämpft. Sicherlich ist ein Tempel der Gütigen Mutter gut geeignet, um Doratrava zu prüfen. Doch gerade Travia steht für die Familie und den Zusammenhalt einer solchen. Glaubt Ihr nicht, dass jeder Tempel der göttlichen Geschwister sich eignet, sofern eine Seelenprüfung dort vollzogen werden kann? Ich habe mit derlei Götterwirken noch keine direkten Berührungspunkte gehabt, doch ist nicht die Seelenprüfung eines Gottes genauso gut und effektiv wie die eines anderen der Zwölf? Sollten wir als Gemeinschaft nicht eher zusammenstehen, als hier so einen…”, Imelda biss sich unsicher auf die Unterlippe, seufzte leise und nahm all ihren Mut zusammen: “...verzeiht, wenn ich es so benenne, aber so einen Affenzirkus zu veranstalten?”

Während Imeldas Ausführungen hatte der Tsageweihte immer wieder bestätigend genickt, insbesondere bei dem Wort `Affenzirkus´.

Nervös stupste Imelda ihre Freundin Mika an und flüsterte dieser leise zu: “Jetzt sag’ doch auch noch mal was.”

Etwas zögerlich, weil vollkommen überrumpelt und bereits zuvor von ihrem Vater zurechtgewiesen, wollte sich Mika sich erheben und irgendetwas erwidern, als ein anderer Geweihter ihr zuvorkam. So blickte sie nur entschuldigend zu Imelda.

Travian hob die Hand. “Ich möchte an dieser Stelle noch einmal nachhaken. Lieber Friedewald, hattet ihr bereits Erfahrung mit der Gabe, dass besonders geschulte Personen sich dem Einwirken von Magie entziehen können? Ich kann Euch sagen, ich habe dies bereits erlebt. Und mit Blick auf die Angeklagte und das, was wir gehört haben, ist leicht zu vermuten, wir haben es hier mit einem Wesen zu tun, das von ihrer Natur aus einen ganz anderen Zugang zu Magie hat. Wie können wir wissen, ob die Fragen von Adeptus Adelchis ihre Wirkung erzielt haben. Schnell könnten wir uns hier in falscher Sicherheit wiegen. Und …”, er atmete sanft ein und aus, “selbst wenn die Fragen wahrheitsgemäß beantwortet sein sollten, klärt sich hier nicht die Frage nach eigenen dunklen Trieben der Angeklagten. Oder, ob sie unter dem Wirken eines anderen Bannes steht - zum Beispiel dem einer dunklen Fee oder einem der anderen 11 Widersacher der Zwölfe.”

“Euer Gnaden, Euer Einwand ist absolut irrelevant, da die Antworten, die Meister Adelchis erhalten hat, aufgrund der unrechtmäßigen Anwendung der arkanen Künste eh keine Relevanz für meine Urteilsfindung haben.” ‘... sollten’, ergänzte Friedewald in Gedanken. “Vielen Dank für Euren Einwand, der uns einige weitere Augenblicke zusätzlich beschäftigt hat. Ich glaube, niemand der Anwesenden hier wäre dankbar, wenn dieses Spektakel zu früh beendet würde.”

Travian hob noch einmal die Hand und wandte sich an Imelda, da er ja direkt angesprochen wurde - wartete aber darauf, dass Friedewald das Wort erteilte, was dieser mit einem genervten Blick tat. “Liebe Schwester, wenn ich zunächst Eure Aussagen ergänzen dürfte. ‘Oder genauso tiefe Narben wie die Zauber, die die Angeklagte auf die Entführten wirkte sowie der sich daraus ergebenden Konsequenzen.’”

“Doratrava hat mir kein Leid angetan”, mischte sich Merle ein. “Aber mein Mann hat! Warum weigerst du dich, das anzuerkennen, Travian?” Im Blick der jungen Frau standen Unverständnis und Enttäuschung.

Travian reagierte nicht auf den Kommentar von Merle.

“Außerdem verraten mir Eure Worte”, sprach er weiter zu Imelda, “dass Ihr noch immer nicht, wie ich leider bemerken muss, so wie viele der hier Anwesenden, die Situation vollumfänglich verstanden habt. Wir haben es hier mit einem Widersacher der Travia zu tun. Bedeutende Personen sind entführt. Tempel sind korrumpiert. Viele Menschen sind gestorben und in den Wahnsinn getrieben. Dies alles mit einer amüsanten Vorstellung zur Ablenkung vom Alltag zu vergleichen, - oder gar einem ‘SPEKTAKEL’”, ein Wort, das er langsam und laut aussprach, jede Silbe wie der Schlag einer blechernen Kelle auf einen leeren Suppentopf. Dabei schaute er streng in Richtung Friedewalds. Dann, mit einem Atemzug, strich er sich die Robe wieder glatt und setzte sanft weiter fort, “ist doch etwas …”, und er rang nach einem Wort, “erschreckend. Auch ich hätte viel lieber andere, dienliche Aufklärung an diesem Ort betrieben. Aber nicht ich habe diese Anklage erhoben oder dieses Gericht ausgerufen. Doch nun sind wir hier. Für mich schließen sich viele dringende und drängende Fragen an, die es zu klären gilt. Und das kann für mich, wenn dem nicht hier nachgegangen werden soll, nur durch eine anschließende Befragung von Dienern der Gütigen erfolgen, da die Gütige ja selbst am meisten Schaden aus diesen Ereignissen trägt. Darüber hinaus könnte es sein, dass ein Diener der Rahjakirche mit seinem Wirken die Situation nicht unbedingt zum Vorteil der Gütigen Mutter entwickelt hat.” Er blickte einen Moment streng in Richtung Rahjel. “Auch daher halte ich eine Seelenprüfung in einem Rahjatempel in dieser Situation für nicht angemessen.”

Was für "dringende Fragen", die er nicht schon vorgebracht hatte, wollte Travian Doratrava denn gestellt wissen, die angeblich nur die Traviakirche stellen konnte? Außerdem zeigte Travian schon wieder ganz deutlich seine eigene Arroganz. Er sprach davon, dass "die Gütige", also Travia selbst, geschädigt worden sei. Offenbar sah er seine Göttin also als ziemlich schwach und verletzlich an. Und er stellte das Wirken eines anderen Geweihten in Frage, wieder mal in dem Glauben, nur ER könne beurteilen, was in jeder Situation das Richtige sei - auch wenn er selbst die Situation gar nicht kannte.

Nun mischte sich der Tsageweihte wieder ein, nachdem er lange geschwiegen hatte. “Gerade weil du einem Bruder im Glauben an die Zwölfe unterstellst, nicht angemessen gehandelt zu haben, wäre es angebracht, die Rahjakirche zu bitten, zur Klärung beizutragen. Des Weiteren hast du selbst gerade noch einmal gesagt, dass der Traviatempel in Albenhus korrumpiert ist. Darum ist es sicherlich nicht der richtige Ort. Außerdem haben die gehörten Aussagen, insbesondere von Liana und die meinige erwiesen, dass die Geschehnisse rund um Merle, Doratrava und Rahjel keineswegs auf das Einwirken des Widersachers der Gütigen Mutter zurückzuführen ist. Vielmehr scheint sich klar abzuzeichnen, dass es sich um ein Feenwesen handelt. Darum reklamiere ich erneut und noch einmal sehr deutlich die Zuständigkeit der Tsakirche, die ich in dieser Sache vertrete. Und ich wünsche, Rahjan Bader um Hilfe zu bitten."

“Sollten wir nicht erst das Urteil abwarten, bevor wir darum streiten, welche Kirche über Doratrava richten darf?”, fragte Rondrard scharf. “Möglicherweise wird sie freigesprochen und kann gehen. Oder sie wird an die Gräfin weitergereicht, auf dass sie über sie richten möge. Man kann das Fell des Bären erst zerteilen, wenn man ihn erlegt hat.”

Einmal mehr unterdrückte Doratrava ein Schnauben. Ein interessantes Bild zeichnete der Herr von Storchenflug da. Sie war nun also die Beute.

“Ein sehr guter Einwand!”, rief die Ingrageweihte Rondrard zu und nickte zustimmend. Dass dieser Traviageweihte schon wieder wie Kleinkind darauf pochte, unbedingt in einem Tempel der Gütigen Mutter eine Prüfung durchführen zu lassen, brachte erneut eine Mißstimmung in die Gemeinschaft, welche für Imelda ermüdend war. Laut seufzend ließ sie sich in ihrem Stuhl nach hinten sinken.

Nun hatte Mika Ihren ganzen Mut zusammengesammelt und erhob sich, um endlich auch zu sprechen, wie Imelda sie ermuntert hatte. “Vater, ähm, Euer Wohlgeboren, liebe Brüder und Schwestern im Glauben. Was ist eigentlich in Euch gefahren, Euch gegenseitig zu zerfleischen wie ein hungriges Rudel Wölfe, die im tiefsten Winter schon lange kein Reh mehr gerissen haben? Achtet Ihr alle die Lehren der zwölfgöttlichen Gemeinschaft so wenig? Sollten wir nicht als eine Familie zusammenstehen, als eine Familie, so wie die Himmelswölfe es tun? Hier geht es um das Schicksal, um das Leben eines Menschen, habt ihr das vergessen? Doratrava ist ein Mensch, also, na gut, zur Hälfte, aber ob Mensch oder Elf oder Halbelf, das ist doch kein Unterschied. Sie ist ein denkendes, fühlendes Wesen und sollte auch so behandelt werden. Ihr redet über sie, als sei sie ein Eitergeschwür, das man aus dem Fleisch schneiden muss, oder abwartet, bis es selbst verheilt. Ich jedenfalls bin davon überzeugt, dass nichts, aber auch gar nichts Böses in Doratrava steckt, was irgendjemand austreiben muss. Wie ich vorhin schon sagte, habe ich gestern mit Doratrava ausführlich über ihre Gesinnung den Göttern gegenüber diskutiert, lange, bevor irgendwelche Befürchtungen aufkamen, sie könnte eine Paktiererin oder von bösen Wesen besessen sein. Und ich versichere Euch allen, das was sie gesagt hatte zeugte zwar zu einer gewissen Skepsis gegenüber so manchen Geweihten, was ich nach dem heutigen Tag durchaus nachvollziehen kann, doch vor den Göttern selbst war sie äußerst ehrfürchtig. Und sie hat sich sehr fürsorglich um mich gekümmert, obwohl ich es ihr, muss ich gestehen, nicht ganz so leicht gemacht habe. Also beendet doch endlich diesen”, Mika schaute zu Imelda und betonte das folgende Wort mit einem Grinsen - wer genau hinsah, bemerkte, dass Mika Imelda keck zuzwinkerte -, “Affenzirkus endlich, damit wir vielleicht noch etwas Zeit finden, an Gwenn und alle Opfer der gestrigen Angriffe zu denken und für Ihre Seelen zu beten. Bei Firun! Jagt doch endlich die, die es wirklich verdient haben und keine Gespenster aus fernen Globulen!” Mit verschränkten Armen setzte sich die Novizin demonstrativ.

Travian hob noch einmal die Hand, um Rionn zu antworten. “Ich hatte nicht gesagt, dass der Tempel in Albenhus korrumpiert wurde… Zuvor hatte ich auch schon vorgeschlagen, dass wir diese Aufgabe der Befragung im Rahmen des Vierschwestern-Ordens in Storchengarten durchführen. Damit wären die Tsakirche und auch Rahjan Bader involviert. Und darüber hinaus möchte ich Dich daran erinnern, dass Du mir hier bereits mehrfach gesagt hast, ich verrichte das Werk des Widersachers der Gütigen. Schade, dass Du mir unterstellst, ein Frevler zu sein. Schade, dass es mir nicht gestattet ist, Kritik an dem Wirken meiner Brüder und Schwestern zu üben”, und er schaute Rionn traurig und kopfschüttelnd an. Dann sprach er in Richtung Rondrards: “Ich möchte auch darauf hinweisen, dass mir heute Morgen im Backhaus bereits der Wunsch nach einer Überstellung zu Rahjan Bader von den hier anwesenden Geweihten ausgesprochen wurde. Ich habe es nur als richtig angesehen, diese Frage vor dem Gericht zu klären.” An Mika gewandt: “Schade, dass hier erneut ein praiosgefälliges Gericht, wie wir ja zuvor klargestellt haben, als Affenzirkus bezeichnet wird. Und dass diese Verunglimpfung wieder ohne Konsequenzen überhört wird”, dabei blickte er in Richtung Friedewald.

Mika stand wieder auf und holte bereits tief Luft, um eine Schimpftirade über den Traviageweihten loszulassen, doch der mahnende Blick ihres Vaters traf sie hart. Und so besann sie sich eines Besseren und setzte sich schmollend und mit verschränkten Armen wieder neben Imelda.

“Nun, Bruder Travian”, entgegnete Rionn ruhig, “ich habe nichts dagegen, die weitere Klärung in die Hände des `Vier-Schwestern-Ordens´ zu geben. Auch bin ich damit einverstanden, dies in Storchengarten zu tun. Verzeih, dass ich dich missverstanden habe. Ich hatte aus deinen Ausführungen über die Situation des Albenhuser Tempels herausgehört, dass dieser unterwandert sei. Wenn das nicht so ist, freue ich mich. Was deine eigene Verwicklung in das Werk des Widersachers anbetrifft, so habe ich dich lediglich ein einziges Mal aufgefordert, dich zu prüfen. Das hast du übergangen. Du hattest zuvor sehr ausführlich gepredigt, dass das Gift des Widersachers unter uns ist und einen jeden hier krank mache. Und ich habe mich gefragt, ob du dir selbst deiner eigenen Weisheit bewusst bist. Ich habe dich zu keiner Zeit als Frevler bezeichnet. Und wenn ich eine Überstellung an die Kirchen erbitte, so tue ich das vor diesem praiosgefälligem Gericht.” Rionn setzte sich, als er den mahnenden Blick Friedewalds zu seiner Tochter wahrnahm. Er konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass es auch Geweihte waren, die dieses Gericht zu einem Affenzirkus machten.  

Schlussplädoyers

Friedewald fuhr sich mit beiden Händen kratzend durch sein Haupthaar und atmete tief aus. “Euer Gnaden Travian, in einem gebe ich Euch Recht: Es gibt gewiss weitaus dringendere Fragen zu klären und dienlichere Aufgaben im Sinne der göttlichen Ordnung im Widerstreit mit der Gegenspielerin der Guten Mutter Travia zu lösen. Und deshalb denke ich, sollten wir Eure Zeit nicht länger strapazieren. Auch habe ich das Gefühl, dass inzwischen alles zu den Vorfällen gesagt wurde, das darüber zu sagen war, und auch vieles”, und er schaute Travian, aber auch so manchen der anderen Anwesenden mahnend an, “was nicht hätte gesagt werden dürfen, weil es der Geheimhaltung unterliegt. Die Diskussionen beginnen sich im Kreise zu drehen, und so manche”, diesmal ging sein strenger Blick zu Mika, “Wortführerin hat bereits damit begonnen ein Plädoyer zu sprechen. Und genau dazu fordere ich Euch nun auf, jedoch in geordneter Bahn. Jede und jeder, die oder der es für nötig erachtet, möge nun ein abschließendes Plädoyer sprechen, zunächst die Ankläger, dann die Angeklagte und ihre Verteidiger. Und das eine sage ich Euch gleich: keines der Plädoyers wird unterbrochen oder hinterher von einer anderen Person kommentiert. Die Zeit der Diskussionen ist nun beendet. Sollte irgendjemand dies missachten, so werde ich dies ohne Rücksicht auf den Stand oder das Ansehen der Person ahnden. also bitte, die Anklage zuerst.”

Praiogrimm schüttelte sein Handgelenk, nahm ein neues Pergament und einen frischen, spitzen Schreibkiel und tauchte diesen in das Tintenfass.

Rondrard erhob sich. “Hohes Gericht, verehrte Anwesende, zunächst möchte ich erwähnen, dass unser Recht sehr wohl die Klage in absentia kennt. Im Schiedsverfahren ist es sehr wohl üblich, dass nicht der Geschädigte, sondern ein Familienmitglied oder gar ein Freund die Klage an seiner Stelle führt. Und im Inquisitionsverfahren kann sogar ein Fremder ein Verbrechen wie zum Beispiel Paktiererei anzeigen. Ja, er muss es sogar, weil das Rütteln an den Grundfesten Deres zu abscheulich ist, um es zu ignorieren. Der Hohe Herr von Albenholz wurde letzte Nacht durch Befehl seiner Baronin zu einer Notlage gerufen, was dem Hohen Gericht durchaus bekannt war. Er hat aber nicht nur einen Leumund gefunden, seine Klage vorzutragen, sondern derer zwei. Deswegen kann und will ich diesen Einwand der Verteidigung nicht akzeptieren. Wenn aber das Hohe Gericht eine Klage in absentia nicht zulassen möchte, so frage ich mich, was wir hier dann machen? Bei allem nötigen Respekt Euer Wohlgeboren hier hättet Ihr mir mitteilen müssen, dass Ihr einzig und allein gewillt seid meine persönliche Klage zu verhandeln, die im Übrigen unter den Tisch fiel. Was die Klagen des Hohen Herrn von Albenholz angeht, so sind diese nicht zur Gänze geklärt. Die Verteidigung hat Aussagen eines Ritters ohne Fehl und Tadel zu Hörensagen degradiert und dies als Grund genommen damit unterschiedliche Taten zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten für nichtig zu erklären, weil der Hohe Herr von Albenholz bei einem dieser Vorfälle angeblich verwirrt gewesen sei. Eine Behauptung, die nicht bewiesen wurde. Doch eines bleibt: diese Person kann zaubern. Sie wurde nie geschult und gehört keiner Gilde an. Und ob ihre Magie von einer Fee oder einem Dämon stammt, ist hierbei irrelevant. Fakt ist, dass sie ihre Magie nicht beherrschen kann und damit eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Madas Frevel und deren Folgen aber sind dem Herren Praios - heilig, heilig, heilig - seit jeher ein Dorn im Auge, da er die Heilige Ordnung zerbrach. Es ist unsere Heilige Pflicht, chaotische Magie, wie die der Angeklagten, zu bannen. Besser noch zu vernichten durch die Heilige Purgation. Abschließend möchte ich noch erwähnen, dass ich es sehr bedaure und mit Schrecken zur Kenntnis genommen habe, dass sowohl eine Geweihte, als auch eine Novizin die Heilige Zeremonie der Rechtsprechung als ‘Affenzirkus’ bezeichnen. Und natürlich, dass meine liebe Frau Mutter und ich hier in aller Öffentlichkeit aufs Übelste beleidigt wurden, was das Hohe Gericht einfach ignoriert hat. Das, Friedewald von Weissenquell, rechne ich Euch persönlich an. Ihr lasst mir daher keine Wahl: Baroness Ardare von Kaldenberg, ich erhebe Klage gegen Euch wegen Beleidigung.”

Friedewald war von Rondrads letzter Ankündigung und der Anfeindung gegen sich selbst derart überrascht, dass ihm kurz die Worte fehlten und sich zwischen den Anwesenden umsah, was sich ein anderer Wortführer zunutze machte.

Travian sah ein paar Blicke auf sich lasten. “Ich glaube, meine Punkte bereits mehrfach genannt zu haben.”

Auch Kalman fasste die Sprachlosigkeit seines Vaters als Aufforderung auf, nun sein Schlussplädoyer zu sprechen. Er erhob sich und ging auf den Tisch des Edlen zu, stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte und sah seinen Vater direkt an. “Euer Wohlgeboren, Vater! Ich bin hier angetreten, um die Stimme im Namen meines Freundes Eoban von Albenholz gegen die Tänzerin Doratrava zu erheben, denn ich kenne Eoban seit Jahren und habe ihn stets als einen aufrechten, ehrbaren Mann kennengelernt, dem ich jederzeit mein Leben, aber auch meine Ehre anvertrauen würde. Und daran hat sich nichts geändert, weder durch die gestrigen Vorfälle, noch durch das, was hier gesagt wurde. Wie der Hohe Herr von Storchenflug bereits sehr richtig dargestellt hat, wurde Eoban in der Nacht von seiner Baronin abberufen und musste heute bei den ersten Strahlen von Praios’ Antlitz die Heimreise in sein Lehen, in die Baronie seiner Lehnsherrin antreten, da auch dort Dinge geschehen sind, die weitaus schlimmer sind, als das, was unser Dorf am gestrigen Tag heimgesucht hat. Und auch dort hatte der Erzverräter seine Hände im Spiel, wie zu vermuten ist. Dass Eoban nun also nicht selbst hier das Wort ergreifen konnte, hat nichts mit fehlender Ehre des Mannes zu tun oder mit mangelndem Leumund, auch nicht damit, dass er diese Angelegenheit nicht für wichtig genug erachtet, sondern ist allein der ehrvollen Erfüllung seines Lehnseides geschuldet.” Kalman machte eine kurze Pause, um Luft zu holen und seine Worte wirken zu lassen. Er selbst musste jedoch seine Worte sammeln.

“Ich traue den Worten des Hohen Herren von Albenholz und habe mich deshalb bereit erklärt, an seiner statt für sein Anliegen einzutreten, obwohl ich, das ist allerdings eine Tatsache, nicht selbst Zeuge bei den meisten Vorfällen war, die Eoban der Gauklerin vorwirft. Ich selbst war lediglich dabei, als Doratrava am Quellsee mit den Entführten und der verfluchten Kiste des Paktierers gefunden wurde. Die Vorwürfe Eobans sind in meinen Ohren jedoch plausibel gewesen, weshalb ich mich der Anklage angeschlossen habe, um die Vorfälle klären zu lassen. Die Aussagen der Zeugen lassen mich jedoch daran zweifeln, dass die Gauklerin selbst mit der Erzdämonin im Bunde steht oder dem Paktierer bewusst und beabsichtigt zuarbeitet. Deshalb rücke ich von meiner Anklage der Paktiererei ab. Dennoch haben wir von vielen Stimmen gehört, auch denen der vermeintlichen Verteidigung, dass eine nicht unerhebliche Gefahr von dieser Frau ausgeht, die näher zu untersuchen und dann auszutilgen ist. Deshalb fordere ich dennoch, die Gauklerin in Gewahrsam zu lassen und kirchlichen Stellen zu übergeben, um ihre Seele zu prüfen und zu reinigen und das Böse aus ihr auszutreiben.”

In der Zwischenzeit hatte sich Friedewald wieder gefangen, so dass er einerseits der Rede seines Sohnes folgen und gleichzeitig über Rondrards letzte Ankündigung sinnieren konnte. Als Kalman schließlich endete, war es deshalb auch Rondrard, den der Edle zunächst ansprach. „Hoher Herr von Storchenflug, Ihr kündigtet an, gegen Ihre Wohlgeboren Ardare von Kaldenberg Klage wegen Beleidigung führen zu wollen. Könntet Ihr bitte noch einmal ausführlich erläutern, welche Aussagen der Baroness Ihr als beleidigend empfunden habt?“

“Wenn seine Wohlgeboren darauf bestehen“, knirschte er, “die Baroness hat zu verstehen gegeben, dass meine Frau Mutter eine Metze wäre und ich folglich ein Bastard, wenn nicht gar ein Bankert. Wohlweislich hat sie die Worte selbst nicht benutzt, aber, wie es ihre Art ist, Worte gewählt, die jedem hier einen solchen Gedanken hat fassen lassen. Das lasse ich weder auf meiner Frau Mutter noch auf mir sitzen. Meiner Forderung nach einer sofortigen öffentlichen Entschuldigung seid weder Ihr, der es ebenfalls hätte einfordern müssen, noch die Baroness nachgekommen. Da Ihr mir Satisfaktion auf Eurem Lehen verboten habt, bleibt mir nur noch zu klagen. Und das tue ich hiermit.”

Der Edle beugte sich zu seinem Dorfschulzen und wechselte mit ihm einige Worte, die die anderen jedoch nicht verstehen konnten. Daraufhin blätterte Praiogrimm in seinen Notizen und reichte Friedewald schließlich ein Pergament. Dieser las es aufmerksam durch, bevor er sich wieder an Rondrard wandte. “Natürlich steht es Euch frei, die Baroness wegen Beleidigung zu verklagen. Da dies jedoch Streitigkeiten innerhalb der Adels sind und ich mir nicht anmaßen mag, in dieser Angelegenheit über die Baroness zu richten, muss ich Euch auffordern, diese Klage vor der Gräfin in Albenhus persönlich vorzutragen.” Friedewald schaute erneut auf das Pergament und las dann laut vor: “‘Im Übrigen ist es empörend, dass Kläger und Richter in einem Prozess, der sich so wichtig nimmt wie dieser hier, Sohn und Vater sind. Praios steh' uns bei!’ Diese Feststellung bezog sich offensichtlich auf meinen Herren Sohn, den Hohen Herren Kalman von Weissenquell. ‘Soweit mir bekannt ist, ist der Wohlgeborene Herr Friedewald von Weissenquell weder mein Vater, noch der des Hohen Herrn Eoban von Albenholz, für den ich hier, in absentia, die Klage vortrage.’” Friedewald blickte streng und verärgert zu Rondrard. “Vielleicht sollte ich mich der Reise nach Albenhus anschließen und bei der Gräfin eine Beleidigungsklage gegen EUCH, Hoher Herr von Storchenflug, einreichen? Ihr scheint mir wohl unterstellen zu wollen, dass es durchaus möglich sei, dass ICH den heiligen Traviabund mit meiner geliebten Rotrude, Boron sei ihrer guten Seele gnädig, je gebrochen haben könnte. DIES ist eine infame Unterstellung.”

“Wie Ihr den Akten entnehmen könnt, habe ich das weder gesagt noch angedeutet. Im Gegenteil: ich verwies darauf, dass der Hauptkläger und einer seiner Stellvertreter nicht mit Euch verwandt sind, um ihren Vorwurf und eventuell angedeutete Anschuldigung der Vetternwirtschaft zurückzuweisen. Ich habe damit Eure Ehre nicht verletzt, sondern geschützt. Vielmehr solltet Ihr mit mir reisen, um ebenfalls Klage gegen die Baroness zu erheben. Das Wort Kläger lautet im Singular und im Plural gleich. Es war also keineswegs klar, dass sie sich lediglich auf Euren Sohn berief und nicht auf die Gesamtheit der Kläger.”

Friedewald verdrehte die Augen. “Zumindest habt Ihr selbst diese Möglichkeit zur Sprache gebracht. Und nun versucht bitte nicht weiter hier der Baroness Worte in den Mund zu legen und zu verdrehen, die sie nie gesprochen hat, sondern die Eure Zunge formten. Und ansonsten wendet Euch an die Gräfin mit Eurem Anliegen.”

“DAS HABE ICH NICHT! Lest doch die Antwort der Baroness und stellt Euch vor, sie hätte das über Euch gesagt.” Dann wandte er sich Witta zu: “Hochgeboren Dürenwald, als Beisitzerin dieses Prozesses seid Ihr Zeugin geworden dieser Beleidigung durch die Baroness. Mögt Ihr der Gräfin meine Klage mündlich oder schriftlich vortragen oder aber mir eine Audienz beschaffen ?”

Bevor Witta zu antworten begann, ergänzte Praiogrimm Waldgrun: „Die Baroness hatte anschließend deutlich klargestellt, dass sie mit ‚Sohn und Vater‘ den Hohen Herrn von Weissenquell und seinen Vater, Seine Wohlgeboren“, er blickte zu Friedewald, „meinte.“

“Euer Wohlgeboren, wenn Ihr gestattet, würde ich gerne zu diesen Vorwürfen Stellung nehmen.” Die Baroness war aufgestanden. Sie war wie verwandelt, ihre Hände artig vor dem Schoß gefaltet, die Stimme leiser und der Ton moderater als sonst. Einzig ihre grauen Augen funkelten lebhaft und straften das sonstige Gebaren Lügen - freilich nur denjenigen offenbar, die schon nähere Bekanntschaft mit ihr gemacht hatten, was hier während der Verhandlung höchstens auf die Angeklagte zutraf.

„Bitte, sprecht, Euer Wohlgeboren!“, erteilte Friedewald der Baroness das Wort.

In Imitation einer demütigen Geste nickte sie dem Edlen dankbar zu.

“Ich denke, es handelt sich hier um ein…” Sie legte den Kopf schief, als suchte sie nach dem richtigen Wort. “...ein Missverständnis. Es war der Herr von Storchengarten selbst, der - mit seiner flapsigen Bemerkung - seine Abstammung infrage stellte. Nämlich dass er sich diesbezüglich nur auf das verlassen könne, was ihm elterlicherseits erzählt worden sei. Mit meiner Replik, das müsse er mit seiner Mutter klären, beabsichtigte ich natürlich auch eine Kritik, dass er seine Zweifel - ob tatsächliche, oder nur spöttisch vorgetäuschte - hier in diesem Kreise zur Schau trug. Ich konnte nicht wissen, dass ich damit offenbar in ein Hornissennest stach.”

Sie wandte sich an Rondrard, ihre Miene weiter ein Schaubild der Liebenswürdigkeit und der Unschuld: “Ich werde mich bei Euch nicht für eine Beleidigung entschuldigen, Herr von Storchenflug, die nicht stattgefunden hat. Wohl aber sehe ich, dass Euch die Konversation geschmerzt hat, ich habe ganz offensichtlich, ohne es zu wissen, in eine offene Wunde gefasst. Mit keiner Silbe, keinem Gedanken habe ich ausgesagt, dass Eure Mutter gegen Geld geschlechtliche Liebe anböte. Oder aus Brünstigkeit freigiebig mit ihrer Gunst sei. Also, wie Ihr sagtet, eine Metze sei. Schon garnicht habe ich unterstellt, dass sie Eurem Vater Hörner aufgesetzt habe, oder gar über die Standesherkunft der Männer, oder der Frauen spekuliert, mit denen Eure Mutter verkehrt haben mochte. Oder dass womöglich einer der Anwesenden Euer tatsächlicher Vater sein könnte. - Dies wurde mir, da gebe ich dem verehrten Vorsitzenden Recht, in den Mund gelegt.”

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. Noch immer war ihr Gesichtsausdruck mild, sie lehnte sich Fürsorge vorspielend vor: “Doch ich sehe Euch Euren Zorn nach, und den Terz, den Ihr hier veranstaltet. Ich weiß, Ihr habt es im Zorn und im Schmerz gesprochen. Von meiner Seite wird Euch nichts nachgetragen. Und ich halte an meiner Empfehlung fest, Ihr solltet Euch in Eurer Familie besprechen und das beilegen, was Euch so plagt, anstatt es so beschämend nach außen zu tragen. Dasselbe gilt übrigens für den Prozess hier, in welchem Ihr bizarre Vorwürfe konstruiert habt, um Eure Wut auf eine… - andere? - Weibsperson abzulenken.” Arda deutete auf die Angeklagte, ohne zu ihr herüberzusehen. “Amazonenliebe…” Arda rollte mit den Augen, wie um abermals zu demonstrieren, wie absurd sie die Vorwürfe fand.

Diese letzten Worte aussprechend, nahm die Baroness wieder Platz. Es war nun auch für weniger intime Kenner der Kaldenbergerin erkennbar, dass sie mit sich zufrieden war.

Doratrava schaute sich den Streit zwischen Arda und Rondrard mit zunehmendem inneren Kopfschütteln an. Für was diese Verhandlung gegen sie doch alles gut war. Da sie Arda kannte, glaubte sie, ihr Spiel zu durchschauen, doch ausnahmsweise nahm sie es ihr nicht übel, traf es doch mit dem Storchenfluger keinen Falschen. Wie auch immer, es gab Gegenden, da mussten zwei Streitende ihren Zwist mit den Fäusten austragen, und wer gewann, hatte Recht. Bisher hatte die Gauklerin das für barbarisch gehalten, aber ein paar der hier Anwesenden würden solche Sitten vermutlich guttun, außerdem waren die Streitigkeiten dann schneller beigelegt.

Auch Merle beobachtete den Wortwechsel mit großen Augen. Sie konnte die Unerschrockenenheit und Eloquenz, mit der die Baroness hier gegenüber dem eben noch so großspurig auftretenden Ritter Rondrard ihre Frau stand, nur zutiefst bewundern.

Rondrard kochte vor Wut und das konnte jeder sehen. Die Hände waren zu Fäusten geballt und sein Kopf leuchtete rot. Er presste die Lippen aufeinander und der Kiefer malmte. Diejenigen, die bis zu vier, fünf Plätze von ihm entfernt saßen, konnten deutlich das Knirschen seiner Zähne vernehmen. ´Jetzt hat sie es schon wieder getan und sogar schlimmer gemacht!´, ging es ihm durch den Kopf. Sein wütender Blick wanderte von dem selbstzufriedenen Grinsen der Baroness hinüber zum selbstgefälligen Blick des Richters. Hier konnte er keine Unterstützung zur Rettung seiner Ehre mehr erwarten. Mit den Weissenquells war er durch. Ein letzter Strohhalm blieb ihm noch: Ihre Hochgeboren Witta Gunhild von Dürenwald, Vögtin der Gräfin Elfgyva von Hardenfels.

***

Friedewald schaute sich schließlich um. Der Verlauf des Verfahrens hatte sich zusehends in eine Richtung entwickelt, die Friedewald nicht gefiel. Anstatt mit dieser Verhandlung die Gemüter zu beruhigen, waren die Gräben zwischen den Beteiligten immer tiefer und tiefer geworden. Fast rechnete der Edle schon mit der nächsten Überraschung, als er die folgende Frage stellte: „Gibt es weitere Anträge, was das weitere Schicksal der Tänzerin Doratrava anbelangt?”

Nun war es an Lucilla, sich zu erheben. Die Junkerin hatte zwar schon gesprochen, aber um ihrer nun folgenden Rede mehr Gewicht zu verleihen, entschied sie sich, sich der gesamten Versammlung noch einmal vorzustellen. Langsam strich sie ihr Kleid mit beiden Händen glatt, um etwas Zeit zu gewinnen und sich zu sammeln. Dann räusperte sie sich, blickte zum Schriftführer und sprach im Folgendem so langsam, dass er mitschreiben konnte: “Lucilla Amalteia von Galebfurten, Erbvögtin von Galebquell, Junkerin von Galebfurten und vom Quellpass, Rechtsgelehrte und ordentlich bestellte Richterin in Galebquell.”

Die Adlige ließ ihren Blick einmal durch die Menge gleiten, bevor sie nun mit vor dem Bauch gefalteten Händen an die Masse der Versammelten gerichtet, fortfuhr. “Wir haben hier heute viele Stimmen gehört, solche die Anklage erheben, aber auch solche, die die Angeklagte in Schutz nehmen. Beide halten sich meinem Empfinden nach die Waage.

Als Anmerkung sei mir gestattet, nochmals auf die Abwesenheit des Hauptanklägers hinzuweisen. Diese Abwesenheit wirft ungeachtet seines Leumundes kein gutes Bild auf die Glaubwürdigkeit betreffender Vorwürfe. Ich als Richterin würde dies entsprechend berücksichtigen.

Doch dies nur am Rande. Fest steht, dass dieser Fall nicht in die Zuständigkeit der Kirchen fällt. Wir haben hier heute keinen einzelnen Grund gehört, der rein rechtlich für die Überstellung an eine Kirchengerichtsbarkeit spricht.

Für mich ist nach den vergangenen Stunden nur eines klar: Das Bild ist uneinheitlich. Viele der anwesenden Personen sind derart zerstritten, dass selbst übelste Beleidigungen ausgesprochen werden. Diese Streitigkeiten haben den Prozess bis hierhin gestört. Dies ist dieser Versammlung unwürdig. Schämen er und sie sich. Wir sind hier unter den allsehenden Augen des Richters Alverans versammelt. Auf meinen Ländereien hätte ich solche Entgleisungen mit einem Verweis jener Person geahndet.

Zum Thema. Selbst wenn nicht in Abrede gestellt werden kann, dass von der Magie der Angeklagten ein gewisses Gefahrenpotential ausgeht, so kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass sie auch in böser Absicht handelte. Ich habe ein langes Gespräch mit Doratrava geführt und meine Menschenkenntnis sagt mir, dass sie hehre Absichten hatte in all ihrem Tun. Für ihre guten Absichten bürgen darüber hinaus Personen mit untadeligen Leumund. Als Richterin würde ich hier dennoch kein eindeutiges Urteil fällen können und würde daher andere Wege beschreiten. Wege, die aufgrund der Bedeutsamkeit dieser Sache offen stehen. Sie nicht zu nutzen wäre entweder Leichtsinn oder schlicht Ignoranz.

Mein Vorschlag wäre also: Lasst Doratrava nach Elenvina überstellen. Sie kann dort an der Akademie der Weißen Gilde gegen die Anklagepunkte Stellung beziehen und man wird prüfen, ob sie die Wahrheit spricht. Ich selbst würde ein entsprechendes Schreiben gern ausformulieren und mich der Sache persönlich annehmen, wenn dies gewünscht ist. Natürlich würde sie der Anwendung der Magie zustimmen müssen, aber ich sehe diese Befragung als unausweichlich. Vorher kann sie nicht glaubwürdig entlastet werden und bei alledem was hier vorgetragen wurde, sehe ich diesen Aufwand auch als gerechtfertigt.

Die hier gegen den Willen der Angeklagten vollzogene Magie fällt unter die Gildengerichtsbarkeit und sollte dort angezeigt werden. Ich kann, so dies gewünscht ist, ein entsprechendes Schreiben vorbereiten. Kein weltlicher Richter sollte sich hier ein Urteil anmaßen.

Zurück zu meinem Vorschlag. In Elenvina und das ist für mich ebenso bedeutsam wie die Klärung der Anklagepunkte, kann die Art von Doratravas Magie klassifiziert werden. Man wird feststellen, ob von ihr eine Gefahr ausgeht, ob ihre Seele befleckt ist oder nicht und was sie ist. Denn bedenket, wenn selbst ihre Hochgeboren von Rodaschquell nicht weiß, ob sie eine Halbelfe ist, wer von uns will sich anmaßen dies festzustellen. Ihre Magie kann im Umkehrschluss jedwede Quelle besitzen. Etwas zu glauben heißt nicht, es auch zu wissen.

Bedenkt weiterhin und damit meine ich im speziellen auch all ihre Fürsprecher: Wenn Doratrava weiter als fahrende Gauklerin tätig sein will, ist es unerlässlich ihre Bedenkenlosigkeit festzustellen, denn welcher Adelige kann sie seinen Gästen präsentieren, wenn die Gefahr besteht, dass ihre Magie unkontrolliert ausbricht? Niemand, denn jeder, der schweigt, würde den Adel willentlich einer möglichen Gefahr aussetzen. Wer der reinen Herzens und göttertreu ist, will dies? Nochmals niemand, so will ich hoffen.

Nein, denn ein Adliger, der sie in Kenntnis dessen an seinen Hof holt, würde sich, wenn etwas passiert, unweigerlich einer Blutfehde aussetzen.” Lucilla machte eine rhetorische Pause, um ihre Worte sacken zu lassen.

“Es ist also im Sinne aller, dass dies geschieht. Ich für meinen Teil werde dem Adel in Gratenfels jedenfalls abraten, sie am Hofe zu dulden, wenn dies nicht geschieht - wenn die Quelle ihrer Magie nicht geklärt und für unbedenklich beurteilt wird.”

Abermals strich sich die zierliche, junge Frau das Kleid glatt und setzte sich dann wieder mit einem Lächeln auf den Lippen.

“Habt Dank, meine Herren und Damen. Ich werde all Eure Anliegen sorgfältig überdenken. Doch als nächstes folgen nun die Schlussworte der Angeklagten.” Friedewalds aufmunternder Blick wanderte zu Doratrava.

Die Angeklagte schloss kurz die Augen, kurz flackerte ein müder und resignierter Blick über ihr Gesicht, dann riss sie sich zusammen. Es war nicht einfach gewesen, all den Unsinn und all die Verleumdungen anzuhören, die man ihr an den Kopf geworfen hatte, und dabei ruhig zu bleiben, daher fühlte sie sich erschöpft und ausgelaugt. Aber der Richter wollte, dass sie nochmals das Wort ergriff, also tat sie das.

"Es gibt eigentlich nichts zu sagen, außer dem, was schon alles gesagt worden ist. Dennoch mag die Essenz meiner Aussagen in dem ... ein wenig ausufernden Verlauf der Verhandlung verloren gegangen sein." Doratrava sprach ruhig und ohne große Betonung, fast schon tonlos, und ihr Gesicht zeigte dabei kaum eine Regung, wenn auch ihr Blick bei diesen Worten vor allem die Ankläger traf: Rondrard, Travian, Kalman. Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter: "Ich bin keinen Pakt eingegangen. Ich habe zu keiner Zeit mit dem Paktierer oder seinen Schergen zusammengearbeitet. Ich habe mein Bestes gegeben, um der Gruppe der Ermittler zu helfen - mit meinen Möglichkeiten und Fähigkeiten. Nach Lützeltal bin ich gekommen, um bei einer Hochzeit zu tanzen, aus keinem anderen Grund. Dass ich dabei eine Freundin fand, die es wert ist, um jeden Preis beschützt zu werden, wusste ich vorher nicht." Wieder machte Doratrava eine Pause und schenkte nun Merle einen warmen, liebevollen Blick, für den sie die Maske, welche sie aufgesetzt hatte, weil Teile der Anwesenden ihre Gefühle nichts angingen, kurzzeitig fallen ließ.

"Nichts anderes habe ich getan, als ich Merle von hier fortbrachte", fuhr sie dann fort, die Maske war wieder an ihrem Platz. "Dass dies auf die Weise geschah, wie es geschah, und dass uns auf ... der 'anderen Seite' ein böses Wesen erwartete, konnte ich nicht wissen und das war auch nicht meine Absicht. Diejenige, die am meisten Schaden dadurch erlitten hat, bin ich selbst, körperlich wie seelisch. Dass auch mein Freund Nivard darunter leiden musste, tut mir leid und ich entschuldige mich nochmals ausdrücklich und in aller Form dafür." Nun war es Nivard, dem sie einen Blick zuwarf, der versuchte, ihr ehrliches Bedauern zu transportieren.

"Dennoch bin ich angeklagt worden - für Dinge, die ich weder getan noch vorgehabt habe. Und für Dinge, für die es mir nicht im Traum eingefallen wäre, daraus eine anklagenswerte Tat zu konstruieren, hätte sie jemand anderes getan. Für Paktiererei, was sich letztlich als haltlos herausgestellt hat. Und schließlich für das Versetzen von Merle - und Rahjel, der ohne mein Zutun dafür gesorgt hat, mitzukommen - in eine Globule. Nun soll ich dafür bestraft werden, dass dort ein böses Wesen lauert. Das ist ja so, als wenn jemand eine Reise in die Wildnis unternimmt und dann dafür bestraft werden soll, weil ihn oder sie Orks überfallen. Was für eine 'Gefahr' soll denn von mir ausgehen?" Nun war es Lucilla von Galebfurten, welche Doratrava musterte. "Ich kann das böse Wesen nicht herbeirufen, wie auch jener Reisende nicht die Orks herbeirufen kann, wenn er an einem anderen Ort zu einer Feier geladen ist. Und wenn ich nur dafür bestraft werden soll, dass ich jemanden versetzen kann - wobei ich mir, wohlgemerkt, gar nicht sicher bin, dass mir das jemals wieder gelänge - dann müsst ihr doch jeden Menschen oder Elfen oder Zwergen bestrafen, der in der Lage ist, nachts jemanden einen Knüppel über den Kopf zu ziehen, ihn oder sie in einen Sack zu stecken und zu verschleppen - einfach so auf Verdacht, denn er oder sie könne so etwas ja mal tun."

Wieder machte Doratrava eine Pause und schaute nun zu Rahjel und Rionn hinüber. "Dennoch willige ich freiwillig ein, mich von Rahjan Bader untersuchen zu lassen. Und mehr habe ich nicht zu sagen, außer, dass sich die Anklage damit, die eigenen Leute zu verklagen, keinen Gefallen tut. Sie schwächt ihre eigene Seite und verbraucht unnütz Zeit und Energie, um Gespenster zu jagen. Und der Paktierer, der Gwenn entführt hat, lacht sich derweil irgendwo tot."

Doratravas letzte Worte trieben einen dicken Pflock in Friedewalds Herz. Denn auch, wenn ihn diese leidige Verhandlung irgendwie für eine Weile von der Sorge um Gwenn abgelenkt hatte, machte es die Tänzerin nun nur zu deutlich, dass diese ganze Zeit der Diskussion Zeit war, die die Anwesenden hätten nutzen können, um doch noch zu versuchen, Gwenn zu suchen und zu retten. Aber nun war es so und es galt auch noch, Doratravas Leumundszeugen das Schlusswort zu erteilen. „Wer möchte die Worte der Tänzerin bekräftigen?” Erneut ließ Friedewald seinen Blick umherschweifen.

Nun stand die junge Ingra-Geweihte auf, trat auf den Richtertisch zu und neigte ehrerbietig den Kopf. Nach mehrmaligem Räuspern erhob sie ihre wie stets laute, klare und deutliche Stimme: “Euer Wohlgeboren, hohes Gericht, ich bin eine Gesellin des Feuergottes und man mag mir vorwerfen, dass ich mich hauptsächlich mit dem Schmiedehandwerk auskenne und kaum mit Gesetzen, Edikten und Verordnungen.” Mit einer fast hilflosen Handbewegung wies sie auf die zahlreichen aufgetürmten Pergamentstapel und die Ausgabe des Codex Raulis, die vor Praiogrimm lagen. Sie seufzte leise. “Man mag genauso sagen, dass ich jung bin und noch nicht viel von Dere gesehen habe, dass ich naiv bin, zuerst immer das Gute in den Menschen sehen zu wollen… Dennoch gibt es Dinge, die ich weiß, sicher weiß, deren Wahrheit ich in meinem Herzen fühle, ganz besonders, wenn ich meinem Gott nahe bin. Eine davon ist die Kameradschaft, die Freundschaft, die Gefährten verbindet, die miteinander reisen, miteinander kämpfen, einander in Freud und Leid zur Seite stehen. Ich habe zusammen mit Doratrava eine Queste gegen das Böse bestritten - gegen Umtriebe des Namenlosen - wir haben Seite an Seite gestanden in diesem Kampf, haben uns gegenseitig mehr als einmal das Leben gerettet. Der Vorwurf, Doratrava, die ich als tapfere, unermüdliche und entschlossene Streiterin, ja Heldin im Kampf gegen das Böse kenne, wäre eine Paktiererin oder Verräterin, klingt in meinen Ohren so absurd, so falsch, dass es mich verwundert, wie wir überhaupt so lange darüber diskutieren können. Aber um es noch einmal klar und deutlich zu sagen: Als Geweihte eines der Zwölfgötter verbürge ich mich hiermit für Ehre, Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit meiner Freundin und Gefährtin Doratrava.” Imelda musste nach diesem Redeschwall erst einmal tief Luft holen, bevor sie, noch ein wenig lauter, fortfuhr: “Ich weiß, dass Doratrava nichts Böses getan hat. Und wenn die angeblich Geschädigten ihrer Taten”, die rotblonde Geweihte ließ ihren Blick über Nivard, Merle und Rahjel schweifen, “wenn sie keine Anklage erheben wollen, wer will behaupten, dass hier überhaupt irgendein Verbrechen geschehen wäre? Deshalb fordere ich das hohe Gericht auf, Doratrava von allen Vorwürfen freizusprechen und ihr ihre Freiheit zurückzugeben.” Imelda nickte zu ihren eigenen Worten, anscheinend zufrieden, dass ihr das Plädoyer bis hierhin so flüssig gelungen war, dann schaute sie in die Runde und sprach ein wenig leiser weiter: “Als Dienerin der Zwölfgötter haben mich heute hier vor allem Zwist, Streit und Zwietracht unter den Brüdern und Schwestern schockiert. Ich bin fest davon überzeugt, dass gerade wir, die unser Leben den Göttern geweiht haben, gemeinsam und geeint gegen das Böse streiten müssen, dass es unsere Pflicht ist, im Kampf gegen die Erzdämonen an einem Strang zu ziehen, eine geschlossene Front zu bilden. Ich hoffe sehr”, sie schaute mit ernstem, aber nicht unfreundlichen Blick zu Travian, “dass wir nach dieser Verhandlung die Gelegenheit finden, miteinander zu sprechen und dass sich am Ende vielleicht doch mehr Gemeinsamkeiten zeigen als Trennendes. Wie auch immer - ich denke nicht, dass irgendjemand das Recht hat, Doratrava einzusperren oder mit Gewalt in einen bestimmten Tempel oder zu einer Seelenprüfung zu zwingen. Doch wenn es tatsächlich so ist, dass sie die, ähm… Aufmerksamkeit von Feenwesen auf sich gezogen hat oder irgendwie mit denen in Verbindung steht”, der Hadingerin war anzusehen, dass solcherlei Dinge ihr fremd waren, “dann wäre es sicherlich zu empfehlen, wenn sie sich aus freien Stücken in einen Tempel ihrer Wahl begibt, um dem auf den Grund zu gehen.” Nun suchte sie den direkten Blickkontakt mit der Tänzerin, um ihr ein freundliches, aufmunterndes Lächeln zuzuwerfen, das diese dankbar erwiderte. “Und wenn du möchtest, dann unterstütze ich dich natürlich auch gerne dabei.” Kurz schien Imelda nun zu überlegen, ob sie noch etwas vergessen hatte, straffte sich jedoch und deutete erneut eine Verbeugung vor Friedewald an, bevor sie sich wieder auf ihren Platz setzte.  

“Vielen Dank, Euer Gnaden, für Eure unvoreingenommene Sichtweise”, entgegnete Friedewald der jungen Geweihten. Als er sich umschaute, blieb sein Blick zunächst auf seiner Schwiegertochter hängen.

Merle erhob sich, langsam und zögerlich, mit verlegen gesenkten Lidern. Es war ihr anzusehen, dass sie sich erst zwingen musste, ihrem Schwiegervater richtig ins Gesicht zu blicken. Friedewald lächelte ihr aufmunternd zu. Sie straffte sich, verneigte sich vor dem Edlen und begann mit zarter, ruhiger Stimme zu sprechen: “Gestern sind hier in Lützeltal, das mir zur geliebten Heimat geworden ist, entsetzliche Dinge geschehen. Gute Leute wie Bernhelm, die wichtige Grundfesten dieser Gemeinschaft waren, wurden ermordet. Meine liebe Schwägerin Gwenn wurde entführt und grausam verstümmelt.” Merle presste die Lippen zusammen, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten, doch das Zittern in ihrer immer noch sehr leisen Stimme war nicht zu überhören. “Dazu kommt, dass mein Ehemann mir entsetzlich weh getan hat. Seit zwei Götterläufen betrügt er mich nun schon; beim ersten Mal musste ich”, ihre Hand griff nach dem Amulett an ihrem Hals, “den ehebrecherischen Akt, oder vielmehr das Begehren, die Gier meines Mannes auf eine andere Frau unmittelbar… mitfühlen. Hierhin, wo wir eigentlich ein traviagefälliges Hochzeitsfest feiern wollten, hat er seine schamlose Gespielin mitgebracht, erst unter einem fadenscheinigen Vorwand… später musste ich mit ansehen, wie die beiden direkt vor meinen Augen…”, sie biss sich in dem Bemühen, vor dem Edlen ihre Ausdrucksweise zu zügeln, auf die Zunge, “einen Rahjabund geschlossen und sich körperlich vereinigt haben. Und dann, als Gudekars Lügen enthüllt waren, hat er mir fast schon stolz ins Gesicht gesagt, dass er unseren Traviabund auch in Zukunft zu brechen gedenkt, dass er mich aus seinem Leben verstoßen, mit seiner ‘neuen Frau’ fortgehen und seine Familie, seine kleine Tochter im Stich lassen will. Und um mit seiner Buhle ungehindert fliehen zu können, hat er gestern Abend einen Zauber gegen mich gewirkt, um mir seinen Willen aufzuzwingen und mich in Schlaf zu versetzen. Doch all diese frevlerischen Taten meines Mannes scheinen für die meisten hier weniger schlimm oder verwerflich zu sein”, sie warf ihrem Bruder Travian einen anklagenden Blick zu, “als der verzweifelte Versuch von Doratrava, mich in dieser schrecklichen Zeit zu unterstützen und zu beschützen.” Nun wurde Merles Ausdruck warm und liebevoll, als sie die Tänzerin mit einem innigen, wenn auch traurigen Lächeln ansah. “Doratrava hat nichts Böses getan und hatte keine bösen Absichten. Sie ist eine großherzige, ehrliche, mitfühlende und uneigennützig handelnde Frau, eine unglaublich liebe Freundin! In den schweren Stunden gestern hat sie mir zur Seite gestanden, hat mir Kraft und Stärke gegeben und mir geholfen, den schrecklichen Tag irgendwie zu überstehen. Ja, sie hat im Gutshaus offenbar einen Zauber gewirkt… doch hat sie Rahjel und mich nicht entführt! Vielmehr hat sie versucht, mich aus dieser für mich schlimmen, aufwühlenden Situation herauszubringen. Ich weiß, unser Verschwinden war für die Leute im Haus sicherlich sehr… erschreckend. Aber wir sind wohlbehalten wieder zurück! Wir sind wohlauf! Doratrava kann nichts dafür, dass wir in dieser Feenwelt auf ein seltsames, feindseliges Wesen trafen. Und sie kann genauso wenig etwas dafür, dass sie nun einmal eine Halbelfe ist und instinktiv zaubern kann. Keiner von uns angeblich ‘Geschädigten’ hat Anklage erhoben. Das unselige, mit Blut beschriftete Kästchen, das wir am See gefunden haben, das hatte der götterverlassene, sterbende Scherge, der zuvor die Frau von Kranickau erschlagen hatte, in seinen Händen gehalten, während er uns beschimpfte und verhöhnte. Wie kann man Doratrava vorwerfen, dass sie zufällig auf dem selben Wagen saß, auf dem die Kiste dann transportiert wurde?” Merle atmete tief durch und bemühte sich, ihre Rede ruhig und konzentriert zu Ende zu bringen. “Deshalb bitte ich das hohe Gericht darum, Doratrava für diese ‘Verbrechen’, die allesamt keine sind, nicht länger festzuhalten. Hört auf, eine unschuldige Frau, eine ehrbare Kämpferin gegen den Paktierer und alles Unheilige, hier grundlos anzuklagen und zu verfolgen. Ich bitte Euch, Euer Wohlgeboren, mir zu vertrauen”, nun schaffte es Merle, den Blick Friedewalds zu suchen und ihm für mehrere lange Momente tief in die Augen zu blicken, “wenn ich hier und jetzt mein bescheidenes Wort für Doratrava einlege.”

Nach Merle fühlte sich auch Nivard bemüßigt, noch kurz das Wort zu ergreifen. Er erhob sich und räusperte sich zunächst:

Mit einer einladenden Geste seiner Rechten Hand, erteilte Friedewald dem Krieger als nächstes das Wort.

"Nivard von Tannenfels, für die Angeklagte. Ich kann mich nur den durch und durch wahren Worten meiner drei Vorrednerinnen - Merle Dreifelder von Weissenquell, ihre Gnaden von Hadingen und der fälschlich Beschuldigten, Doratrava, selbst anschließen und diese unterstreichen! Mit ihnen ist alles gesagt - es muss nicht auch noch von mir gesagt werden. Ich fasse mich daher kurz: Wir wurden soeben alle Zeugen, wie Anklagepunkt für Anklagepunkt entweder bereits dem Wunsch der vermeintlich Geschädigten folgend fallengelassen wurde oder an mangelnder Beweiskraft der Anklage sowie aus meiner Sicht eindeutigen Gegenbeweisen zerschellt ist. Dieser Prozess sollte daher... nein, aus meiner Sicht muss er... ganz klar mit einem Freispruch der Angeklagten enden. Genau darum ersuche ich in aller Demut das hier tagende Gericht, Euer Wohlgeboren.” Nivard senkte sein Haupt in Richtung Friedewald.

Doch damit war er noch nicht am Ende angelangt: “Ferner möchte ich hervorheben, dass wir alle uns ein Vorbild an der Angeklagten nehmen sollten. Sie begibt sich in Obhut einer der zwölfgöttlichen Kirchen, um sich auf mögliche Gefahren, die von ihr unfreiwilligerweise und unbewusst ausgehen könnten, untersuchen zu lassen, und übernimmt damit Verantwortung für sich und die, die ihr nahe stehen. Wir alle, die wir den Geschehnissen und dem Unfrieden dieser Tage ausgesetzt waren oder sogar, ob willentlich oder nicht, dazu beigetragen haben, sollten ihrem Beispiel folgen - für die Gemeinschaften, denen wir in Travias und der anderen Götter Namen angehören, und die zu schützen uns allen heilig sein sollte."

Damit ließ der junge Krieger es bewenden und nahm wieder Platz, nicht ohne dabei Doratrava noch ein aufmunterndes Lächeln zuzuwerfen. Diese nickte dankbar zurück.

Was wohl der Herr Korninger zu alldem sagen würde?

Die Gedanken der Baronin von Rodaschquell drehten sich angesichts der Ereignisse dieses Prozesses, der in ihren Augen teils mehr einem Schlachtfeld glich anstatt der Wahrheitsfindung zu dienen, einen Moment lang unweigerlich um ihren Vogt. Schließlich war Bernhelm Korninger ein ausgesprochen kundiger Rechtsgelehrter, der in Gareth und Elenvina ausgebildet worden war – und berüchtigt dafür, einen jeden Gerichtssaal zu seiner persönlichen Bühne zu machen, um seine Gegenspieler mit schneidigen Sätzen zu durchbohren, die er staubigen Büchern entlockte.

Einmal mehr erhob die Baronin von Rodaschquell sich und schritt nach vorn.

Die Aura, die die Elfe umgab, ließ Friedewald besonders erwartungsvoll auf ihre Worte lauschen.

„Dass die Angeklagte eine Paktiererin ist, scheint mir mehr als unwahrscheinlich, das möchte ich bekräftigen. Es entspricht nicht ihrem freien Wesen. Und ebenso denke ich nicht, dass die Ereignisse, die sie entfacht hat, aus einer böswilligen Absicht entstanden sind. Gleichwohl bin ich der Ansicht, dass Doratrava nicht kontrollieren kann, was in ihr schlummert. Und so mag es durchaus sein, dass es auch fürderhin unvorhergesehene Ereignisse geben wird, die dann womöglich nicht so vergleichsweise glimpflich ausgehen mögen wie in diesem Fall. Denn sie ist ungestüm, und ein starkes Gefühl allein mag dazu führen, dass sie sich erneut darin verliert und das Mandra aus ihr bricht, ohne dass sie es bewusst einsetzen will. Es geschähe also nicht in böser Absicht und so, wie ein finsterer Schwarzkünstler es täte oder ein Räuber, der sein Schwert zum Schlage führt. Es würde einfach aus ihr hervorbrechen. So, wie ein Gedanke, der plötzlich aufkeimt und dann Realität wird. Doch das gereichte ihr selbst wie auch anderen zum Schaden."

Sie wartete einen Moment, um den Anwesenden Gelegenheit zu geben, über ihre Worte nachzudenken.

„Wenn es so ist, wie ich denke, kann sie nichts dafür. Denn sonst müsste man auch jene zur Verantwortung ziehen, die ihr unwissentlich vorenthalten haben, was sie seinerzeit benötigt hätte. All die Geschehnisse hier scheinen mir in diesem Fall eine tragische Entwicklung zu sein, unabhängig von dem grauenhaften Übel, mit dem der Pruch uns schlägt. Die Frage muss daher nicht primär lauten, welche Schuld auf ihr lastet, sondern wie ihr geholfen werden kann."

Sie schaute wieder zur Angeklagten. Traurig. Gütig. Mitfühlend.

„Ich weiß nicht, ob Doratrava eine Halbelfe ist oder nicht. Noch nicht. Denn eine „Untersuchung", wie Ihr es nennt, habe ich selbst nie vorgenommen. Doch gleichsam wie Ihre Wohlgeboren von Galebfurten bin ich davon überzeugt, dass genau dies geschehen muss. Wobei es meiner Ansicht nach nicht bei einer so genannten Untersuchung bleiben sollte: Es wäre ratsam, sie auch zu unterweisen. Damit sie versteht, was sie ist. Denn das ist der Anfang."

Aber nicht in Elenvina, beim Lied meiner Ahnen!

Sie hatte vernommen, dass Elevinnen und Eleven dort geschlagen wurden, wenn sie nicht die Ergebnisse zeigten, die man von ihnen erwartete. Und das Selbstverständnis, mit der diese Akademie in den Köpfen wühlte und so womöglich noch mehr Schaden anrichtete, hatte Herr Adelchis bereits unter Beweis gestellt, auch wenn seine Absichten gut gewesen sein mögen.

„Allerdings denke ich nicht, dass die Akademie in Elenvina der richtige Ort dafür wäre. Bislang ist Doratrava von Menschen aufgezogen und unterrichtet worden - nach allem, was wir zu wissen vermeinen. Vielleicht ist nun der Zeitpunkt gekommen, jene um Rat zu ersuchen, die einen stärkeren Bezug zu dem elfischen oder gar anderweltlichen Erbe haben, das auf die ein oder andere Art in ihr schlummert. Aufgrund ihres Wesens glaube ich, dass es wichtig ist, hier besonders behutsam vorzugehen. Ich schlage daher vor, sie zum Seminar der elfischen Verständigung zu entsenden. Ich kenne diese Akademie und jene, die dort lehren, denn sie liegt in meiner Heimatstadt. Mein Mündel, Madalea Graphiella von Rabenstein, wird dort bereits ausgebildet. Ich verbürge mich dafür, dass die Angeklagte in Donnerbach die bestmögliche Unterstützung erhalten würde, um zu erkennen, wer sie ist. Doch sie selbst wird es auch wollen müssen. Und ungezwungen, wie sie ist, mag es Doratrava schwerfallen, längere Zeit an einem Ort zu verweilen."

Ihrer Worte waren genug. Was sie zu sagen hatte, hatte sie gesagt. Nun lag es an Friedewald. Sie neigte einmal mehr ihr Haupt und schritt wieder zu ihrem Platz.

“Habt vielmals Dank, Euer Hochgeboren. Eure Worten wirken weise und bedacht. Ich werde sie mir zu Herzen nehmen.” Friedewald verneigte sich im Gegenzug vor Liana.

Die Worte der Elfe klangen gar nicht so verschieden von denen der Galebfurterin, und in ihren Ohren eher nach kalter Analyse als nach mitfühlender Unterstützung. Und beide wollten Doratrava irgendwo hinschicken, wo sie eigentlich gar nicht hinwollte, wobei sie Donnerbach Elenvina tausendmal vorziehen würde. Aber das würde wohl bedeuten, dass sie monate- oder gar jahrelang dort gebunden sein würde, um eine Ausbildung zu erfahren, wobei sie sich überhaupt nicht sicher war, ob diese von Erfolg gekrönt sein würde. Dagegen war sie sich sehr sicher, wie auch Liana schon vermutet und angedeutet hatte, dass es nicht lange dauern würde, bis sie es dort nicht mehr aushielt …

Rionn stand langsam auf und holte erst einmal tief Luft, atmete durch. In diesem Moment flatterte wieder der Schmetterling heran, der vorhin weggeflogen war, als der Tsageweihte energisch geworden war. Nun hielt sich der Falter in der Luft über dem Geweihten, als er sprach. In sehr ruhigem Ton erzählte Rionn: “Als ich im Sommer vor zwei Götterläufen in Albernia war, bin ich einer Frau begegnet, die den Tsatempel in Völs am Waldsee besucht hat. Sie hat in jungen Jahren viel erlebt, ist viel herumgekommen, die ganze bekannte Welt hat sie bereist. Auch schien die Dame mir sehr intelligent zu sein. Leomara della Rescati war ihr Name. Sie erzählte mir, dass man in der Philosophie unterscheiden würde zwischen Wahrheit und Wirklichkeit.

Ein Magier beschwört einen Dämon und lässt ihn in eine schwangere Frau fahren. Der Dämon hat den Auftrag, die Mutter zu zwingen, ihr Kind zu töten. Das macht sie dann auch. Wer ist der Mörder?

Der Magier hat dem Kind kein Haar gekrümmt. Jeder Beobachter wird bestätigen: Die Mutter hat ihrem Kind den Hals durchgeschnitten. Man hat auch das Messer bei ihr gefunden. Und das Blut klebt an ihren Händen. Das ist die Wirklichkeit.

Sie wurde gezwungen. Sie wollte das nicht. Sie wird bis zum Ende ihres Lebens an Albträumen leiden. Ohne den Dämon hätte sie das nie getan.

Der Dämon ist lediglich ein Werkzeug. Er musste tun, was ihm der Magier durch eine gut vorbereitete Beschwörung und Beherrschung aufgetragen hatte. Er hat keine Wahl. Das ist die Wahrheit.

Die Wahrheit stimmt nicht mit der Wirklichkeit, die wir sehen können, überein. Alle Hinweise, die wir mit unseren Augen erfassen, beweisen uns, dass die Mutter ihr Kind umgebracht hat.

Der Magier war nicht am Tatort. Es wird Leute geben, die bezeugen, dass er in einem Gasthaus gespeist oder an der Akademie unterrichtet hat, als das blutige Geschehen seinen Lauf nahm. Er war vielleicht mehr als hundert Meilen weg.

Aber obwohl er den Morddolch nie berührt hat, ist er der Mörder – in der Wahrheit – nicht in der Wirklichkeit.

Es geht um moralische Verantwortung. Nicht um die Ausführung der Tat. Doratrava mag Merle und Rahjel mit in die Feenwelt genommen haben. Aber ist sie dafür auch verantwortlich? Das Feenwesen, welches dies alles verursacht hat, können wir hier nicht zur Rechenschaft ziehen. Von diesem Feenwesen geht die Gefahr aus, nicht von Doratrava.

Es ist aber unsere moralische Verantwortung, zusammen mit Doratrava einen Weg zu finden, Gefahren, die von diesem Feenwesen ausgehen, zu bannen. Die Tsakirche hat eine große Nähe zu Kobolden und Feen, weil diese der Ewigjungen heilig sind. Es ist nicht auszuschließen, dass eben jenes Feenwesen es gar nicht böse oder übel meint. In der Feenwelt gelten andere Gesetze als hier, vieles ist uns fremd, Beweggründe und Verhaltensweisen sind nicht leicht zu erkennen.

Ich bitte dich, Friedewald, wenn du nun urteilst, dies abzuwägen. Mein dringender Rat ist, Doratrava in die Obhut der Kirchen zu geben. Vorgeschlagen wurde der `Vierschwesternorden´. Dort sollte alle Kompetenz in dieser Sache zu finden sein. Ich halte insbesondere Rahjan Bader für den geeigneten Seelsorger. Zuständig - das möchte ich noch einmal betonen - ist die Tsakirche, für die ich hier spreche.

Ich bin auch zuversichtlich, dass es den Kirchen gelingen wird, weitere Klärung herbeizuführen und auch Doratravas Ruf wieder herzustellen, so dass sie auch wieder wie zuvor ein gern gesehener Gast bei den vielen Festen in den Nordmarken sein wird.”

Abschließend nickte der Tsageweihte zunächst dem Edlen von Lützeltal zu, dann Doratrava, und schaute dann freundlich lächelnd in die allgemeine Runde, bevor er sich setzte. Dann ließ der Schmetterling, der ihn die ganze Zeit umkreist hatte, sich auf seiner Schulter nieder.

“Auch Eure Worte und Empfehlung werde ich bei meinem Urteil berücksichtigen, Euer Gnaden Rionn”, bestätigte Friedewald.

“Rionn, einfach nur Rionn”, kam ein leiser Kommentar vom Platz des Tsageweihten.

“Nun, da alle Worte gewechselt, alle Sichtweisen vorgetragen und alle Forderungen geäußert wurden, ist es an der Zeit für mich, über das Gehörte zu sinnieren und mein eigenes Urteil zu fällen.” Friedewald blickte noch einmal eindringlich in die Runde, um deutlich zu machen, dass er weitere Wortmeldungen jetzt nicht mehr dulden würde, bis sein Urteil gesprochen war.

~ * ~

Das Urteil

Nachdem alle ihre letzten Gedanken und Empfehlungen ausgesprochen hatten, und dabei neue Probleme aufgebrochen waren, stand Friedewald wortlos von seinem Stuhl auf und begann, hinter seinem Tisch auf und ab zu laufen. Die Hände hatte er hinter dem Rücken verschränkt. Immer wieder blieb er stehen und musterte die eine oder andere der anwesenden Personen, als schätzte er den Leumund und die Aussagen desjenigen ab. Dann ging er weiter, seine Bahnen ziehend, nur um kurze Zeit später bei Praiogrimm Halt zu machen und irgendetwas in den Aufschrieben zu suchen. Nicht nur einmal schüttelte er dabei den Kopf oder kratzte sich besorgt den Bart.

In der Menschenmenge begann nach und nach ein Gemurmel und Getuschel, das langsam zu seinem tosenden Sturm anzuschwellen schien. Schließlich, als die Spannung und Stille für einige Anwesende unerträglich zu werden begann, ging Friedewald zu seinem Platz zurück, blieb jedoch stehen, nahm einen Schluck aus seinem Becher und straffte sich. Dann begann er mit eindringlicher Stimme zu reden, so dass seine Worte auch in der hintersten Reihe zu hören waren. „Eure Gnaden, Eure Hochgeboren, Eure Wohlgeboren, Hohe Damen und Herren, Volk von Lützeltal! So höret meine Worte! Wir haben uns heute hier versammelt, damit ich über das Schicksal der anwesenden Tänzerin Doratrava aus Wildreigen im Kosch entscheide, die der Paktiererei, der Aufwiegelei, der Spionage für einen Paktierer sowie weiterer Verbrechen, darunter Anwendung schändlicher Magie und die Entführung eines Geweihten und einer Freien beschuldigt wurde. Angeklagt wurde sie von den Hohen Herren Eoban von Albenholz, Rondrard von Storchenflug und Kalman von Weissenquell. Der Hohe Herr von Albenholz war leider nicht in der Lage, persönlich vor dem Hohen Gericht zu sprechen, was ihm jedoch nicht zum Nachteil gereichen soll, denn er wurde noch in der Nacht von seiner Lehensherrin, der Baronin von Liepenstein in einer wahrlich dringenden Angelegenheit abberufen, bei der es darum geht, die Sicherheit jener Baronie zu gewährleisten. An seiner Statt sprachen Rondrard von Storchenflug und Kalman von Weissenquell, die in voller Überzeugung für den guten Leumund des Hauptanklägers bürgten. Ich danke allen drei Hohen Herren, die diese Anklage einzig und allein in dem Ansinnen führten, für Aufklärung zu sorgen und ein mögliches Unheil über dieses Land und die gesamten Nordmarken abzuwehren. Es war ihre moralische und von Praios gegebene Pflicht, ihren Verdacht von einem Gericht prüfen zu lassen. Praios weiß die Richtigkeit dieser Klage anzuerkennen.”

Mit Mühe unterdrückte Doratrava ein sarkastisches Schnauben bei diesen Worten.

“Im Laufe der Versammlung wurden verschiedene Zeugen und Leumundszeugen gehört, die sowohl für die Seite der Anklage als auch für die Angeklagte sprachen oder kein evidentes Bild zeigten, oder die Geschehnisse der Vergangenheit in Praios‘ Licht der Wahrheit zu rücken versuchten. Auch diesen Personen danke ich für ihren wichtigen Beitrag zur Wahrheitsfindung.“

Friedewald füllte seinen Becher mit Wasser und nahm einen kräftigen Schluck, denn schon die Aussicht auf die Länge der Urteilsverkündung ließ seinen Gaumen austrocknen. Langsam ging er um seinen Tisch herum und stellte sich zwischen Tisch und Publikum auf. Dort lief er während seiner folgenden Rede auf und ab. “Der Hauptanklagepunkt, die Paktierei und die Spionage für den Paktierer Jast-Brin von Pruch, sind schwerwiegende Anschuldigungen, die zu verhandeln für gewöhnlich nicht in meiner Verantwortung liegen. Darüber wäre es an der Gräfin zu urteilen. Doch wurde mir von der Vögtin Ihrer Hochwohlgeboren, Witta von Dürenwald, die Autorität delegiert, über die Gerechtfertigtkeit dieser Vorwürfe zu entscheiden und eine Empfehlung auszusprechen, ob diese vor die Gräfin getragen werden sollten. Bei der Befragung hierzu gab es mehr glaubwürdige Leumundszeugen, die die Unschuld der Angeklagten bezeugen als Indizien für ihre Schuld. Selbst seine Gnaden Travian Dreifelder, der zunächst eine Schuld der Angeklagten zu sehen schien, rückte im Verlauf der Versammlung von diesen starken Vorwürfen ab. Deshalb spreche ich in diesen Punkten die Empfehlung aus, die Anklage nicht vor die Gräfin zu tragen, beziehungsweise empfehle ich der Gräfin diese Klage nicht anzunehmen. Ich würde die Dame Doratrava hierin gern frei von jeder Schuld sprechen, doch dies steht mir nicht zu.” Friedewald blieb kurz stehen und nickte der Gauklerin bestätigend zu. Diese runzelte die Stirn. Was sollte das jetzt schon wieder heißen?

“Die Vorwürfe der Entführung wurden als Indiz für die Paktiererei genannt. Da dieser Vorwurf für dieses Gericht nun nicht mehr besteht, wäre es allein an den Geschädigten, also den Entführungsopfern oder deren Familien, eine Anklage deswegen zu erheben. Dies ist jedoch nicht geschehen.” Friedewald blickte Kalman eindringlich an, der daraufhin die Mundwinkel verzog und nach einem Blick zu Merle schließlich seinem Vater zunickte. “Im Gegenteil, die angeblich Entführten streiten ab, Opfer einer Entführung geworden zu sein. Somit”, fuhr Friedewald fort, “gibt es keine relevante Anklage wegen Entführung.” Auch jetzt ließ der Edle seine Worte kurz wirken.

Erleichtert stieß Doratrava die Luft aus, auch wenn sie immer noch nicht genau wusste, was nun mit der Anklage wegen Paktiererei geschehen würde. Sie war sich relativ sicher, dass Rondrard und Travian die Sache wohl nicht so einfach auf sich beruhen lassen würden.

Schließlich ging Friedewald auf Doratrava zu, um diese noch einmal intensiv zu mustern. “Bleibt jedoch eine Frage offen. Unbestreitbar seid Ihr, Doratrava, ein magisches Wesen. Ihr tragt die Macht Madas unbestreitbar in Euch, wie auch Ihre Hochgeboren von Rodaschquell sie in sich trägt, oder mein Sohn Gudekar, mein Enkel Morgan oder der Adeptus von Pfaffengrund. Dies allein ist kein Verbrechen. Diese Kraft ist ein Teil von Euch. Doch diese Macht ist dazu geeignet, Böses zu tun. Sie stellt eine Gefahr für Euch und Eure Mitmenschen dar, wie hier von vielen Stimmen wiederholt betont wurde.”

Nun schritt der Edle vor Kalman und Rondrard. “An Eurer Seite sehe ich Schwerter hängen. Auch diese sind gefährliche Waffen und sind geeignet, Böses damit zu tun. Sie wurden geschaffen, um Menschen Leid anzutun, um Menschen zu töten. Das ist die einzige Bestimmung dieser Waffen. Und diese Waffen sind ein Teil von Euch, von Eurer Persönlichkeit. Doch seid Ihr deshalb böse Menschen? Nein, denn Ihr habt gelernt, sie für das Gute einzusetzen, zum Schutze von Menschen, die Eures Schutzes bedürfen. Niemand käme auf die wahnwitzige Idee, Euch dafür in den Kerker zu stecken oder Euch die Hand abzuhacken, nur weil Ihr damit die Waffe führen und so Böses anrichten könntet.” Friedewald schritt wieder zu Doratrava und legte seine rechte Hand auf ihre Schulter. “Doch im Prinzip wird hier genau dies für Doratrava gefordert. Ja, sie trägt eine Kraft in sich, mit der Böses getan werden kann. Und vielleicht war es ihr nie vergönnt, darin angeleitet zu werden, diese Kräfte zu kontrollieren, zu beherrschen und für das Gute einzusetzen. Doch hat sie Böses damit getan, für das sie bestraft werden könnte?” Friedewald blickte sich in der Menge um und versuchte in den Gesichtern der Zuhörer zu lesen.

“Was hat Doratrava getan? Nun, zunächst hat sie sich in einer übernatürlichen Geschwindigkeit bewegt. Dies ist eine Fähigkeit, die den Angehörigen des Volkes der Elfen des Öfteren zu eigen ist. Ob Doratrava eine Angehörige dieses Volkes ist, ist nicht sicher, dies mag nicht einmal Liana Morgenrot eindeutig beantworten. Doch muss sie so etwas ähnliches wie eine Halbelfe sein, wie man an ihrem Aussehen und ihren Eigenschaften sehen kann. Und Angehörigen dieses Volkes ist es gegeben, ihre Magie intuitiv zu nutzen, wie Doratrava es getan hat, um sich aus dem oberen Stockwerk des Herrenhauses in das Kaminzimmer zu bewegen. Eine Bewegung, die niemandem böswilligen und ernsten Schaden zugefügt hat. Dann soll Doratrava eine Pforte in eine andere Welt, in die Welt der Feen, geöffnet haben. Wir haben vernommen, dass es Angehörigen des Elfenvolkes für gewöhnlich nicht möglich ist, solche Pforten gezielt zu öffnen, erst recht mag dies für jemanden gelten, die niemals darin unterrichtet wurde, ihre Kräfte zu nutzen. Vielmehr scheinen solche Pforten zwischen den Welten ortsgebunden zu sein. Es ist also viel klüger anzunehmen, dass in unserem Herrenhaus oder in diesem Tal allgemein diese Welten enger beisammen liegen als anderswo und nur so ein Wechsel in die Feenwelt möglich wurde.” Friedewald überlegte, ob das weiße Reh, das ab und an in seinem Wald gesichtet wurde, vielleicht auch aus solch einer Feenwelt stammte. “Und dort, in der Feenwelt, lauerte ein gar gefährliches Wesen, das Doratrava und ihre Begleitung angriff und gefangen halten wollte. Ich habe keine stichhaltigen Argumente vernommen, warum dieses Wesen eine Verbindung zu Doratravas Seele haben sollte, die sich negativ auf Doratrava auswirken könnte. Wenn ein Reh in den Wald läuft und dort von einem Wolf angefallen wird, können wir dann dem Reh vorhalten, dass es den Wolf durch seine reine Existenz und sein sanftes Wesen angelockt hat? Ich sehe nicht, wie irgendjemand Doratrava die Existenz von Thu, wie dieses Wesen genannt wurde, vorhalten kann.”

Friedewald ging zu seinem Tisch zurück und trank einen Schluck von dem mit Wasser verdünnten Wein. “Es wird gesagt, dass Doratrava nicht in der Lage sei, ihre Magie zu kontrollieren, und sie könne jederzeit zu einer Gefahr für ihr Gegenüber werden. Ich habe sie heute morgen anders erlebt, als sie absichtlich gereizt und provoziert wurde. Doch Doratrava hielt sich zusammen und ich konnte nicht erkennen, dass sie ihre Kräfte absichtlich oder unkontrolliert fließen ließ. Ich habe Krieger und Ritter erlebt, die sich in vergleichbarer Situation weniger unter Kontrolle hielten. Ich sehe keine direkte Gefahr, die von Doratrava ausgeht. Deshalb sehe ich auch keinen Grund, sie weiter in Gewahrsam zu halten oder sie gegen ihren Willen zur Prüfung ihrer Seele oder der ihr innewohnenden magischen Quelle zu zwingen. Nerek, Hadelin, nehmt der Dame Doratrava bitte ihre Fesseln ab und reicht ihr etwas zu trinken.”

Die beiden Dorfbüttel zögerten einen Moment, taten dann aber, wie ihnen befohlen wurde. Während Nerek die Knoten an Doratravas Handgelenken löste, ging Hadelin zum Tisch des Edlen und goss in das Trinkhorn, das sie von ihrem Gürtel löste, etwas mit Wasser verdünntem Wein. Als Doratravas Hände frei waren, reichte Hadelin der Tänzerin mit einem freundlichen Gesicht das Horn. “Hier trinkt, das wird Euch bestimmt gut tun.”

Als sie die Fesseln endlich los war, rieb sich Doratrava die Handgelenke, dann nahm sie das Horn an und trank es leer, um es dann der Büttelin zurückzugeben. Dann wandte sie sich dem Edlen zu. "Ich danke Euch", sagte sie schlicht. "Dann kann ich jetzt gehen?" All die Gedanken und Gefühle, die in ihrem Kopf Purzelbäume schlugen, hielt sie aus ihrer Miene fern, ja sie verbot sich zu versuchen, diese näher zu fassen oder zu ergründen, da sie fürchtete, dann die Beherrschung zu verlieren.

Rionn nickte zufrieden. Es schlich sich ein Lächeln in sein Gesicht. Ein Lächeln, dass doch so typisch für den Tsageweihten und seine lebensfrohe Art war. Doch war dieses Lächeln aufgrund der Ereignisse hier in Lützeltal mehr und mehr verebbt. Nun aber löste sich die Spannung - ein wenig - und Rionn freute sich sehr, dass der befreundeten Gauklerin die Freiheit geschenkt wurde.

„Wartet! Ich habe Euch, aber auch allen anderen noch einiges zu sagen.“ Friedewald blickte streng, jedoch nicht unfreundlich.

Merles Herz machte einen aufgeregten Sprung, als Friedewald sein Urteil verkündete. Es war, als hätte sich die unerbittliche Eisenkralle, die ihren Brustkorb zusammengequetschte, zwar nicht in Luft aufgelöst, doch ein Stück weit gelockert. Ein Teil von ihr hatte fast damit gerechnet, dass alles immer noch schlimmer und schlimmer werden würde, war jetzt überrascht, geradezu erschüttert, weil etwas Gutes passiert war. Am liebsten wäre sie direkt aufgesprungen und hätte die Tänzerin geküsst und in eine überschwängliche, liebevolle Umarmung gerissen, ebenso Friedewald, dem sie unendlich dankbar war, dass er das Verfahren so ruhig und unvoreingenommen geleitet hatte, ohne sich von Eobans hasserfüllter Hexenjagd anstecken zu lassen. Doch blieb sie ruhig sitzen, als ihr Schwiegervater noch etwas hinzufügen wollte, auch, weil der Gedanke an den blinden Eifer, mit dem Rondrard, Kalman und Travian gegen Doratrava vorgegangen waren, sie zutiefst bedrückte. Ein schneller Blick zu ihrem Bruder, dessen Miene hart und kalt auf sie wirkte, ließ Merles Herz wieder sehr schwer werden und ihren eben frisch gefassten Mut in sich zusammenfallen. Würden Travian und sie sich jemals wieder so verstehen wie früher? Oder würde er gar probieren, ihre Eltern gegen sie aufzuhetzen? Nein, sie musste unbedingt so schnell wie möglich nach Albenhus, um selbst mit Mutter und Vater zu sprechen. Mit sichtlich frustrierter, aber verbissener Entschlossenheit presste die junge Frau die Lippen zusammen und versuchte, sich auf Friedewalds nächste Worte zu konzentrieren.

Erleichterung und Sorge gingen Hand in Hand, als die Baronin von Rodaschquell das Urteil hörte. Friedewald hatte in ihren Augen richtig gehandelt. Und dennoch blieb die Sorge. Ihre Gedanken wirbelten umher.

Halbelfe oder nicht: Doratrava war nun schon so lange unter Menschen, doch schien sie dennoch nicht wirklich verstanden zu haben, warum sie überhaupt dort stehen musste. Waren es nicht nur ihre Worte gewesen, so hatte allein ein Blick in ihre Augen es verraten. Mal trotzig, mal hämisch gegenüber jenen, die sich vor ihr fürchteten. Oder jenen, die die Gefahr in ihr erkannten und davor warnten. Denn diese Gefahr war nach wie vor da, so oder so. Und sie schien nicht wirklich kontrollieren zu können, was in ihr schlummerte. Allein die Blicke, die sie Travian zugeworfen hatte, waren geradezu mörderisch gewesen. Ja, Liana war mehr als besorgt.

Die Elfe erinnerte sich voller Schwermut an die Tänze, die sie mit der Gauklerin hatte führen dürfen. Heiter und ungezwungen zu Beginn. Bereichernd und erfüllend. Doch dann: immer fordernder. Bestimmt von Verlangen und dem eigenen, drängenden Willen. Liana erinnerte sich an die Enttäuschung und auch Wut, die Doratrava zum Ausdruck gebracht hatte, wenn diesem Drängen nicht stattgegeben, sondern Einhalt geboten wurde. Etwa, weil ein Tanz zu schillernd wurde wie in Schweinsfold – oder gar zu erotisch wie in Nilsitz. Sie hatte es als das Verlangen einer jungen Frau abgetan, die sich selbst und die Welt erst finden musste. Sie hatte falsch gelegen, wie ihr schmerzlich bewusst wurde.

Sie erinnerte sich an diesen geradezu hasserfüllten Blick in die Runde: dieser eiskalte Zorn, als Doratrava ins Kaminzimmer zu Merle gestürmt war ohne zu wissen, was geschehen war. Dieser Blick mit dem damit verbundenen unausgesprochenen Versprechen, auch vor Gewalt nicht zurückzuschrecken. Liana würde die Schatten darin nie vergessen.

Trotz des Freispruchs war dies hier eine traurige Geschichte. Die Elfe blickte bekümmert und zugleich voller dunkler Ahnungen in die Szenerie. Und ... schloss dieses Kapitel für sich, denn es gab nichts, was sie tun konnte.

Nicht alle Wunden lassen sich heilen. Nicht einmal durch die Zeit, wie die Menschen oft sagen.

Irgendwann würde Doratrava weiterziehen - ob nun mit oder ohne Merle. Und der Katzenzorn, der in diesem Wesen schlummerte, würde sich irgendwann erneut seinen Weg bahnen.

Einen Moment schwieg der Edle und ließ die Unruhe, die sein Urteil bei den Zuhörern verursacht hatte, abflauen, bevor er sich räusperte und damit erneut die Gesellschaft zum Schweigen brachte.

“Und dennoch, werte Dame Doratrava, bleibt das Misstrauen gegen Euch, das hier nicht nur von einer Seite offen zu Tage getreten ist. Nein, keine Sorge, ich hege kein Misstrauen gegen Euch, denn sonst hätte ich anders geurteilt. Dies wäre zu leicht gewesen und es hätte mir einigen Ärger erspart. Nein, Ihr seid als Gast in mein Lehen gekommen, um dem Volk Freude zu bereiten auf einem Fest, das nun leider nicht mehr stattfinden kann. Doch tragt Ihr an dieser Tragödie keine Schuld, und so werdet Ihr mein Lehen als Gast verlassen dürfen, wann immer es Euch beliebt. Und auch in Zukunft werdet Ihr ein gern gesehener Gast in meinem Hause sein, seid dessen versichert. Doch dies sehen nicht alle hier so, wie wir gehört haben. Es gab viele Stimmen, die in Euch eine Gefahr fürchten. Und es gab Stimmen, die auch anderen Adeligen nahe legen wollen, Euch zu ächten, solange Eure Natur, Euer innerstes Wesen nicht offenbart wurde. Ich kann niemandem aufzwingen, Euch auf seinem Land abzuweisen, so wie mir niemand verbieten kann, Euch hier willkommen zu heißen. Doch ich kann Euch etwas empfehlen, zu tun, das ich als Zwang soeben ausgeschlossen habe. Ihr werdet erst dann wieder an allen Höfen der Nordmarken willkommen sein, wenn die Natur Eurer Magie und die Reinheit Eurer Seele geklärt ist. Deshalb bitte ich Euch, begebt Euch in Hände, die Euch auf diesem Weg begleiten können. Es gab die Frage, wem die Prüfung Eurer Seele am besten anvertraut werden sollte. Sei es die Magiergilde, um Eure Magie zu prüfen, sei es die Traviakirche, um einen Pakt mit der Widersacherin der gütigen Mutter auszuschließen, sei es der Vierschwesternorden, um eine Verbindung tsagefälligen Ursprungs mit der Feenwelt zu erkennen. Wo mag nun der beste Ort dafür liegen? Ich weiß es nicht, ich kann und will dies nicht entscheiden. Doch meine Forderung beruht auf Eurer Freiwilligkeit und Freiwilligkeit basiert auf Vertrauen.”

Als der Edle von Lützeltal dies sagte, nickte Rionn zustimmend. Auch war der Tsagweihte ein wenig beschämt, weil er den bedeutenden Aspekt der Freiheit bei seinen eigenen Ausführungen vernachlässigt hatte. Ja, es konnte nur freiwillig geschehen. Zwang würde niemals zu einem göttinnengefälligen Ergebnis führen. Das was der Lützeltaler gerade aussprach, zeugte von einer tiefen Weisheit, die dieser Edle offensichtlich aufgrund seiner Lebenserfahrung und Ausbildung sein Eigen nennen durfte. Friedewald beeindruckte ihn. Ja, es würde gut sein, wenn Doratrava dem Rat des Lützeltalers folgen würde - freiwillig natürlich.

Friedewald führte weiter aus: “Deshalb, Doratrava, wählt die Personen, wählt die Organisation, der Ihr am meisten vertraut, ein glaubhaftes Urteil über Eure Seele zu fällen. Vielleicht ist dies die Gilde, vielleicht die Traviakirche, bei der Ihr aufgewachsen seid, vielleicht liegt der Ort in Eisenstein, vielleicht aber auch ganz woanders. Es geht um Eure Seele, und vielleicht wären deshalb auch die Seelenkundigen der Kirche des Herrn Boron die geeigneten Konsultanten. Wählt selbst, doch wählt mit Bedacht. Und lasst Euch das Ergebnis beurkunden, um das Misstrauen gegen Euch abzubauen.”

Hatte Friedewald diese Ermahnung noch mit sanfter Stimme zu Doratrava gesprochen, so richtete er sich nun auf und seine Stimme wurde härter. “Doch Gleiches gilt auch für viele andere hier! In diesen Tagen wurde ein tiefes Misstrauen unter jenen offenbar, die eine Gemeinschaft bilden und zusammenhalten sollten. Viele Worte wurde gesagt, die besser nie gesprochen worden wären. Viel Zwietracht wurde in eine Gemeinschaft getragen, die gegen die Säerin der Zwietracht kämpfen sollte. Es wird viel Anstrengung von allen Seiten kosten, diese Gräben, die gegraben wurde, wieder zuzuschütten. Doch diese Anstrengungen müsst Ihr alle auf Euch nehmen, um Euren Feind zu besiegen, unser aller Feind. Deshalb wiederhole ich meine Forderung an die Dame Doratrava an alle Verbündeten dieser Gemeinschaft und alle Beteiligten dieses Konflikts. Ich wiederhole die Forderung, die Ihre Hochgeboren, Vögtin Witta von Dürenwald bereits gestern mehrfach ausgesprochen hat: Gehet hin und lasset Euch alle prüfen, lasset Eure Seelen auf Unbeflecktheit prüfen. Wählet dazu jene Seelenkundige, denen Ihr am meisten traut, denn auch, wenn Ihr gegen die Widersacher Travias kämpft, so vermögen auch - vielleicht sogar gerade - die Geweihten anderer Gottheiten unserer Zwölfgötterschaft Flecken erkennen, die Euer Kampf, unser aller Kampf auf unseren Seelen hinterlassen hat.”

Erneut nickte der Tsageweihte zustimmend. Weise sprach der Lützeltaler. Es war nun richtig, sich prüfen zu lassen. Denn wenn Travian auch viel belastendes heute gesagt hatte, so hatte er doch darin recht, dass er befand, dass viel Gift unter allen wirkte - in einem jeden hier. Somit also auch in Rionn selbst, dessen war er sich bewusst. Argwöhnisch hatte er bereits am gestrigen Abend auf alle seine Regungen und Gedanken geschaut. Nachdem er die überwältigende Macht wahrgenommen hatte, die von der Kiste ausging, über die Imelda, Grimmgasch und er den Exorzismus gewirkt hatten, war in Rionn der Verdacht gewachsen, dass sie alle korrumpiert waren. Der Streit und Kampf der Krieger, welche die Totenwache hielten, war für ihn ein dringendes Indiz. Nun mochte die Wirkung dieser unheiligen Kiste gebannt sein, doch diese perfide Unterwanderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in diesem Dorf - und insbesondere in der Gemeinschaft des Herzens der Nordmarken - war immer noch deutlich spürbar. Dafür war dieser Prozess sowie vieles in dessen Verlauf Gesagte Beweis genug.

“Auch ich werde mich prüfen lassen, auch meine Familie wird sich prüfen lassen. Und ich werde auch”, verkündete Friedewald, “mein Haus und mein Lehen magisch prüfen lassen, ob sich hier bisher unbekannte Feentore befinden, denn nur dann können wir unbesorgt weiter in unserem Haus leben, ohne Sorge zu haben, dass sich erneut ein Tor öffnet und uns in die Fänge der Dämonenfee Thu treibt.” Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken herunter. Zur Not, dachte er, müsse ein neues Herrenhaus gebaut und das alte verschlossen werden.

Friedewalds Mund wurde trocken und er nahm einen Schluck aus seinem Becher.  

“Aber auch wenn Seelen geprüft werden”, erklärte Friedewald schließlich weiter, “Worte, die gesagt wurden, werden immer gesagt bleiben. Und heute wurden Worte gesagt, die andere persönlich angegriffen haben, Worte, die nicht immer etwas mit den Anschuldigungen gegen die Tänzerin zu tun hatten. Im Sinne von Travias Werten, im Sinne einer traviagefälligen Gastfreundschaft ermahne ich hiermit alle, noch einmal über die eigenen Worte nachzudenken und sich bei denen zu entschuldigen, die man mit seinen eigenen Worten verletzt haben könnte. Es sollte in dieser Versammlung kein böses Blut erzeugt werden. Es sollte keine weitere Zwietracht gesät werden. Vielmehr sollten Bedenken und Zweifel abgebaut werden. Bitte, helft alle dabei, dass wir dies auch untereinander schaffen können. Wer sich hier zu Unrecht angegriffen fühlt, dem steht es selbstverständlich frei, eine Verleumdungsklage zu führen, doch nicht hier und nicht heute. Denkt darüber nach, ob dies wirklich im Sinne Travias wäre. Und erst nach einer ausreichenden Frist des Nachdenkens tut, was Ihr tun müsst.”

Noch einmal unterbrach Friedewald seine Rede, als Witta ihn kurz zu sich winkte und ihm weitere Anweisungen gab. Daraufhin lief Friedewald einige Male vor der Versammlung auf und ab, blieb vor den Gefährten der Pruch-Häscher stehen und blickte ihnen eindringlich in die Augen. “Worte wurden heute gesagt, die nicht hätten gesagt werden dürfen. Worte wurden gesagt, die unter den Schwur der Geheimhaltung fallen, den Einige von Euch geleistet haben. Nicht gegenüber mir, jedoch gegenüber anderer…, nun, die Ihr unter Eid geleistet habt.  Es wurden Fakten genannt, nicht hätten erwähnt werden dürfen in der Öffentlichkeit. Deshalb werde ich das Protokoll dieser Verhandlung, das mein treuer Gefolgsmann Praiogrimm Waldgrun heute pflichtbewusst, akkurat und akribisch verfasst hat, Ihrer Hochgeboren, der Vögtin Witta von Dürenwald zur Durchsicht geben. Punkte, die der Geheimhaltung unterliegen werden von ihr geschwärzt, bevor dann das Protokoll in Reinschrift abgeschrieben wird.”

Der Edle ging zu seinem Platz zurück und schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. “Ich erkläre diese Versammlung für beendet.” Dann setzte er sich und trank seinen Becher aus.

~ * ~

Reaktionen

Für einen Moment blieb Merle still sitzen, blickte zwischen Doratrava und Friedewald hin und her, als würde sie darauf warten, dass noch jemand etwas sagte, dann stand sie auf und lief zu Doratrava, um das zu tun, was sie schon die ganze Zeit hatte tun wollen; sie schloss ihre Freundin in eine enge und lange Umarmung, während sie ihr immer wieder übers Haar, die Schultern und den Rücken strich. "Du bist frei, Liebes", flüsterte sie der Tänzerin leise und mit leicht zitternder Stimme ins Ohr, "es ist alles gut. Niemand kann dir mehr etwas antun... es ist alles wieder gut..."

Doratrava hatte die lange Rede des Edlen lediglich mit einem Nicken quittiert, sie hatte nicht vor, diese zu kommentieren oder über ihre weiteren Absichten zu sprechen. Stattdessen hatte sie mit dem letzten Wort von Friedewald ihren Blick auf Merle gerichtet und machte zwei Schritte in deren Richtung, da flog diese schon in ihre Arme. Sie drückte und streichelte Merle ihrerseits und konnte nicht verhindern, dass sie ein paar Tränen der Rührung und der Erleichterung vergoss. Am liebsten hätte sie Merle jetzt geküsst, tief und innig und leidenschaftlich, aber sie wollte ihre Feinde nicht noch weiter herausfordern, zu deren eigenem Schutz, denn sie spürte, dass ihre Decke der Selbstbeherrschung sehr dünn geworden war während der Verhandlung. Sie musste hier weg, musste ihre innere Ruhe wiederfinden, ihr Gleichgewicht, am liebsten mit Merle zusammen, hatte aber keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte. Für den Moment war es ihr genug, Merles Berührungen zu spüren und ihre Worte zu hören, auch wenn sicher nicht alles gut war und nichts mehr so war und so sein würde wie vorher.

"Ich bin auch froh", raunte Doratrava dennoch zurück, denn das zumindest stimmte. "Und ich danke dir, dass du bedingungslos zu mir gestanden hast und immer noch stehst. Ich hoffe, wir haben nachher ein wenig - oder ein wenig mehr - Zeit allein, aber ich möchte mich jetzt erst bei meinen anderen Freunden bedanken. Vielleicht können wir das gemeinsam tun, dann muss ich dich nicht loslassen."

Merle strich mit dem Finger sanft eine Träne von Doratravas Wange und nickte bestätigend. "Ja, lass' uns das machen." Als ihr Blick über die Menge schweifte und auf ihren Bruder fiel, versteifte sie sich in der Umarmung spürbar. "Nachher muss ich noch mit Travian sprechen…"

Doratrava bemerkte natürlich, wie Merle sich in ihren Armen versteifte, und drückte sie nur umso fester an sich. "Wenn ... du willst, komme ich mit, wenn du mit Travian sprichst", sagte sie ein wenig zögerlich, da sie eigentlich nicht die geringste Lust verspürte, sich mit dem Fanatiker noch einmal abzugeben. Aber wenn es Merle half, würde sie es trotzdem tun.

Merle schüttelte nachdenklich den Kopf. "Danke, aber ich muss unter vier Augen mit ihm reden. Er ist mein Bruder."

Doratrava drückte Merle ein vorläufig letztes Mal, dann ließ sie sie los, nur ihre Hand hielt sie noch fest, als sie nach ihren anderen Freunden Ausschau hielt. Nivard, Tsalinde, Rionn und Rahjel konnte sie entdecken und rief sie zusammen. "Ich danke euch, dass ihr mich verteidigt habt ... trotz allem, was geschehen ist, was ... auch ich mit unserem Verschwinden", sie deutete mit dem Kinn auf Merle und Rahjel, "angerichtet habe. Aber es ist wohl so, wie man sagt: nur in der Not erweist sich, welches die wahren Freunde sind. Euch zähle ich auf jeden Fall dazu."

Rionn konnte nicht anders, ihn überwältigte seine Freude über den Freispruch, so dass er auf Doratrava zuschritt und sie umarmte. Er drückte die Gauklerin, ließ sie wieder los, fasste sie an der Schulter und lächelte. “Es ist sehr schön, dich wieder frei zu wissen! Sei gewiss, ich werde dir zur Seite stehen, wenn du mich brauchst.” Dann ließ er Doratrava los und trat wieder einen Schritt zurück, um auch den anderen die Möglichkeit einer Reaktion zu eröffnen.  

Doratrava nickte wortlos, aber gerührt. Sie fühlte, dass sie sich auf den Tsageweihten verlassen konnte.

Merle lächelte nur leicht, hielt sich jedoch etwas im Hintergrund.

Rahjel lächelte erleichtert und machte einen Schritt auf Doratrava zu. “Rahja sei Dank. Du weißt, sie ist immer an deiner Seite, schöne Doratrava.” Er umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. “Alana bereitet gerade alles für unsere Reise zum Kloster vor. Wir werden dich sicher zu Rahjan Bader bringen.”

Rahjels Umarmung konnte Doratrava nicht ganz so unbefangen annehmen, hegte sie doch einen leichten Groll gegen den Geweihten, weil dieser bei der Verhandlung behauptet hatte, sie sei gefährlich. Trotz seiner Hilfe und auch Fürsprache ging ihr das dennoch nach. Mit der Ankündigung, dass er und Alana sie zu Rahjan bringen wollten, überrumpelte er sie dazu noch. "Na, meinst du nicht, ich finde den Weg allein?", gab sie sich heiter, um ihren Ärger zu überspielen. Dabei ging ihr durch den Kopf, dass sie gerade seit ein paar Augenblicken wieder Herrin ihrer selbst war und schon wieder aufsässig. Fast musste sie grinsen bei diesem Gedanken.

“Wie du dich erinnerst, hast du versprochen, dich in meiner Obhut dorthin zu begeben. Wir wollen ja nicht, dass …. es dich wieder dazu bringt, dich oder andere zu verletzen. Die Liebholde wird das nicht zulassen.” Er lächelte weiterhin, denn er war sich gewiss, dass sie ihr Versprechen halten würde.

"Jaja, ich werde mich zu Rahjan begeben, keine Sorge", erwiderte Doratrava und verdrehte die Augen. "Aber müssen wir das über's Knie brechen?" Sie würde sehr gerne zu Rahjan gehen, dem einzigen Menschen, dem sie so weit vertraute, dass sie ihm ihr ganzes - nun, vielleicht fast ganzes - Seelenleben offenlegen würde. Aber sie hatte das Gefühl, jetzt erst einmal eine Weile allein sein zu wollen, wie sehr sie auch die Begleitung von Rahjel und vor allem Alana schätzen würde. Außerdem ... musste sie noch sehen, wie Merle nun, nach dem glücklichen Ende der Verhandlung, zu ihr stand, über die unmittelbare Unterstützung hinaus.

Rahjel seufzte innerlich. ‘Rahja schütze diesen Wildfang’, betete er innerlich. Doratrava war mit Rahjas Künsten gesegnet, doch hatte sie das unstete Wesen des Gottes Aves, der Liebholden Sohn. Kurz schaute er sie nachdenklich an. “Kannst du es mir versprechen, Doratrava? Auf Rahja mit der Hand aufs Herz? Es ist nur zu deinem Guten. Ich könnte es mir nie verzeihen, würde dir etwas zustoßen.”

Doratrava schaute Rahjel einige Augenblicke ernst an. Dann legte sie sich die rechte Hand aufs Herz. "Ich schwöre bei Rahja, mich baldmöglichst zu Rahjan Bader zu begeben." Sie ließ die Hand wieder sinken. "Wenn du dich nun besser fühlst. Ich meine, was ich sage. Aber ich glaube ... ich brauche erst ein wenig Ruhe ... zum Nachdenken. Das hier ... war alles etwas viel für mich."

“Wir alle brauchen Ruhe. In seinem Tempel wirst du sie bekommen. Wir werden uns wiedersehen.” Nun rieb sich Rahjel die Schläfen. Er brauchte auch Ruhe. Und Schlaf. Sowie einen guten Wein. Er machte sich auf die Suche.

Doratrava sah dem Geweihten sinnend nach, machte aber keine Anstalten, ihn aufzuhalten oder noch etwas zu sagen.