LH8-Für Tsa

8. Akt: Für Tsa – Die schwere Geburt

(13. Travia 1045 BF, abends)

  • Derweil gibt es auf Hof Borkmund eine schwere Geburt und einen Verrat.

Ein Kapitel der Lützeltaler Hochzeit


Schwere Geburt

Auf Hof Borkmund erwartete man sehnsüchtig das Wunder Tsas. Isfried Borkmund sollte ihr drittes Kind zur Welt bringen. Nach der siebenjährigen Tsasal und dem dreijährigen Hageian erhoffte sich Jorgast Borkmund nun einen weiteren Sohn. Perainhulda Waldgrun, Heilkundige und Ehefrau des Dorfschulzen Praiogrimm Waldgrun, war auf den Hof gekommen, um Isfried bei der Niederkunft zur Seite zu stehen. Doch schon bald merkte Perainhulda, dass etwas nicht stimmte und die Geburt nicht wie erwartet verlaufen würde. Sie sorgte sich, ob Isfrieds Kind überhaupt das Licht des nächsten Tages erblicken würde. So schickte sie Jorgast zum Gutshaus der Edlenfamilie, um nach Gudekar von Weissenquell zu rufen. Der Sohn des Edlen Friedewald von Weissenquell war Heilmagier und Anconiter. Er war vielleicht Isfrieds letzte Hoffnung.

Doch Gudekar war nicht anwesend, und so kehrte Jorgast stattdessen mit dem Tsageweihten Rionn, dessen Novizen Eoinbaiste, der Baroness Ardare von Kaldenberg sowie dem Kämpfer Hesindiard Zerf zurück, die sich alle mehr oder weniger mit der Heilkunst auszukennen glaubten. Oder wenigstens um göttlichen Beistand beten konnten.

“Papa, Papa, sie lassen uns nicht zu Mama ins Zimmer!” Tsasal stand völlig verzweifelt mit ihrem weinenden Bruder an der Hand im Flur des Bauernhauses, als Jorgast die Tür öffnete und mit den Fremden ins Haus kam. “Perainhulda ist ganz hektisch und scheucht Durinja andauernd etwas holen.”

Jorgast ging auf seine Kinder zu, kniete sich vor sie und nahm sie tröstend in den Arm. “Ist ja gut, meine Kleinen. Es wird bestimmt alles gut!”

Abgeklärt und kühl ging die Baroness an den Kindern vorbei. Sie war nicht etwa kaltherzig, sondern konzentriert auf die Aufgabe, der sie sich angenommen hatte. Ihre Tasche trug sie selbst.

Sogleich betrat sie das Schlafzimmer.

Rionn musterte die Kinder, die ihren Vater bestürmten, der sich tröstend zu ihnen kniete. Da die Kinder verunsichert die Fremden anschauten, die ihr Vater mitgebracht hatte, nickte der Tsageweihte ihnen zu und schenkte ihnen ein aufmunterndes Lächeln, um die Aussage ihres Vaters zu unterstreichen: `Es wird bestimmt alles gut!´ Das hoffte Rionn und schickte ein Stoßgebet zur Ewigjungen.

Eoinbaiste folgte in seinem Schatten. Neugierig schaute er sich um, musterte ebenfalls die Kinder. Mit `Glöckchen´ hatte er schon oft die Bauern in Eisenstein in ihre Katen besucht, wenn die Bäuerinnen niederkamen. `Glöckchen´ und die Heilerin Gera vom Rickenbacher Gestüt waren die beiden Frauen des Vertrauens, die herbeigerufen wurden, um bei den Geburten zu helfen. Die Aufregung war ihm daher nicht fremd und es kam ihm nicht ungewöhnlich vor. Dennoch mischte sich hier augenscheinlich Sorge in die Aufregung.

Hesindiard konnte sich kaum konzentrieren. Immer wieder musste er an das bleiche Gesicht seines kleinen Bruders denken. Das von Blut und Schlamm verkrustete Haar, die zerrissene Hose, die klaffende Wunde, die traurigen Augen Celios, der stumm neben seinem Herrn auf dem Tisch lag, den Kopf auf die Brust gebettet, welche sich nie mehr heben und senken würde.

'Konzentrier' dich, Mann!', scholt er sich selbst und versuchte ins Hier und Jetzt zu gelangen. Dann folgte er der Baroness.

Auch der Tsageweihte und der Novize folgten der Kaldenbergerin. Rionn achtete aufmerksam auf alles, was sich ihm darbot, um die Situation einschätzen zu können und schnell wahrzunehmen, was hilfreich sein könnte.

Das Schlafzimmer war ein sehr schlichter, spärlich eingerichteter Raum. In der Mitte stand alles beherrschend das große, einfache Bett aus Eichenholz, das wohl der ganzen Familie als Schlafstätte diente und in dem auf einer Strohmatratze die werdende Mutter lag. Neben dem Bett stand ein Tisch, auf dem eine Schüssel dampfenden Wassers und ein Stapel gefalteter Leinentücher lagen. Auch eine Kanne frischen Wassers und einige Holzbecher standen bereit. Zwei Stühle waren zur Seite geschoben. Ansonsten gab es noch eine große, einfache, aber bunt mit Blumen bemalte Truhe am Fußende des Bettes sowie einen großen schlichten Kleiderschrank.

Auf dem Bettrand saß Perainhulda, die die Ankömmlinge bereits von den Feierlichkeiten und der Traviaandacht am Vortag kannten. Sie hielt eine Hand auf dem Bauch der hochschwangeren Bäuerin und tupfte mit der anderen die schweißnasse Stirn der Frau. „Jetzt erst einmal ganz ruhig atmen. Entspann dich jetzt bis es wieder losgeht.“

Als die Tür aufging, kam Arda zunächst eine junge, rothaarige Magd entgegen, um die Kinder wieder hinauszuscheuchen, mit denen sie gerechnet hatte. Als sie Arda und Hesindiard erblickte, hielt sie jedoch überrascht inne. „Wer… wer seid Ihr?“ fragte sie verblüfft.

Arda schob die Magd zur Seite, ohne ihr zu antworten. Stattdessen adressierte sie direkt die ältere Frau, die am Bettrand saß, während sie sich die Ärmel ihrer Bluse hochschob: "Was fehlt ihr?", erkundigte sie sich knapp.

Perainhulda stand von der Bettkante auf und verneigte sich vor den hohen Herrschaften. “Meister Gudekar ist nicht bei Euch?” Als sie Ardas schnippischen Blick auf ihre Frage sah, antwortete die alte Dorfheilerin schnell auf Ardas Frage. “Nun, sie hat hohes Fieber und die Wehen sind viel zu schwach. Die Niederkunft dauert schon viel zu lange, ihre Kräfte schwinden langsam. Ich fürchte, wenn Tsa das Kind nicht bald in unsere Welt bringt, wird es nicht überleben. Und Isfried auch nicht.” Dann erblickte sie an der Tür vom Flur Rionn und wirkte erleichtert. “Euer Gnaden, Tsa sei gepriesen, dass sie Euch geschickt hat! So kommt doch bitte hinein, vielleicht könnt Ihr die Göttin um Beistand ersuchen?”

Rionn nickte der rothaarigen Magd freundlich zu und wandte sich dann an Perainhulda: “Ich grüße dich.” Er nickte auch ihr zu. “Ja, die junge Göttin möge uns beistehen”, bekräftigte er ihre Worte. Er musterte Isfried. “Wann haben die Wehen eingesetzt? Wie häufig und wann waren sie zuletzt?”

Der Novize hingegen blieb an der Türe stehen und wartete, bis jemand ihm Anweisungen gab. So war es jedenfalls immer bei `Glöckchen´ gewesen. Eoinbaiste wusste, dass er hier nicht stören oder im Wege stehen durfte.

Der Kämpfer lächelte, wenn auch traurig. "Ich bin Hesindiard Zerf und gehöre zur Lanze des Hohen Herrn von Storchenflug. Nein, der Herr Gudekar ist nicht bei uns. Er war nicht im Hause, als Jorgast um Hilfe bat. Aber jeder von uns hat etwas Erfahrung in der Heilkunst und gemeinsam werden wir das schon hinkriegen."

Währenddessen betastete die Baroness den Puls der Wöchnerin. Viel zu schnell, viel zu schwach. Sie sah, dass der Blick der Frau nicht klar war. Blutvergiftung, schloss sie. Keine gute Ausgangslage für die Mutter. Nicht anbetrachts ihrer, Ardas, ausgelaugten arkanen Kräfte.

Auch war ihre Körpertemperatur viel zu hoch. Ihre Haut glühte förmlich, selbst an der Hand.

Auch Rionn hockte sich neben Isfried an das Bett. Er erkannte, dass die Bäuerin entkräftet war. Bevor er den Beistand der Ewigjungen anrief, wollte er erst einmal schauen, ob er mit seinen Heilkünsten erkennen konnte, was jetzt das Beste wäre, was der werdenden Mutter helfen könnte und wie die Geburt eingeleitet werden konnte.

"Wisst Ihr, ob das Kind richtig liegt, und falls nicht, habt Ihr schon versucht, es zu drehen?", fragte er Perainhulda. "Bei Kälbern ist es manchmal so, dass sie mit den Füßen voran heraus wollen."

Perainhulda senkte die Stimme, als sie antwortete. „Um ehrlich zu sein, ich fürchte, es liegt mit dem Steiß in Richtung, ähm, Ausgang.“

„Isfried war schon die letzten Tage immer wieder fiebrig und hat kaum etwas bei sich behalten. Sie hatte auch immer starke Kopfschmerzen und ihr wurde schwindelig“, ergänzte Durinja völlig aufgeregt.

Mit einem Mal fing Isfried an zu stöhnen, dann zu schreien.

"Wir müssen hineingreifen und es drehen, bevor sie anfängt zu pressen. Und die Schnur darf sich dabei nicht um den Hals legen. Wenn das nicht hilft…", Hesindiard brach ab und wirkte unsicher.

Die Baroness gab ein etwas theatralisches, selbstmitleidiges Seufzen von sich. Natürlich hatte der Waffenknecht (zumindest hielt sie ihn für einen) Recht. Sie blickte zwischen den Händen der Anwesenden hin und her, besah Hesindiards schwielige Kämpferpranken, die faltigen, knotigen Finger Perainhuldas, die im Alter gewiss an Geschmeidigkeit eingebüßt hatten - und die des seltsamen Tsageweihten, der ständig so aussah, als stünde er neben sich. Und dann waren da ihre eigenen Hände - feingliedrig, geschickt, unbelastet von täglicher Hausarbeit. Keine Frage, wer für die Aufgabe am Besten geeignet war. Zumindest in ihrer eigenen Wahrnehmung. Sie brauchte dieses Argument, da sie anderen, und vor allem sich selbst gegenüber, nicht eingestehen mochte, dass sie im Grunde ihres Herzens gerne half.

Weiter in der Rolle der in den Dienst gepressten Helferin verhaftet, fragte sie die Ältere: "Ihr habt doch gewiss einen Tiegel mit frischem Salbenfett?", während sie versuchte, ihre weit zurückgeschobenen Ärmel so zu fixieren, dass sie nicht herab rutschen konnten.

Der seltsame Tsageweihte hatte beobachtet, wie Ardare die Hände der umstehenden betrachtet hatte und nun ihre Ärmel hochschob und fixierte. “Eoin!”, sprach Rionn den Tsanovizen in einem für einen Tsageweihten ungewohnt bestimmenden Tonfall an. “Reich der Baronin eine Schüssel Wasser, damit sie sich die Hände waschen kann.”

Der ansonsten oft eher unangemessen aufdringlich wirkende Novize wusste sofort was gemeint war. Er hatte Ise und `Glöckchen´ oft begleitet und unterstützt, wenn sie in Eisenstein zur Geburtshilfe gerufen wurden. Er schaute sich um, nahm eine der Schüsseln und den irdenen Krug mit Wasser, füllte die Schüssel, stellte den Krug ab und brachte die Wasserschüssel zu Ardare.

Perainhulda war aufgestanden, um der hohen Dame das Gewünschte zu bringen. Sie ging zu ihrer Tasche und holte ein Tiegelchen heraus, das mit selbst angerührtem Melkfett gefüllt war. “Euer Wohlgeboren, hier, das ist ganz frisch zubereitet.”

Isfried entspannte sich derweil wieder. Erschöpft und völlig entkräftet sank sie zurück. Die Wehe war vorbei, doch sicher würde die nächste nicht lange auf sich warten lassen.

Arda wurde bewusst, dass die Aufmerksamkeit der Anwesenden ganz auf ihr ruhte. Stirnrunzelnd fettete sie ihre rechte Hand und den Unterarm mit der Salbe ein. Dann nutzte sie die Zeit zwischen den Wehen, um sich vorsichtig zum Kind im Schoß der Bäuerin vorzutasten.

Um ihre Anspannung loszuwerden, raunzte sie, ohne ihre Augen von ihrer Patientin abzuwenden, auf Verdacht in den Raum hinein: “Haben die Herren nichts anderes zu tun, als Maulaffen feilzubieten?”

Bald schon berührte die Baroness mit ihren Fingerspitzen das ungeborene Kind. Sie arbeitete sich weiter vor und war der Meinung, den kleinen Kopf des Kindes zu ertasten.

“Sagt mir, was ich tun soll, und ich gehe Euch zur Hand, Wohlgeboren. Dies ist meine erste menschliche Geburt”, antwortete Hesindiard und krempelte seine Ärmel hoch.

Rionn hockte immer noch neben der Gebärenden. Allerdings war er ein Stück zum Kopfende des Bettes aufgerückt. Er umfasste sie hinter ihren Schulterblättern, um ihren Kopf leicht aufzurichten und zu stützen. Dabei begann er leise Gebete an die gütige Peraine und die lebenspendende Tsa zu sprechen.

Isfried atmete flach und stöhnte leise bei jedem Atemzug.

Erwartungsvoll und in gleichem Maße angsterfüllt fragte Perainhulda: “Und, Euer Wohlgeboren? Was könnt Ihr fühlen?”

"Den Kopf", gab Arda rhetonisch zurück. Ihre Stimme klang dabei angespannt. So sanft, wie es ihr möglich war, rutschten ihre Finger den Kopf entlang. Wenn sie schonmal "vor Ort" war, wollte sie ertasten, ob sich die Nabelschnur möglicherweise um den Hals gelegt hatte.

Arda verstand nicht, warum es bei der Geburt solch Probleme gab. Vorsichtig erreichten ihre Finger den Hals des ungeborenen Geschöpfs. Von der Nabelschnur war nichts zu spüren.

Perainhulda stand neben ihr und beobachtete das Geschehen besorgt, wagte jedoch nicht, noch einmal nachzufragen, um die Baroness nicht bei ihrem Wirken abzulenken.

"Es scheint alles in Ordnung." Das knappe Kopfnicken der Baroness deutete zum Schoß ihrer Patientin. Unwillige Ratlosigkeit zeigte sich in ihrem Gesicht.

Perainhulda schaute die Baroness besorgt an. “Seid Ihr sicher, dass alles in Ordnung ist? Bei wie vielen Geburten habt Ihr bereits geholfen?”

“Ich bin eigentlich als Anatomin ausgebildet und keine Hebamme”, antwortete Arda ausweichend, um dann mit Bestimmtheit hinzuzufügen: “...aber es ist sicherlich nicht meine erste Geburt.”

Perainhulda nickte verstehend. Innerlich sprach sie jedoch ein Stoßgebet. “Peraine, steh uns bei! Auf dass diese Dame uns wahrlich helfen kann!”

Die nächste Wehe setzte nun bei Isfried ein, was Arda daran merkte, wie sehr sich die werdende Mutter erneut verkrampfte, auch wenn ihr die Kraft fehlte, dem Schmerz freien Lauf zu lassen. Doch Arda spürte, dass es nun soweit war. Das Kind suchte den Weg nach draußen und vermutlich musste Isfried nur noch ein wenig geholfen werden.

Sie tastete nach den Schultern des Kindes. Erstmalig wandte sie sich an die Mutter: “Folg’ Deinem Instinkt. Lass Dein Kind kommen.” In ihrer Stimme lag Mitgefühl - vielleicht mehr, als die Anwesenden es ihr zugetraut hätten.

Isfried, für die dies nicht die erste Geburt war, fing sogleich an zu pressen, wenn auch kraftlos und von nur leisem Stöhnen begleitet. Perainhulda hielt ihre Hand, um ihr Kraft zu spenden. “Vergiss das Atmen nicht, Kindchen, atmen zwischen dem Pressen!” Sie machte die Atembewegungen im richtigen Rhythmus vor und Isfried versuchte, es ihr gleichzutun. “Und jetzt wieder pressen, so doll du kannst!”

Die Wehen wurden nun immer stärker und kamen in immer kürzeren Abständen, Phasen des Pressens wechselten sich mit Phasen der kurzen Entspannung ab. Arda spürte, wie sehr sich die Bäuerin bemühte, die notwendige Kraft aufzubringen, wie sie sich abstützte, immer wieder aufbäumte, wenn der Wehenschmerz einen neuen Höhepunkt erreichte, noch zwei-, drei-, viermal laut schrie. Dann endlich war der oberste Teil des Schädels des Kindes zu sehen. Arda und Perainhulda unterstützen Isfried, so gut sie konnten. Noch ein, zwei starke Wehen, und das Kind bahnte sich seinen Weg hinaus in die Derewelt. Schließlich hielt Arda das Neugeborene in ihren Händen, während Perainhulda die Nabelschnur durchtrennte. Arda gab dem Kind einen Klaps auf den Po, so dass es zu schreien begann. “Es ist ein Junge”, rief Perainhulda. Es war ein kleiner, zierlicher Junge, viel kleiner, als sie oder Arda erwartet hätten. Isfried sank erschöpft zusammen und fiel in einen seichten Halbschlaf.

Der Tsageweihte hielt Isfried immer noch im Arm und betete leise. Als das Kind das Licht dieser Welt erblickte, atmete er ein wenig erleichtert auf. Doch dann wandte er sich wieder der erschöpften Isfried zu und ersuchte die Lebenspendende darum, der Mutter neue Kraft zu schenken.

Währenddessen legte die Baroness den Jungen auf zwei Lagen Tücher, die vorbereitet lagen. Mit dem ersten Tuch rieb sie den Kleinen tüchtig ab, um ihn von Blut und Käseschmiere zu befreien und dabei seine Lebensgeister zu wecken. Beruhigend redete sie dabei auf ihn ein, Belanglosigkeiten von sich gebend. Wie klein er war… und diese winzigen Hände… Arda musste ein paarmal blinzeln und sich kurz räuspern, bevor sie fragte: “Ist die Frau früh dran?” Auch wenn die Kaldenbergerin nicht von ihrem Tun aufsah, war doch ersichtlich, dass die Frage an Perainhulda gerichtet war.

“Nein”, schüttelte die Dorfhebamme den Kopf. “Sie ist eher ein paar Tage zu spät.”

Rionn runzelte die Stirn. Die Bauersleut waren doch eher kräftig gebaut. Da passte so ein schmächtiges Kindchen gar nicht.

Nachdem die Nachgeburt den Weg aus Isfrieds Bauch gefunden hatte und Perainhulda die junge Mutter vorsichtig gesäubert und bequem gebettet hatte, wollte sie gerade den Vater des Kindes hineinrufen, als erneut schwache Wehen bei der Frau einsetzten. Erschrocken blickte die Dorfheilerin zu Arda und dem Tsageweihten Rionn.

Verstehend hob die Baroness die Augenbrauen: “Ein Geschwisterchen? Das würde den Kleinwuchs erklären…” sinnierte sie. Sie packte den Jungen in das zweite Tuch, welches unter dem verschmutzten lag, und drückte ihn kurzerhand Eoin, der neben ihr stand, in die Arme.

Eoinbaiste, der brav immer noch die Wasserschüssel bereit hielt, stellte diese sofort beiseite und nahm das kleine Kind entgegen. Sofort kümmerte er sich rührend um den kleinen Jungen. Man konnte merken, dass er mehrere kleine Geschwisterchen hatte und auch im Tsatempel den Umgang mit Kleinkindern gewohnt war.

“Wie konnten wir das nur übersehen?” fragte Perainhulda überrascht.

Nachdem die sehr schwache Wehe wieder nachließ, fiel Isfried erneut in einen leichten Schlummer. Ihr fehlte jegliche Kraft, um noch einmal sich auf die neu aufkommenden Wehen einzulassen. Ihr fehlte jedwede Kraft, um ein zweites Kind auf die Welt zu bringen. Dies machte sich auch daran deutlich, dass die nächste Wehe in viel zu großem Abstand kam und sich Isfrieds Bauch nur so leicht verkrampfte, dass die werdende Mutter dabei nicht aus ihrem Delirium erwachte.

“Nicht gut! Gar nicht gut!” lamentierte Perainhulda mit Blick auf die Baroness und den Tsagweihten.

Als Rionn bemerkte, wie Isfried in seinem Arm vor Schwäche wegsackte und trotz des Gebetes keine Kraft mehr hatte für die zweite Geburt, wandte er sich an den Novizen, der das erste Kind im Arm wiegte. “Eoin, hol meine Tasche. Ich habe sie dummerweise im Herrenhaus liegen lassen. Darin ist noch etwas Elfentrunk. Das muss jetzt sein.” Der Tsageweihte wusste um das Risiko dieses Mittels. Aber nun war es wichtiger, das Leben von Mutter und Kind zu retten.

Eoinbaiste nickte und reichte den kleinen Jungen Hesindiard. Dann eilte er los.

Verdutzt nahm der Krieger das kleine Bündel, stellte sicher, dass das Gesichtchen frei war und der Kleine atmen konnte, und wiegte es ganz sacht in seinen Armen.

Derweil untersuchte Arda die Patientin. Sie schob ihr ein Augenlid sanft herunter, um dann zufrieden zu konstatieren: "Weniger Blutverlust als ich annahm."

Es vergingen einige wenige Minuten des Wartens, nachdem Eoinbaiste den Raum und das Haus verlassen hatte, in denen Isfried noch immer bewusstlos und kraftlos in Rionns Armen lag und auch ihre Wehen schwächer wurden, als es mit einem Mal wirkte, als würde ein bunter Schein aus allen Farben des Regenbogens sie umgeben. Isfrieds Augenlider flatterten einen Moment, bevor sie die Augen wieder öffnete und Rionn lächelnd anblickte. Der Tsageweihte spürte, dass ihr Atem nun ruhiger und kraftvoller wurde. Später als erwartet setzte Tsas Segen ein, den er für die Mutter erbeten hatte.

Der Tsageweihte atmete merklich auf, als er vernahm, dass Isfrieds Kraft zurückkehrte und der Segen wirkte. Er dankte Tsa und Peraine. Dann flüsterte er der Mutter zu: “Da kommt noch ein Kind. Du musst jetzt helfen, dass es seinem Brüderchen nachfolgt. Nur Mut!”

“Ein Junge?” Isfried lächelte. Dann verzerrte sich ihr Gesicht wieder schmerzvoll unter der nächsten Wehe. “Es tut so weh! Ich halte das nicht durch! Bitte, rettet das Kind!”

“Doch!”, raunte Rionn der Frau zu. “Du wirst das schaffen! Und du wirst leben. Wie auch deine beiden Neugeborenen.”

Isfried nickte dem Geweihten lächelnd zu, wirkte jedoch von seinen Worten nicht überzeugt.

Hesindiard wandte sich flüsternd an Arda: "Also, ich wollte es nicht erwähnen, aber vielleicht ist das unsere letzte Chance. Yendan erzählte mir mal, dass er mit einem Medicus gesprochen hatte. Dieser wiederum erzählte, dass im alten Bosparan, wenn ein Kind nicht auf normalem Wege zur Welt kommen wollte, die Medicusse den Frauen den Bauch aufgeschnitten haben, um das Kind zu holen. Sie haben das den Horas-Schnitt genannt. Manche der Heiler waren dabei so gut, dass die Frauen das wohl überlebt haben."

Der Tsageweihte blickte den Krieger erschrocken an. “Tsa bewahre! Selbst wenn das vor über tausend Götterläufen funktioniert haben mochte und es vielleicht für einen in diesem Tun geübten Heilkundigen möglich wäre, Kind und Mutter zu retten, würde es hier und heute wohl beider Tod sein.” Das sagte Rionn mit deutlicher Bestimmtheit in seiner Stimme und blickte sowohl Hesindiard als auch Arda ernst an. Dann fügte er mit erkennbarer Verzweiflung im Klang seiner Worte an: “Wo bleibt denn der Novize mit Elfentrunk? Orkendreck nochmal.”

Mit zornigem Blick antwortete der Krieger: "Bei allem Respekt, Euer Gnaden, ich flüsterte meine Worte, um niemanden zu beunruhigen, doch nun, da Ihr es laut ausgesprochen habt…" Weiter sprach er nicht, denn sonst hätte er sich womöglich vergessen.

Irritiert schaute der Tsageweihte Hesindiard an, da er nicht beabsichtigt hatte, den Krieger zu erzürnen. Um die Situation zu deeskalieren, sagte er nur leise. “Ich bitte um Entschuldigung. Ich denke, die Sorge um Kind und Mutter hat mich zu dieser unbedachten Aussage hingerissen.”  Hesindiard nickte zur Antwort.

In beiläufigem, monotonem Tonfall, als sei sie tief in Gedanken versunken, und als hätte sie den Disput der beiden Männer überhört, kommentierte Arda: "Sectio cesarea. Der Kaiserschnitt, oder auch Sectio horanthis. Nicht die Bosparaner, sondern die alten Tulamiden haben es erfunden. In Elem war das bereits gängige Praxis, als man sich an der Siebenwindküste noch mit Schlamm beworfen hat…" Sie seufzte, als trauerte sie der Blütezeit alttulamidischer Kultur nach - was tatsächlich der Fall war.

Dann straffte sich die Adelige: "Ich habe einer Sectio beigewohnt, und ich weiß, was zu tun ist. Euer Gnaden, Euer Einwand ist berechtigt, doch tun wir nichts, dann ist das der sichere Tod von Mutter und zweitem Kind. Es sei denn, Euer Trank enthält einen ausgewiesenen elfischen Entbindungszauber, von dem man bisher nichts gehört hat. Euer Trank würde das Unabwendbare nur herauszögern."

Entschlossen blickte sie sich um: "Wir machen eine Sectio cesarea, einverstanden?" Sie räusperte sich, und fügte leiser hinzu: "Der Eingriff wird so genannt, weil es das Privileg der Reichen und Mächtigen war, einen Heilzauberer bei der Entbindung dabei zu haben. Doch dieser fehlt uns jetzt. Ich werde versuchen, die Mutter zu retten, doch diese Sectio gilt vorrangig der Rettung des Kindes."

"Jawohl!", bestätigte der Krieger Ardas Entscheidung. "Sagt, ob und wie ich helfen kann."

In dem Moment war ein kurzes Klopfen an die Tür zu vernehmen. Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete sich diese und zwei Gestalten traten ein: der Anconiter Gudekar von Weissenquell und seine Ehefrau, die Anconiter-Schwester Merle Dreifelder von Weissenquell.

~ * ~

Vertreibung aus dem Fuchsbau

(Herrenhaus, zum Ende der Hesindestunde)

Die Baroness Caltesa von Immergrün hatte das Gasthaus zur Weißen Quelle verlassen.  Mit ihrer Beute eilte sie deshalb zum Gutshaus ihres Neffen, um dort wieder ihre eigene Gestalt anzunehmen und sich ihren Fang näher zu betrachten. Doch kaum hatte sie sich wieder umgezogen, da klopfte es an die Tür ihres Gemachs. Caltesa, die nun ungeschminkt war, schlüpfte eilig unter die Bettdecke ihres Bettes. Mit dünnem Stimmchen krächzte sie: “Herein.“ Vor der Tür stand die kräftige Magd Wiltrud. Aufgeregt fuchtelte sie herum. “Euer Wohlgeboren! Es tut mir leid, Ihr müsst Euer Zimmer räumen! Ihr müsst nun doch schon heute in das Gasthaus umziehen!”

Zittrig zog sie die Decke näher zu ihrem Gesicht und setzte ein wehleidiges Gesicht auf. „Oh, oh, gutes Kind. Ich glaube, es geht zu Ende mit mir. Die Kraft, sie schwindet. Hört Ihr nicht das Flügelschlagen? Das ist sicher Golgari, der mich holen wird. Einer alten Baroness wird es sicher gestattet sein, in Würde zu sterben.“ Die letzten Worte waren fast nur noch gehaucht. Dann schloss sie ihre Augen.

Energisch stürzte Wiltrud zu ihr und griff nach ihrer Hand. “Oh, nein! Euer Wohlgeboren! Seid Ihr sicher? Braucht Ihr einen Heiler? Ich werde nach Meister Gudekar schicken. Oder soll ich lieber einen Geweihten rufen?” rief sie mit skeptischem Unterton.

Unsäglich langsam öffnete sie die Augen wieder und ließ die Lider noch ein wenig flattern. “Oh, du bist ja noch da. Sag den lieben Verwandten, dass sie sich nicht bemühen müssen, nach mir zu sehen. Vielleicht brauche ich einfach noch mehr Schlaf … ein anstrengender Tag, nicht wahr?” Nach einer kurzen Pause, die sie mit einem Schniefen in die Länge zog, sprach sie weiter. “Ein Heiler? Vielleicht, doch nicht diesen Stümper Gudekar. Und bringt mir einen Tee … vielleicht eine Magd. Eine junge und agile. Oft hilft eine Massage der Füße, mir das Leben in den Körper zurück fließen zu lassen.” Wie als weiterer Hinweis bewegte die Alte ihre Zehen unter der Decke, deren raschelndes Geräusch nicht zu überhören war.

“Euer Wohlgeboren, wenn Ihr Ruhe braucht, dann ist dieses Haus gewiss nicht mehr der richtige Ort.” Wiltrud war hin und her gerissen. War die Baroness tatsächlich erkrankt und tat sie ihr Unrecht mit ihrer Skepsis? Oder spielte sie nur die Kranke, wie es so ähnlich der Herr Friedewald schon angedroht hatte? Aber so oder so, wenn die Vögtin hier eintraf, würde sie, Wiltrud, dafür einstehen müssen, dass kein Zimmer für Witta gerichtet war. “Viel Unfrieden hat es unten gegeben. Und demnächst trifft die Vögtin der Gräfin mit ihrem Gefolge ein. Wir hatten sie ja erst für morgen erwartet. Sie wird nicht gerade erfreut sein, wenn sie erfährt, dass ihr Gemach noch nicht gerichtet ist, weil… entschuldigt Euer Wohlgeboren. Ein Umzug in unser Gasthaus wäre gewiss für Euch die angenehmere Alternative. Dann wäre auch Euer Sohn in Eurer Nähe und könnte sich um Euch kümmern. Und die Magd Eilada könnte sich gewiss Eurer Massage annehmen.”

“Aber sicher… die Vögtin. Friedewald möchte sicher keinen Skandal, nur weil eine kranke, alte Adlige in ein Gasthaus gezerrt wurde. Ich denke, ein Zimmer in diesem Haus hier würde genügen. Den kurzen Weg schaffe ich sicherlich. Eilada wird das schon bewältigen können”, hauchte Caltesa in einem mitleidigen Ton.

In Wiltruds Kopf arbeitete es, während sie nach einer Lösung für dieses Schlamassel suchte. Sie wusste, Friedewald wäre es vermutlich das liebste, sie würde seine Tante zur Not mit dem Teigholz ins Gasthaus treiben. Doch das war nicht das, wofür sie ihren Dienst hier leistete. So etwas konnte ihr Herr nicht von ihr verlangen, denn die Magd hatte irgendwie Mitleid mit der alten Dame, die vermutlich einfach nur einsam war. Vielleicht würde sie sich auf einen versöhnlichen Kompromiss einlassen. „Die Zimmer hier im Haupthaus sind alle belegt, selbst der Edle und seine Familie mussten es räumen. Doch in meinem Zimmer im Nebentrakt wurden Meister Gudekar und seine Frau einquartiert. Es ist ein gutes Zimmer, hier auf dem Hof und nur wenige Schritt vom Haupteingang. Von der Küche aus könnte ich regelmäßig nach Euch schauen. Und ich bin sicher, die junge Dame Merle wird gern bereit sein, Euch zu Liebe einen weiteren Umzug zu akzeptieren. Sie hat Euch ins Herz geschlossen.“

“Du hast Recht, das ist nicht weit. Und Merle wird sicherlich glücklich sein, diesen Versager von Gatten nicht bei sich haben zu müssen. Sag ihr, dass ich das Zimmer mit ihr teilen würde. Geh ruhig schon und bereite meine Ankunft vor. Ich werde mich derweilen ankleiden … zumindest werde ich es versuchen.” Caltesa hatte wieder zu ihrer gewohnten Stimme zurück gefunden.

Wiltrud fiel ein Stein vom Herzen, so schwer und groß, Caltesa musste das sicherlich  gehört haben. “Ja sehr gerne, Euer Wohlgeboren. Dann werde ich Harka bitten, das Gepäck des gelehrten Herrn aus dem Zimmer räumen zu lassen.” Nach dem, was Wiltrud an diesem Tag mitbekommen hatte, würde Merle sicherlich nicht allzu böse sein, von ihrem ruchlosen Gatten getrennt schlafen zu dürfen. Die Magd verbeugte sich und verließ die Gemächer.

Caltesa atmete auf und schlüpfte gewandt aus dem Bett. Nun hatte sie genug Zeit, ihre Beute zu verstauen und sich umzuziehen. ´Alles in allem ein guter Schnitt´, dachte sie sich und lächelte zufrieden.

Eintreffen im Dorf

Im Dorf Lützeltal und auf dem Edlengut treffen fast zeitgleich viele Personengruppen ein.

Nachdem die schlechte Nachricht aus Flusswacht bekannt geworden war, hatten die sich beratenden im Herrenhaus um den Edlen Friedewald von Weissenquell zunächst entschieden, die Familien der Gäste, die im Dorf an verschiedenen Stellen einquartiert waren, im Herrenhaus zu sammeln. Auch die Totenwache für den bei der Jagd verunglückten Yendan Zerf aus der Lanze des Ritters Rondrard von Storchenflug wurde in einem Nebenraum des Herrenhauses gehalten.

Am frühen Abend erreichte die gräfliche Vögtin Witta von Dürenwald mit ihrem Gefolge überraschend bereits an diesem Abend das Dorf. Eigentlich war ihr Eintreffen erst für den nächsten Tag erwartet worden, wollte sie doch der Hochzeit der scheidenden gräflichen Haushofmeisterin Gwenn von Weissenquell, quasi ihrer ehemaligen rechten Hand am Gräfinnenhof beiwohnen. Doch Gudekar, der Bruder der Braut, hatte auch die Ermittlergruppe um die Causa Pruches zu dieser Hochzeit eingeladen. Und nun gab es neue Erkenntnisse von vielen Seiten, die zu besprechen waren. So wollte sie die Gelegenheit nutzen, am Vorabend der Hochzeit mit den Ermittlern, die sich fast vollzählig in Lützeltal aufhielten, eine Besprechung durchzuführen. Fast zeitgleich mit Witta trafen auch der Angroschgeweihte Grimgasch und der Elenvinaer Weißmagier Magister Adelchis von Pfaffengrund, ebenfalls aus der Runde der Ermittler, im Dorf ein.

Andererseits führte Kalman von Weissenquell, der Sohn und Erbe des Edlen von Lützeltal, die Gruppe der Brautsucher aus dem Wald zurück in das Dorf. Seine Schwester Gwenn hatte eine traditionelle Brautentführung durchführen wollen, um ihren Bräutigam Rhodan Herrenfels und weitere Gäste zu foppen. Doch aus dem lustigen Spiel wurde tödlicher Ernst, als Gwenn und ihre Begleiter vermutlich von dem gefürchteten Paktierer Jast-Brin von Pruch überfallen wurden, wobei drei ihrer Begleiter getötet wurden: Der Knecht Bernhelm Lützelfisch, der Bäckergeselle Brun Runkler sowie die Geleitschützerin Herlinde von Kranickau. Gwenn selbst war zusammen mit dem Stallburschen Marno Bächerle.

Am Quellsee des Lützelbachs hatte man die Stelle gefunden, an der Gwenn vermutlich von Pruch in den Limbus entführt wurde. Gleichzeitig traf man dort auf Merle Dreifelder von Weissenquell, den Geweihten Rahjel von Altenberg und die am Bein schwer verletzte Gauklerin Doratrava, die eine Weile zuvor unerklärlich aus dem Herrenhaus verschwunden waren. Gemeinsam brachen alle in das Dorf zurück auf.

Ein Teil der Gruppe sollte sich aufmachen, die Angehörigen der toten Lützeltaler zu informieren und ihnen Beistand zu gewähren. Dazu gehörten die beiden Geweihten Rahjel von Altenberg und Imelda von Hadingen. Zu ihrem Schutz begleitet wurden sie von den Ritterinnen Meta Croy und Alana von Altenberg sowie dem Ritter Jartgar von Immergrün. Diese Gruppe trennte sich an der Lützelbach-Brücke, um zur Familie Lützelfisch zu gehen.

Direkt ins Dorf kehrten neben Kalman, Merle und Doratrava auch Darian von Sturmfels, Lucilla und Lûthardt von Galebfurten und der Jagdgeselle Wulfhelm Häsler zurück. An der Kreuzung mit der Fernstraße trafen sie auf Eoban von Albenholz, Gudekar von Weissenquell und Liana Morgenrot. Die Baronin von Rodaschquell war, begleitet von den beiden Albenhusern, von einem Windgeflüster aus dem Wald zurückgekehrt, bei dem sie Visionen der Ereignisse der letzten Tage vernommen hatte.  

Vinja Rankmann hingegen begleitete den Bräutigam Rhodan Herrenfels auf sein Zimmer im Gasthaus zur Weißen Quelle.

~ * ~

Finsternis im Dorf

Fuchsspuren

(Rhodan, Vinja, Gasthaus zur Weißen Quelle)

Als die Gruppe der Sucher nach der Braut den Dorfplatz von Lützeltal erreichte, verabschiedete Kalman von Weissenquell seinen Schwager in spe, Rhodan Herrenfels, vor dem Gasthaus zur Weißen Quelle, denn nach den schlimmen Nachrichten über das Verschwinden seiner Verlobten Gwenn wollte man Rhodan etwas Ruhe und Besinnung gönnen. Lediglich die Akkoluthin Vinja Rankmann sollte Rhodan begleiten, um ihm Beistand zu gewähren.

~ * ~

Trost in dunkler Stunde

(An der Fischzucht Lützelfisch, abends zum Ende der Firun-Stunde)

Als der Zug der Reiter und der beiden Wagen, aus dem Wald kommend, endlich die Brücke über den Lützelbach erreichte, trennten sich ihre Wege. Wortlos wie schon auf dem gesamten Rückweg von der Quelllichtung bis hierher, in Trauer und Sorgen versunken, trennten sich fünf der Sucher vom Rest der Gruppe um Kalman. Imelda von Hadingen stieg von Darians Pferd ab, den sie auf dem Pfad ununterbrochen umklammert gehalten hatte. Nicht nur, weil sie Halt brauchte, um nicht vom Pferd zu fallen. Vielmehr brauchte sie seelischen Halt nach dem, was sie auf der Lichtung gesehen und erlebt hatte. Neben ihr lenkten nun auch Jartgar von Immergrün, Alana von Altenberg, die ihren Zwillingsbruder Rahjel hinter sich sitzen hatte, und die Jungritterin Meta Croy ihre Pferde nach links, um die Brücke zu überqueren. Meta zog noch ein weiteres Pferd hinter sich her. Es war ein Warunker aus den Stallungen der Weissenquells, über dessen Sattel die Leiche von Bernhelm Lützelfisch gelegt worden war. Dessen Bruder Welferich Lützelfisch und sein Sohn Gorwin standen bereits Arm in Arm mit eiserner Miene am Weg vor ihrem Haus. Sie hatten den Zug der Reiter bereits von weitem über den Bach gesehen und waren auf das gefasst, was ihnen nun zu berichten war.

Wäre der Weg länger gewesen, hätte Meta Imelda zu sich auf das Pferd genommen. Nun waren sie aber schon in Sichtweite und das Unheil war ihnen wohl vorausgeeilt. „Imelda, geh du mit Rahjel vor. Wir bleiben mit dem Toten erstmal im Hintergrund. Sie müssen ihn ja nicht gleich sehen. Ihr findet sicher passende Worte.“ Das war also besagte Fischzucht. Und war das nicht der niedliche Kerl, den Meta heute ins Lazarett gebracht hatte? Schade, dass sie sich unter diesen Umständen treffen mussten.

Imelda schluckte hart und murmelte zu der Jungritterin: “Bist du dir sicher, dass wir die richtigen Worte finden? Ich habe sowas noch nie gemacht.” Angst und Trauer zeichneten sich gleichermaßen im Antlitz der Hadingerin ab. “Nicht lange um den heißen Brei reden und die Katze gleich aus dem Sack lassen, oder? Was meinst du?”

„Lernt man sowas nicht als Geweihte?“ fragte Meta überrascht. „Ähm, also... ich weiß auch nicht so recht. Ich würde es schnell machen, aber tröstlich. So war es bei uns, wenn ein Verwandter, auch Geschwister gestorben sind. Soll ich dir helfen?“ Sie spielte nervös unsicher mit ihren Fingern und hatte plötzlich Interesse an der düsteren Umgebung. Die Aussicht, die Familie zu treffen, behagte ihr nicht. „Ich lass dich nicht im Stich, wir machen das gemeinsam.“ Bei den Worten schwang sie sich aus dem Sattel und führte ihr Pferd neben Imelda her.

Leise murmelte sie zu ihrer Freundin, als sie den Angehörigen immer näher kamen: “Ich bin Ingrageweihte und keine Boroni”, flüsterte sie rechtfertigend. “Nur weil ich einen Grabsegen sprechen kann, heißt das noch lange nicht, dass ich mich mit… naja, solchen Dingen auskenne. Wenn jemand in Hadingen verstirbt, dann kommen die Boronis aus Herzogenfurt. Dachte, sowas lernt eher ihr als Ritter? Ihr seid doch diejenigen, die nach einem Feldzug die toten Recken zu ihren Familien heimbringen, oder?”

„Ha, weil ich so oft auf Feldzügen war!“ Meta lachte trocken und so leise es ging. „Ich kann das auch nicht. Ich fürchte, dass ich dafür nicht lieb genug bin. Aber ich passe auf, dass euch kein Unhold überfällt. Deshalb bin ich doch dabei, oder? Weißt, ich will so schnell es geht zu Gudekar. Er hat es grad nicht leicht und ich will bei ihm sein.“ Unbehaglich blickte sie zu den Dörflern. „Also gut, wir machen das gemeinsam.“

Welferich löste sich von seinem Sohn und schritt auf die kleine Gemeinschaft zu. Er war kreidebleich. Sein Blick war auf das Pferd mit dem Leichnam seines Bruders gerichtet. Als er die blutdurchtränkte Kleidung sah, fragte er kalt, emotionslos: „Wer war das?“

Gorwin hingegen blieb fassungslos stehen, den verletzten Fuß entlastend, und schaute mit Tränen in den Augen zu Meta.

Meta warf Imelda einen vielsagenden Blick zu und ging mit ihrem Pferd am Zügel zu Gorwin. „Es war ein Paktierer, der hier sein Unwesen treibt. Wir haben Bernhelm tot im Wald gefunden, als wir auf der Suche nach der Braut waren. Er war wohl bei einer traditionellen Brautentführung beteiligt”, Welferich nickte bei ihren Worten, “die von Unheiligen überfallen wurde und blutig endete.“ Sie zog scharf die Luft ein und sprach weiter, wohl wissend, dass die Angehörigen ihre Worte jetzt nicht richtig verstehen konnten. „Das ist Imelda, eine Geweihte, die sich bereits um sein Seelenheil gekümmert hat und ein paar Worte an Euch richten wird.“ Sie schlug das Boronsrad und blickte in die Runde. „Mögen die Götter seiner Seele gnädig sein und Euch Linderung im Schmerz bringen. Euer Herr Kalman ist sehr bestürzt und in tiefer Trauer. Er muss sich gerade um die Sicherheit des Dorfes kümmern und wird euch später besuchen. Auch, wenn ich hier fremd bin, seid gewiss, dass ihr mein aufrichtiges Beileid habt und mich der Tod dieses tapferen Mannes schmerzt.“

Auch Imelda schlug das Zeichen des Herrn Boron. “Mein Beileid. Der Verlust eines Menschen ist das wohl unfassbar Schlimmste, was einem widerfahren kann. Ich selbst habe als Kind schon früh meine beiden Eltern verloren und kann den Schmerz nachempfinden.” Sie räusperte sich kurz und sah traurig zu den Angehörigen. “Auch wenn es mir nicht vergönnt war, Bernhelm besser kennenzulernen, so kann ich aus unserer flüchtigen Begegnung sagen, dass er ein einmalig großartiger Mensch war.” Nach dem guten Anfang spürte sie nun, dass ihr die richtigen Worte nicht so leicht von den Lippen kamen, wie sie es gerne hätte. “Ein Menschenleben ist unsagbar wertvoll und einmalig.” Sie schaute zu Meta und Rahjel in der Hoffnung, die Ritterin und der Rahja-Geweihte würden weitere passende Worte finden.

“Habt Dank, Euer Gnaden!” Welferich verneigte sich leicht vor Imelda und ging dann weiter auf das Pferd zu.

„Er war ein tapferer Mann und mit ihm geht eine Ära in Lützeltal zu Ende. Kalman konnte vor Trauer kaum sprechen, das war für uns ein Zeichen, was für eine Persönlichkeit euer Bernhelm war.“ Sie ließ die Worte wirken und sah Imelda hilfesuchend an, ob diese ein Tuch für Tränen hätte. Dann ging sie zu Gorwin und nahm ihn in den Arm, drückte ihn fest.

Gorwin nahm diese Geste dankbar an und legte seinen Kopf auf Metas Schulter. “Onkel Bernhelm!” schluchzte er, als ihm die Tränen der Trauer kamen.

“Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen nochmal getroffen. Du bist ein guter Mann und weißt, was jetzt zu tun ist. Wollt ihr jetzt einen Blick auf ihn werfen oder sollen wir ihn ins Haus bringen? —— Und wenn es in unserer Macht steht, werden wir die Täter und alle Drahtzieher hart bestrafen.“

Nachdem die Frauen ihre Worte des Beileids gesprochen hatten, ging Rahjel nun auf die beiden Trauernden zu und legte ihnen seine Hand auf die Schultern. “Er ist nun in der Obhut der Götter. Kommt später zu mir und bringt eure Familie mit. Zusammen werden wir ihn in Würde betrauern”, sagte er.

Auch die Ritter Jartgar und Alana taten es dem Geweihten gleich und bekundeten wortlos ihr Beileid.

Welferich behielt seine Fassung. Er war alt genug, um zu wissen, dass der Tod ein allgegenwärtiger Bestandteil des Lebens war. Er hatte schon genügend Verwandte und Freunde gehen sehen. Im Alter, nach schwerer Krankheit, bei Unfällen. Im Krieg. Doch noch keiner aus dem Kreis seiner Liebsten wurde derart hinterhältig aus dem Leben gerissen. Das machte ihn wütend. “Vielen Dank, Euer Gnaden. Gerne werden wir auf Euer Angebot zurückkommen, sobald der Schuft, der Bernhelm das angetan hat, zur Strecke gebracht ist. Und gnade ihm Boron, dass nicht ich es bin, der ihn findet! Dann, erst dann beginnt für mich die Zeit, zu trauern.”

Meta war froh, dass so viele kundige Geweihte anwesend waren. Sie hätte nicht mehr gewusst, was sie noch sagen sollte. Einer Familie hatten sie noch die schlechte Nachricht zu bringen. Die Ritterin kniff die Lippen zusammen und blickte in die Runde ihrer Gefährten. Man würde es ihr gewiss als taktlos auslegen, wenn sie nun zum Aufbruch drängte. Die Diener der Götter würden den Zeitpunkt bestimmen.

Anders als sein Vater ließ Gorwin seiner Trauer freien Lauf und klammerte sich fest an die Ritterin, die ihm wenige Stunden zuvor das Leben gerettet hatte. Welferich jedoch blickte zu den Rittern und bat: “Helft mir bitte, ihn vom Pferd zu heben und in das Haus zu bringen. Ich möchte ihn in seine Kammer bringen, damit ich heute Nacht die Totenwache halten kann.” Denn obwohl Bernhelm die meiste Zeit im Haus seines Herren Friedewald schlief, hatte er noch immer eine kleine Kammer im Haus seines Bruders, die er als seinen persönlichen Rückzugsort angesehen hatte.

„Das ist schrecklich, ich weiß…“ Hilflos tätschelte Meta mit großen Augen Gorwin und hoffte, nichts falsch zu machen. Trost spenden war eine Herausforderung.

Gorwin dankte es der Ritterin mit einem gequälten Lächeln. “Habt Dank, hohe Dame Meta. Ich sehe”, er deutete auf die zweite Leiche, die die kleine Gesellschaft mit sich führte, “Ihr habt weitere schlechte Nachrichten zu überbringen.” Enttäuscht blickte er Meta an. “Ich denke, sobald Onkel Bernhelm ins Haus gebracht wurde, solltet Ihr auch den Runklers Bescheid geben. Mengarde wird es besonders treffen.”

Ein Kloß bildete sich schwer in Metas Magen und ihr fielen keine passenden Worte ein. „Mengarde, wer ist das?“ Frau, Mutter, Tochter..., dann erinnerte sie sich an Gudekars dämlichen Wunsch, dem sie sogar noch zugestimmt hatte. Ob das noch aktuell war? Alles hatte sich verändert. Aber er wollte eine gemeinsame Nacht mit Merle verbringen, sie könnten sich natürlich gegenseitig Halt geben und trösten… Meta wollte nicht daran denken, sie wollte selber Nähe geben und von einem geliebten Menschen spüren. Sicher wusste er mittlerweile Bescheid. Wo immer er auch gerade war. „Ähm, Gorwin. Ich muss jetzt wirklich gehen. Wenn es die Umstände zulassen, würde ich später nochmal vorbeikommen.“

“Ja, das verstehe ich. Mengarde ist… war Bruns Frau. Sie haben vier kleine Kinder. Ihr müsst sehr einfühlsam sein.” Ein sehnsüchtiger Blick traf die junge Ritterin. “Es wäre schön, wenn Ihr später nich einmal vorbei schauen könntet. Mein Bein lässt mich nich immer etwas eingeschränkt sein, und ich weiß nicht, ob Vater noch Hilfe braucht.” Meta spürte sofort, dass sies nicht der einzige Grund war, warum er sich wünschte, sie würde noch einmal zu ihm kommen.

"Ähhh, wo musst du denn so dringend hin, Meta?", fragte Imelda mit einem leichten Hauch von Panik, sie müsste die andere Familie ohne die Unterstützung ihrer Freundin aufsuchen.

„Keine Sorge. Ich will mit dir zu der anderen Familie. Sie sollten es zügig erfahren.“ Sie ging nah zu Imelda und langsam mit ihr zur Hauptstraße zurück. „Ich will auch endlich zu Gudekar. Ich will wissen, wie es ihm geht und für ihn da sein. Und ja… ich vermisse ihn nach dem, was wir jetzt alles erlebt haben. Ich brauche ihn, alleine, damit wir reden können, ich verstehe und wir uns halten.“ Sie lachte humorlos. „Albern, nicht wahr?“

“Naja, ein wenig vielleicht…”, sagte Imelda mit einem Schulterzucken angesichts der Tatsache, dass die beiden sich die letzten zwei Tage quasi ununterbrochen gesehen hatten. “Ihr wurdet heute Morgen vor Rahja vereint. Habe Vertrauen in Gudekar. Du vertraust ihm doch, nicht wahr?”

„Ich vertraue ihm voll und ganz, aber ich hab Angst um ihn. Er ist zu sehr in diese Sache mit dem Paktierer verwickelt. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, da meinte er, alles wäre nicht so schlimm. Lebt er noch? Weiß er Bescheid? Dann wäre ich gerne bei ihm. Mich bewegt das alles mehr, als man glaubt. Ich kann nur mit ihm richtig über alles reden, was uns sorgt, beängstigt, wie wir so weiterleben können. Er ist mein Partner, nicht nur durch den Bund. Es ist tiefer.“

“Wie, du kannst nur mit ihm reden? Mit mir kannst du doch auch über alles reden… Oder stört es dich, dass ich offen und ehrlich zu dir bin? Ich meine das nicht böse, ich will dir helfen, Meta.” Imelda wusste, dass sie sich auf dünnes Eis begab und das schmeckte der Ingrageweihten gar nicht. Doch wollte sie auf ihre Freundin weiter eingehen. “Glaube es oder glaube es nicht, aber dass dich die Sache mit Gudekar bewegt, das ist mir durchaus aufgefallen bei einem jeden der gefühlt tausend Gespräche, die wir heute über ihn hatten.” Imelda lachte und stupste ihre Freundin amüsiert an. “Ich hatte vorhin sogar einen merkwürdigen Traum von uns allen.” Ernsthaft sah sie die Ritterin an. “Er ist zwar nur ein Magus, aber er konnte bisher ganz gut auf sich  aufpassen. Ihm wird schon nichts passiert sein. Und ob er der Richtige ist, das wird sich zeigen. Ich hoffe es sehr, aber das liegt auch an ihm.” Imelda drückte kurz ihre Freundin. “Ich weiß, es ist nervenzerreißend, aber du wirst schon morgen wissen, woran du bist. Kopf hoch, Meta-Maus!”

„Jetzt darfst du mich aber nicht falsch verstehen. Sicher und sehr gerne rede ich auch mit dir über das alles. Ich mache mir keine Sorgen, dass mir etwas passiert, bei Gudekar ist das anders.“ Sie lächelte Imelda lieb an. „Er hat so ein Talent, sich in Sachen reinzureiten, ich passe dauernd auf ihn auf. Das klingt streng, wenn ich mit ihm rede, aber es klappt. Er ist intelligent, aber er steht sich oft selbst im Weg. Irgendwie ergänzen wir uns.“ Sie plauderte nun eifrig. „Ist dir mal aufgefallen, wie eifersüchtig er ist? Grad er. Das ist schon wieder niedlich. Ach, es ist nicht leicht, das mit ihm zu erklären. Lass uns doch morgen, wenn hoffentlich vieles klarer ist, mal zum Schwätzchen zamsetzen.“ Betrübt blickte Meta zu Imelda auf. „Es fühlt sich bescheuert an. Als hätte ich außer dir und ihm hier nur Feinde. Merle ist so verletzlich und lieb, jeder mag sie. Selbst, wenn sie sich gerade erst getroffen haben. Wie in so einer Honinger Geschichte, die Guten und die Bösen.“ Trotzdem musste Meta wieder lachen.

“Dein Herzschmerz lässt dich kaum noch an andere Dinge denken. Die Welt ist nicht in Schwarz und Weiß unterteilt - oder in Feuer und Wasser. Es gibt da auch noch das Erz und den Humus. Und Bäume gibt es auch, die brennen gut und machen sich gut als Kohle oder als Dünger. Der Baum ist der Freund des Ingrageweihten und des Gärtners.” Sie lächelte Meta an. “Aber es ist gut, dass du weißt, dass ich auf deiner Seite bin. Gerade deshalb nehme ich auch kein Blatt vor den Mund. Ich will dir helfen, Meta! Du verdienst es, glücklich zu sein.”

Sie lächelte etwas gequält, schien aber ihre alte Stärke wieder zu finden. „Es ist gut, dass ich mal nicht alleine bin. Bisher hab ich es auch so geschafft, aber Rahja macht es einem nicht leicht.“ Sie spielte mit ihren beiden Abhängern an der Kette. „Wenn es mir zu dunkel wird, dann flüchte ich mich intuitiv da hin, wo es heller ist.“

***

Als Welferich mit Jartgars und Alanas Hilfe den Leichnam seines Bruders ins Haus gebracht hatte, wo Rahjel noch in der Kammer des Toten ein Gebet gesprochen hatte, führte er die drei wieder hinaus. Meta und Imelda waren in der Zeit noch bei Gorwin geblieben, der sich nun von ihnen verabschiedete. “Ihr solltet jetzt aufbrechen, die Runklers sollten auch erfahren, was passiert ist.” Er deutete auf den toten Körper, der noch über dem Pferderücken lag. Dann schaute er Meta an, fast schon mit einem flehenden Blick. “Vielleicht führt Euch Euer Weg ja später noch einmal hier vorbei, hohe Dame?”

Meta wusste nicht, was diese Nacht bringen würde. Wenn Gudekar seinem Wunsch mit Merle nachging und sie sich nach diesem aufwühlenden Tag nach Nähe und einer Umarmung sehnte, dann würde sie sicher wieder kommen. „Ich kann es nicht versprechen. Seid aber gewiss, dass ich Euch in der Trauer beistehen würde. Ihr seid ein guter Mann.“ Sie wandte sich zur Gruppe und wartete auf den Aufbruch. „Wir haben noch eine schlechte Nachricht vor uns. Ist der Weg weit?“

“Nein”, erklärte Gorwin. “Ihr müsst nur über die Brücke ins Dorf gehen. Die Bäckerei liegt am Dorfplatz, Ihr habt sie bestimmt schon gestern bei den Feierlichkeiten gesehen.”

„Ja, ich erinnere mich dunkel, das ist nicht weit.“ Sie gab den Geweihten und Beschützern ein Zeichen, damit sie sich sammelten und zur Bäckerei gingen. Meta nickte Gorwin zum Abschied noch freundlich zu. Als sie auf dem Weg waren, bemerkte Meta ihren Hunger, als sie an eine Bäckerei dachte. Mist, wie unpassend. Sie hatte ewig nichts gegessen und das war nicht der geeignete Zeitpunkt, um bei der Familie etwas zu schnorren.

“Keine Sorge, Meta. Das schaffen wir schon, ich kenne den Weg.” Imelda nickte der Ritterin aufmunternd zu.

Die beiden Geweihten und ihre Begleiter machten sich auf den Weg zurück ins Dorf, um nun der Familie Runkler die Aufwartung zu machen, Bruns Leichnam über den Rücken eines der Pferde gelegt. Als sie die kleine steinerne Brücke über den Lützelbach  überquerten, kamen ihnen drei Gestalten entgegen, die sie in der Dunkelheit zunächst nur schemenhaft erkannten: ein Mann, eine Frau und ein Kind.

~ * ~

Die Tasche im Gasthaus

Gudekar und Merle waren von der 7-jährigen Tsasal Borkmund gerufen worden, weil es Komplikationen bei der Geburt ihres jüngsten Geschwisters gab. Der Anconiter und seine Frau hatten die verletzte Doratrava in der Verwahrkammer des Dorfschulzenhauses behandelt, als sie gerufen wurden. Doch Gudekar war eingefallen, dass er seine eigene Tasche noch im Gasthaus zur Weißen Quelle stehen gelassen hatte. Deshalb gingen die drei zunächst dorthin.

„Soll ich vorlaufen und sie holen?“ fragte Tsasal drängelnd, der es nicht schnell genug ging.

„Nein, warte!“ Gudekar hielt die Kleine zurück. „Die hole ich lieber selbst.“

"Lass' uns gemeinsam gehen, Liebes", sagte Merle und strich Tsasal sanft durchs Haar. "Du solltest nicht abends allein im Dorf rumspringen."

„Wieso nicht? Mach ich doch sonst auch, wenn ich von meinem Oheim nach Hause laufe.“

„Heute ist aber nicht sonst, Kleines.“ Gudekar schaute zu Merle. Wie sollte er es dem Mädchen erklären?

Merle erwiderte den besorgten, unschlüssigen Seitenblick ihres Mannes mit gerunzelter Stirn. Vermutlich war jetzt nicht der beste Zeitpunkt, Tsasal vor umherschleichenden Paktierern, Entführern und Mördern zu warnen. Die Kleine war wegen der Aufregung um ihre Mutter ohnehin schon ein Nervenbündel. "Weil wir dich sonst nicht wiederfinden, falls wir gleich deine Hilfe brauchen", versuchte Merle also abzuwiegeln, öffnete die Tür zum Gasthaus und winkte die anderen beiden hinein. Hoffentlich war Gudekars Tasche wirklich hier. "Im Nebenzimmer, sagst du?" fragte sie ihn, während sie sich eilig umsah.

„Ja, im Nebenzimmer“, bestätigte er und ging zielstrebig zu der Tür in den Nebenraum.

Der Schankraum war inzwischen vollständig für die Feierlichkeiten geschmückt worden. Während die hohen Herrschaften und ihre Gäste  sowie die bedeutenderen Dorfbewohner in der Zehntscheuer den Abend mit Speis und Trank und Tanz begehen sollten, würden die einfacheren Bauern und Handwerker, so sie denn Muße dazu hatten, den Abend hier oder im Brauhaus begehen. Doch noch war kein Dorfbewohner eingetroffen, nachdem Limrog das Wirtshaus wieder verlassen hatte. Hagunald Bachschenk kam aus der Küche gelaufen, als er hörte, dass Gäste die momentan noch leere Schankstube betraten. Ein köstlicher Geruch von Gebratenem begleitete ihn. Er wischte seine fettigen Finger an der Schürze ab, die um seinen Bauch gebunden war. “Meister Gudekar, hohe Dame, herzlich willkommen zurück! Was ist denn da draußen für ein Aufruhr? Kommen die anderen Brautjäger nun endlich auch? Der Bräutigam von Gwenn ist einfach nach oben in sein Zimmer gegangen, zusammen mit der Dame. Kein Wort hat er gesagt. Dabei sollten doch er und seine Gefährten hier einen Stopp zum Essen machen. Die Speisen sind inzwischen ganz kalt. Dann heißt es nur, der Hagunald hätte schlecht gekocht.”

Gudekar winkte nur ab und öffnete die Tür nach nebenan.

Merle, die die Hand beruhigend auf die Schulter des Kindes gelegt hatte, wandte sich dem Wirt zu. “Hagunald, es sind einige Dinge passiert. Schlimme Dinge. Die Brautentführung wurde überfallen. Ich bin sicher, dass Kalman oder Friedewald dir bald mehr dazu sagen werden”, sie blickte vielsagend zu Tsasal, um ihm zu verdeutlichen, dass sie vor dem kleinen Mädchen nicht ins Detail gehen konnte, “...aber jetzt müssen wir ganz schnell Gudekars Ausrüstungstasche holen und zu Borkmunds. Die Isfried liegt in den Wehen.” Die junge Frau blickte Hagunald ernst, aber betont ruhig in die Augen. “Bitte versteh’ das. Bitte bewahre Ruhe und halte hier die Stellung, bis wir mehr wissen.” Sie trat ein paar Schritte in Richtung des Nebenraums. “Gudekar, hast du dein Zeug?”

“Geht es Gwenn gut? Ihr ist doch nichts passiert?” fragte Hagunald besorgt. “Die Hochzeit morgen wird doch stattfinden?” Es wäre schon schlimm genug, wenn das Mahl am heutigen Abend nicht stattfinden würde.

"Wir wissen leider noch nicht, was mit Gwenn ist. Oder mit der Hochzeit." Mit einem weiteren besorgten Blick zu dem Kind und dann wieder zu Hagunald versuchte Merle den Wirt zu beschwören, es dabei zu beruhen zu lassen. "Sag mal, Hagunald", wechselte sie das Thema, "wäre es in Ordnung, wenn wir etwas Essen für Borkmunds mitnehmen? Tsasals kleiner Bruder, ihr Vater und die Helfer können bestimmt eine Stärkung vertragen." Wieder streichelte sie dem Kind liebevoll über das Haar.

„Aber selbstverständlich!“ stimmte der Wirt zu. Er eilte in die Küche und rief: „Vea, hol ein Wachstuch und pack die Fleischspieße ein. Gelda und du pack Brote in den Beutel!“ In der Küche herrschte emsiges Treiben.

"Habt tausendfach Dank!" rief Merle in die Küche hinein. "Travia vergelt's!"

Gudekar war indes in den Nebenraum gegangen. Er lehnte sich einen Moment mit dem Rücken an die Wand neben der Tür, schloss die Augen und holte tief Luft. Er hatte das Gefühl, als läge noch immer Metas Geruch in der Luft. Noch einmal sog er die Luft tief ein, um ihren Duft wahrzunehmen. Der Duft, den er am Mittag noch in diesem Raum so intensiv aufnehmen konnte, als sie sich so kurz und innig geliebt hatten. Ein wohliges Kribbeln durchzog ihn. Wie es ihr wohl ging? Wo mochte sie wohl im Moment sein? Kalman hatte nichts berichtet, was aus ihr geworden war. Ihr war doch nichts geschehen? Das Kribbeln wich einem flauen Gefühl in seinem Magen. Er öffnete die Augen, stieß sich von der Wand ab, blickte sich suchend um und ergriff schließlich seine Tasche, als er sie entdeckt hatte. ”Ja Merle, ich habe die Tasche nun!” rief er zurück. Dann drehte er sich um und ging aus dem Raum.

"Wird auch Zeit. Wenn dein gelehrter Kopf nicht festgewachsen wäre…", kommentierte Merle augenrollend, doch in ihrer erschöpften Miene lag nur sanfter Spott. "Hagunald, wir müssen jetzt los", wandte sie sich noch einmal an den Wirt, während sie Gudekar und Tsasal bedeutete, schon einmal zum Ausgang vorzugehen. "Ich verspreche, jemand wird dir Bescheid geben, wie es jetzt weitergeht und was mit dem Essen ist. Bitte kümmere dich in der Zwischenzeit gut um den Herrn Rhodan, ja?"

Hagunald kam nun mit einem großen Beutel zurück aus der Küche, den er Merle reichte. „Hier habt ihr etwas von den Speisen, die für die Brautjäger gedacht waren. Habt Dank, Frau Merle. Aber essen müssen die Gäste ja so oder so irgendwann.“ In seiner Stimme lag verzweifelte Hoffnung.

„Ihr habt Essen eingepackt? Das ist gut! Mir knurrt schon der Magen“, stellte Gudekar fest. „Könnte ich vielleicht ein Brot mit Fleisch für den Weg bekommen?“

Tsasal war inzwischen zum Ausgang gelaufen.

“Ja, essen müssen die Leute. Und gerade in schweren Zeiten hilft es, dass hier Gastlichkeit, Großmut und Wärme hochgehalten werden.” Merle nahm mit einem dankbaren Lächeln den Beutel vom Wirt entgegen. “Die Götter seien mit dir und deiner Familie!" rief sie noch über die Schulter, während sie den anderen hinterher eilte und schon im Gehen zwei belegte Brote herauskramte, um diese Gudekar und Tsasal zu reichen. “Einmal mit Fleisch, der Herr. Auf dass die Stärkung deine Zauberkraft belebt.” Nach kurzem Zögern nahm sie sich selbst ein Brot. Zwar war sie nicht hungrig und hatte immer noch ein beklommenes Gefühl im Magen, doch wusste sie nicht, wann sie wieder Gelegenheit zum Essen haben würde. “Dann führ uns mal schnell zu deiner Familie, Tsasal.”

„Danke, Merle“, sagte Gudekar, während er eines der Brote entgegen nahm und hastig hineinbiss. „Es war ein anstrengender Tag. Ein furchtbarer Tag. So einen schlimmen Tag hatte ich zuvor nur vor zwei Jahren auf der Hochzeit in Herzogenfurt. Ich glaube, ich verzichte in Zukunft auf Hochzeiten zu gehen.“

"Ah, war das dieser furchtbare Tag, wo du Meta kennengelernt hast?" spottete sie und blitzte Gudekar herausfordernd an, doch gleich darauf wich der scharfe, provozierende Blick einem sarkastischen Lächeln. "Schon gut. Lass' dich nicht ärgern. Waffenstillstand." Sie biss scheinbar unbeeindruckt in ihr belegtes Brot und zuckte kauend mit den Schultern. "Und ja, ich hatte auch schon bessere Tage."

“Nein, nein, nein, an dem Tag, den ich meine, habe ich Meta kaum gesehen. Der Tag, als ich Meta kennengelernt hatte, war eigentlich ganz schön.” Gudekar biss sich auf die Zunge, als ihm klar wurde, was er gerade gesagt hatte. Bei all den Problemen, die sie in letzter Zeit hatten, schaffte es Merle doch noch immer, dass er vor ihr offen sprach und sein Herz ausschütten konnte, ohne darauf zu achten, ob das, was er sagte, gerade angemessen war. “Ich meine, diese ganzen furchtbaren Dinge, die dort geschehen sind durch den Angriff des Pruch, das war alles am Tag danach.”

Sie registrierte, wie Gudekar sich im Plaudern bremsen musste und wertete das als kleinen Sieg. Es war ein gutes Gefühl, wieder halbwegs normal mit ihm zu sprechen, sich auszutauschen, zu scherzen, gegenseitig zu helfen. Ein wenig wunderte sie sich selbst, warum der Gedanke an Meta sie nicht mehr sonderlich aufregte - vielleicht waren Schmerz, Enttäuschung und Hilflosigkeit, die heute vormittag ihr ganzes Denken betäubt und gelähmt hatten, wirklich durch das Liebesspiel mit Doratrava von ihr abgefallen. Es war, als ob sie Gudekar - und auch sich selbst - wieder klar sehen… und lieben konnte. “Ich glaube dir, dass es furchtbar war”, erwiderte sie schlicht. “So wie heute. Der Pruch muss endlich aufgehalten werden. Und für seine Taten büßen.” Sie dachte an Gwenn. Wo war sie nur? Wie mochte es ihr gerade ergehen? Unwillkürlich zog sich ihr Herz zusammen, ballte sie die Hände zu Fäusten, sodass sich ihre Fingernägel in die Handflächen bohrten. “Wenn wir nicht durchdrehen wollen…”, Merles leise Stimme klang gepresst, belegt, ein wenig dunkler als sonst, “...dann dürfen wir nur an den nächsten Schritt, die nächste Aufgabe denken.”

“Das stimmt vollkommen. Jetzt gilt es, dieses Brot zu essen und anschließend ein neues Leben auf das Dererund zu bringen.” Gudekar folgte Tsasal nach draußen und dann auf den Weg zur Brücke über den Lützelbach. Der Hof der Borkmunds war einer der wenigen, die auf der jenseitigen Bachseite lagen, abseits des eigentlichen Dorfes. Als sie im Freien waren, fragte er Merle: “Sag mal, dieses Pergament, das ihr gefunden habt, diese Glyphe, hast du es dabei? Ich sollte mir das doch anschauen.”              

Sie schüttelte bedauernd den Kopf. "Ihre Gnaden Imelda und Ritter Darian haben es bei dem toten Schergen gefunden und Kalman gegeben. Der hat es eingesteckt." Frustriert blies sie die Luft aus. "Mist! Ich hätte daran denken müssen, dass du es dir anschauen solltest. Aber dann kam die ganze Aufregung um Doratrava und ich hab nicht mehr dran gedacht." Merle blickte zum dunklen Nachthimmel hinauf und versuchte, sich an Details zu erinnern. "Diese... Glyphe war rechts unten auf dem Blatt, in einem viereckigen Kasten. Sah für mich wie Gekrakel aus, mit Linien, Kreisen, Bögen..." Sie zuckte mit den Schultern. "Und ansonsten standen die Pläne des Feindes drauf, der Hinterhalt, und dass er mit Gwenn durch dieses Tor wollte."

“Hm”, überlegte Gudekar. “Ich hab da eine Vermutung, was das sein könnte. Aber das ist jetzt eh egal. Sag mal, bei Kalmans Gruppe, war da Meta auch dabei? Sie wollte doch auch mitgehen, um nach Gwenn zu suchen.”        

Merle hielt einen winzigen Moment inne und blinzelte, dann antwortete sie in ruhigem Tonfall: "Ja, sie war dabei. Als wir zurück ins Dorf kamen, hat Kalman sie mit Rahjel und Imelda ausgeschickt, den Familien von Brun und Bernhelm Bescheid zu sagen." Als sie an die beiden dachte, musste sie schwer schlucken. Es waren so gute, liebe Männer gewesen; noch heute Vormittag hatte sie mit beiden gesprochen. Jetzt waren Brun und Bernhelm plötzlich fort. Gedankenverloren schaute sie Gudekar an und ergänzte leise: "Meta ist wohlauf. Es geht ihr gut, soweit ich das sagen kann. Mach' dir keine Sorgen, ja?"

Keine Sorgen machen? Wie sollte das gehen? Zu viele furchtbare  Dinge waren heute geschehen. Sie alle waren in Gefahr. Und Meta war nur mit Imelda und Rahjel unterwegs? Dann waren sie leichte Beute für Pruch und seine Schergen. “Hm”, kommentierte Gudekar deshalb Merles Versuch, ihn zu beruhigen. “Ich verstehe nur nicht, warum Kalman diese Aufgabe an sie abgetreten hat. Er stand doch selbst direkt vor Runklers Bäckerei. Anstatt Doratrava zu demütigen hätte er auch einfach selbst den Runklers die schlechte Nachricht überbringen können. Er ist ihr Herr, beziehungsweise will es werden. Und dann schiebt er die Verantwortung einfach auf Fremde ab? Das ist typisch!” ‘Was für ein Idiot’ dachte Gudekar, äußerte dies jedoch nicht.              

Merle zuckte mit den Achseln. "Na ja, er wollte als allererstes Vater Friedewald über die Lage informieren. Und er dachte wohl, dass Imelda und Rahjel einfühlsam mit den Familien reden können. Meta, Rahjels Schwester und Ritter Jartgar hat er gebeten, die beiden Geweihten zu beschützen." Mit einem Seufzen legte Merle sachte die Hand auf Gudekars Oberarm. In ihrem Blick war zu erkennen, dass sie Kalmans Vorgehen bis dahin für durchaus nachvollziehbar hielt. "Aber du hast recht, das mit Doratrava war absolut unnötig und hat alle davon abgelenkt, dass Gwenn entführt wurde. Warum werden immer noch keine Rettungspläne geschmiedet?" Auch in Merles Stimme war wieder mehr Anspannung zu hören. "Das ist es, worum sich Kalman jetzt kümmern sollte!"

“Vergiss es!” In Gudekars Stimme schwang neben der Sorge um seine Schwester ein starker Klang von Frustration und Hoffnungslosigkeit mit. “Wenn er Gwenn in den Limbus gezerrt hat, werden wir sie nicht wiederfinden. Nicht, wenn er es nicht will oder sein Nest ausgeräuchert wird. Vater Winrich ist seit seinem Verschwinden vor zwei Jahren im Schweinsfoldischen nicht mehr aufgetaucht. Ich habe versucht, ihn aufzufinden, aber ich bin gescheitert. Hier in Lützeltal werden wir Gwenn nicht finden.” Merles Mann schüttelte den Kopf. “Vielleicht ist das der Grund, warum sie auf Doratrava losgehen. Das Gefühl, nicht tun zu können, hilflos zu sein, das bringt einen um den Verstand. Es hilft ihnen, Schuldige zu finden, denen man habhaft werden kann, um sich besser zu fühlen. Doratrava wird nicht das einzige Opfer sein, die man jagen wird.”

"Nein, Gudekar! Nein!" protestierte Merle vehement und griff abrupt nach seinem Oberarm, um ihn unsanft anzuhalten und sich mit aufgewühltem Blick ihm gegenüber auszustellen. "Gudekar, du wirst deine Schwester nicht aufgeben! Gwenn lebt! Sie lebt und wartet darauf, dass wir für sie kämpfen!" Sie trat näher und umfasste beide Schultern ihres Mannes, um diese leicht zu schütteln, als versuchte sie ihn aufzuwecken. "Er wollte sie lebend, vielleicht als Druckmittel gegen die Vögtin, was auch immer seine Pläne sind... Ich weiß nur, ich werde die Hoffnung nicht aufgeben, Gwenn wieder lebendig in die Arme zu schließen. Niemals! Gudekar, sie ist deine Schwester! Sie braucht dich!" Sein leerer Blick, voll Angst und schmerzvoller Resignation, schockierte und peinigte sie mehr als alles, was er gesagt hatte. Wieder schüttelte sie seine Schultern, heftiger diesmal, beschwor ihn mit flehendlichem, eindringlichen Blick: "Wir dürfen Gwenn nicht im Stich lassen! Und den Glauben an die Götter nicht verlieren! Wir müssen weiterkämpfen!" Ihr kamen die Tränen, heiße Tränen der Frustration und Verzweiflung, die ihr in die Augen schossen. Mit einem erstickten Seufzen zog sie ihn in ihre Arme und drückte ihn an sich, versuchte ihm - und sich selbst - mit der Umarmung und der Wärme ihres Körpers Mut, Kraft und Hoffnung zu geben. "Versprich' mir, dass du nicht aufgibst. Bitte… Versprich mir, dass du um Gwenn kämpfen wirst", murmelte sie leiser vor sich hin, während sie ihr tränennasses Gesicht gegen seine Schulter drückte.

Gudekar griff mit seinen Händen nach Merles Armen. Sanft, beruhigend. “Beruhige dich, Merle! Ich habe doch nicht gesagt, dass ich Gwenn aufgebe. Nein, doch werden wir sie nun einmal hier nicht finden. Seit zwei Jahren versuche ich krampfhaft, Pruch aufzuspüren und ich habe das Gefühl, dass ich ihm sehr nahe gekommen bin. Näher als alle anderen vermuten. Doch noch habe ich keinen endgültigen Erfolg gehabt. Aber ich denke, er bekommt Angst. Und diese Tat hier ist ein Indiz dafür. Schau, die Verlobte von Herrn von Grundelsee wurde ermordet aufgefunden. Der Bruder des Tannenfelsers wurde geköpft. Gwenn hat er entführt. Natürlich hast du recht, er benutzt Gwenn als Druckmittel gegen mich. Damit ich aufhöre, nach ihm zu suchen, weil ich ihm zu dicht gekommen bin. Wenn ich weiter mache, werde ich auch ein Paket erhalten, so wie der Herr von Tannenfels. Und er wird nicht bei Gwenn halt machen, bis wir ihn haben, oder bis ich aufgebe.” Gudekar sah Merle sorgenvoll an. “Merle, ich habe mich überschätzt. Ich habe ihn falsch eingeschätzt. Ich dachte, ich kann ihn retten. Es war ein Irrtum. Ich bin nicht bereit, ihm gegenüberzutreten. Ich kann das nicht.”

Tsasal, die vorausgeeilt war, hatte nun gemerkt, dass Merle und Gudekar ihr nicht mehr folgten. So kam sie aufgeregt zurückgelaufen. “Meister Gudekar, Frau Merle, kommt ihr? Meine Mutter!”

Merle schaute ihrem Mann schwer atmend in die Augen, versuchte ruhiger zu werden, auch wenn in ihr wirre Gedankenfetzen und widerstreitende Gefühle miteinander rangen. Erst Tsasals Ruf riss sie zurück ins Hier und Jetzt. "Ja, Tsasal, wir kommen", antwortete sie dem Mädchen, drückte aber Gudekar noch einmal in eine enge Umarmung. "Er weiß das", sagte sie leise. "Er weiß, dass du ihn retten wolltest. Der Scherge hatte dich dafür verhöhnt." Sie kniff nachdenklich die Augen zusammen. "Ich weiß nicht, meinst du... du könntest das irgendwie... ausnutzen?"

Gudekar schüttelte wortlos den Kopf. Erst als sie etwas weiter gegangen waren, antwortete er. “Ich werde nicht riskieren, dass er weiter macht. Ich werde ihm keinen Grund geben, noch mehr Menschen, die ich liebe, etwas anzutun.”

"Er muss zur Strecke gebracht werden, damit das endlich aufhört", entgegnete sie mit fester, dunkler Stimme, während sie neben ihm herging. "Er muss für all' das büßen. Und zwar bald." Nach einigen schweigenden, brütenden Schritten ergänzte sie: "Und, Gudekar. Ich wollte noch sagen, dass du von mir nichts zu befürchten hast." Kurz presste sie die Lippen zusammen und wurde sehr leise, sehr zaghaft. "Ja, ich war wütend und ich habe dir mit der Kirche gedroht. Aber wenn es hier wirklich zu einer Art... Hexenjagd kommt", sie schluckte unbehaglich, "...dann werde ich alles tun, um dich zu unterstützen und zu schützen. Das schwöre ich dir."

Gudekar blieb stehen und schaute Merle tief in die Augen. Mit einem gequälten Lächeln sagte er nur: “Danke!”

Sie sah ihn nur an und nickte ernst. Im ruhigen Blick ihren braunen Augen, mit denen sie seine grauen traf, lagen tiefe Zuneigung und unerschütterliche Loyalität. Abrupt wandte sie sich ab und schaute auf den Weg, der vor ihnen lag. "Lass' uns für Isfried und ihr Kind tun, was wir können", erklärte sie mit einem verlegenen Räuspern.

Merle und Gudekar hatten die steinerne Brücke über den Lützelbach unter der Führung von Tsasal fast erreicht, als ihnen eine Gruppe von fünf Personen entgegenkam. Diese führten ein Pferd, über dessen Rücken der Leichnam eines Mannes lag. In der Dunkelheit konnten Merle und Gudekar die Gesichter der Leute zunächst nicht erkennen, doch konnte sich Merle denken, wer da aus der Richtung der Lützelfischs in Richtung Dorfplatz lief.

~ * ~

Jenseits des Baches

Zusammentreffen auf der Brücke

Als sich Tsasal, Merle und Gudekar der Menschengruppe auf der Brücke näherten, ließ Gudekar die Lichtkugel am Ende seines Stabes aufleuchten, um besser sehen zu können. Damit erkannten die drei Lützeltaler die Gesichter der Menschen, die dort auf sie zukamen. Es waren die beiden Geweihten Imelda und Rahjel, gefolgt von den Rittersleut Meta, Alana und Jartgar, der auch das Pferd führte. Diese fünf waren jedoch von dem plötzlich erschienenen Licht zunächst geblendet und konnten nichts mehr erkennen.

“Meta!” rief Gudekar freudig überrascht und lief auf seine Geliebte zu, um sie sogleich in den Arm zu schließen, noch immer die Reste des Fleischbrots in der einen und den Magierstab in der anderen Hand haltend. “Geht es dir gut? Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!” Dann fiel ihm ein, dass ja seine Frau Merle gerade noch neben ihm lief. Er ließ Meta geschwind los und warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter zu Merle.

Merle rollte ob Gudekars Gefühlsduselei leicht mit den Augen, nickte der ankommenden Gruppe jedoch grüßend zu.

“Heda, Bursche! Senkt das Licht!”, sagte der ältere Jartgar bestimmend. Als er die Ritterin nach vorne stürmend und die folgende Umarmung sah, verzog er wunderlich seine Augenbrauen. Rahjel lächelte, während Alana es sich nicht nehmen ließ, auf den ´süßen´ Hintern Metas zu schauen.

Als Merle Rahjel erblickte, ging sie schnell zu ihm, um ihm sein Tuch zurückzugeben. Kurz erklärte sie ihm flüsternd, dass es von Nivard unbedachter Weise von der Kiste genommen worden war, ohne dass sie es verhindern konnte.

Ach, es ging ihm gut. Voller Freude und Erleichterung wollte Meta sich in seiner Umarmung endlich fallen lassen. Die Anspannung und der Stress fielen über ihr zusammen wie eine große Welle. Und er roch so appetitlich. Aber was sollte das? Er ließ sie sofort wieder los und sah sich nach Merle um. Meta stöhnte frustriert. „Ja, mir geht’s gut. Aber wir haben noch eine Leiche dabei und müssen der Familie berichten, dass ihr Verwandter tot ist. Was soll das? Da hat mich der Gorwin aber fester gehalten, komm her.“ Sie packte Gudekar, drückte ihn an sich und gab ihm einen Kuss auf den Mund. Nicht lang, aber auch nicht so ängstlich wie seine Begrüßung gewesen war.

Nun konnte auch Gudekar nicht mehr an sich halten. Bis auf Jartgar und Tsasal wussten doch eh alle hier, was er für Meta empfand. Er ließ sich in ihre Arme gleiten und erwiderte den Kuss. Ihre Nähe, ihre Umarmung gaben ihm Sicherheit, Geborgenheit. Ihr Geruch nach dem Schweiß des Tages gab ihm Vertrautheit. Als sie den Kuss beenden wollte, zog er sie noch einmal an sich heran. “Es tut gut, dich in meiner Nähe zu haben. Ich lass dich nicht wieder gehen!” flüsterte er in ihr Ohr.

„Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Du weißt wahrscheinlich eh schon alles. Leider konnte ich nicht gleich zu dir.“ An der Hand mit dem Stab hielt sie ihn noch und entdeckte das Brot. „Oh, ich bin am verhungern, ich darf doch?“

“Bei den …!”, murmelte der alte Ritter vor sich hin und drückte die Zügel des Pferdes Alana in die Hand. Dann stürmte er nach vorne. “Was für eine Scharade ist das hier, Ritterin Croy? Ist das ein Verhalten für eine stolze Ritterin?” Erbost baute er sich vor den beiden auf, doch schenkte er seinem Verwandten keinen Blick. Rahjel zog überrascht die Augen auf, doch es war zu spät, etwas zu sagen.

Gudekar wandte sich Jartgar zu und legte ihm die nun leere Hand auf den Arm. “Lasst gut sein, Vetter. Die Dame Croy, nun, ähm, gehört an meine Seite.”

“Du hältst dich da gefälligst raus, das ist ein Gespräch unter Rittersleuten. Hier geht es um Ehre und Tugenden!” Sein Blick wirkte schwer auf die Ritterin Meta.

“Soll das etwa heißen, Ehre und Tugend ist nur etwas für Rittersleut und nichts für einfältige Magier?” echauffierte sich der Anconiter.

“Deine scharfe Auffassungsgabe ist es, was ich an dir schätze, Vetter!”, sagte Jartgar beiläufig. Es war klar, dass er eine Antwort von der Ritterin erwartete.

Gudekar war perplex und blickte hilfesuchend zu Meta.

Diese musste erst einen Bissen Brot herunterschlucken. Früher hätte sie das Geplärre einfach ignoriert. Jetzt antwortete sie Jartgar. „Hoher Herr, ich hab mich gehen lassen, als ich meinen Schutzbefohlenen und Liebsten endlich wieder gesehen habe. Zu viele Götter kämpfen in mir.“ Unbewusst griff sie zu dem Amethyst, der um ihren Hals hing. „Aber Ihr müsst zugeben, dass ich mich ehrenvoll um die Trauernden gekümmert habe und es auch an meinem Verhalten bei der Suche nichts auszusetzen gab. Ja, ich gehöre an seine Seite. Und ich sehe es nicht als ehrenhaft, nach den heutigen Vorfällen gefühllos rumzustehen. Wir sollten auch nicht darum streiten, sondern unsere Arbeit weiter verrichten.“ Der alternde Ritter hatte sich in letzter Zeit recht im Hintergrund gehalten. Bald würden sich ihre Wege wieder trennen.

Nun rollte Jartgar seine Augen. “In der Tat habt Ihr Euch vergessen, Hohe Dame. Eine Ritterin hat stets an ihre Tugenden zu denken … in jeder Situation. Wer war Euer Schwertvater? Es scheint, dass Ihr vieles nicht in Vollendung erreicht habt. Eindeutig hegt Ihr Gefühle für ihn, doch ist er ein unerreichbares Ziel des Herzens. Und was macht frau hier? Jeder Ritter weiß es, der den Tugenden Rahjas folgt. Anstatt sich ihm an den Hals zu werfen, wäre hier die Minne angesagt … und zwar die Kunst der Hohen. Das hier … ja, das hier ist noch nicht mal der niederen Minne würdig. Wo ist der Gesang, die Poesie, die Romantik? Der Stolz und der Respekt? Eine vollendete Ritterin würde sich nun bei ihm entschuldigen und vor allem … bei seinem Eheweib!” Jartgar hatte sich ein wenig in Rage geredet.

Merle beobachtete die Auseinandersetzung mit verständnislosem Blick, während sie das kleine Mädchen an der Schulter festhielt.

Tsasal blickte Merle fragend und hilfesuchend an. Sie verstand nicht, um was die hohen Herrschaften hier stritten, während daheim ihre Mutter Höllenqualen litt.

„Ich glaube“, mischte sich nun wieder Gudekar in die Diskussion ein, der er zuletzt nur kopfschüttelnd gefolgt war, „nach Poesie und Gesang ist keinem von uns an diesem heutigen Abend. Meta hat keinen Grund, sich bei mir entschuldigen zu müssen.“ Wobei er sich insgeheim eingestehen musste, dass es ihm schon gefallen würde, würde Meta ihn mit Minnegesang umschmeicheln.

“Fast hätte ich Hoffnung gehabt, Vetter. Ich muss wohl mein Kompliment zurücknehmen”, sagte Jartgar nun wieder ruhig. “Es stimmt, nach Gesang und Poesie sollte es niemandem gerade sein, und deswegen war es unangebracht, sich zu vergessen. Kann frau die Tugend nicht leben, so sollte sie es unterlassen. Eine Beschmutzung unseres Kodex. Auch der Hunger sollte hintenan stehen.” Dann wanderte sein Blick zu Merle. “Auch wenn du keine Entschuldigung schätzt, so zumindest steht es einer Person gewiss zu.” Dann schaute er wieder Meta an. “Was habt Ihr zu sagen, Ritterin Croy?”

Verwirrt blickte Merle zwischen dem älteren Ritter und Meta hin und her. Sie hatte keine Hoffnung auf eine Entschuldigung der Ritterin, da sie diese für eine zutiefst selbstbezogene, eigennützige und ungehobelte Person hielt. Auch wenn es ihr insgeheim eine gewisse Befriedigung verschaffte, wie Gudekars kleine Gespielin von Jartgar zurechtgewiesen wurde, riss Tsasals flehender Blick sie ins Hier und Jetzt zurück. "He! Darf ich daran erinnern, dass wir zu Isfried müssen?" meldete sie sich mit schneidender, dringlicher Stimme zu Wort. "Sie stirbt vielleicht, während ihr hier über Nichtigkeiten parliert! Gudekar, lass' jetzt uns gehen. Sofort!"

„Hoher Herr Jartgar. Wie Ihr vielleicht mitbekommen habt, haben wir heute andere Probleme. Meinetwegen können wir morgen alleine darüber disputieren, aber Ihr vergeudet wertvolle Zeit und solltet Euch erst besonnen einen Blick über das menschliche Schlachtfeld verschaffen, ehe Ihr vorschnell irgendwo angreift und Euch festrennt.“ Dieser Kerl nervte Meta nun zusehends. „Eine wahrlich ritterliche Aufgabe wäre es, würdet Ihr dem Herrn Boron ebenfalls Respekt zollen und die Angehörigen des armen Verstorbenen benachrichtigen.“

“Und hier zeigen sich die offenbaren Defizite. Wir disputieren nur, weil Ihr, Hohe Dame, den Kodex nicht achtet oder ihn einfach schlicht nicht kennt. Das wiederum hat zur Folge, dass wir alle nicht den anderen Tugenden, wie denen des Herrn Boron, folgen können. Eure Uneinsichtigkeit wird sich eines Tages zu Ungunsten für Euch auszahlen. Ich bin bereit, sobald es eine Zeit der Ruhe gibt, Eure Ausbildung nachzubessern. Einen Brief an Euren Schwertvater seid gewiss. Und nun … lasst uns eine Frau von ihrem Leid befreien.” Jartgar straffte sich, ging  zum Pferd und nahm Alana die Zügel wieder ab.

Rahjel, wie auch seine Schwester, war sprachlos. Beide waren sich unsicher, wer hier recht hatte.

“Richtig”, stimmte Gudekar zu, “wir haben eine Frau von ihrem Leid zu befreien.” Doch bevor er weiterreden konnte, meldete sich erneut Meta zu Wort.

„Ja, Merle hat recht.“ Wer auch immer hier im Sterben lag, das war leider durch den sturen Ritter untergegangen, es schien dringender zu sein. „Sollen wir mitkommen? Können wir helfen? Wenn wir nur im Weg sind, gehen wir zur Bäckerei und erledigen unsere Aufgabe.“

Gudekar schaute zwischen Meta und ihren Begleiterinnen und Begleitern hin und her. “Meta, ich wäre froh, wenn du uns begleitest. Ich würde mich einfach sicherer fühlen. Doch können wir ja schlecht den Bäckerburschen mitnehmen.”

„In Ordnung, Ich werde euch, also dich und Merle beschützen. Die erfahrenen Ritter schaffen das ohne weiteres ohne mich.“ Sie nickte Jartgar zu, ging neben das Kind und lächelte noch schnell Imelda an.

Jartgar schüttelte den Kopf. “Als Dienstältester bin ich dagegen. Was ist mit der Aufgabe, die Diener der Zwölfgötter zu beschützen? Ihr als Jüngste, die offensichtlich noch einiges zu lernen hat, solltet Euch an Aufgaben beteiligen, in denen Euer Mut und Eure Ehre wachsen können. Vor allem, Eurem Wort Taten folgen lassen. Ich werde an Eurer Seite sein, Hohe Dame. Zusammen schaffen wir es, Rondras Willen zu erfüllen. Alana, würdet Ihr dem Magier und seiner Gemahlin schützend zur Seite stehen?” Etwas überrascht zuckte Alana zusammen. “Oh … aber natürlich, Ritter Immergrün”, sagte sie, ohne weiter nachzudenken.

"Wie auch immer, wir müssen los!" drängelte Merle sichtlich verzweifelt. "Gudekar, lass uns jetzt gehen!"

„Da muss ich leider widersprechen. Der Magus hat mich extra beauftragt, während der Hochzeitstage für seine Sicherheit zu sorgen. Das war also meine erste Aufgabe. Nicht ohne Grund, wie man sieht. Ich werde tun, was er verlangt.“

Gudekar nickte zur Bestätigung.

"Beauftragt..." murmelte Merle und rollte erneut mit den Augen.

Jartgar räusperte sich und konnte kaum glauben, was er da hörte. “So, so. Es ist also wichtiger, als der Schutz der Geweihten und angesichts der Lage…” Dann schaute er zu Gudekar. “Ihr seht das auch so, Vetter? Wie schätzt Ihr die Lage ein? Alana, die weitaus erfahrener ist, wäre also die schlechtere Wahl als eine Ritterin, die die Tugenden der Ritterlichkeit kaum verinnerlicht hat, an Eurer Seite zu wissen? Davon abgesehen, ihr mit dieser Aufgabe im Weg zu stehen, vor der Göttin Rondra zu wachsen? Ich bin gespannt, wie das Kalman und ihr Schwertvater aufnehmen werden.” Dann schaute er zu den Geweihten. “Eine Meinung, Eure Gnaden?”

Meta zog es vor, den Mund zu halten. Sie würde nur das Falsche sagen.

Gudekar wollte zunächst auf die Frage des Ritters antworten und ihm widersprechen. Doch da Jartgar nun direkt die beiden Geweihten ansprach, hielt er es nicht für angemessen, das Wort zu ergreifen. Allerdings ließen ihm Jartgars Worte keine Ruhe und so fing er doch an zu reden. “Hoher Herr Jartgar, Ihr widersprecht Euch selbst! Erst sagt Ihr, meine Base Alana sei für die Aufgabe meines Schutzes besser geeignet als Meta, dann sagt Ihr, Meta solle sich im rodrianischen Kampfe beweisen. Das kann sie wohl am Besten, wenn sie mich und Merle auf unserem Weg zum Hof der Borkmunds begleitet. Schaut, der Weg bis zur Bäckerei ist nicht mehr weit und nur durch den Dorfkern zu gehen. Das Haus der Runklers steht direkt neben dem Haus des Dorfschulzen, wo zur Zeit zwei Büttel, mein ehrenwerter Herr Bruder sowie etliche andere Rittersleut nichts Besseres zu tun haben, als die arme Gauklerin Doratrava zu bewachen, anstatt das zu tun, was seine wahre Aufgabe wäre: nämlich der Familie Runkler selbst die Nachricht zu überbringen. Was soll Ihren Gnaden Rahjel und Imelda dort schon groß für Unheil drohen, solange sie nicht versuchen, den Herrn von Albenholz von Doratravas Unschuld zu überzeugen? Der Weg, den Merle, Tsasal und ich hingegen zu gehen haben, führt durch die dunkle Einsamkeit. Dort könnten wir ein leichtes Ziel der Paktierers werden, falls er es auf uns abgesehen hat. Meta hat bereits vor zwei Jahren in Schweinsfold ehrenhaft an meiner Seite gegen Dämonen gekämpft. Ich vertraue ihr. Ich will sie an meiner Seite dabei haben.”

Gerade als Imelda dem erfahrenen Ritter antworten wollte, fuhr ihr der Anconiter ungefragt ins Wort. Vergnatzt ließ sie Gudekar ausreden und schaute daraufhin ratlos zu Jartgar.

Ungläubig schüttelte der Ritter den Kopf.”Warum nur habe ich dir die rhetorische Frage gestellt, ich dachte, Hesinde wäre auf deiner Seite, Vetter. Hörst du eigentlich deine eigenen Worte? Wenn ich von Rondras Wille spreche, und nicht dem Kampf, meine ich ihre Tugenden. Die einer Ritterin. Dass du der Hohen Dame Croy mit deinen selbstsüchtigen Wünschen im Wege stehst, diese zu erfüllen. Und muss ich darauf hinweisen, dass dieser Schurke ein Feind der Geweihten ist? Sie hat ihr Wort gegeben, die Geweihten zu schützen.” Nun schenkte Jartgar Meta einen auffordernden Blick.

“Ich gehe jetzt zu Borkmunds”, rief Merle unvermittelt in die Gruppe. “Komm’, Tsasal”, sprach sie das Mädchen an, “lass’ uns zu deiner Mutter eilen!” Sie schickte sich an, die Brücke zu überqueren, um endlich zu Isfried zu kommen. Sollten die anderen doch über ritterliche Tugenden diskutieren, soviel sie wollten. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen.

Meta wusste zwar immer noch nicht, warum da ein Leben in Gefahr war, aber sie wollte mit. „Ich habe dem Herrn Gudekar mein Wort zuerst gegeben. Und wie es aussieht, ist hier jemand in akuter Gefahr. Wir sollten wirklich nicht länger zögern.“ Sie rief zu Gudekar. „Ich glaub, Merle wird das alleine nicht schaffen. Sieh zu, dass du los kommst. Meinetwegen mit jemand anderem. Wir werden uns schon wieder treffen.“

Die Ritterin Alana zögerte nicht lange und schloss sich Merle auf ihren Gang an. Rahjel nickte seiner Schwester nur zu. Er war sich auch nicht sicher, ob das Dreiergespann, Merle - Meta - Gudekar, ein gutes gewesen wäre. Jartgar blieb still und wartete ab, wie sein Vetter reagieren würde. Zumindest hatte die Ritterin eine Einsicht.

Imelda seufzte innerlich. Hatte Meta gerade erklärt, dass sie tatsächlich für keinen Augenblick lang mehr von Gudekars Seite weichen wollte? Aufmerksam verfolgte sie weiter das Gespräch.

„Wartet. Wenn ich die Geweihten sicher abgeliefert habe, dann komme ich nach. Wie heißt der Hof?“

Gudekar schaute enttäuscht zu Meta. Aber vermutlich war es die Diskussion nicht wert, hier weiter zu protestieren. “Das ist der Borkmundhof, mein Schatz. Schau, kurz hinter der Brücke geht ein Feldweg nach rechts ab, ein Stück weiter, als ihr links beim Lützelfisch wart. Aber nimm dir ausreichend Licht mit, der Weg ist dunkel. Willst du wirklich allein uns folgen?”

„Ist es dir lieber, wenn ich nicht nachkomme? Und Alana für Eure Sicherheit sorgt? Ich mache mir seit dem Gewitter Gedanken und hatte während der Suche nach Gwenn Angst, dass dir etwas passiert wäre. Ich sollte eigentlich aufpassen.“ Resigniert ließ sie die Arme hängen. „Ich mache es, wie du willst.“

“Mein Ehrenwort, ich pass auf deinen Liebsten auf, Croy”, sagte Alana und lächelte sie an. Jartgar zog die Luft tief ein und fühlte sich ein wenig von Alanas Zusatz ´Liebsten´ irritiert.

Merle drehte sich um und schob die kleine Tsasal voran. Sie musste sich dieses schamlose öffentliche Liebesgesäusel ihres Mannes mit seiner Geliebten nicht antun. "Ich denke, die Ritterinnen Alana und Meta können beide auf sich aufpassen. Auch im Dunklen.” Mit einem vorwurfsvollen Blick über die Schulter forderte sie Gudekar zum Mitkommen auf. “Kommst du endlich… Schatz?” fragte sie in scharfem, genervten Tonfall.

Gudekar hatte sich, als Merle zu ihm schaute, gerade zu Meta gebeugt und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Oder gab er ihr einen Kuss auf die Wange? Oder beides? “Wenn du es machen willst, wie ich es will, dann komm mit!” flüsterte er zu Meta, bevor er sie tatsächlich küsste. Dann wandte er sich ab und sprach mit lauter Stimme. “Ja, wir sollten los, ein Menschenleben auf das Dererund bringen. Wer es für richtig hält möge mir folgen, die anderen können ja im Dorf mit meinem Bruder und Eoban über Ritterlichkeit weiter diskutieren, falls ihr ihn trefft.”

“Ein Menschenleben auf das Dererund bringen? Ihr seid auf dem Weg zu einer Geburt?”, fragte Jartgar laut und frei heraus. “Das nennt Ihr akute Gefahr für Euren ´Schutzbefohlenden, Croy?” Ungläubig lachte er kurz auf und schüttelte den Kopf. “Wir sollten los.”

“Oh, eine Geburt?”, fragte Imelda freudig und klatschte begeistert in die Hände. “Wie wundervoll. Gibt es denn schon einen Geweihten, welcher den Segen Tsas sprechen wird?”

„Hört ihr denn nicht zu? Das scheint dann keine normale Geburt zu sein. Das schafft jede Hebamme. Anscheinend sterben Mutter und Kind. Ich hab auch jetzt erst erfahren, was es für ein Notfall ist. Und die Wege sind wohl grad heut nicht so sicher wie sonst.“ Vielsagend deutete sie auf den Leichnam. „Dann lasst uns auch keine Zeit mehr verlieren. Und es der Familie sagen.“

"Seine Gnaden Rionn ist wohl schon da”, beantwortete Merle die Frage Imeldas. “Und andere Heilkundige. Jedoch wird Gudekar dort dringend gebraucht. Tatsächlich ist es auch nur ein Katzensprung und wir wären schon längst da, wenn wir hier nicht stehen und diskutieren würden.” Sie trat ein paar Schritt zurück und stellte sich Meta gegenüber. “Wenn wir es in Alanas Begleitung schaffen, sicher zum Haus der Borkmunds zu gelangen, wovon ich ausgehe, warum solltest du dann noch nachkommen? Oder bist du auch auf dem Gebiet der Geburtshilfe bewandert?”

Süffisant lächelnd antwortete sie. „Frag das deinen Mann. Ich mag Defizite in Tugend haben, aber ich kann gut aufpassen. Und ich lerne schnell.“

Die Geweihte trat an die Seite Merles und sah sie aufmunternd an. “Nur Mut. Ihr schafft das schon. Der Segen der Götter wird mit euch sein, ganz sicher!” Sie nickte der jungen Frau zu, um ihren eigenen Worten Nachdruck zu verleihen.

“Warum gehen wir nicht alle zur Geburt, wenn es ein Katzensprung ist? So ist es am sichersten. Und Brun hat keine Eile mehr”, sagte Rahjel.

Meta zwang sich, ruhig zu bleiben. „Wir wollen die Familie, seine Frau und die vier Kinder nicht noch länger im Ungewissen lassen. Außerdem ist es unser Auftrag. Fragt den Hohen Herrn Jartgar.“ Imelda warf sie einen enttäuschten und verletzten Blick zu. Wenn es darauf ankam, hielt ihre Freundin doch nicht zu ihr.

“Meta, Rahjel hat eigentlich recht”, überlegte Gudekar. “Kalman könnte die Nachricht auch selbst überbringen, anstatt sich von Eoban verblenden zu lassen. Vermutlich wurden die Runklers schon längst informiert. Und die Leiche kann auch später noch ins Dorf gebracht werden. Kommt doch einfach mit.”

„Na, der Hohe Herr Jartgar war bisher auch anderer Meinung. Wir sollten jetzt jedenfalls gehen.“

Gudekar zuckte mit den Achseln. “Wie dem auch sei, Ich werde jetzt versuchen, Tsasals Familie zu retten. Wer will, soll mir folgen.” Er drehte sich um und schlug den Weg über die Brücke ein. An Merle gerichtet fragte er: “Kommst du jetzt endlich?”

Sie seufzte genervt und eilte mit Tsasal an Gudekars Seite. “Ja, Gudi-Schatz, ich komm’ ja schon.” In ihrem funkelnden, von Sarkasmus triefenden Blick standen Frustration und Unmut über die Verzögerung und die öffentliche Demütigung durch das erbarmungswürdige Rumgeschmachte ihres Mannes.

Jartgar ließ Gudekars Vorschlag kurz durch seine Gedanken gehen. “Die Geweihten entscheiden. Ihrem Schutz sind wir verpflichtet”, sagte er ruhig.

Es war ganz offensichtlich, wie Imelda sich entscheiden würde. Ohne Zweifel zu haben richtete sie ihr Wort an den erfahrenen Ritter Jartgar: “Das Leben ist unser wichtigstes Gut. Es hat Vorrang, dass wir gemeinsam bei der Geburt helfen.” Der Geweihten war der enttäuschte Blick Metas nicht entgangen. Sicherlich hatte sie sich das Zusammentreffen mit ihrem Geliebten anders vorgestellt, doch konnte sie so immerhin in seiner Nähe bleiben.

Die Zeit verstrich, Rahjel hatte schon angedeutet, dass der Tote warten konnte und Meta wägte schnell etwas in sich ab. „Ich komme gleich mit. Später ist es sicher zu dunkel und ich kenne mich hier nicht aus.“ Sowohl die Geweihten würden es ohne sie schaffen, und dieser Ritter sollte auf sie ehrenhaft aufpassen. Sie wollte lieber mit Leben retten, als untätig bei Personen zu sitzen, die sie nicht leiden konnten. Was langsam auf Gegenseitigkeit beruhte.

Als Gudekar Metas Worte hörte, verlangsamte er kaum merklich seinen Schritt, damit seine Geliebte aufholen konnte. Ein zufriedenes Grinsen lag in seinem Gesicht, doch konnte das außer Merle niemand sehen. Er hatte es geschafft, seinen Willen durchzusetzen. Die anderen, vor allem Meta, würden ihm anscheinend folgen. Er zählte durch. Merle und er, Meta, Imelda und seine drei Verwandten. Wenn tatsächlich Rionn mit seinem Novizen und Arda und noch ein Mann aus Rondrards Gefolge dort waren, waren sie schon elf. Vielleicht konnten sie noch Perainhulda auf ihre Seite bekommen. Dann waren sie göttergefällige Zwölf. Eine gute Zahl, um gemeinsam für Doratravas Freilassung zu plädieren. Er musste die anderen nur noch überzeugen, für sie einzustehen.

“Gut, dann alle zusammen”, sagte Rahjel.

Na endlich. Meta ließ Gudekar, das Kind und Merle vorangehen und folgte ihnen in bravem Abstand erstmal ohne Gesprächspartner. Merle ging ihr schon wieder auf die Nerven, obwohl sie beim See versucht hatte, unvoreingenommen zu sein. Allerdings fand sie ihre verzweifelten Versuche, durch Kosenamen Nähe zu sich und Gudekar herzustellen schon amüsant. Sie grübelte noch über Imelda, die doch eben erst eröffnet hatte, wie nahe sie sich standen und Rahjel, der den Bund zwischen ihnen fast zu bereuen schien.

***

Frustriert stapfte Merle neben Gudekar her. Er besaß, wenn es um Meta ging, offenbar keinerlei Selbstkontrolle oder Anstand. Schlimm genug, dass er seine Geliebte vor den Augen seiner Ehefrau auf den Mund küsste - doch in der Öffentlichkeit, vor den Augen Unbeteiligter, vor Kalmans Schwertvater?! Damit brachte er sich selbst - und sie vermutlich auch - in Windeseile in des Namenlosen Küche. Ja, sie hatte ihm eben noch in aller Aufrichtigkeit versprochen, loyal zu ihm zu sein, ihn zu schützen, falls Eoban die Inquisition oder sonstwas auffuhr, sie wäre sogar bereit gewesen, ihre Eltern für ihn zu belügen! - doch wenn er sich so verhielt… Verbittert presste Merle die Lippen zusammen. Dieses dumme, selbstgefällige Grinsen, das er da zur Schau trug… was für ein Riesen-Arsch er doch sein konnte! Selbst wenn sie ihn mit Meta gewähren ließ, selbst wenn sie einzig und allein Diskretion und Zurückhaltung nach außen hin von ihm forderte - auch das würde sie nie bekommen, da war sie sich jetzt sicher. Er würde sie immer und immer wieder durch sein liebestolles Verhalten demütigen und bloßstellen. Anklagend blitzte ihr Blick zu ihm herüber, doch sagte sie nichts.

Als Gudekar merkte, dass Meta nicht zu ihm aufschloss, beschleunigte er seinen Schritt wieder etwas, um ein wenig Abstand zwischen Merle und sich und die anderen zu gewinnen. Sein Magierstab leuchtete hell, so dass sie den schmalen Pfad, den sie lang gingen, gut sehen konnten. Mit sanfter, gutmütiger Stimme sprach er dann seine Frau an. „Du, Merle, sag mir bitte, was genau ist eigentlich geschehen, als Doratrava mit dir und Rahjel verschwunden ist. Ich glaube nicht, dass Doratrava etwas Böses getan hat. Aber ich habe gesehen, dass du und sie, also, dass Ihr Euch seitdem anders verhaltet. Dass ihr anders, ähm, miteinander umgeht.“

Merles Kopf fuhr zu Gudekar herum und sie musterte ihn ungläubig. Besaß er, nachdem er seiner kleinen Ritterin vor Kalmans Schwertvater die Zunge in den Hals gesteckt hatte, tatsächlich noch den Nerv für Eifersüchteleien? Mühsam zwang sie sich, ruhig zu atmen. "Was meinst du mit 'anders'?" erwiderte sie kühl und zuckte mit den Achseln. "Ich kenne Doratrava erst seit gestern Abend."

„Nun, dafür, dass du sie erst seit gestern Abend kennst, ward ihr zwei eben in der Zelle doch recht zärtlich zueinander. Ich will dir keine Vorwürfe machen deswegen. Ich verstehe es, wenn du nach all dem, was ich dir angetan habe, Zuneigung und Trost suchst. Ich gönne es dir, und in Doratrava hast du, soweit ich dies einschätzen kann, einen herzensguten - ähm - Menschen“, das Wort sprach er mit der Unsicherheit aus, die aus dem Bewusstsein resultierte, dass Doratrava genau dies nicht war, „gefunden.“ Er blickte Merle ernst an. „Aber du tust ihr keinen Gefallen, wenn du deine Zuneigung zu ihr so offenkundig preisgibst. Nicht im Moment. Nicht, solange Kalman und Eoban Doratrava bezichtigen, mit dem Lolgramoth-Paktierer zusammenzuarbeiten.“

"Was meinst du damit?" Merle schaute ihn arglos fragend an. "Ich wüsste nicht, was daran unangemessen wäre, einer Freundin in Not Zuneigung und Unterstützung zu zeigen." Sie wusste natürlich, dass er wusste, dass ihre Gefühle für Doratrava nicht so unschuldig waren, wie sie vorgab, doch sollte er erstmal die Kaltschnäuzigkeit haben, sie dessen offen zu bezichtigen. Ihr ironisches Lächeln wurde noch liebreizender. "Doch keine Sorge, mein Schatz, ich für meinen Teil bin durchaus zu Diskretion und Zurückhaltung in der Lage."

„Merle, bitte! Lass uns vernünftig miteinander reden. Du weißt, ich liebe Meta. Und so, wie du es vorhin nicht unterdrücken konntest, deine Sorge um deine Freundin im Zaum zu halten, so ging es mir mit Meta, als wir sie eben wieder trafen. Ich hatte Angst um sie, auch wenn ich diese lange Zeit unterdrücken konnte, doch als ich sie sah, konnte ich nicht anders. Doch ich und Meta wir sitzen nicht auf der Anklagebank, noch nicht. Doratrava schon. Und da dürfen wir nicht riskieren, irgendjemandem noch in die Karten zu spielen.“ Gudekar machte sich Sorgen, dass, sollte Doratrava letztlich auf dem Scheiterhaufen landen, was er für mehr als wahrscheinlich hielt, auch Merle in den Fokus geraten konnte. Doch behielt er diese Sorge für sich. “Wenn wir ihr helfen wollen, müssen wir versuchen alle hier davon zu überzeugen, dass Doratrava keine Gefahr ist. Und dafür muss ich wissen, was genau vorgefallen ist. Eobans Anschuldigungen sind schwerwiegend.“

"Das ist überhaupt nicht vergleichbar", sagte sie kalt und senkte die Stimme. “Habe ich Doratrava vor aller Augen auf den Mund geküsst? Habe ich vor Zeugen wiederholten Ehebruch und Traviafrevel zugegeben und freimütig angekündigt, auch in Zukunft damit fortzufahren? Gudekar, wenn das mit uns funktionieren soll, musst du aufhören, ständig in aller Öffentlichkeit über deine süße, ach so tapfere Meta herzufallen." Sie schaute ihn herausfordernd an. “Du darfst mir gern etwas Respekt beweisen, indem du solcherlei auf das Schlafgemach beschränkst.” Wieder versuchte sie, sich durch langsames Atmen zu beruhigen. "Aber ja, ich bin bereit, vernünftig zu reden, wenn du es bist. Ich bin dir dankbar, dass du dich für Doratrava einsetzt, wirklich. Und für alle Vorschläge offen, wie wir ihr helfen können. Doch nach der peinlichen Vorstellung eben weiß ich nicht, ob ich dir - und Meta - wirklich vertrauen sollte."

„Merle, ich habe doch niemals beabsichtigt, dich öffentlich zu demütigen. Es ist nur,  … Meta und ich haben uns… Ach was soll das, das kannst du ja doch nicht verstehen. Und warum solltest du es auch? Für dich ist eine Welt zusammengebrochen, ohne dass du etwas dafür kannst. Das tut mir wirklich leid! Doch was soll ich tun? Es ist, wie es ist. Lass uns überlegen, wie wir Doratrava da am besten raushelfen können. Also, bitte, was ist genau passiert? Wer hat Doratrava derart verletzt? Und Rahjel und du, wart ihr auch in Gefahr? Hat Doratrava euch wirklich etwas angetan, wie Eoban behauptet?“

"Wir werden uns noch im Detail darüber unterhalten, was du tun sollst", erwiderte Merle kalt. "Aber wenn du es nicht schaffst, deine Gefühle in der Öffentlichkeit im Zaum zu halten, dann brauchen wir gar nicht erst zu reden. Habe ich dein Versprechen, dass du dich in Zukunft um Diskretion bemühen wirst?" Ihr abwartender Blick signalisierte ihm, dass sie eine Vertrauensbasis wollte, bevor sie bereit war, etwas zu Doratrava zu sagen.

Gudekar blieb stehen, hielt Merle am Arm, dass sie sich zu ihm drehen musste und schaute ihr in die Augen. Dann senkte er den Blick und nickte. „Ich werde mich bemühen, Merle. Ich werde mein Bestes geben, dich nicht noch einmal zu demütigen. Aber bitte versuche auch du, Meta nicht weiter vor allen zu demütigen. Ich weiß, für dich wirkt es anders, aber Meta ist eine liebe, verletzliche Frau, auch wenn sie nach außen stets den Eindruck vermitteln will, besonders taff zu sein.“

Merle ließ sich widerstandslos festhalten und erwiderte seinen Blick; in ihrer blassen Miene lag jedoch ehrliche Verwunderung. "Wann und wie habe ich denn Meta gedemütigt?! Ich hab kaum ein Wort mit ihr gewechselt", raunte sie ihm zischend zu. Genervt von der Unterstellung warf sie einen schnellen Blick zurück zu der sich nähernden Ritterin. "Glaub mir, Gudekar, ich versuche hier auch dich zu schützen. Aber deiner lieben Meta ist offensichtlich nicht bewusst, in welche Bredouille sie dich mit öffentlich zur Schau getragener Traviafrevlerei bringt."

Gudekar schüttelte den Kopf. Merle merkte scheinbar nicht einmal, was sie Meta die ganze Zeit antat. “Lassen wir das! Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen und ich brauche deine Erfahrung, um mir beizustehen. Merle, wir sollten unsere Differenzen ruhen lassen, bis das hier erledigt ist. Ich verspreche dir, mich zurückzuhalten, und ich bitte dich, halte bei Meta deine spitze Zunge im Zaum.”

Merle blies sich achselzuckend eine lose Haarsträhne aus der Stirn. Wer hätte gedacht, dass die stolze Ritterin so ein Sensibelchen war. Und das von Gudekar, dem ungekrönten Meister spitzfindiger Wortklaubereien... Früher hatte er mehr Humor gehabt und ihre scharfe Zunge zu schätzen gewusst. Sie seufzte und musterte ihn mit müdem Blick. Es war klar, dass sie ihm nicht vollständig vertraute, dennoch nickte sie schließlich. Eigentlich wollte sie Frieden und nicht wieder mit eifersüchtigen Streitereien beginnen. "Gut. Ich bin ganz brav.” Ohne auf ihren Mann zu warten, drehte sie sich auf dem Absatz um, setzte entschlossen den Weg in Richtung des Borkmundhofes fort und redete im Gehen weiter. “Was willst du genau zu Doratrava wissen? Sie hat Rahjel und mich versehentlich an eine anderen… Ort gezaubert, eine Feenwelt, vermutet sie. Weil sie mich vor dir retten wollte.” In Merles hintergründigem, aber nicht unfreundlichen Lächeln lag die Bitte, sich über diese Bemerkung nicht gleich wieder aufzuregen. Gudekar nickte wortlos und verständnisvoll. “Wir waren auf einer seltsam flachen Wiese im Nebel. Da war eine Art… Wesen. Es hat in meinen Gedanken zu mir gesprochen, das war wirklich beängstigend. Ich glaube, es ernährt sich von Angst und Schmerz. Und als Doratrava uns von dort fortbringen wollte, hat das Wesen wohl versucht, uns aufzuhalten.” Eindringlich schaute sie Gudekar in die Augen. “Mir ist schon klar, dass das alles nicht ungefährlich war. Ich bin nicht dumm. Aber denkst du nicht auch, dass Doratrava lernen kann, ihre Zauberkraft zu kontrollieren und gezielt einzusetzen?”

“Ich weiß es nicht. Doratrava hat elfisches Blut in sich. Sie hat gelernt, ihre Kräfte intuitiv einzusetzen, ohne dass ihr je erklärt wurde, wie sie das zu tun hat. Bei menschlichen Zauberwirkenden wäre es in ihrem Fall eigentlich zu spät, die Kräfte in geordnete Bahnen zu lenken. Ich weiß auch nicht, wie stark ihre Kräfte sind.” Gudekar hielt Merle erneut am Handgelenk fest. “Merle, sag: wie hat Doratrava dieses Wesen letztlich besiegt und Euch in unsere Sphäre zurückgebracht?”  

Sie schaute Gudekar tief in die Augen. In ihrem Blick lag die unverhohlene Frage, warum er das so genau wissen wollte. Doch hatte sie beschlossen, ihm wieder zu vertrauen - auch wenn es vielleicht ein Fehler war. “Das Wesen ergötzte sich offenbar an Leid und negativen Gefühlen. Um aus dieser Welt heil rauszukommen, musste Doratrava also Freude empfinden”, erklärte sie so sachlich, als würde sie über ihren Einkauf auf dem Markt berichten. Gelassen hob sie die Schultern. “Deshalb hab ich sie geküsst.”

“Und ein Kuss allein hat gereicht, dieses ach so gefährliche Wesen zu vertreiben?” Gudekar schaute Merle skeptisch an. Doch dann winkte er ab. “Was soll’s, lassen wir das. Es geht mich eigentlich nichts an, was dort zwischen euch vorgefallen ist. Ich muss nur wissen, was für Kräfte in Doratrava stecken.” Gudekar war hin und her gerissen. War da tatsächlich mehr zwischen Merle und Doratrava vorgefallen? Falls ja, freute es ihn für Merle, dass sie auch die Liebe erfahren hätte, die er ihr in den letzten Jahren verwehrt hatte. Andererseits wurmte es ihn, dass Merle ihn einerseits für sein Verhalten rügte und andererseits selbst das Gelübde brach. Aber so konnte sie ihn doch in Zukunft weniger unter Druck setzen. Oder war es bei Merle und Doratrava ebenfalls nur ein ungewollter Zwang, so wie damals bei ihm und Tsalinde?  

Merle warf Gudekar einen herausfordernden Blick zu. Sollte er ihr doch blöd kommen wegen Doratrava - sie hätte ein paar gepfefferte Antworten parat. Gerade wollte sie zu einer Reaktion ansetzen, als sie merkte, dass seine Geliebte sich näherte. Ein lautloses Seufzen entwich ihrer Kehle.

Meta hatte genug nachgedacht und schloss zu ihren Schutzbefohlenen auf. Sie schienen in ein schwieriges Gespräch vertieft zu sein, das schreckte sie aber nicht ab, ihrer Erfahrung nach stand Gudekar entweder unter der Fuchtel von irgendwem oder das Gespräch wurde zwangsläufig schwierig. „Edle Dame, Gudekar, ich darf doch zu euch vor? Redet ruhig weiter, oder bezieht mich mit ein. Wenn Gwenn noch da wäre, hätten wir eh ein gemeinsames Gespräch. Ach Merle, die Nacht mit Gudekar steht noch. Ihr habt ihn heute für Euch, da gab ich mein Wort.“ Sie blickte auf den Boden, auf den sacht beleuchteten Weg. „Ich hab einen Platz anderswo.“

Merle musterte Meta kühl, bemühte sich aber erfolgreich, ein Augenrollen und eine schnippische Bemerkung zu unterdrücken. Sie wollte ja nicht, dass dieses zarte, sensible Pflänzchen von Ritterin sich 'gedemütigt' fühlte. "Eigentlich war es eine private Unterhaltung", gab sie in neutralem Tonfall zurück. "Aber kein Problem; wir können diese auch später fortführen." Die junge Frau rang sich ein verbindliches Lächeln ab. “Meta, du brauchst mich nicht 'edle' Dame nennen oder mit 'Ihr' anreden. Schon angesichts der Gesamtsituation."

„Jetzt habt Euch mal nicht so. Entweder, oder. Das eine klappt nicht, also bleiben wir lieber distanziert.“ Sie ließ sich ein paar Schritte zurückfallen. „Führt Eure private Unterhaltung fort. Und bitte, unterlasst dieses pubertäre Augenrollen. Glaubt Ihr, das merkt niemand? Oder kommt das besonders gut an? Gudekar, wie ich ihn kenne schätzt das nicht besonders, wie Ihr wollt.“

Nun ließ Merle sich ebenfalls zurückfallen und begegnete Metas Blick ohne Furcht. Sie war an einen Punkt gekommen, wo sie nicht länger die Anmaßungen dieser kleinen Söldnerin hinzunehmen gedachte. Sollte Gudekar das junge Ding bis zur Besinnungslosigkeit vögeln, wie ihm beliebte - sie musste sich von Meta nichts bieten lassen. Von dieser Warte konnte sie ihr gelassen und selbstbewusst in die Augen sehen. “Habt Dank für diesen wertvollen Rat. Ich werde versuchen, in Zukunft jegliches unmanierliche Augenrollen zu unterlassen.” Sie deutete im Gehen einen übertriebenen Knicks vor Meta an. "Doch bei allem Respekt, hohe Dame, glaube ich nicht, dass ich Eure Erlaubnis benötigte, um meinen Ehemann nachts sehen zu dürfen." Merles leichtes Lächeln war höflich, aber ohne Wärme.

Meta lächelte vergnügt. „Man merkt, dass Ihr Rustikale seid. Der Knicks war falsch, außerdem brauchen wir beide nicht die gegenseitige Erlaubnis. Ich denke, dass Gudekar für sich selbst entscheiden kann. Auch, ob er Euch sehen will oder nicht. Als sein eigener Herr ist er Euren Entscheidungen nicht unterworfen. Und ob ich Euch begleite, das habt auch nicht Ihr zu entscheiden.“ — „Aber husch… Euer privates Gespräch wartet.“

Merle lag eine spitze Bemerkung darüber auf der Zunge, dass Gudekar als Mann im Traviabund eben nicht sein eigener Herr war, doch würde dies den Wortwechsel noch mehr aufschaukeln, immer mehr Streit geben, immer mehr Hass. Nein. Das musste aufhören. Sie blieb abrupt stehen, schloss kurz die Augen und dachte an Travias Wärme, Rahjas Harmonie, zwang sich, ruhiger zu atmen. “Meta… Ich will dir nichts Böses", brachte sie nach einigen Herzschlägen heraus. “Ich weiß, dass du in einer genauso schwierigen Situation bist wie wir alle. Und ich glaube dir, dass du Gudekar von Herzen liebst.” Sie schaute der jungen Ritterin freundlicher, geradezu teilnahmsvoll in die Augen und seufzte leise, als sie wieder den stechenden Schmerz in ihrem Herzen fühlte. “Aber ich liebe ihn auch. Ich kann nicht anders.” Traurig, verletzlich, fast mädchenhaft lächelte sie in Gudekars Richtung, dessen geliebtes, vertrautes Gesicht vom Licht seines Magierstabes erhellt wurde. “Ich hab vorhin mit Rahjel gesprochen… ein wenig hat mir dies die Augen geöffnet. So, wie ich nichts daran ändern kann, dass Gudekar in einem Rahjabund mit dir ist, so kannst du nichts daran rütteln, dass sein Traviabund mit mir fortbesteht. Ich bin seine Ehefrau und werde es immer sein. Keine von uns beiden wird aufgeben und der anderen das Feld räumen. Also… wir müssen nicht beste Freundinnen werden, aber ich glaube, wir sollten uns wohl oder übel miteinander arrangieren. Ohne uns gegenseitig die Augen auszukratzen. Denkst du nicht auch?” Verlegen streckte sie die Hand in Metas Richtung aus.

Gudekar war währenddessen weiter vorweg gegangen und hielt nun Tsasal an der Hand. Er versuchte, der Unterhaltung seiner beiden Frauen zu lauschen, aber er versuchte, keine Reaktion zu zeigen. Er war sich sicher, die beiden mussten dies nun ein für alle mal klären. Würden sie es schaffen, sich zusammenzuraufen, oder würden sie ihn nun endgültig vor die Wahl stellen, zu einer Entscheidung zwingen? Wie würde er sich dann entscheiden? Er konnte es nun eh nicht mehr beeinflussen. Es kam, wie es kam.

Das alles hatte Meta einige Stunden zuvor, als sich Merle ihrer Freundinnen sicher war, bereits versucht, und sie traute ihr nicht. Merle neigte zu unberechenbaren Stimmungsschwankungen. Gerade fehlte ihr wohl einfach Doratrava und eben noch war ihre Feindseligkeit Meta gegenüber nicht zu leugnen gewesen und sie hätte sie am liebsten daran gehindert, sie zu begleiten. Allerdings hatte sie keine Lust auf weiteren Streit. „Mal sehen. Wir haben zu tun und dann wollten wir zu dritt darüber reden, wie es weitergeht. Dass unsere Leben durch den Bund verknüpft sein werden, war mir schon lange klar. Ich kann nichts versprechen, ich versuche, euch so weit es geht, entgegen zu kommen, aber ich habe auch meinen Stolz. Ich lasse mir von Gudekar oder hier von Jartgar sagen, was ich zu tun habe, von dir nicht. Und was ich kann, was ich wie schnell lerne, das kannst du nicht beurteilen. Wenn du versuchen willst, dich standesgemäß zu benehmen, dann schweige, wenn es klüger ist. Das habe ich lernen müssen. Wie gesagt, wir arbeiten zusammen, jetzt, ob du mich wahrnimmst, oder nicht. Wenn die Gefahr gebannt ist, werden wir mit Gudekar reden und sehen, ob wir zu einer Einigung kommen. Aber Gudekar wird dabei mitsprechen. Wir buhlen nicht um ihn, er muss wissen, was er will.“

Getroffen und plötzlich sichtlich eingeschüchtert flackerte Merles Blick. Sie wusste, sie durfte sich von Metas hochnäsigen Worten über 'standesgemäßes Schweigen' nicht provozieren lassen - auch wenn es offene Wunden traf. Ja, Meta war gut darin, ihr wehzutun. Und es tat so weh, weil es wahr war. Natürlich war Meta die Adlige und sie selbst eine ungebildete Waisengöre; natürlich war sie in den Augen von Meta und den meisten edlen Damen und Herren nichts anderes als eine gewöhnliche Küchenmagd, die nicht wusste, wo ihr Platz war. Nur Gudekar, er hatte einst mehr in ihr gesehen… Wollte Meta wirklich, dass sie, die Betrogene in diesem Spiel, vor ihrer Rivalin knickste, kuschte und sich demütig in den Staub warf? Wollte Gudekar das? Merle schluckte mühsam und ballte die Hände. Nein, sie durfte sich nicht unterkriegen lassen. Sie musste stark und tapfer bleiben und die Ruhe bewahren. Der Traviabund war unauflöslich - auch wenn Meta adlig und sie nur eine Gemeine war, blieb sie Gudekars vor Travia angetraute Ehefrau. Noch einmal atmete sie tief durch und fixierte die Geliebte ihres Mannes mit einem klaren, ernsten Blick. "Gut. Ich danke dir, Meta. Du hast natürlich Recht; lass' uns jetzt tun, was nötig ist. Und später sprechen." Ihre Stimme klang leise und tonlos, hatte Schneid und Schärfe verloren, die eben noch darin zu hören gewesen waren. Ohne zu wissen, was sie noch zu der Ritterin sagen sollte, senkte sie das Haupt und setzte schweigend, mit etwas Abstand nach hinten und vorne, ihren Weg in Richtung des Bauernhofs fort.

Merle machte einen derart niedergeschlagenen und wieder völlig anderen Eindruck als noch ein paar Minuten zuvor. Diese Frau war zutiefst unsicher und emotional unberechenbar. Nun tat sie nach diesem Tag Meta doch leid, auch, wenn sie sich selbst kaum besser fühlte und ihre Hoffnungen auf eine harmonische Zukunft schwanden. Merle lag so viel an Doratrava, welche Meta auch immer wieder feindselig behandelte. Irgendwie beneidete sie Gudekars Frau um die Fähigkeit, so schnell Freundschaft schließen zu können und, so nahm Meta es wahr, von so gut wie jedem gemocht zu werden. Sie selbst war, wie sie war und schon immer mit ihrer Art eher angeeckt. Jeder war verschieden. Sie wählte ein Tempo, das sie wieder neben Merle brachte und griff nach deren Hand. „Erstmal Frieden, ja? Freundinnen werden wir wohl nicht, aber heute gab es genug Ärger und Streit.“ Sie zog die Augenbrauen hoch, müde aber freundlich. „Gudekar liebt dich mehr, als du denkst. Das macht mir zu schaffen. Du kommst schnell bei den Leuten an und bist nicht allein. Du siehst in mir nur die Frau, die dir den Mann wegnehmen will, mehr weißt du von mir nicht, das ist schade. Nach der Geburt haben wir hoffentlich endlich Zeit, unser Gespräch zu führen.“  

Mit leerem Blick lief Merle in Richtung des Hofs, entschlossen, bei der Geburt nur Anweisungen zu befolgen und nicht mehr als nötig zu reden. Wie es sich für eine ‘Rustikale’ geziemte. Als Meta sich wieder näherte und nach ihrer Hand griff, schreckte sie überrascht auf. Ihr erster Impuls war, den Arm wegzuziehen und Meta entgegen zu schleudern, was diese denn sonst wäre als eine Frau, die einer anderen den Ehemann wegnahm - dennoch, Metas Stimme und Miene wirkten jetzt freundlicher. Es war ein Friedensangebot. Zögerlich gab sie sich einen Ruck und lächelte matt. “Ich glaube, wir drehen heute alle am Rad. Es gab so viele Tote, Gwenn wurde entführt, dieser Mörder greift Lützeltal und unsere Familie an… Ich hab einfach Angst, vor allem um Lulu. Und ich merke, wie ich langsam durchdrehe. Eigentlich will ich mich bloß verkriechen und heulen…” Sie schluckte schwer und musterte die Ritterin, die aus der Nähe sehr jung und fast verletzlich wirkte. “Ich schätze, du hast ebenso Angst wie ich, Gudekar zu verlieren… fühlst dich verloren, überfordert und verletzt. So geht’s mir jedenfalls.” Sichtlich verlegen, ihr Inneres gegenüber ihrer Rivalin offengelegt zu haben, senkte sie wie automatisch den Blick, hob diesen aber schnell wieder und zwang sich, Meta in die Augen zu schauen. “Ja, lass' uns für den Moment Frieden schließen. Vielleicht kann ich damit leben, dass du ihn liebst; wenn du akzeptieren kannst, dass ich ihn auch liebe. Vielleicht können wir auf Dauer damit klarkommen, dass es die jeweils andere in Gudekars Leben gibt. Lass’ uns aufhören, uns zu zerfleischen. Erstmal Isfried helfen und tun, was nötig ist."

„Gut. Friede bis zu unserem Gespräch. Mir war schnell klar, dass Lulu uns in Zukunft verbinden wird, da er in ihr Leben gehört. Womit ich nicht gerechnet habe und ich muss überlegen, wie ich damit klar komme, ist seine Liebe zu dir. Er hat nie davon gesprochen; als wäre es ein Bund, der nur noch besteht, da man ihn nicht lösen kann. Das, ja das muss ich erst realisieren.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und fuhr durch ihr strubbeliges Haar. „Mit dem Tod und dem Bösen hatte ich schon öfter zu tun und ich kannte die Opfer kaum. Man kann auch nicht behaupten, dass mein Verhältnis zu Gwenn gut gewesen wäre. Doch wir müssen gegen das Unheilige und die verderbten Kreaturen ankämpfen. Seit ich hier bin, fühle ich mich schrecklich einsam, wenn Gudekar nicht da ist. Es ist niemandem zu verdenken, aber man lässt mich spüren, wer schuldig ist. Na ja, warten wir ab. Ich bin in einer sehr großen Familie aufgewachsen, da hat man nie jemanden nur für sich und muss seinen Weg finden. Und es geht nicht nur um Sex. Ach, was rede ich da. Gudekar liebt zwei Frauen und ich dachte, ich wäre die Person in seinem Leben.“ Meta sah Merle schräg an. „Du hast auch etwas von dir erzählt, es ist nur fair, dass ich das auch mache.“ Dass sie ihm nie ein Kind wie Lulu schenken konnte, selbst mit Tsas Hilfe wäre das nicht sicher, schmerzte sie nun wieder mehr.

“Das dachte ich auch. Dass ich die einzige Frau in seinem Leben wär’.” Ein leises, melancholisches Lachen kam aus Merles Kehle. War es seltsam, so etwas zu Gudekars Geliebter zu sagen? “Ich weiß nicht, ob - und wie sehr - er mich noch liebt. Aber ich bin dir dankbar, dass du ihn nicht aus Lulus Leben rausreißen willst. Das hätte mir am allermeisten das Herz gebrochen.” Verlegen schob sie sich ein paar Haarsträhnen hinters Ohr. In ihrem Gesicht machte sich so etwas wie zarte Hoffnung breit. “Ich hoffe… wünsche mir, dass zu viel Liebe vielleicht etwas ist, womit wir drei eher leben können als mit Kälte und Hass…” Sie zuckte unsicher mit den Achseln. “Jedenfalls erleichtert es mein Herz, erst einmal friedlich miteinander umzugehen. Und es beruhigt mich, dass du da bist, um uns zu schützen.” Schnell drückte sie Metas Hand, bevor sie diese losließ, sich abwandte und wieder starr in Wegrichtung blickte.

Gudekar hatte vorneweg laufend nicht alle Worte der Unterhaltung der beiden gehört, aber es klang so, als hätten sie erst einmal Frieden geschlossen. Obwohl Metas Worte zunächst nicht unbedingt sehr rücksichtsvoll waren, hatte sich Merle zu keinem weiteren Streit provozieren lassen. Das war gut. Dennoch musste er später Merle irgendwie trösten, aber so, dass Meta davon nichts merkte. Aber erst, wenn das Kind zur Welt gebracht war. Wie sollte er nur für ihrer aller Sicherheit sorgen, wenn sich die beiden nicht zusammenraufen konnten? Ach, als Anconiter hatte man es wirklich nicht leicht!                                                            

Auf dem Hof Borkmund

Schließlich erreichte die Gruppe den Bauernhof der Familie Borkmund, der in Bachnähe mitten auf einer großen Streuobstwiese gebaut war und aus zwei Gebäuden bestand, die rechtwinklig zueinander standen. Gudekar war froh, dass es bereits Mitte Travia war und die Wiese nicht mehr so hoch wuchs, nachdem das Heu bereits gemäht und als Tierfutter getrocknet worden war. So war der Weg durch die Dunkelheit etwas weniger beschwerlich. Zuerst kamen sie an einem alten, halb eingefallenen Ziehbrunnen vorbei. Der eine oder die andere mag sich vielleicht gewundert haben, wieso es auf diesem abgelegenen Hof überhaupt einen Brunnen gab, wo doch der idyllische Lützelbach fast an den Häusern des Hofs vorbei lief. Das erste Gebäude, das sie passierten, war eine große Scheune, in der Gerätschaften und Obst gelagert und letzteres auch verarbeitet werden konnte. Das Haupthaus dahinter war teils aus Feldsteinen und teils aus Fachwerk errichtet. Dorthin führte Tsasal den Anconiter und sein Gefolge.

Tsasal lief voraus ins Haus, wo sie sogleich von ihrem Vater Jorgast in Empfang genommen wurde. “Und hast du Meister Gudekar gefunden?” fragte er seine Tochter.

“Ja, Vater, er und die Frau Merle kommen gleich. Und sie bringen noch ganz viele andere mit.”

“Andere?” fragte Jorgast nach.

“Ja, Ritter und zwei Geweihte”, antwortete Tsasal. Ihr Vater schaute seine Tochter besorgt an.

Dann trafen sie ein, vorneweg der Anconiter Gudekar von Weissenquell, gefolgt von den beiden Frauen in seinem Leben, der Ordensschwester Merle Dreifelder von Weissenquell und der Ritterin Meta Croy. Die beiden Geweihten Imelda von Hadingen und Rahjel von Altenberg folgten, und schließlich bildeten die Ritterin Alana von Altenberg und der Ritter Jartgar von Immergrün die Nachhut.

Jorgast begrüßte die Ankommenden aufgeregt. “Meister Gudekar, Junge Dame Merle! Gut, dass ihr kommt! Isfried geht es gar nicht gut. Perainhulda hat mich und die Kinder aus der Stube geschickt und seitdem weiß ich nicht, was geschehen ist.” Er machte eine Pause, so dass das Schreien des neugeborenen Kindes zu hören war. Verängstigt und zweifelnd hob er die Achseln und schüttelte nur den Kopf.

Merle trat zu dem jungen Obstbauern und legte ihm sachte die Hand auf den Arm. "Ruhig, Jorgast, es wird alles wieder gut", versuchte sie ihn mit leiser, aber klarer Stimme zu beruhigen. "Hör', da schreit schon dein Kind. Und um die Isfried wird sich Gudekar gleich kümmern. Du wirst sehen, bald kannst du sie in deine Arme schließen.” Sie schenkte Jorgast ein aufmunterndes, offenes Lächeln. “Aber vorher pass' bitte auf Tsasal und Hageian auf; sie brauchen dich jetzt." Auffordernd drückte sie ihm den großen Verpflegungsbeutel aus der 'Weißen Quelle' in die Hand. "Hier, gib allen was von dem Essen und sieh zu, dass du selbst etwas zu dir nimmst. Du musst bei Kräften bleiben."

Meta waren Geburten nicht fremd, allerdings hatte sie sich nie sonderlich dafür interessiert. Es waren so viele hier, da würde sie sowieso nichts tun können. Sorgsam stellte sie sich an den Rand, um nicht im Weg umzugehen.

Jorgast nahm den Beutel entgegen und schaute ihn entgeistert an. “Mir ist jetzt wirklich nicht nach Essen. Aber wenn die hohen Herrschaften”, er blickte zu den beiden Geweihten und den Rittersleuten, “Hunger haben, ist es am Besten, wenn sie zu Durinja in die Küche gehen. Dort ist genügend Platz für alle und sie kann allen etwas zu Essen bereiten.”

"Das Essen ist vom Bachschenk. Das sind fertige Brote und gebratene Fleischspieße; Durinja muss da nichts mehr vorbereiten. Achte einfach darauf, dass Tsasal und Hageian was bekommen. Und ja, wir alle haben gerade keinen besonderen Appetit. Versuch’ trotzdem, ein paar Bissen in den Magen zu kriegen." Obwohl Jorgast ein paar Jahre älter als Merle war, schaute sie ihn mit einem strengen, fast mütterlichen Ausdruck an.

“Das Essen kann warten”, merkte Gudekar an, “aber sag mir, wenn Eure Magd in der Küche ist, wer hat dann Perainhulda bei der Entbindung beigestanden? Und sollten wir jetzt nicht doch endlich mal nach der Mutter schauen gehen? Euer Kind scheint ja wohlauf zu sein, so wie es schreit.”

Der Bauer schaute den Anconiter an. “Als ich Euch vorhin nicht finden konnte, sind vier der Gäste Eures Herrn Vaters mit mir gekommen. Ein Geweihter der Tsa mit seinem Schüler, eine junge Adelige, die sich scheinbar ebenfalls mit der Heilkunst auskennt, und ein Krieger. Sie sind bei Isfried und Perainhulda in der Stube.”

Rionn und sein Novize also. ‘Gut, sehr gut!’ dachte Gudekar. Dann überlegte er, wer noch dabei sein konnte. Die junge Adelige war vermutlich die Baroness von Kaldenberg. Hatte sie nicht angedeutet, dass sie sich in der Heilkunst auskannte? Und der Krieger konnte sonst wer sein.

“Wobei”, warf Jorgast hinterher, “der Novize ist vor kurzem hinaus gerannt, ohne ein Wort zu mir zu sagen. Es sah dringend aus. Seid ihr ihm nicht auf dem Weg ins Dorf begegnet?”

Merle schüttelte den Kopf. "Vielleicht ist er querfeldein gelaufen?" Eindringlich blickte sie Jorgast an. "Es sind einige schlimme Dinge passiert”, erklärte sie leise. “Gwenn wurde im Wald überfallen und die Banditen könnten sich auch hier im Dorf rumtreiben. Bitte achte darauf, dass deine Kinder nicht mehr alleine draußen rumstromern. Auch Durinja nicht. Und vor allem nicht im Dunklen." Sie umarmte Jorgast noch einmal schnell und blickte auffordernd zu Gudekar. “Gut, dann schauen wir jetzt nach Isfried. Kommst du?”

Ohne abzuwarten, ob Jorgast noch etwas auf Merles Ratschlag erwidern wollte, nahm der Magier das Heft in die Hand. “Ja, wir sollten uns beeilen.” Er ging auf die nächstgelegene Tür zu und ohne anzuklopfen öffnete er sie. Als er bemerkte, dass dies jedoch nur eine dunkle Abstellkammer war, sagte er “Oh!”, drehte sich um und blickte fragend zu dem Obstbauern.

Dieser deutete mit vor Verwunderung aufgerissenen Augen wortlos auf eine andere Tür, zu der dann Gudekar sofort ging und kurz anklopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete er die Tür und trat ein.

Merle unterdrückte ein leises Schmunzeln über Gudekars Missgeschick und folgte ohne Umstände ihrem Mann.

"Viel Erfolg und alles Gute!", rief Imelda Merle und Gudekar hinterher. "Der Segen der Götter sei mit euch!"

Jorgast schaute den beiden hinterher und drehte sich dann zu den anderen um. “Wollt ihr mir in die Küche folgen?” Er hob den Beutel hoch, den ihm Merle in die Hand gegeben hatte. “Dann können die hohen Herrschaften etwas essen und trinken. Ihr seht erschöpft aus!”

Die Geweihte seufzte. “Ach, hungrig bin ich nicht, nach allem was geschehen ist.” Sie goss sich aus der Flasche in ihrer Tasche den allerletzten Rest Met in ihr Trinkhorn und folgte den Herrschaften in die Küche.

„Ich komme auch mit. Wenn sie was brauchen, werden sie uns schon rufen.“ Meta folgte Imelda in die Küche.

~ * ~

1 und 1 sind 2

In der Schlafstube der Familie Borkmund lag die völlig entkräftete Isfried in den Armen des Tsa-Geweihten Rionn. Die Dorfheilerin und Hebamme Perainhulda Waldgrun half der ebenfalls in der Heilkunst bewanderten Baroness Ardare von Kaldenberg, die Schwangere zu untersuchen, bei der nach der Geburt eines zierlichen Sohnes erneut schwache Wehen eingesetzt hatten. Der Krieger Hesindiard Zerf, der ebenfalls bei der Geburt anwesend war, hielt das Neugeborene sanft auf seinem Arm. Er hatte der Baroness gerade im Stillen vorgeschlagen, einen Horas-Schnitt durchzuführen, um das zweite Kind zu retten, als ein kurzes Klopfen an der Tür zu vernehmen war. Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete sich die Tür und zwei Gestalten traten ein: der Anconiter Gudekar von Weissenquell und seine Ehefrau, die Anconiter-Schwester Merle Dreifelder von Weissenquell.

“Wie geht es der Mutter?” fragte Gudekar ohne jegliche Begrüßung und lief auf das Bett zu. “Das Kind ist doch da, warum wurde der Vater noch nicht informiert?”

Merle nickte den Anwesenden höflich zu, sagte jedoch nichts.

“Sie stirbt. Und das zweite Kind auch, wenn wir nicht handeln”, sagte Hesindiard düster, dann kümmerte er sich wieder um den Erstgeborenen.

Rionn schüttelte den Kopf und seufzte ob des Ausspruchs des Kriegers. “Sie erwartet noch ein Kind. Und ihre Kräfte schwinden. Schnell, Gudekar, du musst etwas tun!”

“Zwillinge?” Merles Augen weiteten sich überrascht. Auch sie eilte an Isfrieds Lager und versuchte aufmerksam die Situation zu erfassen; darauf bedacht, sich hinter Gudekar zu halten, um ihm nicht im Weg zu stehen.

“Schön, Zwillinge. Das kommt vor. Doch daran stirbt eine Frau nicht gleich.” Gudekar wirkte ausgesprochen gelassen. Er wollte sich nicht von den Worten der Anwesenden in Panik versetzen lassen. “Was ist das Problem? Ist bei der Geburt des ersten Kindes etwas schief gelaufen? Geht es dem ersten Kind gut? Was hat sie? Wie weit ist die zweite Geburt?”

“Isfried fehlt die Kraft, das zweite Kind zu gebären”, erklärte Rionn. “Irgendetwas hat sie über das übliche Maß geschwächt.”

“Gudekar, kannst du ihr die Kraft geben, die sie braucht?” fragte Merle leise.

“Hm, ich muss sie mir wohl erst einmal ansehen, was sie tatsächlich hat. Die Kraft fehlt ja nicht einfach so”, überlegte Gudekar. Dann wandte er sich wieder an die Anwesenden, die sich schon länger um Isfried gekümmert hatten. “Habt Ihr sie bereits abgetastet? Wie ist die Lage des Kindes? Ist der Bauch verhärtet? Wie stark schlägt ihr Herz? Irgendetwas? Hat hier irgendjemand schon irgendetwas untersucht?” Gudekar ging zu Isfried und setzte sich auf die Bettkante, wobei er Perainhulda und Arda unsanft zur Seite schob. Sofort, ohne eine Antwort abzuwarten, fing er an, den Bauch der Schwangeren abzutasten, um die Lage des Kindes zu bestimmen.

Die Baroness hatte - nach einem sehr kurzen Moment der Erleichterung, dass unversehens ihr just ausgesprochener Wunsch in Erfüllung gegangen war - keine Zeit verloren. Sie kramte in ihrer Tasche und breitete chirurgisches Werkzeug auf ein weißes Tuch aus.

Doch als Gudekar sie zur Seite schob, weckte das den Zorn der Baroness. Ein feines Messer fiel klirrend auf die Bohlen des Gemachs. Arda wirbelte herum, griff mit beiden Händen nach dem Revers des Magiers und versuchte ihn dazu zu zwingen, in ihre Richtung zu sehen: "Was glaubt Ihr, was ich hier die ganze Zeit mache?! Dass Euch alleine schon die ungeliebte Zugehörigkeit zu Eurem Orden, oder Sumus Privileg in Eurem Blut, zum besseren Medicus macht?" Mit zusammengezogenen Brauen funkelte sie ihn böse an: "Also Finger weg von MEINER Patientin! Wir haben keine Zeit zu verplempern. Stellt Euch hier daneben, wir machen jetzt eine Sectio cesarea, weil sie zu entkräftet ist, um das zweite Kind zu entwickeln. Für das wieso und warum ist später Zeit. Ihr werdet die Frau mittels Eurer Magie kräftigen und dann den Schnitt heilen. Ist das klar?" Die steile Falte auf der Stirn der Baroness macht klar, dass sie keinesfalls gewillt war, dem hereingeplatzten Gudekar das Kommando zu überlassen. Und überhaupt - was machte er hier?!

Die Falte auf ihrer Stirn löste sich und die Wut in ihrem Gesicht verschwand, um Misstrauen Platz zu machen. War das überhaupt Gudekar? Mit ruhigerer, lauernder Stimme fragte sie den Magier: "Als was habe ich Euch vorhin im Hof bezeichnet?"

Rionn merkte, dass die angespannte Situation und die Sorge um Mutter und Kind offensichtlich bei mehreren Menschen dazu führte, dass sie ärgerlich und misstrauisch aufeinander reagierten. “Wollen wir unsere Differenzen später klären?”, versuchte er zu schlichten. “Ich unterstütze Dich gerne bei dem Eingriff und werde die Göttin um Beistand und Heilung der Wunde bitten. Tsa will das Leben.”

Beim Ausbruch der Baroness schreckte Merle ein wenig zusammen. Sie musterte Arda mit einer Mischung aus Bewunderung und Eingeschüchtertsein - insgeheim verschaffte es ihr durchaus eine gewisse Befriedigung, dass Gudekar in seiner wichtigtuerischen Attitüde mal Gegenwind bekam; gleichzeitig hoffte sie um Isfrieds Willen, dass die Vorgehensweise schnell geklärt würde.

“Moment, Moment, meine Liebe!” fing Gudekar betont ruhig an zu reden. “Ihr macht hier erst einmal gar keinen Schnitt, Euer Wohlgeboren! Habt ihr Euch überhaupt vorher vergewissert, welche Lage das Kind im Bauch der Mutter hat? Wollt Ihr Mutter und Kind umbringen?  Ihr meintet vorhin, Ihr haltet mich für einen Mann, der seine Prioritäten richtig einordnen kann. Und genau das bin ich. Und deshalb sage ich, man muss sich sicher sein, was man tut. Wisst auch Ihr, die Prioritäten richtig zu setzen, Euer Wohlgeboren?”

Rionn, der in der Zwischenzeit Isfrieds Bauch abgetastet hatte, um die Lage des zweiten Kindes zu ermessen, flüsterte Gudekar zu: “Es liegt in Steißlage.” Der Tsageweihte hoffte, dass er damit beitragen konnte, dass die beiden Disputanten wieder zur Sachlichkeit zurückkehren und sich ihrer Aufgabe widmen würden. Doch hatte er den Eindruck gar nicht gehört zu werden, da die Baroness bereits in ihrer Aufgebrachtheit fortfuhr den Heilmagier anzufahren.

“Ich bin nicht Eure Liebe! Davon habt Ihr doch anscheinend schon genug!”, giftete Arda ihm entgegen, die der Magier durch seine vertrauliche Anrede auf dem falschen Fuß erwischte. Hesindiard hob überrascht die Augenbrauen. “Ihr seid hier? Gut. Ihr werdet nützlich sein. Doch DAS hier ist MEINE Patientin!” Ein spitzer Zeigefinger drückte sich gegen seine Brust. “Ich WEISS, was ich tue! Es spielt nämlich gar keine Rolle, wie das Kind liegt. Ebenso wenig wie es jetzt Priorität hätte zu ergründen, woher die Schwäche der Mutter kommt. Jetzt haltet den Mund und lasst mich tun. Wir haben für den anderen Kleinen genug Zeit verloren!”

“HALTET EIN! ZUM LETZTEN MAL: HALTET EIN!” schrie Gudekar die Baroness nun an. “Nicht so voreilig! Wie oft sagtet Ihr, habt Ihr solch einen Eingriff bereits vorgenommen? Und wie oft haben Mutter und Kind dies überlebt?” fragte er mit deutlich freundlicherem Ton nach. “Ich habe bisher nur von Meister Mirador aus unserem Kloster gehört, dass er eine solche Sectio durchgeführt hat. Und jedes Mal, nun ja, …” Er schaute Arda erwartungsvoll an.

“Sie wird SICHER sterben, wenn wir es nicht tun!”, zischte Arda mit nun gesenktem Ton, aber umso mehr Schärfe in der Stimme. “So kann ich den Kleinen retten - wenn es nicht schon zu spät ist - dank EUCH!” Zum Schluss hatte die Baroness wieder ihre nun bebende Stimme erhoben. Nach einem hastigen Seitenblick zu den Anwesenden fügte sie wieder mit gesenkter Lautstärke weiter: “Und IHR seid ihre beste Hoffnung während der Sectio.” Sie wies auf das ausgebreitete chirurgische Besteck: “Ich habe eine solche Prozedur bereits gesehen, in Aranien, und die Mutter hat sehr wohl überlebt!” … dank der Heilkunst einer meiner Schwestern, doch zur Not tut Ihr es auch…, fügte sie in Gedanken hinzu.

Merle hatte sich vorsichtig an das Kopfende des Bettes geschoben und verfolgte den Wortwechsel schweigend, während sie mit einem Lappen behutsam den Schweiß von Isfrieds Stirn tupfte. Schließlich erhob sie doch ihre Stimme, leise und scheu, wobei sie immer wieder zwischen Gudekar und Arda hin und her blickte: "Gibt es noch einen anderen Weg, wie wir Isfried retten können? Ihre Familie... sie brauchen sie."

Auch der Tsageweihte hatte den Disput verzweifelt und ohnmächtig verfolgt, Wie konnten die beiden sich mit einem solch unnötigen Streit aufhalten, während Isfried starb? Darum hatte er leise begonnen ein Stoßgebet zu den göttlichen Geschwistern Rahja und Tsa zu senden, um sie um den Harmoniesegen zu bitten, in der Hoffnung, dass der Heiler und die Hexe dann zum Wohle von Mutter und Kindern zusammenwirken würden.

Gudekar schüttelte den Kopf auf Merles Frage hin. “Nein, natürlich nicht! Die Sectio ist der einzige Weg, beide zu retten, da das Kind in Steißlage liegt. Aber sie muss RICHTIG durchgeführt werden.” Rionn nahm dankbar wahr, dass Gudekar seinen Hinweis doch wahrgenommen hatte. Damit wandte er sich wieder an Arda. “Lasst mich zwei Dinge sagen, bevor Ihr Eure innere Berufung als Metzgerin befriedigt. Erstens, Ihr solltet sorgsamer und pfleglicher mit Eurem Werkzeug umgehen. Das Messer habt Ihr einfach so auf den Boden fallen lassen. Wollt Ihr der Frau einen Wundbrand in den Bauch schneiden? Dann kann ich mir meine Heilkräfte gleich sparen. Das Messer muss erst sorgfältig gereinigt werden, mit einem ordentlichen Branntwein oder besser noch ausgebrannt. Zweitens, wollt Ihr der armen Frau den Bauch in vollem Bewusstsein aufschneiden? Lasst sie mich zuvor in den Schlaf bringen. Dann entspannen sich auch die Muskeln in ihrem Bauch, sodass es keine unkontrollierten Kontraktionen gibt, die es Euch unmöglich machen werden, mit einem einzelnen Schnitt das Kind herauszuholen. Das ist alles, was ich verlange VOR Eurem Eingriff. Ansonsten stimme ich Euch vollkommen zu: eine Sectio ist der einzige Weg!” Wieder blickte Gudekar die Baroness erwartungsvoll an.

Bei der negativen Stimmung, und auch wegen der lauten Äußerungen, wurde das Kind in Hesindiards Armen unruhig und begann seinen Unmut mit lautem Schreien und Weinen der Welt kundzutun. Hesindiard hatte Mühe es zu beruhigen. “Ich denke, es ist wohl besser, wenn ich gehe”, meinte er genervt und drehte sich der Tür zu.

Merle überlegte flüchtig, ob sie den Krieger aufhalten sollte, doch würde das schreiende Kind die dringend nötige Konzentration bei dem Eingriff sicherlich noch mehr beeinträchtigen. "Bringt den Kleinen vielleicht zu seinem Vater, hoher Herr", schlug sie vor. "Und berichtet Jorgast schon einmal, dass noch ein Geschwisterchen unterwegs ist."

Der Krieger nickte und verließ den Raum, um Jorgast zu suchen und ihm seinen schreienden Sohn in die Arme zu legen.

Perainhulda schaute verschreckt und verärgert zwischen dem Magier und der Baroness hin und her. Sie vertraute zwar Gudekars Heilkünsten, doch sein Verhalten war unerhörlich. Die Heilerin war nur froh, dass Isfried den Disput nicht mit anhören musste, weil sie erneut das Bewusstsein verloren hatte. Doch Perainhulda traute sich nicht, dem Sohn des Edlen die Meinung zu sagen. So blickte sie hilfesuchend zu Merle.

Merles Blick traf Perainhuldas und sie rollte fast unmerklich mit den Augen. Aus Erfahrung wusste sie, dass es der Sache nicht dienlich war, Gudekar in weitere Diskussionen zu verwickeln; sie musste seine Aufmerksamkeit auf die anstehende Aufgabe richten. Und diese temperamentvolle Baroness schien aus ganz ähnlichem Holz geschnitzt zu sein wie ihr Mann - vielleicht würden die beiden, wenn sie aufhörten, sich gegenseitig anzugiften, ganz gut zusammenarbeiten. "Euer Wohlgeboren, Gudekar, können wir dann beginnen? Sagt mir bitte, wie ich helfen kann!" Auffordernd blickte sie zu Isfried.

“Nichts lieber als das, Liebes!” antwortete Gudekar auf Merles Bitte. “Wenn das Messer wieder gereinigt ist. Könnte jemand bitte heißes Wasser und Brandgeist besorgen? Dann kann ich schon einmal dafür sorgen, dass Isfried nichts merken wird.”

Rionn hoffte, dass der Harmoniesegen langsam seine Wirkung entfaltete. Zumindest schien die Wortwahl des Anconiters darauf hinzudeuten. “Wasser und Brandgeist?”, nahm der Tsageweihte den konstruktiven Beitrag wahr. “Eoin…”, setzte er an, um seinen Novizen zu schicken. “Ist er immer noch nicht zurück?”, stellte er verwundert fest. “Äh… Perainhulda? Willst du beides besorgen?”

„Ja, sehr wohl, Euer Gnaden!“ bestätigte Perainhulda mit einem Knicks und verließ kopfschüttelnd den Raum. Hoffentlich brachte der Streit der beiden Heiler Mutter und Kind nicht um, dachte sie.

Merle hob erst etwas irritiert die Brauen, als Gudekar plötzlich nachgab und so freundlich tat, als hätte er Kreide gefressen. Aber es war gut, dass er über seinen Schatten sprang und sich auf seine Arbeit und die Patientin konzentrierte. Dankbar lächelnd nickte sie ihm zu, bereit und entschlossen, ihm und Arda bei dem riskanten Eingriff zur Seite zu stehen.

Was war gerade passiert? Jäh hatten sich Ardas Zorn, ihr innerer Zwist, die Ängste, welche sie zu jener bissigen Person machten, gelegt. Im Ergebnis hatte die Baroness etliche Atemzüge damit verbracht ihren Mund zu öffnen und wieder zu schließen, da ihr der Antrieb fehlte, das zu  sagen, was ihr auf der Zunge lag. Hatte dieser verfluchte Tsapriester etwas damit zu tun? Misstrauisch lugte sie zu diesem hinüber, als sie sich schließlich wieder gefangen hatte.

Kraftlos maulte sie: “Das Messer ist mir heruntergefallen, als IHR mich zur Seite gestoßen habt. Und… von welchem Bewusstsein der Patientin sprecht Ihr…?” Sie deutete auf die Bewusstlose.

“Und jetzt lasst uns anfangen…” Wie zur Demonstration ihrer Entschlossenheit schob sie die zurückgekrempelten Ärmel ihrer Bluse noch weiter zurück.

Gudekar hob abwehrend die linke Hand mit geöffneter Handfläche in Richtung Ardas, um sie zu beschwichtigen. “Baroness, ich bitte Euch ein letztes Mal, lasst mich zuvor tun, was ich tun muss, um der Frau zu helfen, bevor Ihr das Kind zu holen beginnt!” Sein Tonfall zeigte, dass er es gut mit allen meinte, mit der Mutter, dem Ungeborenen, aber auch mit Arda, einen Widerspruch jedoch nicht dulden würde.

"Ja doch, beginnt endlich!" bestätigte Arda, mit einer Hand vage in seine und in die Richtung der Patientin wedelnd und mit der anderen das heruntergefallene Messer mit Griff voran in Rionns Richtung haltend.

Der Tsageweihte nahm das Messer entgegen und wartete, bis Perainhulda zurück war, um es mit heißem Wasser zu reinigen.

Gudekar nickte und entspannte sich. Er senkte die Hand, die bereit gewesen war, sich zu einer Faust zu ballen, um Arda einen Fulminictus entgegenzuschleudern, hätte sie ihm weiterhin seine Vorbereitungen verwehrt. So wandte er sich jedoch wieder Isfried zu, legte die Finger beider Hände auf ihre geschlossenen Augen und begann in einem melodischen Ton immer und immer wieder dieselben fremdartig klingenden Worte vor sich hin zu summen. “Raya dao, raya mandra”. Er wiederholte dies solange, bis Isfried in einen tiefen, ruhigen Schlaf verfiel. Ihr Atem wurde flacher und ihr Puls schwächer. Ihre Muskeln entspannten sich. Ein außenstehender Beobachter hätte denken können, sie wäre gestorben, doch Merle kannte die Wirkung des Zaubers und auch Arda erkannte, dass die Schwangere lediglich in einen magischen Schlaf gefallen war. Als der Zauber gewirkt war, nickte Gudekar zufrieden zu den anderen.

Merle, die Isfrieds Atem beobachtete und ihren langsamer werdenden Puls fühlte, erwiderte bestätigend Gudekars Nicken.

Nun kam auch Perainhulda zurück in den Raum. In einer Hand trug sie einen Kessel mit dampfendem Wasser, in der anderen eine Krug mit scharfem Branntwein.

Gudekar bat Rionn, eine Schüssel von dem kochendheißen Wasser abzuschöpfen und die Messerklinge, die er von Arda erhalten hatte, in das Wasser zu halten.

Damit hatte der Tsageweihte bereits begonnen, bevor Gudekar seine Bitte vollends ausgesprochen hatte, weil Rionn das Reinigen des Messers schon beabsichtigt hatte.

Anschließend goss Gudekar etwas Branntwein erst über die Klinge und dann auf ein frisches Tuch, mit dem er Isfrieds Bauch wusch. Als er fertig war, sah er zu Arda und forderte sie auf: “So, Euer Wohlgeboren, Schätzchen, jetzt dürft Ihr hier schneiden.” Er deutete mit dem Zeigefinger die Stelle auf Isfrieds Bauch an, wo der Schnitt geführt werden sollte. Dabei achtete er sorgsam darauf, den Bauch nicht mit seinen Fingern zu berühren. “Aber schön vorsichtig, Ihr wollt das Kind ja nicht skalpieren.”

Merle zuckte leicht zusammen und verzog den Mund, als Gudekar Arda 'Schätzchen' nannte. So konnte er daheim im Anconiterkloster vielleicht sie oder andere Schwestern anreden, auch untergebene Heiler mochten sich dies gefallen lassen - doch sollte ihm eigentlich bewusst sein, dass die Baroness dies nicht lustig finden würde. Als Merle ihm das Tuch abnahm, mit dem er Isfrieds Bauch gesäubert hatte, warf sie ihrem Mann einen scharfen Blick zu, um ihn zu beschwören, seine Zunge zumindest so lange zu zügeln, bis sie den Eingriff hinter sich hatten.

“Nennt mich noch einmal Schätzchen, und ich werde nicht HIER, sondern DORT schneiden.” Die Baroness deutete mit dem Messer in Gudekars Leistengegend – was dieser mit einem Augenverdrehen quittierte –, bevor sie die Messerspitze wieder auf die Bäuerin richtete und einen etwa spannbreiten, waagerechten Schnitt knapp oberhalb von Isfrieds Schambehaarung setzte. Arda rümpfte die Nase. Ein weiteres Indiz für die Überlegenheit der tulamidischen Kultur, die von einer solchen - sprichwörtlicher! - Barbarei nichts hielt.

Der erste Schnitt, ruhig und zügig durchgeführt, durchtrennte lediglich das Fettgewebe am Bauch, und selbst dieses nur zur Hälfte. Gelbliches Gewebe, durchsetzt von weißen Knubbeln, kam zum Vorschein. Ein weiterer Schnitt durchtrennte das restliche Gewebe und legte die Fascia superficialis, die Körperfaszie, frei, die Arda in einem dritten Schnitt behutsam öffnete. Hier kam erstmals das weiße Tüchlein zum Einsatz, mit welchem die Kaldenbergerin das nun erstmals stärker hervortretende Blut wegtupfte, denn das Fettgewebe war nur spärlich durchblutet.

Arda kommentierte jeden ihrer Schritte und Schnitte, und sie tat es nicht nur, weil es ihrer Konzentration half, sondern auch, um den Umstehenden zu vermitteln, dass sie durchaus wusste, was sie tat. Selbst wenn es nur theoretisches Wissen war, über das sie hierzu verfügte.

Als nächstes rückte sie den geraden Bauchmuskeln zu Leibe. Wie erwartet hatte der Ruhezauber, den sie durchaus erkannt hatte, da er auch zu ihrem Fundus an Sprüchen gehörte, den Muskeltonus gesenkt, aber nicht ganz ausgeschaltet. Die Fasern ließen sich selbst mit dem scharfen Messer nur schwer trennen. Erste feine Schweißperlen bildeten sich auf Stirn und Nase der Hochadeligen.

Ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, sprach sie die Umstehenden an: “Sobald ich es sage, greift einer in diesen Spalt, packt das Fleisch und zieht es so kräftig auseinander, wie er oder sie nur vermag!”

Schließlich schimmerte eine gespannte, fein geäderte, rosafarbene Haut zwischen den roten Fasern hervor, die jedoch rasch von einem sich bildenden See aus Blut verdeckt wurde, da die Muskeln stark bluteten. Auch hier kam das Tüchlein zum Einsatz, das sich sofort vollsog und auch die letzte Erinnerung an seine einst reinweiße Farbe vergessen ließ.

Arda hob die Stimme: “Jetzt gilt es! Na los!”

Gudekar hatte jeden Handgriff, jede Bewegung der Baroness genauestens beobachtet und war bereit gewesen, sofort einzugreifen, wenn ihm ein Fehler auffiel. Doch ab und an, nickte er bestätigend zu Ardas Kommentaren, ein anderes Mal rieb er sich lediglich das Kinn. Als Arda ankündigte, Hilfe beim Auseinanderziehen der Bauchmuskulatur zu benötigen, goss er sich schnell noch einmal einen ordentlichen Schuss Branntwein über die Hände und verrieb diesen ordentlich. Schließlich griff er vorsichtig zu und zog so kräftig es nötig war. Trotz der Entspannung durch seinen Zauber arbeiteten die Muskeln erstaunlich kräftig dagegen an, der Frau das Kind entreißen zu wollen. Damit hatte er durchaus gerechnet, doch dies nun selbst zu spüren, war eine interessante Erfahrung. Er hatte bei solch einer Sectio bisher nur zusehen dürfen, aber noch nie selbst Hand angelegt. Umso aufgeregter schlug sein Herz. Jetzt nur keinen Fehler machen! Nicht aus Versehen in der eigenen Kraft nachlassen! Nicht abrutschen! Gudekar war voll konzentriert auf das, was er tat und auf das, was Arda tat, denn er wollte nicht versehentlich in ihre Klinge geraten. Als der Spalt in Isfrieds Bauchdecke breit genug geöffnet zu sein schien, nickte er nach Bestätigung suchend zu Arda.

Rionn hatte das Geschehen aufmerksam verfolgt und immer wieder auch nach Isfried geschaut. Er konzentrierte sich und meditierte bereits den Wundsegen, um den er die Ewigjunge bitten wollte, unmittelbar nachdem das Kind aus dem Leib der Mutter geholt worden war.

Merle beobachtete angespannt, aber hochkonzentriert das Geschehen. Nachdem Ardas Tüchlein völlig mit Blut vollgesogen war, nahm sie es der Kaldenbergerin geschwind ab und machte sich mit einem frischen Tuch daran, das nachfließende Blut aufzusaugen und wegzutupfen, so gut es ging. So hätte die Baroness eine bessere Sicht und zwei freie Hände zur Verfügung, um das Kind zu holen.

Gudekar lächelte seine Frau kurz an.

Die Baroness legte das Messer achtsam weg, dann griff auch sie in den Spalt, an Gudekars Händen vorbei, und bohrte ihren Zeigefinger durch die feine Haut. Dann nahm sie den Zeigefinger der anderen Hand zur Hilfe und riss die Haut mit viel Kraftaufwand so weit auf, wie die Anstrengungen des Anconiters es zuließen. Dann verschwanden beide Hände im Bauch der Patientin, um sich dann gleich mit einem kleinen Gesäß voran in den Händen gleich heraus zu zwängen. Schlaff und blau hing der kleine Körper - ein Mädchen, wie man nun sah - in Ardas Händen, die gleich nachgriff, um den Kopf zu stützen. Es war kein leichtes Unterfangen, denn der Körper war nass, blutig und voller Käseschmiere, und bei Ardas Händen verhielt es sich ganz genauso. Sie nickte mit dem Kinn in Richtung eines freien Lakens und versuchte, Merle mit Blicken dazu zu bewegen, das Kind mit der Decke entgegenzunehmen. Das Unterfangen war dadurch erschwert, dass noch immer die Nabelschnur Mutter und Kind verband. Noch hatte das Kind keinen Laut von sich gegeben, und Arda wurde von einer jähen Panik ergriffen. “Schnell!”, rief sie.

Merle ergriff schnell das Laken und stürmte heran, um Arda den kleinen, nassen Körper abzunehmen; einmal korrigierte sie ihren Griff, bis sie das Kind sicher festhielt.

Auch Perainhulda eilte herbei. Sie hatte bereits ein kleines sauberes Messer zur Hand, mit dem sie die Nabelschnur durchtrennte. Nachdem sie das Messer beiseite gelegt hatte, knotete sie die Nabelschnur schnell und geschickt zu.

Nachdem Perainhulda die Nabelschnur durchtrennt hatte, griff nun Gudekar selbst in den Schnitt in der Bauchdecke, um sich bis zum Mutterkuchen durchzutasten. Er fand die Stelle, an der sich der Mutterkuchen bereits zu lösen begonnen hatte. Von dort aus versuchte er, mit dem Finger die restliche Plazenta abzulösen und aus der Bauchhöhle zu entfernen.

Merle schaute sich das kleine Mädchen genau an; seine Haut sah bedenklich blau aus. Sie begann, das Kind mit dem Tuch abzurubbeln, in der Hoffnung, es würde von selbst zu atmen beginnen. Doch noch blieb der Atem aus. Vielleicht hatte die Kleine noch zu viel Fruchtwasser im Brustkorb.

Da Gudekar nun am Bauch herumwerkelte und ihr Sicht und Platz versperrte, wandte sich Arda vorübergehend der Neugeborenen zu. "Na komm schon, Kleine!" flüsterte sie ihr zu, ihre aufsteigende Panik unterdrückend. Mit sanfter Gewalt nahm sie das Kind auf, drehte es so, dass es bäuchlings auf ihrem Unterarm lag, den Kopf zwischen Daumen und kleinem Finger gehalten. Dann rieb und tätschelte sie den Rücken und gab der Kleinen anschließend einen aufmunternden Klaps auf den Po, während sie den Kopf des Kindes absenkte. Ihre Hoffnung war, dass etwaiges Fruchtwasser ablaufen konnte, das das Kind verschluckt haben mochte.

Ein winziger Schwall Fruchtwasser ergoss sich aus dem Mund des Mädchens über Ardas Arm, bevor sie schwach zu atmen anfing.

"Und, atmet sie?" fragte Merle mit hörbarer Besorgnis in der Stimme.

“Nur schwach… so langsam…” gab Arda mit nicht weniger Sorge zurück. “Aber immerhin atmet sie, und sie wird auch langsam rosig…” Hätte sie doch wenigstens noch einen Rest ihrer Zauberkraft!

Ein zartes, hoffnungsvolles Lächeln umspielte Merles Mund, als sie das zierliche Mädchen betrachtete. Wenn erst einmal Luft in ihre Lungen strömte, hatte die Kleine den ersten wichtigen Schritt geschafft, auf Dere anzukommen.

Nachdem Gudekar die Plazenta aus Isfrieds Bauch entfernt hatte, zog er beide Hände aus der Wunde und blickte zu Rionn. “Euer Gnaden, Ihr wolltet um eine Segnung der Mutter bitten? Seid Ihr bereit?” Er machte dem Tsageweihten Platz.

Merle reichte Gudekar eine Schüssel, in die er die Nachgeburt legen, sowie ein Tuch, um seine Hände abzuwischen.

Der Anconiter legte den Mutterkuchen in die Schale und überprüfte ihn sogleich auf Vollständigkeit. Er nickte zufrieden und erst dann ergriff er das Tuch, um sich die Hände grob zu reinigen. “Danke, Merle!”

Der Tsageweihte begann sofort eine Paste, die er zuvor aus einer Knoblauchknolle gerieben hatte, auf die Schnitt- und Bauchwunde zu streichen, während er weiterhin zu Peraine und Tsa betete.

“Peraine! Gütige Bewahrerin des Lebens!

Und du, Ewigjunge, du Lebenspendende!

Wendet Euch dieser Mutter zu, die dieser Welt zwei neue Leben geschenkt hat.

Bewahrt ihr Leben! Lasst ihre Wunden heilen!

Stellt sie wieder her,

dass sie ihren Kindern weiterhin eine gute Mutter sein kann.”

Wie durch ein Wunder begann sich die Wunde mehr und mehr zu schließen, bis schlussendlich nichts mehr zu sehen war von dem Eingriff. Mit und mit kehrte die Lebenskraft zurück in Isfrieds Körper.

Isfried verweilte dennoch vorerst in dem ruhigen Schlaf, in den Gudekars Zauber sie geleitet hatte.

“Gudekar!”, rief Arda den Anconiter widerstrebend zur Hilfe. Das Mädchen lag noch immer auf dem Unterarm der Baroness. “Sie braucht etwas… Kraft.” Dann lugte sie hinüber zur Schüssel mit der Nachgeburt. “Habt Ihr sie schon auf Vollständigkeit hin untersucht?” wollte sie wissen.

“Natürlich, Sch…”, es kostete ihn sehr viel Mühe, sich das Wort ‘Schätzchen’ zu verkneifen, “für was für einen Wald-und-Wiesen-Heiler haltet Ihr mich denn?” Ohne eine Antwort abzuwarten blickte er auf das Kind. Er beugte seinen Kopf vor und legte ihn zur Seite, um den Atem an seinen feinen Härchen besser spüren und dann den Herzschlag hören zu können. “Ja, etwas schwach”, bestätigte er Ardas Diagnose. “Merle, könntest du das Kind bitte halten, während ich mich darum kümmere?”

Merle nickte und nahm das Kind wieder vorsichtig von Arda entgegen, der sie ebenfalls ein Tuch zum Reinigen ihrer Hände reichte.

Liebevoll betrachtete Gudekar das Mädchen, streichelte ihr zärtlich mit dem Zeigefinger über die Wange. Mit sanfter Stimme flüsterte er: “Meine Kleine, das war harte Arbeit für dich. Jetzt wollen wir dir mal ein wenig Kraft geben, bis du dich selbst erholen kannst.” Ein glückliches Lächeln lag in seinem Gesicht. Dann schlug er vorsichtig die Decke zurück und legte seine Hand auf ihre Brust. “Attributo Constitutione!” Gudekar spürte, wie die astrale Kraft aus ihm durch seine Hände floss, aber wie auf eine Mauer bei dem Kind traf. Er schüttelte den Kopf und wollte gerade die Hand zurück ziehen, als eine wohlige, göttliche Wärme ihn durchströmte. Die Liebe, die er zuvor dem Mädchen entgegenbrachte, die Liebe, die er für seine eigene Tochter  verspürte, rüttelten von beiden Seiten an dieser Mauer, ließen Teile von ihr abbröckeln und brachten sie schließlich zum Einsturz. Nun konnte Madas Macht ungehindert fließen.

Das Neugeborene fing an, kräftiger zu atmen, Merle konnte ihren Herzschlag fühlen und sie fing an, mit den Armen und Beinen zu strampeln.

Auch wenn ihr die Erschöpfung anzumerken war und die Haarsträhnen an ihrer schweißnassen Stirn klebten, war Merle wie berauscht von dem Wunder, das sie gerade miterleben durfte; in ihren Augen funkelten Tränen der Erleichterung und ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet. Zart streichelte sie mit dem Finger über die Wange und die winzigen, perfekten Hände des Kindes, dann blickte sie auf und strahlte überglücklich und dankbar erst Gudekar und nacheinander Arda, Rionn und Perainhulda ins Gesicht.

Die Baroness mühte sich darum, ihr erleichtertes Lächeln zu verbergen und sich nicht von der gefühlsduseligen Stimmung anstecken zu lassen, die Merle gerade verbreitete. So ganz gelang ihr das jedoch nicht.

Als sich Isfrieds Wunden vollends geschlossen hatten, es der Mutter den Umständen entsprechend gut zu gehen schien und sie friedlich und ruhig schlief, schaute Rionn auf. Er brauchte einen Moment, um zu erkennen, was das Schicksal des zweiten Kindes war. An den Reaktionen der Umstehenden interpretierte er, dass es dem Mädchen gut ging. Als Merle ihn ansah, huschte ein breites Lächeln in sein bis dahin ernst und anstrengend blickendes Gesicht. Rionn wurde von einer tiefen Freude erfüllt über dieses wunderbare Geschenk der Göttin Tsa. “Sei gepriesen, o Lebensspenderin!”, rief er laut. “Ich danke dir, gütige Tsa!”

Gudekar war erschöpft, als die erste Anspannung von ihm wich. Zunächst schaute er auf das kleine Mädchen und lächelte zufrieden zu Merle. „Ist es nicht ein Wunder? Schau nur wie friedlich sie jetzt wirkt!“

"Sie ist wunderschön", schwärmte Merle, während sie wie verzaubert mit den winzigen Fingern des Kindes spielte. "Ganz klein, aber perfekt! Tsa sei Dank." Sie hielt Gudekar das Neugeborene entgegen, damit er es betrachten konnte und hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Wange. "Und gute Arbeit."

Eine warme Welle durchströmte Gudekar bei Merles Kuss. Er schaute auf das Kind. Ja, es war ein Wunder der lebensspendenden Göttin, solch etwas Perfektes in die Welt zu setzen. Es dauerte ihn, dass Meta dieses Glück wohl nie erfahren können würde, nie mit ihm teilen könnte. Er lächelte sanft zu Merle.

Merle erwiderte sein Lächeln so strahlend, dass die Grübchen an ihren Wangen hervortraten, dann nickte sie ihm zu und ging sie mit dem Kind zur Seite, um es in ein sauberes Tuch zu wickeln.

Nun blickte der Magier zu Rionn, ging zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Auch ich danke Eurer Göttin! Danke, dass Euer Segen die Mutter geheilt hat! Ich hätte es kaum besser machen können. Ich habe derweil die Macht Eurer Göttin in mir gespürt, als ich das Kind zu retten versuchte.“

Der Tsageweihte strahlte nun auch den Magier an. Gudekar hatte wieder einmal gezeigt, dass er auf der richtigen Seite stand. Vielleicht gab es ja Hoffnung für die verzwickte persönliche Situation des Freundes? “Das ist schön”, kommentierte Rionn nur knapp und ehrlich.

Schließlich wandte sich der Anconiter Arda zu. Anerkennend nickte er mit dem Kopf. „Das habt Ihr ja ganz gut gemacht!“ ‚Schätzchen‘, ergänzte er ungewollt in Gedanken. „Dafür, dass ihr keine Anconiterin seid, habt Ihr die Klinge schon recht ordentlich geführt. Kindchen. Wenn Ihr noch ein bisschen übt, werdet Ihr eines Tages vielleicht mal eine ganz passable Knochenflickerin. Ihr solltet die Hoffnung noch nicht aufgeben.“

Merle rollte mit den Augen, während sie sich um den Säugling kümmerte und bewusst nach unten blickte. Gudekar. Er konnte in einem Moment so liebenswert sein - und im nächsten ein arroganter Idiot.

Rionn schüttelte den Kopf und drückte damit sein Missfallen und Unverständnis über Gudekars Worte aus. Jetzt war er gerade wieder ein wenig zu Rionns Held geworden, da machte er das gerade wie ein Mamodhau in der Porzellanmanufaktur im Umdrehen zunichte. Doch Ardas Reaktion zeigte, dass sie es offensichtlich mit Humor zu nehmen vermochte…

Arda erwiderte Gudekars Lächeln, ging nach einem kurzen Innehalten auf diesen zu und umarmte den Magier. Ihre Intentionen waren allerdings nicht ganz ehrlich. Aus der Umarmung wurde eine Umklammerung, wuchtig zog die Baroness ein Knie nach oben in dessen Schritt - und traf.

Gudekar verzog schmerzerfüllt das Gesicht und er krümmte seinen Oberkörper vor Schmerzen in der Lendengegend. Doch konnte er sich weit genug zusammenreißen, keinen Schrei von sich zu geben. Mit zusammengebissenen Zähnen hielt er die Schmerzen, so gut es ging, aus.

“Ihr habt mich nun genug geärgert”, zischte Arda dem sich krümmenden Mann ins Ohr. Das aufgesetzte Lächeln war verschwunden. “Ich habe in den Tulamidenlanden nicht nur die Kunst der Sectio, sondern auch die der Beschneidung kennengelernt. Verhaltet Euch noch einmal so respektlos zu mir, und ich werde Euch demonstrieren, was für eine rücksichtslose Metzgerin ich tatsächlich bin. Das schwöre ich Euch beim Namen meiner Familie.”

Da Ardas Kleidung von der Geburt gezeichnet war, hatte bereits ihre Umarmung einige Flecken auf Gudekars sonst einigermaßen unbeschadeter Robe hinterlassen. Doch die Baroness nutzte die vorübergehende Wehrlosigkeit des Magiers, um ihre noch immer besudelten Arme und Hände an dessen Revers abzuwischen. “Ich halte Euch tatsächlich für einen ‘Wald- und Wiesen’-Heiler”, sagte sie nun in normalerem, aber noch immer leicht angespannten Tonfall. Damit wandte sie sich ab. Geschwindt schlug sie saubere und beschmutzte Instrumente gleichermaßen in das Tuch ein, auf dem sie lagen, und warf sie in ihre Tasche, die sie sogleich aufnahm.

An Merle gewandt, meinte sie mit kurzem Aufflackern von Bedauern - denn sie hatte von der Frau während der Entbindung einen positiven Eindruck bekommen: “Ich hoffe, ich habe nichts beschädigt, sofern Ihr dafür” - Ardas Kinn deutete auf Gudekar, implizit war jedoch sicherlich eher dessen Leistengegend gemeint - “noch Verwendung habt. Nach all dem Kummer, den er Euch wohl bereitet hat, wünschte ich Euch, dass Ihr Euch nach etwas Besserem umseht.” Damit wandte sie sich zum Gehen.

Gudekar setzte sich mit zusammengekniffenen Beinen auf die Bettkante und japste nach Luft.

Perainhulda schaute bei der Auseinandersetzung der beiden Streithähne bewusst zur Seite und wandte sich der schlafenden Mutter zu, versuchte sie zu reinigen und zuzudecken, dass sie nicht auskühlte. Unnötigerweise faltete sie Tücher, schüttelte das Kissen zurecht, zog Falten aus dem Laken, nur um beschäftigt zu wirken. Sie tat, als ob sie von dem Geschehen um sie herum nichts mitbekam.

Rionn war vollkommen perplex. Mit dieser Reaktion der Kaldenbergerin hatte er überhaupt nicht gerechnet. Ja, Gudekar war ziemlich frech, fand er. So war auch die Reaktion der Baroness absolut verständlich. Aber solch einen heftigen Ausbruch hatte er keinesfalls erwartet. Er blickte Ardare nur mit aufgerissenen Augen, heruntergeklapptem Kinn und offenem Mund hinterher.

Merle war erst zusammengezuckt und hatte Ardas Aktion mit schreckensweiten Augen beobachtet; immerhin befanden sich hier eine Patientin und ein Neugeborenes im Raum. Als Arda sie jedoch direkt ansprach, war ihre Miene schon wieder neutral und ein winziges Lächeln kräuselte sich um ihre Lippen. "Habt Dank, Euer Wohlgeboren", sie nickte der Baroness leicht zu, ohne klarzumachen, ob sie die Hilfe bei der Geburt, den tätlichen Angriff auf ihren Mann - oder beides - damit meinte. Auch wenn Gudekar ihr Leid tat, verdient hatte er es allemal. "Gudekar", sprach sie ihn mit klarer Stimme an und ging mit dem Kind im Arm zu ihm, "mach' jetzt nichts dummes. Du weißt sehr wohl, dass du das provoziert hast." Beschwichtigend legte sie ihm eine Hand auf den Oberarm und schaute ihm musternd ins Gesicht; nun wurde ihr Ausdruck wieder etwas mitfühlender. "Na, geht's wieder?"

‚Nichts Dummes‘? Hatte er Merle richtig verstanden? Er wusste nicht, was er hätte Dummes machen sollen. Noch immer blieb ihm die Luft weg, doch er hob den Kopf, um Merle anzuschauen. In seinem Blick lag Unverständnis, Verwunderung und tiefe Angst, jedoch weder Wut noch Zorn noch Hass. „Es ist alles in Ordnung“, japste er, seinen Schmerz nicht preisgeben wollend.

Sie hielt inne, als sie Gudekars Gesichtsausdruck sah. Ihr Blick war erst verwirrt und wurde dann weich. Schnell fuhr sie mit der Hand durch das dichte Haar an seinem Hinterkopf, beugte sich vor und drückte Gudekar einen kleinen Kuss auf die Stirn - als Zeichen, dass sie verstand, oder zumindest glaubte zu verstehen. "Lass’ gut sein", wisperte sie ihm kaum hörbar zu. "Du hast hier großartige Arbeit geleistet. Wir haben Mutter und Kind gerettet. Gemeinsam.” Kurz schaute sie nervös zu Arda, dann wieder in Gudekars Augen. “Belass’ es dabei.”

Doch Gudekar schüttelte den Kopf. “Nein!” flüsterte er zu Merle. Dann rief er Arda hinterher, nachdem er neuen Atem erlangt hatte: “Baroness! Wartet!” Als er das Gefühl hatte, sie würde einen Moment in ihrem Handeln zögern, rief er hinterher: “Habt Dank, dass Ihr Isfried und die Kinder gerettet habt! Ohne Euer beherztes Handeln wäre ich vielleicht zu spät gekommen. Lützeltal steht in Eurer Schuld!”

Die Angesprochene drehte sich im Weggehen halb um, blickte den Magier kurz an. In ihr war es keineswegs so kühl und kontrollierend, wie sie sich gab. Im Gegenteil, wie immer nach einem Konflikt war ihr zum Weinen zumute.

Kurz musterte sie Gudekar. Sie hatte keine Ahnung, was in ihm vorging, was der Grund für diesen Sinneswandel war, und wie so oft entschied sie sich dafür, auf der sicheren Seite zu bleiben und ihrem Gegenüber das Schlechtmöglichste zu unterstellen. ‘Wenn Du nicht weißt, was Du sagen sollst, sag nichts!’ , hatte ihr mal eine sehr kluge Frau gesagt.

Also drehte sie sich wortlos um und verließ den Raum.

Enttäuscht schaute Gudekar der Frau hinterher.

Merle sah seinen enttäuschten Blick und seufzte. "Hör' einfach auf, sie 'Schätzchen' oder 'Kindchen' zu nennen und ihre Kompetenz kleinzureden; dann werdet ihr vielleicht noch die besten Freunde", zischte sie ihm leise, aber ohne besondere Schärfe zu. Sie hielt das kleine Mädchen hoch, das sie zu einem ordentlichen Bündel gewickelt hatte und schaute fragend in die Runde. "Was ist, wollen wir die Familie informieren?"

“Ich denke, Isfried scheint ruhig zu schlafen und sich von den Anstrengungen zu erholen”, erklärte der Tsageweihte. “Daher sehe ich nichts, was dagegen spricht, das Mädchen zu seinem Bruder zu bringen und der Familie die frohe Botschaft zu verkünden.” Er blickte Merle, dann Gudekar und Perainhulda an. “Also los!?!”

„Geht Ihr nur, Euer Gnaden, Hohe Dame, Meister Gudekar“, erklärte Perainhulda. „Ich werde bei Isfried bleiben und über ihren Schlaf wachen. Dann kann ich hier gleich noch ein wenig sauber machen. Aber bringt Ihr das Mädchen zu seinem Vater.“

"Danke, liebe Perainhulda", entgegnete Merle und blickte liebevoll lächelnd zu Isfried. "Sie schläft friedlich. Es ist gut, dass sie etwas Ruhe kriegt."

“Ich danke dir auch, Perainhulda”, schloß Rionn sich an, schaute ebenfalls noch einmal kurz nach Isfried und dann nach dem Kind in Merles Arm. Dann machte er Anstalten, zur Tür der Schlafstube zu gehen.

Gudekar, dessen Schmerzen langsam erträglicher wurden, nickte. „Ja, lasst uns nach Jorgast schauen. Ich würde mich gerne kurz waschen und dann könnte ich etwas von dem Braten vertragen, den du mitgebracht hast, Merle.“ Er goss etwas frisches, heißes Wasser in die Schüssel und wusch sich grob die Hände und Unterarme mit einem Stück Seife in dem Wasser sauber.

In jenem Moment, da Gudekar den Braten erwähnte, knurrte Rionns Magen vernehmlich. Ja, er hatte auch wenig gegessen, dachte er. “Wo ist denn Eoinbaiste?”, fragte er leicht verärgert. “Wo bleibt er nur solange? Bestimmt ist er auf dem Weg zurück in der Küche hängen geblieben.” So projizierte Rionn sein aufkommendes Hungergefühl auf ein gemutmaßtes Verhalten des Novizen.

“Euer Novize?” fragte Gudekar nach. “Langsam sollte er wirklich zurück sein, selbst, wenn er zum Haus meines Vater gelaufen ist.”

Als Gudekar fertig war, reichte ihm Merle schnell ein Handtuch zum Abtrocknen. "Soweit alles in Ordnung bei dir?" fragte sie ihn leise und lächelte ihn aufmunternd an.

Mit einem bestätigenden Nicken antwortete Gudekar: “Ich denke schon. Lasst uns vielleicht zu den anderen gehen, damit Isfried sich erholen kann. Ich verstehe nur die Baroness nicht, wie sie sich aufgeführt hat, die ganze Zeit. Als wollte ich ihr die Lorbeeren für ihre Arbeit stehlen. Aus verletztem Stolz hätte sie am liebsten meine Hilfe abgelehnt und damit Mutter und Kind unnütz gefährdet. Und dann greift sie mich auch noch grundlos an, nachdem ich sie gelobt habe. Sie ist eine gefährliche Frau.” Während er lamentierte, trocknete er sich die Hände ab, faltete das Tuch ordentlich zusammen, legte es neben die Schüssel und ging zur Tür, um die Kammer zu verlassen.

Merle bedeutete Rionn mit einer Handbewegung, schon einmal voranzugehen und hielt Gudekar am Oberarm fest. Sie schaute ihm direkt und offen in die Augen. "Ja, die Baroness ist vermutlich ein schwieriger Charakter. Aufbrausend und arrogant. Dennoch hat sie alles daran gesetzt, Isfried und das zweite Kind zu retten. Sie war angespannt, wie wir alle. Aber sie wusste, was sie tat. Wenn du dann daherkommst, sie 'Schätzchen' nennst und erklärst, es wäre noch nicht ganz Hopfen und Malz verloren bei ihr, da war eigentlich klar, dass du das Fass zum Überlaufen bringst. Dir hätte auch nicht gefallen, wenn sie dasselbe zu dir gesagt hätte, oder?" Sanft und beruhigend streichelte sie seinen Arm, um ihm zu zeigen, dass sie sein Verhalten zwar kritisierte, ihn aber dennoch unterstützte und hinter ihm stand. "Ich sage nicht, dass es richtig oder angemessen von ihr war, dich anzugreifen. Aber wenn du ehrlich mit dir bist, kannst du auch nicht behaupten, es nicht provoziert zu haben."

Merles Worte machten den Anconiter nachdenklich. “Hm, meinst du, es war unangemessen, ihr Mut zu machen, dass sie mit mehr Erfahrung eines Tages eine wirklich gute Heilerin werden könnte? Ich wollte ihr nur sagen, dass sie das gut gemacht hat. Sie ist doch noch so jung.”

Merle verdrehte leicht die Augen. Gudekar war so ein kluger Mann, aber im Umgang mit Menschen manchmal schrecklich ungeschickt. "Gudekar, wie du vielleicht gemerkt hast, hält sich Ihre Wohlgeboren bereits jetzt für eine gute Heilerin. Ich kann nicht wirklich beurteilen, inwieweit das der Fall ist. Aber ich weiß, dass es in der Situation nicht gerade schlau war, es so zu sagen, wie du es gesagt hast." Sie lächelte ihn ein bisschen schief und neckisch an. "Ich fürchte, die Baroness ist dir ähnlicher, als es dir - und ihr - wahrscheinlich lieb ist. Deshalb wäre mein Rat... Rede mit ihr so, wie du selbst behandelt werden möchtest." Ihr Grinsen wurde breiter. "Und jetzt lass' uns endlich zu Jorgast gehen. Schätzchen."

“Ja, gut, du hast wahrscheinlich wieder einmal Recht. Lass uns gehen.” Gudekar folgte Merle, die immer noch das kleine Bündel Mensch auf dem Arm trug, zur Küche. Auf halbem Weg hielt er kurz inne. “Merle, ich mag es, wenn du mich ‘Schätzchen’ nennst.”

Sie lachte belustigt auf. "Wart's ab, mir fallen noch ganz andere Spitznamen für dich ein", ‘drohte’ sie augenzwinkernd und blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

Während Merle und Gudekar sich noch leise unterhielten, hatte Rionn die Türe erreicht und geöffnet. Bei Merles letzten Worten - der Tsageweihte hatte ja trotzdem das Gespräch mitbekommen - grinste er. Er drehte sich kurz um. “Kommt ihr beiden?”

~ * ~

Speis’ und Trank – Peraine sei Dank!

Jorgast Borkmund führte mit Tsasal zusammen die Begleiterinnen und Begleiter des Heiler-Ehepaars in die Küche des Bauernhauses. Am Ende des Flures führte eine kurze steinerne Treppe drei ausgetretene Stufen hinab in einen Gewölbebereich, dessen steinerne Wände eine feuchte Kühle ausstrahlten. An einer Seite des Raumes jedoch erwärmte ein Herdfeuer in einem Kamin den Raum. Davor an einem Tisch saß die Magd Durinja mit Jorgasts Sohn Hageian auf dem Schoß, den sie mit einem Getreidebrei fütterte. Jorgast bat die Gäste Meta Croy, Imelda von Hadingen, Alana und Rahjel von Altenberg und Jartgar von Immergün, einzutreten und ebenfalls am Tisch Platz zu nehmen.    

Die Hadinger Geweihte suchte sich einen Platz in der Nähe des wärmenden Kaminfeuers. Die Flammen und die Hitze spendeten ihr ein wenig Trost. Mit einem bemühten Lächeln musterte sie erst Hageian und sah dann die Magd fragend an. “Wie alt ist denn der kleine Wonneproppen?”

Durinja stand sogleich auf, wobei sie den Jungen auf den Platz neben ihrem auf die Bank setzte, und verneigte sich vor den beiden Geweihten und den hohen Herren und Damen. “Euer Gnaden, die Göttinnen seien mit Euch! Hageian ist gerade drei Götterläufe alt geworden. Möchtet Ihr etwas trinken, hohe Herrschaften?” Sie blickte sich in der Runde um.

Der Bub zog sich seine Breischüssel zu sich und löffelte genüsslich weiter.

„Gerne, das wärmt und beruhigt.“ Gesellig setzte Meta sich neben Imelda an den Ofen. Sie stellte sich darauf ein, noch lange warten zu müssen, da konnte etwas Behaglichkeit nicht schaden. „Rutsch mal, ich will auch ans Warme, Imelda.—- Ah, bringt der Geweihten doch auch gleich was zu trinken mit.“

“Sehr wohl, hohe Dame, was darf ich Euch bringen? Wasser? Fruchtsaft?” bot die junge Magd den Gästen an. “Wir haben Kirschsaft, Apfel- und Birnensaft, die letzten beiden sind frisch gepresst von unseren Streuobstwiesen.”

Metas Gesichtszüge erstarrten kurz. „Wasser… Saft… äh, ja wunderbar. Most?“

Durinja blickte bei der Frage nach Most zu Jorgast. Dieser nickte ihr bestätigend zu und erklärte verschwörerisch. “Nun, ein paar Flaschen Saft sind uns leider vergoren. Eigentlich hätte ich sie schon längst entsorgen müssen, aber, nunja, sie stehen noch im Keller. Durinja, geh und hole ein paar Flaschen!”

“Klar, komm’ her, Meta, wir sind ja schlank!” Eilig rutschte Imelda ein Stück und nahm den letzten Schluck aus ihrem Trinkhorn. “Ach, für mich macht euch keine Umstände. Irgendein Saft wäre ganz reizend!” Imelda sah zu dem kleinen Buben herüber und schnitt eine Grimasse. “Süß, wie? In dem Alter sind sie ja ganz goldig.”

„Niedlich und lieb. Aber auch anstrengend und fordernd. Ihre Mutter ist für sie die ganze Welt.“ Versonnen nachdenklich betrachtete Meta den Buben. „Sag, Imelda, willst du irgendwann mal Kinder haben? Ich erstmal nicht. Sowas hat noch viel Zeit. Aber irgendwie hätte ich gerne die Wahl.“

“Klar hätte ich gerne Kinder. Also auch erst später, aber sicher so zwei oder drei.” Sie seufzte. “Zum Glück haben wir bei uns im Schloss ja auch Dienstpersonal, die dann so die ganze Arbeit machen, wenn mal was zu wechseln ist und so.”

„Du bist ein Typ, der sollte Kinder haben, du wärst eine gute Mutter“, bekräftigte Meta sie. „Aber mich beschäftigt noch was anderes. Ich will nicht, dass da was zwischen uns ist, verstehst? Warum hast du vorhin, als wir die anderen wieder getroffen haben, gar nichts gesagt, um mir zu helfen oder mir zu zeigen, dass ich noch jemanden - außer Gudekar - auf meiner Seite habe? Ich komme mit sowas auch alleine klar, der alte Ritter lag ja am Ende doch falsch und ich hab mich bemüht, es zu dem unpassenden Zeitpunkt nicht ausarten zu lassen. Ich hab oft genug erlebt, wie Ritter sich wirklich gebärden. Und dann hat es mich genervt, dass Merle, die ja alles darf, das gemacht hat, was ich getan hätte, wäre da nicht der Eid und mein Wille, besser zu werden.“

Imelda hörte ihrer Freundin aufmerksam zu und sah sie direkt an. “Ich bin auf deiner Seite, Meta. Es stand mir aber nicht zu, mich in ein solches Gespräch einzumischen. Meine ganze Familie sind Ritter, mein Vater, mein Großvater, mein Bruder und meine Schwester bald ebenso. Ich weiß, was sich offiziell geziemt und was nicht. Ich kann mit dir doch auch nur deshalb so offen und ehrlich reden, weil wir beste Freundinnen sind.” Sie musterte kurz die Ritterin und fuhr dann fort: “Was meinst du mit ‘wie sich Ritter wirklich gebären’? Ich habe fast den Eindruck, du bist im Herzen unglücklich, dem ritterlichen Ehrenkodex unterworfen zu sein?”

„Ach, das ist wie mit dem Traviabund. Ich kenne so viele, die nach außen hin den Anschein wahren, aber dennoch tun, was sie wollen. Ich hab das auch bei Rittern erlebt, nicht alle sind immer so selbstbeherrscht. Jartgar ist vom alten Schlag und er hatte in Vielem sicher recht. Am Ende sind wir aber doch hier, trotz seiner angeblich so ernsten ritterlichen Aufgabe, wegen der er mich nicht gehen lassen wollte.“ Ihre Augenbrauen zogen sich unzufrieden zusammen. „Es sind schlimme Dinge geschehen, ich hatte damit natürlich nicht gerechnet und will für Gudekar da sein. Was glaubst du, warum ich Gwenn so energisch gesucht habe. Ich kann sie nicht leiden, aber sie gehört zu seiner Familie und die wollte ich schützen. Als wir uns getroffen haben, war ich einfach glücklich und froh, Gudekar gesund wieder zu sehen. Merle wollte mich nicht dabeihaben, das hat sie mir recht deutlich gesagt, obwohl es nicht ihre Entscheidung ist. Mir hätten ein paar Worte gut getan, um zu wissen, dass du zu mir hältst. Dass ich mit meiner Meinung, für meine Unbeherrschtheit hatte ich mich ja entschuldigt, nicht falsch liege. Und du weißt um unseren Bund. Der und das, was uns verbindet … ich konnte nicht einfach ernst rumstehen. In Anbetracht dessen, was unter uns ist, erscheint es mir nicht als großes Missgeschick, seine Gefühle zu zeigen. Du weißt, wie selten ich das mache. Und es ging wohl um Leben und Tod. Natürlich hättest du dich einmischen dürfen, wir haben Zeit verloren durch seine Ansprachen und aus seiner Sicht hat sich unsere Verpflichtung dann recht schnell geändert. Wir dürfen die Angehörigen jetzt aber nicht vergessen.“

“Ganz richtig, es ging um Leben und Tod, weshalb ich mich sehr wohl eingemischt habe und sagte, dass die Rettung des Kindes Vorrang hat. Sich in einer solchen Situation wie kleine Kinder zu streiten, ist albern.” Sie lächelte die Ritterin gutmütig an. “Metamaus, du bist Ritterin und musst manchmal deine eigenen Schlachten schlagen… und ich sage es heute wohl nun zum zwanzigsten Mal: ICH BIN AUF DEINER SEITE!” Mit einem Seufzen senkte sie wieder ihre Stimme und sah Meta an. “Du bist meine Freundin und ich halte zu dir. Und was das mit den ritterlichen Tugenden angeht, so sieht man das in meinem Haus schon recht streng. Zum Beispiel für die Schwachen einstehen, den Armen und Bedürftigen helfen, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, wenn man als Ritter gebraucht wird… Aber ich weiß, dass du das bei dem Herrn Thymon oft genug gehört hast, deshalb will ich mich gar nicht als Oberlehrerin aufspielen. Du bist keine Knappin mehr, sondern eine vollwertige Ritterin; du kannst selbst entscheiden, was gut und richtig ist. Und du wirst deinen Weg schon gehen, da bin ich mir ganz sicher.”

Durinja schnappte sich einen großen Weidenkorb und ging zu der steinernen Treppe, die direkt in den Gewölbekeller hinabführte. Tsasal lief derweil zu ihrem kleinen Bruder und setzte sich neben ihn. Sogleich fingen die beiden an herumzualbern, wodurch der mit Obstmus gesüßte Getreidebrei nur noch selten den Weg in Hageians Mund fand, sich dafür aber über dem halben Tisch verteilte. Jorgast bemerkte dies zwar, verzichtete aber darauf, seine Kinder zu maßregeln, hatten sie heute doch schon genügend Aufregung gehabt. Stattdessen begann er die Tasche auszupacken, die ihm Merle in die Hand gedrückt hatte. Auf eine Platte legte er die Fleischspieße und mit saftigen Bratenscheiben belegten Brote, während er weiter redete. “Wisst Ihr, wir haben dieses Jahr wieder keinen Dispens erhalten, den Saft zu vermosten. Seine Wohlgeboren möchte nicht, dass jeder im Dorf seinen eigenen Obstwein herstellt. Aber ich finde, wen stört es, wenn ein wenig Saft für den eigenen Bedarf vergärt? So hält er sich doch auch viel länger. Möchte jemand noch etwas anderes zu essen haben?”

„Nein, habt Dank für das, was Ihr gebt.“ Kritisch und hungrig beäugte Meta das, was Merle alles in der Tasche gehabt hatte. Sie dachte an das halbe Brot, das sie Gudekar quasi abgenommen hatte und wegen des alten Ritters nicht mal richtig gegessen hatte.

“Obstwein?”, rief Imelda, die dem Bauern bisher nur beiläufig zugehört hatte, plötzlich lauthals aus. Ihr fragender Blick lag auf Jorgast. “Hast du gerade gesagt, es gäbe Obstwein?! Welche Sorten hast du denn?”, wurde sie noch lauter. “Und warum sollte nicht jeder Obstwein herstellen dürfen?!”

“Pssst, Euer Gnaden”, versuchte Jorgast die Geweihte zu bremsen. “Natürlich haben wir keinen Obstwein hier. Das wäre ja nicht rechtens, müsste er doch versteuert werden. Nur ist uns leider unser Saft umgeschlagen. Welch Missgeschick! Der Apfelsaft, der Birnensaft, der Sauerkirschsaft. Welch ein Jammer, nicht wahr? Welchen möchtet Ihr probieren?”

“Ähmm, na vielleicht alle? Ich denke, wir sollten ganz gründlich prüfen, ob doch einer davon noch zu retten ist, nicht wahr?” Freudig nahm Imelda ihr Trinkhorn aus der Halterung am Gürtel hervor und wippte erwartungsvoll auf ihrem Stuhl. “Ist das nicht großartig, Meta? Ähm, ich meine natürlich bedauerlich.”

Sie wandte sich an Jorgast. “Wie wäre es, wenn wir mit Birne anfangen?”

Meta lächelte breit. „Ja, bei Rahja. Ich schließe mich der Wahl der Obstweinkönigin an!“

Die Tür zur Küche öffnete sich und ein ungewöhnliches Bild zeigte sich im Eingang der Küche: Dort stand ein gestandener Krieger, ein neu geborenes Kind im Arm haltend.

Fast gleichzeitig hörte man Durinjas ärgerliches Rufen aus dem Keller bis in die Küche. “BEI PHEX, das darf doch wohl nicht wahr sein!” “Nicht schon wieder! Ich bin aber ganz sicher…!”

Jorgast blickte überrascht von einem Gast zur anderen, aber schließlich blieb sein Blick bei Hesindiard hängen. “Tsa sei Dank! Mein Kind?”

“Wie? Geht es dem Obstwein nicht gut?”, rief Imelda besorgt in den Keller hinunter, bis sie Hesindiard erblickte. Jubelnd klatschte sie in die Hände. “Bei Tsa! Ein Wunder! Das ist ja großartig! Was ist es denn? Ein Junge oder ein Mädchen?”

“Es ist ein Junge.”

“Ein Junge!” rief Jorgast erfreut und lief sofort auf Hesindiard zu, um ihm das Kind abzunehmen. Dann schaute er den Krieger sorgenvoll an. “Wie geht es Isfried? Warum habe ich noch nichts erfahren?

"Nicht gut", antwortete der Krieger in ernstem Tonfall. "Eure Frau ist sehr erschöpft und es steckt noch ein zweites Kind in ihr. Die Heiler tun ihr Bestes, um beide zu retten. Wir können hier nur warten und beten."

„Ein zweites Kind sagt Ihr? Das wäre ja wundervoll!“ Jorgast freute sich offensichtlich über diese Nachricht. Die schlechten Nachrichten, die in Hesindiards Worten lagen, schien er vollständig auszublenden. „Die Heiler helfen ihr, ein weiteres Kind zu gebären! Habt Ihr das gehört? Tsa ist gnädig zu uns! Sie hat unser Haus gesegnet! Habt Ihr das gehört? Heute ist ein Tag der großen Freude!“ Sein Gesicht zeigte Freude und Zuversicht, doch seine sonstige Körperhaltung machte deutlich, dass dies nur aufgesetzt war und er mit dem Schlimmsten rechnete.

Tsasal kam sofort zu ihrem Vater gerannt und ließ Hageian mit seinem Brei allein zurück. Neugierig schaute sie das Neugeborene an und spielte mit seinen winzigen Fingerchen.

Wie winzig das kleine Bündelchen doch war. Meta fühlte sich gerührt beim Anblick des neuen Lebens. Zwei würden es sein. Boron hatte heute genommen und Tsa würde geben. „Tsa sei ihm und seinem Geschwister gnädig, bei Gudekar sind sie in besten Händen, er wird alles für Eure Familie geben. Und Rionn auch.“ Meta drängte es plötzlich wieder, mit dem freundlichen Geweihten zu sprechen. Heute wären sie alle ausgelaugt, der Tag hatte zu viel gebracht. Aber morgen, da würde sich die Zeit finden.

Durinja stapfte mit einem gefüllten Korb die Treppen hoch. “Das ist unglaublich! Ich weiß genau, dass ich heute früh drei Rauchwürste bei Dankhuld gekauft und im Keller abgelegt habe. Und jetzt sind nur noch diese hier da!” Sie deutete auf zwei Stracken, die in dem Korb neben einigen verkorkten Glasflaschen lagen. “Wer klaut uns ständig das Fleisch und die Würste aus dem Keller?”

„Habt Ihr Ratzen im Keller oder glaubt Ihr sicher, dass das keine Viecher waren?“ Meta plapperte vor sich hin, eigentlich waren verschwundene Würste kein Problem, dem sie heute nachgehen wollte.

“Nach Ratten sieht es nicht aus”, schüttelte Durinja den Kopf. “Ich habe schon ein paar Wochen keinen Rattendreck mehr im Keller gefunden. Und die Würste sind ja nicht angenagt, sondern es fehlt einfach eine ganze.” Die Magd hatte keine Erklärung. Aber sie fürchtete, irgendwann würde der Verdacht auf sie fallen, wenn sie die Diebstähle nicht aufklären konnte.

„Habt Ihr denn einen Verdacht? Vielleicht verkauft die jemand teuer?“

“Wer sollte denn in unseren Keller einbrechen und dann nur eine Wurst stehlen?” fragte sich die Magd.

Imelda biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. “Das ist ja merkwürdig. Vielleicht sollten wir uns das besser anschauen. Wäre es für euch genehm, wenn wir mal einen Blick an die besagte Stelle im Keller werfen?”, fragte sie den Bauern Jorgast.

Jorgast zuckte nur mit den Schultern. Er hatte gerade ganz andere Sorgen als die eine oder andere gestohlene Wurst. Würde seine Frau die Nacht überleben? Wieso hatten sie noch immer nichts gehört? Selbst als Perainhulda kurz in die Küche kam, um heißes Wasser und eine Flasche Schnaps zu holen, hatte sie nichts neues gesagt, außer: ‘Die Heiler kümmern sich!’ Das machte ihn fertig. Also war ihm die Wurst gleichgültig. “Macht, was ihr wollt.” Er wiegte seinen neugeborenen Sohn auf dem Arm.

Die Wurst war Meta gerade sowieso wurscht. Es mussten ja nicht alle in den Keller rennen. „Vielleicht jemand aus armer Familie, der es nötig hat, oder… oder es treibt sich Gesindel hier herum. Ich werde bei Euch bleiben und Euch Beistand leisten, bis wir mehr von Eurer Frau und dem zweiten Kind wissen. Erzählt mir doch nebenher, wann das mit dem fehlenden Essen begann. Und habt Ihr schon einen Namen für den Kleinen?“

Durinja und Jorgast schauten sich leicht verwirrt an, weil die Ritterin abwechselnd Fragen nach den Essensdiebstählen und Isfrieds Entbindung stellte. Sie wussten nicht, wer nun zuerst antworten sollte. Doch die Magd hielt sich zunächst zurück, denn was bedeuteten ein paar verschwundene Würste, wenn Isfried die Nacht vielleicht nicht überleben würde? Aber, wie sollte denn Gesindel in das Haus kommen? Und wer sollte das sein? Wohl kaum jemand aus dem Dorf. Und Fremde trieben sich doch hier nicht rum.

Jorgast schüttelte den Kopf. “Nein, wir haben noch keinen Namen gewählt. Das soll Isfried mit entscheiden.” Tsasal war noch immer auf ihren kleinen Bruder fixiert.

Meta nickte. Jetzt hatte sie einen Verdacht, wer noch der Wurstdieb sein könnte. „Imelda, bin gespannt, ob ihr was findet.“

Inzwischen hatte Durinja eine der Mostflaschen geöffnet, mehrere Becher voll gegossen und auf den Tisch gestellt. Auch Jorgast hatte sie einen Becher gegeben. “Trink, Jorgast, das beruhigt deine Nerven!” Dann wandte sie sich den Gästen zu. “Prost, die Herrschaften!” Sie selbst hob einen eigenen Becher und trank zögerlich davon, bevor sie ein Brett und ein Messer nahm und anfing, eine der Hartwürste aufzuschneiden.

“Ich schaue mir das im Keller mal kurz an!”, erklärte sie, stand auf und nickte Jorgast ermutigend zu. “Gudekar ist einer der besten Anconiter, die ich kenne. Ich bin mir sicher, dass er alles erdenkliche tun wird, damit es deiner Gemahlin gut geht.” Dann trat sie zur Magd und wartete, bis diese die Würste aufgeschnitten hatte. “Würdest du mich nach unten begleiten?” Sie schaute zu Hesindiard. “Ihr vielleicht auch, hoher Herr?

“Sehr gerne, Eure Gnaden!” Durinja macht einen Knicks und deutete Imelda den Weg zur Kellertreppe.

"Ich bin lediglich ein Freier, kein Hoher Herr, Euer Gnaden", korrigierte der Krieger. "Falls Ihr aber Bedeckung wünscht, im Kampf gegen Ratten, so werde ich Euch begleiten." Dass er es befremdlich und auch traurig fand, dass eine verschwundene Wurst wichtiger war, als den Mann zu trösten, der vielleicht gerade zum Witwer wurde, ließ er sich nicht anmerken.

“Das ist sehr nett von Euch!”, sagte die Geweihte erfreut und nickte ihm dankend zu.

„Viel Erfolg. Imelda, für alle Fälle heb ich dir einen Becher Most auf.“ Sie schenkte zwei Becher ein und prostete mit einem dem aufgeregten Vater zu. „Auf Tsa, Jorgast. Eure Frau und das Geschwisterchen haben die besten Heiler, Geweihten und die Götter.“ Es würden harte, teure Zeiten auf die Familie zukommen. Besonders, wenn die Mutter sich nur langsam erholte und wenig Milch hatte, erinnerte sich Meta. Die Bauern schienen nicht arm, aber sowas konnte sich schnell ändern. „Und einen guten Herren habt Ihr auch noch.“ Dennoch begann sie, sich Gedanken zu machen.

~ * ~

Keine Wurst im Keller

(Imelda, Durinja, Hesindiard)

Durinja, die junge Magd der Familie Borkmund, führte Imelda und Hesindiard zur Kellertreppe, die von der Küche aus nach unten führte. Schnell reichte sie noch jedem eine Fackel, doch als sie sah, dass Imelda ihre Laterne dabei hatte, die nun hell in ihrer üblichen Kraft leuchtete, legte sie eine Fackel wieder weg, bevor sie diese entzündet hatte.

Die Treppe führte etwa drei bis vier Schritt tief in einen dunklen, feuchten Gewölbekeller. Der Boden hatte eine Fußbodengröße von etwa 5 mal 6 Schritt. Nach oben hin verjüngte sich das Gewölbe jedoch zur Mitte. Hier unten roch die Luft muffig, doch es lag auch ein intensiver Geruch nach frisch vergorenem Obstwein in der Luft. Eine intensive Geruchsmischung.

“Das ist unser Lagerkeller”, erklärte Durinja.

Hesindiard staunte nicht schlecht. Einen solchen Gewölbekeller kannte er nur von der Feste Amleth. Dass so etwas hier unter einem einfachen Bauernhaus zu finden war, damit hatte er nicht gerechnet. Mit geschultem Blick sah er sich im Raum nach möglichen Verstecken und “Fluchtmöglichkeiten” um. Die Investigation überließ er der Geweihten.

Sicherlich war der Keller reichlich überdimensioniert für ein einfaches Bauernhaus. So wunderte es nicht, dass lediglich etwa die Hälfte des Raumes tatsächlich von den Bauern genutzt wurde. Direkt neben der Treppe waren mehrere Holzregale grob zusammengezimmert, in denen die üblichen Vorräte lagerten, die man in einer Bauernküche so brauchte. In einem weiteren Regal standen etliche getöpferte Gärtöpfe, mit verwachsten Holzkorken verschlossen. Einige der Töpfe hatten jedoch auch wassergefüllte Gärspunde in ihrem Deckel, aus denen feine Blasen aufstiegen. Auch ausreichend verkorkte Tonflaschen standen in dem Regal. Mehr zur Mitte des Kellers hin stand eine große Saftpresse, die jedoch frisch gereinigt zu sein schien. Darum herum standen auf dem Boden Kisten und Körbe voll mit Äpfeln, Birnen und Quitten, Obst, das gerade erst vor kurzem gereift ist. In der Decke waren Haken eingelassen, die jedoch zur Zeit nicht genutzt wurden. Lediglich an einem Haken hing ein Schinken, auf dem sich bereits eine feine Schimmelschicht angesetzt hatte.

Die andere Hälfte des Raumes war weitestgehend leer, lediglich an der gegenüberliegenden, geraden Wand, die ordentlich mit Ziegelsteinen gemauert war, lag ein großer Haufen alter, halb vermoderter Holzbretter und Kisten, achtlos aufeinander geworfen. Aus dieser Richtung glaubte Hesindiard, einen feinen Luftzug zu spüren.

“Mmhhh…” Imelda kratzte sich zunächst nachdenklich am Hinterkopf und begutachtete die Haken an der Decke. “Ich nehme an, hier hängen normalerweise die Würste, nicht wahr?”

“Nein”, antwortete Durinja. “Also ja, manchmal schon, wenn sie länger lagern sollen. Aber die heute morgen hatte ich nur dort ins Regal gelegt.” Sie deutete auf ein Brett in etwa Hüfthöhe.

Um sicher zu gehen, hielt Hesindiard seine Fackel dorthin, wo der Lufthauch zu spüren war. Als ein sichtbares Flackern zu sehen war, sagte er zu Durinja: “Schließt die Tür, ich glaube wir haben hier einen zweiten Zugang.”

Aufmerksam schaute Imelda sich um, doch konnte sie nichts Ungewöhnliches feststellen. “Ach, wirklich? Ein Luftzug?”, fragte sie überrascht den Krieger. “Von wo denn?”

“Ein zweiter Zugang?” fragte auch Durinja. Sie ging die Stufen hoch, um die Kellertür am oberen Ende der Treppe von innen zu schließen. Der Luftzug ließ etwas nach.

“Ja”, antwortete der Krieger und wartete, bis die Tür geschlossen war. “Vielleicht nur für kleine Tiere, aber ein Zugang.” Dann deutete er auf den morschen Kistenstapel. “Von dort kommt Luft herein. Vermutlich ein Loch in der Mauer.”

“Dann sollten wir uns das besser anschauen. Räumen wir mal den Haufen beiseite!” Als Imelda die ersten Holzstücke ergriff, prüfte sie das Material auf Festigkeit und weitere Hinweise. “Ich kann verstehen, dass das gute Holz nicht gleich weggeworfen wurde… Sicher hätte man es noch für allerlei verwenden können. Zumindest für den Kamin. Ist aber inzwischen ganz schön morsch.”

Auch Hesindiard begann die Bretter und Kisten beiseite zu räumen, wobei er die Kisten erst öffnete und hineinschaute, ob sich da ein Tier versteckt haben mochte oder ob es Anzeichen für ein Nest gab. Er rechnete damit, jederzeit von einem fauchenden Tier angesprungen zu werden.

Das Holz, das hier lagerte, war nicht mehr zu gebrauchen, selbst als Brennholz war es inzwischen zu morsch. Entweder hatte man es vergessen, oder einfach unbrauchbare Hölzer hier abgeladen. Ein Nest war nicht in dem Haufen, aber scheinbar hatte sich ein Tier hier den Weg soweit freigeschoben, dass es Zugang zu einem Loch in der Wand hatte. Eine Stelle der Mauer war offen. Hier waren ein paar Ziegel der Wand zerbrochen und aus der Wand gefallen, wo der Mörtel porös geworden war. Weitere Steine hatten nachgegeben, so dass sich nun ein etwa zwei Handteller großes Loch in der Wand bildete. Groß genug für manches Tier. Hinter dem Loch herrschte tiefste Dunkelheit.

Hesindiard ging hinunter auf ein Knie und hielt die Fackel an das Loch, um zu sehen, ob es leer war.

Die Mauer schien etwa eineinhalb Spann dick zu sein, danach öffnete sich das Loch wieder zu einem großen Hohlraum, deren Ausmaße der Krieger mit der spärlichen Beleuchtung nicht ausmachen konnte, zumal ihn das Fackellicht selbst etwas blendete. Ein Tier war hier nicht zu sehen. Jedoch hörte er ein Geräusch, das wie krallenbehaftete Pfoten klang, die auf steinernem Boden entlang liefen.

“Habt Ihr etwas entdeckt, Hoher Herr?” fragte Durinja ängstlich.

´Interessant´, dachte Hesindiard, als er den Klang vernahm. Offenbar war auf der anderen Seite auch Stein. Vielleicht nur ein Felsbrocken? “Ich bin nur ein Krieger - kein Adliger, kein Ritter. Die Anrede Hoher Herr steht mir nicht zu”, wiederholte er, doch diesmal an Durinja gewandt. “Irgendein Tier ist hier drin, aber ich kann es nur hören, nicht sehen.” Er schob die Fackel weiter rein.

“Mit Speck fängt man Mäuse!”, erklärte Imelda fröhlich und betrachtete den großen Schinken. “Was auch immer sich in dem Loch verkrochen hat, es mag Speck. Wollen wir ein kleines Stück des Schinkens opfern und das Tier so herauslocken?”

Mit dem Augenblick, als Hesindiard die Fackel weiter in das Loch steckte, begann auf der anderen Seite ein knurrendes Geräusch, das auch im Keller zu hören war.

“Ähhh, Riesenratten?”, riet Imelda ohne wirklich das Knurren einem Tier zuordnen zu können. “Sowas kenne ich!”

Imelda konnte das Knurren nicht zuordnen, denn durch den Hohlraum und die Wand klang das Geräusch verfremdet. Doch Hesindiard vermutete hier das Knurren eines wütenden Fuchses.

Hesindiard zog die Fackel wieder heraus. “Ich halte es eher für einen Fuchs und in dem Fall wäre es wohl besser, ihn zu füttern, solange er hier wohnt. Wir wollen den Herrn Phex doch nicht erzürnen, nicht wahr. Wer weiß, vielleicht ist dieses Haus sogar gesegnet, jetzt, wo ein Fuchs hier wohnt.”

“Ein Fuchs?!”, fragte die leicht schwerhörige Ingrageweihte begeistert. “Ach, wie süß! Ja, Euer Haus ist gewiss von Phex gesegnet. Da bin ich mir auch ganz sicher!” Vergnügt sah sie zuerst die Magd, dann den Krieger fragend an. “Wollen wir dem Fuchs jetzt gleich noch ein Stück Speck zum Fraß vorwerfen? Ich würde das Tierchen zu gerne einmal sehen.” Beherzt versuchte sie, den viel zu schweren Schinken von dem Haken herunterzuholen.

“Ich fürchte, daraus wird nichts, Euer Gnaden. Wir haben ihn aufgescheucht und Füchse gelten nicht umsonst als schlau. Es wird ne Weile dauern, bis er sich wieder heraus traut. Und sicherlich nicht, solange hier Licht brennt.”

“Aber…, aber, wenn hier ein Fuchs wohnt, der uns ständig unsere Wurst und Fleisch und so klaut,... Wie sollen wir denn dann unser Essen lagern?” klagte Durinja, auch wenn ihr gerade versichert wurde, dass ihr Haus von Phex gesegnet sei.

“Wenn ihr ihn genug füttert, wird er nichts klauen müssen, weil er keinen Hunger mehr hat. Außerdem sind da doch Haken an der Decke und ihr könnt Kisten oder Tonkrüge nutzen, deren Deckel ihr mit Steinen beschwert. Lasst Leisten an den Regalen anbringen, damit er die dort gelagerten Gefäße nicht herunterwerfen kann. Und, wer weiß, vielleicht wollen ja auch andere Dorfbewohner den Listigen gütig stimmen und den Fuchs füttern.”

Durinja schaute den Krieger überrascht an. Sie musste über seine Worte erst einmal nachdenken. “Nunja, zumindest haben wir weniger Ratten und Mäuse, seit die Diebstähle angefangen haben.” Durinja überlegte weiter. “Und er hat hinter der Wand seinen Bau?”

"Sieht jedenfalls so aus, falls sich da nicht eine verborgene Kammer anschließt." Den letzten Teil hatte er halb im Scherz gesagt, doch das Geräusch vorhin…

“Eine verborgene Kammer…”, murmelte Imelda die Worte des Kriegers grüblerisch nach. Dann trat sie ein paar Schritte näher an den vermeintlichen Fuchsbau heran, nahm ihren kleinen Schmiedehammer aus dem Werkzeuggürtel und begann vorsichtig die Wand abzuklopfen. Vielleicht würde der Zustand der Wand Rückschlüsse darüber geben, was sich dahinter verbarg,

Am Rande des vorhandenen Lochs bröckelte unter den Hammerschlägen der Mörtel und ein paar weitere Steine fielen aus der Wand. Hinter der Wand klang es hohl.

“Was sollte dort für eine Kammer sein? Das Haus hat keinen anderen Keller, soweit ich weiß”, merkte Durinja an.

“Es könnte sein, dass das Haus auf alten Fundamenten steht und hier ein Raum zugemauert wurde, weil er nicht gebraucht wurde. Aber ich habe lediglich Krallen auf Stein gehört. Der Fuchs hat vielleicht einen größeren Stein in seinem Bau und nicht einen alt-bosparanischen Mosaikfußboden. Aber für die Sicherheit des Hauses, sollten wir das untersuchen.”

“Auf alten Fundamenten?” fragte die Magd ungläubig. “Was sollte hier mal gestanden haben?” Sie hatte keine Ahnung, was der Krieger sich da vorstellte. “Und Ihr denkt, das könnte für uns gefährlich sein?

"Nana, keine Panik. Ich kann gut schnitzen und werde daher gelegentlich von unserer Zimmerfrau gebeten, Balken zu verzieren. Wenn ich die dann zur Baustelle bringe, versucht sie mir manchmal ein paar Dinge zu erklären. Es gibt wohl Wände, die wichtiger sind, als andere. Die darf man nicht einreißen oder beschädigen, sonst fällt das Haus in sich zusammen. Keine Ahnung, woran man die erkennt. Und was die Fundamente angeht, ihr habt doch diesen See hier in der Nähe mit der Hesinde-Legende; vielleicht ist der Ort viel älter und das Gutshaus stand nicht immer da, wo es heute steht, oder es gab hier mal ein Kloster oder sogar einen Tempel. Oder aber dahinter ist bloß ein Fuchsbau mit einem großen Flusskiesel, über den der Fuchs gelaufen ist. Wir wissen es nicht." Der weißblonde Krieger lächelte die Magd freundlich an.

“Also für mich macht diese 'Mauer' keinen besonders stabilen Eindruck…”, erklärte Imelda, die noch immer prüfend die Wand abklopfte und dann aus einer Laune heraus mit den Worten: “Seht Ihr?” etwas härter auf eine Stelle knapp oberhalb des Loches schlug, um zu sehen, was dann passieren mochte.

Und wie um Imeldas Worte zu bestätigen, gab noch ein weiteres Stück der Mauer nach.

Die Magd dachte noch immer über Hesindiards Worte nach. “Ich weiß nicht, ob früher das Gutshaus hier irgendwo stand oder sonst irgendetwas. Da müsste man den Edlen fragen, ob es darüber Aufzeichnungen gibt. Oder irgend jemand anderes, der hier schon lange lebt.”

"Das müsste dann schon ein Angroscho oder Elf sein. Wenn hier vor drei Generationen ein gemauertes Haus stand, wüsste man das heute noch. Lebt hier ein Angroscho?"

“Ja, Meister Limrog! Das ist der Schmied hier im Lützeltal! Ein sehr fähiger dazu! Ich übernachte ja in seinem Haus und kann ihn nachher mal fragen." Imelda kratzte sich die rotblonden Locken, trat einen kleinen Schritt zurück und betrachtete noch einmal die Wand und den ganzen Raum. "Also, ich bin mir sicher, dass diese Mauer erst nachträglich hinzugefügt wurde.” Vor Neugier platzend hippelte sie von einem Bein aufs andere und sah den Krieger mit leuchtenden Augen an. “Was meinst du, Hesindiard? Wollen wir das Loch erweitern und schauen, was sich dahinter befindet?” Abenteuerlustig fügte sie hinzu: “Wer weiß, vielleicht finden wir ja einen alten Piratenschatz!”

"Wohl eher Staub und Dreck. Aber ja, wir können das Loch vorsichtig vergrößern, bis wir durchkriechen können und nachsehen, was dahinter ist."

„Bitte seid vorsichtig!“ warnte Durinja ängstlich. „Nicht, dass Euch hier unten noch etwas passiert!“

Hesindiard schluckte seine zynische Antwort herunter und sagte stattdessen: "Aber gewiss."

“Ach, das wird schon…”, erklärte Imelda optimistisch und schlug dann recht beherzt mit dem Schmiedehammer auf die Wand ein. Ihre Schläge kamen präzise und wohl durchdacht, als sie versuchte, das Loch soweit zu vergrößern, dass jemand hindurchkriechen konnte.

Es bedurfte nur weniger, gezielter Schläge, bis Imelda ein Loch freigelegt hatte, das ihr und Hesindiard genug Platz ließ, um ohne zu große Mühen auf die andere Seite der Wand zu kriechen. Sollte der Mörtel hier überall derart brüchig sein, dachte die Ingrageweihte, könnte man vermutlich binnen eines Tages die gesamte Wand einreißen.

Durinja stand hinter den beiden und schaute ungläubig auf Imeldas Wirken.

Der Krieger wartete einen Augenblick, bis sich der Staub gelegt hatte und hielt erst die Fackel in den unbekannten Raum, bevor er hindurch schritt. Die Höflichkeit hätte ihm eigentlich geboten, der Geweihten den Vortritt zu lassen, aber da sie nicht wussten, was sie dort erwartete, fand er: Sicherheit geht vor. Drüben blieb er erstmal stehen und schaute sich um, so weit, wie der Fackelschein es zuließ. Die Hand am Schwert.

Auf der anderen Seite der Wand öffnete sich ein weiterer Raum, genauso breit wie das Gewölbe im Keller, doch noch ein paar Schritt länger. Anscheinend war der Raum schon seit ewigen Götterläufen nicht mehr von Menschen betreten worden. Staubige Spinnenweben hingen von der Gewölbedecke und auch der Boden war von einer Dreckschicht bedeckt. Es roch muffig und auch ein Verwesungsgeruch lag in der Luft. Auch in diesem Raum gab es einen großen Schutthaufen, deutlich größer noch als jener in der Ecke des Kellerraums. Man hatte hier nicht nur verkohlte Holzbalken, die im Laufe der Jahrzehnte halb verrottet waren, aufgeschichtet, auch verkohlte Ziegel und Gesteinsbrocken wurden verwendet, um Teile des Gewölbes aufzufüllen.

Zwischen Durchgang und Geröllhaufen erwartete mit gefletschten Zähnen ein fauchender Fuchs den Eindringling.

Imelda war noch nicht durch das Loch hindurch gestiegen. Neugierig lugte die Geweihte mit ihrer kleinen heiligen Laterne in den freigelegten Raum hinein. “Ach, süß. Hab’ keine Angst, Füchslein!”, rief sie dem rotpelzigen Tier entgegen.

“Könnte ich eine Wurst haben?”, rief er nach hinten, ohne sich umzudrehen und behielt den Fuchs im Auge.

“Eine Wurst?” fragte Durinja.

“Ja, schnell. Ich bezahl sie auch”, antwortete Hesindiard.

“Moment, ich lauf schnell hoch in die Küche und hole eine”, rief Durinja und drehte sich um, um in Richtung Treppe zurückzulaufen.

“Moment, wartet!”, rief Imelda. “Wir haben hier doch auch etwas Schinken. Von dem könnten wir ein kleines Stückchen abschneiden.” Imelda zückte aus ihrem Gürtel ein kleines Messer.

“Gute Idee”, bestätigte der Krieger.

Eilig schritt Imelda zu dem Schinken und schnitt ein wenig von dem Speck ab. Dann kehrte sie zu dem Durchgang zurück und steckte den Kopf hindurch. "Na, Füchslein!", hielt sie dem Tier das saftige Stück entgegen. "Magst du was leckeres?" Der Fuchs, noch immer fauchend, reckte nun aber leicht die Nase dem einladenden Geruch entgegen. Sie teilte den Speck in ihrer Hand weiter und warf dem Tier einen kleinen Probierhappen vor die Schnauze.

Vorsichtig sprang der Rote etwas zurück, als er den Brocken auf sich zufliegen sah. Überrascht, aber von der Neugier und dem leckeren Geruch getrieben, näherte er sich nun dem Geschenk. Sein Fauchen war einem wachsamen Knurren gewichen.

Durinja war also nicht die Treppen hochgelaufen, sondern stand nun auch an der Kellerseite der Wand und versuchte zwischen den beiden hohen Gästen einen Blick auf das Tier zu erhaschen. “Und was machen wir nun mit dem Tier?”

“Erstmal füttern, dann sehen wir weiter.” Vorsichtig umrundete er das Tier in weitem Bogen und versuchte herauszufinden, ob es hier einen weiteren Ausgang gab, denn irgendwie musste das Tier ja hier hereingekommen sein.

Der Fuchs war von dem Speck abgelenkt genug, um Hesindiard nicht ernst genug wahrzunehmen, denn obwohl ihm dieser nun den Fluchtweg abzuschneiden begann, blieb die Aufmerksamkeit des Listigen auf den Speck gerichtet.

Nun da er die hintere Hälfte der Gewölbe erreichte und den in der rechten Hälfte aufgeschütteten Geröllhaufen umging, sah Hesindiard am anderen Ende der Halle eine schwere Eichentür, die jedoch ebenfalls rußgeschwärzt war und nur noch schief in einer Angel hing. Der Geröllhaufen, der einst eigentlich neben der Tür endete, war teilweise nachgerutscht und verdeckte Teile der Tür, die er damit gleichzeitig blockierte, da sie nach innen zu öffnen war. Doch zwischen Tür und Rahmen hatte sich ein Spalt gebildet, der für einen Fuchs mehr als breit genug war.

Derweil sah Imelda den Fuchs begeistert an. So geschwind es ihr möglich war, versuchte sie durch das Loch in den Nebenraum zu klettern. "Hier, Kleiner, noch ein wenig Speck?" Sie warf das nächste Stückchen näher zu sich heran, sodass der Fuchs sich ein wenig weiter von dem Krieger entfernen musste.

Nun waren Neugier und Appetit endlich groß genug und der Fuchs beendete sein Knurren, um sich dem ersten und dann auch dem zweiten Fleischbrocken zu widmen.

“Ist der nicht süß!” rief Durinja voller Freude, nachdem sie nun ebenfalls an Imelda vorbei durch das Loch geklettert war. Der Fuchs erschrak, sprang zurück und fauchte nun wieder den neuen Eindringling an.

"Hier, probiere es damit...", stupste Imelda die Magd mit dem Ellenbogen an und gab ihr das letzte kleine Stückchen ihres Specks. Dann wandte sie sich dem Fuchs zu und versuchte beruhigend auf ihn einzureden: "...ganz sicher werdet ihr zwei euch noch öfter begegnen. Ihr seid nämlich beide hier heimisch. Und bestimmt bringt dir die Durinja in Zukunft ganz oft was leckeres mit, Füchschen."

Durinja nahm den Speck freudig entgegen, um dann sofort in die Hocke zu gehen und dem Fuchs den Arm mit dem Fleisch entgegenzustrecken. “Komm her, mein Hübscher!”

Ein breites zufriedenes Grinsen machte sich auf dem Antlitz der rotblonden Geweihten breit.

Vorsichtig prüfte der Krieger, wie sehr die Tür verkeilt war und wie lose der Schutt. Vielleicht ließ sie sich doch noch weiter öffnen, ohne eine Gerölllawine auszulösen. Falls nicht, würde er sich dem anderen Haufen widmen.

Es war nicht viel Geröll, das die Tür blockierte. Und beim Rütteln an dem, was einst eine Klinke gewesen sein mochte, wackelte das morsche Brett - mehr war die Tür kaum noch - mächtig an der einzelnen Halterung, in der sie noch hing.

Hesindiard legte die Fackel auf den Boden und griff mit beiden Händen zu. Einen Fuß stemmte er gegen den Rahmen, dann sammelte er seine Kräfte und zog.

Die Tür gab beim zweiten kräftigen Ruckeln und Ziehen nach und fiel plötzlich mit einem Krachen auch noch aus der letzten Angel. Gerade noch so konnte Hesindiard ihr ausweichen, ohne dabei über das Geröll am Boden zu stolpern. Auf eine Verletzung durch dieses alte Holz hätte er gewiss keine Lust gehabt. So aber war der Durchgang nun frei und öffnete den Blick auf einen Gang, der sich nach links und rechts von der Tür aus erstreckte.

Plötzlich vernahmen Imelda und Durinja ein lautes Krachen vom anderen Ende des Gewölbekellers, dort, wo Hesindiards Fackel leuchtete. Der Fuchs schrak ebenfalls auf, drehte um und lief geradewegs auf diese Stelle zu.

Verdutzt blickte der Krieger ins Dunkel: “Hier… hier ist ein Gang, Euer Gnaden!” Er hielt nun die Fackel hinein, um zu sehen, ob es nur ein kleiner Hohlraum war oder ob es hier weiter ging.

Der Fuchs schlug daraufhin einen Bogen, rannte einmal im Kreis durch den Gewölbekeller. Als er feststellte, dass der eine Durchgang durch Imelda und Durinja und der andere durch Hesindiard blockiert war, drehte er sich dann jedoch doch zum Ausgang, wo er nur einem Feind entgegenzutreten hatte.

Hesindiard hörte plötzlich die Fuchspfoten auf dem steinernen Boden hin und herrennen. Dann kam ihm dieser fauchend entgegen gerannt und schlängelte sich schnell an seinen Beinen vorbei, um den linken Gang in vollem Tempo entlang zu rennen.

Fast gleichzeitig mit der Flucht des Fuchses hörten Imelda und Durinja Hesindiards Ruf.

Als Hesindiard dem Tier hinterher schaute, sah der Krieger, dass der Gang in gerader Linie weiter verlief, als der Schein der Fackel leuchten konnte. Dem Geräusch des fliehenden Fuchses nach, mussten es mehr als hundert Schritt sein. Auf der rechten Seite endete der Gang nach wenigen Schritt in einer Treppe aus breiten Trittsteinen, die jedoch nach drei Stufen vollständig zugemauert war.

“Ach, schade!” kommentierte Durinja. “Jetzt ist er weg.”

"Der kommt ganz sicher wieder zurück...", flüsterte Imelda und rief in Richtung des Kriegers: "Geht es dir gut? Warte, ich komme zu dir!"

“Alles gut, mir fehlt nichts”, antwortete der Krieger.

Problemlos erreichte Imelda gefolgt von Durinja die andere Seite des alten Gewölbekellers, an dessen Ausgangstür Hesindiard stand und in den anschließenden Gang schaute.

"Seht Ihr?! Hier geht es weiter. Der Fuchs ist nach links gelaufen." Hesindiard streckte die Fackel in den linken Gang. "Die rechte Seite wurde zugemauert."

"Gut, dann werfen wir mal einen Blick in den linken Gang. Gehst du voran? Ich bleibe dicht hinter dir", flüsterte sie verschwörerisch dem Krieger zu. Mit Laterne und Schmiedehammer bewaffnet versuchte sie etwas vor sich zu erkennen.

Imelda war von der Kunstfertigkeit der Bauweise des Ganges überrascht. Solch ein Bauwerk hatte sie in diesem beschaulichen Lützeltal nicht erwartet. Sie vermutete zwergische Baumeister hinter der Ausführung, wenn es auch nicht aus dem Felsen geschlagen war, wie bei den erzzwergischen Bingen im Eisenwald, sondern künstlich mit Ziegeln und Steinen erschaffen wurde. Waren hier hügelzwergische Baumeister am Werk gewesen?

Der Gang erstreckte sich schnurstracks geradeaus in die Dunkelheit, die vor ihnen lag.

Mit der Fackel über dem Kopf ging Hesindiard voran.

Abgesehen von den ordentlich gemauerten Wänden, die ungewöhnlich genug für ein Verlies unter einem alten Bauernhof waren, war nichts Besonderes zu sehen. Ein leerer Gang, der sich gerade weiterzog. Es war schwer, die Länge des Ganges abzuschätzen, doch Hesindiard vermutete, dass sie bereits weit über einhundert Schritt gegangen waren, als auch an diesem Gangende eine kleine Treppe begann.

“Wieder eine Treppe”, sagte er zu den beiden Damen hinter ihm. “Wo wir wohl rauskommen werden?”

“Mmmhhh. Ich habe da ja eine Vermutung…”, murmelte Imelda für alle gut hörbar. “Aber gewiss können wir uns erst sein, wenn wir nachschauen. Magst du vorgehen, Hesindiard?”

Durinja stand ängstlich hinter den beiden und schaute sich die Treppe an. “Meint ihr, die führt irgendwo in die Scheune?”

“Ich denke, wir sind bereits jenseits der Scheune”, mutmaßte der Krieger, wobei er gar nicht wusste, von welcher Scheune sie sprach und wo diese sich befand. Mutig ging er weiter voran.

Hesindiard stieg die ersten Stufen hoch, als er sah, dass die Stufen einige Schritt über der Decke des Ganges an einer Klappe endeten.

“Also, ich vermute, wir befinden uns unterhalb der Schmiede…”, flüsterte Imelda zu ihren beiden Gefährten. “Würde mich nicht wundern, wenn Meister Limrog dieser Stollen bekannt ist.” Neugierig stupste sie von hinten den Krieger an. “Na, kannst du die Klappe ein wenig anheben und einen Blick riskieren?”

Der Krieger reichte seine Fackel nach hinten und begann dann gegen die Luke zu drücken.

Zunächst wollte die Klappe nicht nachgeben. Entweder war das Scharnier eingerostet oder etwas lag oben drauf. Doch mit der Kraftanstrengung gab sie schließlich nach und öffnete sich nach außen. Über ihm sah Hesindiard einige Phexlichter zwischen den Blättern einiger Bäume funkeln. In einiger Entfernung war der Schrei eines Uhus zu hören.

“Falsch geraten, Euer Gnaden”, schmunzelte der Krieger und stieg die Treppe weiter hinauf.

“Wirklich, bist du dir da ganz sicher?”, fragte sie nach und versuchte nun, mit der Fackel in der einen Hand und der Laterne in der anderen etwas zu erkennen. Flüchtig starrte sie auf das Hinterteil des Kriegers direkt vor ihrer Nase. ‘Knackig…’ ging es ihr durch den Kopf, dann stieg sie unbeirrt Hesindiard weiter hinterher.

Draußen drehte er sich um und reichte der Geweihten seine Hand. “Seht selbst!”

“Ohhh, danke!”, ließ sie sich von dem starken Krieger hinaufziehen, reichte ihm seine Fackel zurück und versuchte in der Dunkelheit etwas auszumachen. “Wo sind wir?”

“Scheint mir ein Wald zu sein. Ich hab gerade einen Uhu gehört.” Hesindiard hielt die Fackel so, dass er sehen konnte, was auf der Luke gewesen war. Irgendeine Art Tarnung musste es wohl sein, sonst wäre dieser Einstieg den Dorfbewohnern bekannt.

Sie standen nun ein paar Schritt im Wald, doch konnten sie dank des Madamals durch die Bäume einen Blick auf die Landschaft links von ihnen werfen. Dort öffnete sich der Wald und die Streuobstwiesen begannen. Der Bachlauf war auch nicht weit. Dazwischen, erinnerten sie sich vom Hinweg, musste der Feldweg zum Bauernhaus gelegen haben. Bei genauerem Hinsehen war auch die Kate des Fischzüchters in einiger Entfernung zu sehen, dem Imelda vorhin die schlechte Nachricht vom Tod seines Bruders überbracht hatte. Sie waren also nicht weit entfernt von der Brücke, die ins Dorf führte. “Ach, hier kommt man raus!” bemerkte Durinja.

Hesindiard betrachtete den Waldboden neben der Luke und entdeckte einen kleinen Findling, der scheinbar beim Öffnen von der Luke gerutscht war. Das Holz der Luke selbst war mit Moos bewachsen.

Aus der Richtung, aus der auch der unterirdische Gang hierher führte, war auf einmal auf  dem Feldweg Hufgetrappel zu hören.

Mehr Kinder als Würste

(Jorgast, Tsasal, Hageian, Meta, Rionn, Merle, Gudekar, Rahjel, Jartgar, Alana)

Die Ritterin Meta Croy saß am Küchentisch der Familie Borkmund und hing ihren trüben Gedanken nach. Was würde Ihr Geliebter wohl gerade tun? Warum nur musste er dort im anderen Zimmer zusammen mit seiner Frau arbeiten? Würde sie die wundervolle Situation der Geburt ausnutzen, um ihrem Mann wieder Honig ums Maul zu schmieren? Würde der charakterschwache Magier darauf eingehen? Oder würde er doch zu seiner Geliebten halten, wie er es ihr versprochen hatte? Zweifel, ernste Zweifel an seiner Standhaftigkeit nagten in Meta. Sie nutzte die Wartezeit, um sich etwas auszuruhen, von dem süßen Most zu trinken und ein oder zwei Fleischspieße zu essen.

Jorgast Borkmund saß derweil ihr gegenüber, seinen neugeborenen Sohn im rechten Arm haltend und wartete auf eine Nachricht, ob seine Frau die Geburt auch des zweiten Zwillings überstanden hatte. Seine älteste Tochter Tsasal war inzwischen in seinem linken Arm eingeschlafen, während Hageian auf dem Küchenboden saß und mit einem hölzernen Kochlöffel spielte. In fast, naja, nicht wirklich regelmäßigem Abstand klopfte er mit dem Löffel gegen den Boden, ein Bein der Sitzbank oder einen Kochtopf. Auch der Knöchel von Meta wurde Opfer dieser Klopfattacken.

Zunächst ignorierte die Ritterin das Kind geschickt, doch zeichnete sich der Junge wohl gerade deshalb besonders beharrlich. „He, du kleiner Raufbold“, lachte Meta und begann ein Spiel, bei dem sie immer wieder aufreizend ihren Schuh als Opfer nach vorne schob und versuchte, den Löffelschlägen auszuweichen.

Der Knabe freute sich über Metas Reaktion und schlug weiter lachend nach den angreifenden Füßen.

Kindisch entwickelte Meta Freude an dem Spiel. Mal ließ sie ihn gewinnen oder er war einfach zu schnell, dann lamentierte sie theatralisch über die Niederlage. Ab und zu schappte sie selbst mit dem Fuß den Löffel und kostete neckisch aber lieb ihren Triumph aus. Erinnerungen aus längst vergangener Zeit. Wer sie beobachtete und sich dafür interessierte, merkte, dass sie sicher viele Geschwister hatte.

Während die Anderen beschäftigt waren, saßen Alana, Jartgar und Rahjel schweigsam an einem Tisch und nippten an einem Becher Most.

Die Tür zum Flur öffnete sich und Rionns Gesicht erschien in der Öffnung. Es war gezeichnet von Freude und Dankbarkeit, aber auch von Sorge um seinen Novizen, den er hier zu finden hoffte. Der Tsageweihte trat in die Küche ein und sofort erfasste ihn Jorgasts fragender Blick. “Wie geht es meiner Isfried?” fragte der Vater besorgt.

“Tsa sei dank! Es geht ihr gut”, erwiderte der Tsageweihte knapp. Dann wies er auf die Nachfolgenden, besonders auf Merle mit dem Kind auf dem Arm und sagte nur: “Schau!”

Kurz nach Rionn betraten dann auch Gudekar und Merle die Küche. Merle trug ein Bündel mit einem schlafenden Würmchen auf dem Arm und strahlte glücklich. Gudekar hingegen sah furchtbar aus. Er war blass und im Gesicht leicht verschmutzt. Seine Robe war verschmiert von Blut, Käseschmiere und Fruchtwasser. Doch es waren keine Blutspritzer, sondern Streifen von Fingern, die an der Robe entlang gewischt wurden. Die Schmerzen in seinem Unterleib waren noch sehr deutlich spürbar und so humpelte er mehr in den Raum, als dass er lief.

Dennoch zog sich ein freudiges Strahlen in sein Gesicht, als er seine Geliebte am Tisch sitzen sah. “Meta!” rief er begeistert. “Es ist geglückt! Schau doch nur”, er deutete auf das Kind in Merles Arm, “wir haben Zwillinge auf die Welt gebracht!” Überschwänglich humpelte er zu der Ritterin und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Ihr Herz schlug plötzlich schneller und vor Freude gab sie Gudekar auch einen Kuss auf die Wange. „Mann, ähm, nein also erstmal, das ist, ja wundervoll. Ich wusste, dass du das kannst. Aber…“ Besorgt musterte sie ihn und die Mischung aus Müdigkeit und Schmerz in seinem Gesicht. „... was ist denn passiert? Hat sich die Frau so gewehrt?“ Liebevoll und schützend legte sie den Arm um ihn und setzte Gudekar auf ihren Platz. „Trink etwas Most. Und erzähl mir, was geschehen ist.“ Meta redete so leise mit ihm, dass es ein privates Gespräch unter vier Augen blieb.

„Danke, sehr gerne, mein Schatz!“ raunte Gudekar ihr zu und nahm ihren Becher, um ihn in einem Zug auszutrinken. Dann blickte er zu Meta und zuckte unschuldig mit den Achseln. „Die Geburt verlief, nun ja, wir haben es geschafft, mussten das Kind aber herausschneiden. Die Mutter hat dabei die ganze Zeit geschlafen. Aber der Baroness war es wohl unangenehm, dass ich ihre Arbeit bei der Geburt vor allen Leuten gelobt hatte. Sie wollte wohl nicht derart in den Vordergrund gerückt werden. Dabei hat sie ein paar ganz ordentliche Handgriffe gemacht. Und ihren Unmut hat die Kaldenbergerin mir schmerzhaft zu spüren gegeben.“ Gudekar goss noch einmal Metas Becher voll und trank ihn erneut fast leer. Den Rest reichte er seiner Geliebten.

Diese runzelte die Stirn und blickte ratlos. „Seltsam. Sie schien mir recht fähig. Eine, die weiß, was sie tut. Vielleicht war der Druck zu hoch. Und da schlägert sie… Wo und wie arg hat sie dich erwischt?“

„Sie ist ja auch fähig. Das habe ich ihr ja auch gesagt, aber… Ach, lassen wir das, das ist halb so schlimm.“ Ungewollt fasste er sich in die Leistengegend und versuchte erfolglos, die noch immer vorhandenen Schmerzen wegzumassieren.

Meta zuckte mit den Schultern, blickte den Mann ihrer Wahl aber besorgt an. „Ein kleines Mädchen habt ihr geholt. Hoffentlich schafft sie es. Ich hab doch auch eine Zwillingsschwester… aber jetzt zu dir. Du schaust fertig aus. Ich muss noch eine Leiche abliefern, du solltest dich endlich ausruhen. Wo können wir uns treffen?“ Resigniert seufzte sie. „Und dieses elendige Gespräch mit Merle. Das müssen wir irgendwie hinter uns bringen oder wir machen es morgen.“

„Wir müssen gleich miteinander sprechen“, erklärte Gudekar. „Warte, was hast du gesagt? Du hast eine Zwillingsschwester?“

Etwas verwirrt antwortet sie „Ja, hab ich das nie erwähnt? Meine Familie ist nicht so wichtig. In harmonischen Zeiten erzähl ich dir, was du willst.“

“Nein, du hast nur erzählt, dass du viele Geschwister hast.” Gudekar stupste ihr auf die Nase. Aber ich habe dich ja auch nie richtig nach deiner Familie gefragt. Sie war so fern für mich, und es hat sich nie die Gelegenheit dazu ergeben.”

Ganz beruhigt war Meta hinsichtlich Gudekars Verletzung noch nicht. Sie drückte fest seine Hand und sah ihn vertrauensvoll lieb an. „Mehr darf ich an Zuneigung doch nicht zeigen. Die Idee, es gleich hinter uns zu bringen ist famos. Das belastet schon so lange. Holst du uns in einen passenden Raum zam? Ach, ich plappere schon wieder, dabei geht’s dir nicht gut und…“ Meta gestikulierte vage mit den Händen und seufzte. Am liebsten hätte sie ihn diese Nacht einfach nur gehalten und er sie. „Zwei Sachen noch. Bleib die Nacht bei Merle, wenn du willst. Ich merke das und man sagt es mir dauernd, dass ihr euch liebt. Ihr wärt nach allem zärtlich zueinander. Ich weiß doch, dass du das willst.“ Sie sah ihn nicht direkt an und schluckte schwer. „Und dann noch was. Da, wo die Baroness dich erwischt hat... ist das jetzt so kaputt, dass du keine Kinder mehr machen kannst. Du willst eh keine mehr, sowas in der Art hast du mal gesagt. Es interessiert mich nur.“

Gudekar schüttelte erst den Kopf, dann blickte er Meta erstaunt an. Woher konnte sie ahnen, was Ardare ihm angetan hatte? Doch darauf wollte er nicht eingehen. Nicht hier, nicht jetzt. Schließlich flüsterte er Meta ins Ohr. “Es geht mir um keine Nacht mit Merle, mich bedrückt etwas anderes.” Ganz kurz und möglichst unauffällig legte er seine Hand auf ihren Oberschenkel, die Fingerspitzen zu deren Innenseiten weisend. “Ich wünschte, du könntest eines Tages selbst das Glück spüren, ein eigenes Kind im Arm halten zu können, Ich bete zu Tsa, dass sie dich das eines Tages erfahren lässt."

Sie wurde rot und kniff die Lippen zusammen und senkte den Blick. „Jetzt will ich kein Kind. Aber später, dann, wenn wir endlich wir sein können und etwas gemeinsam haben, ich eine gute Kriegerin bin und so. Dann wünsche ich mir ein Kind von dir. Du willst nicht, ich weiß. Du hast genug und Frauen genug. Das frustriert.“ Trotzig sah sie Gudekar an. „Gib Merle das Gefühl, dass sie deine wahre Frau ist. Es muss wohl so sein. Ich werde anderswo jemanden finden, der mich hält und bei dem ich gut schlafen kann.“ Dann lächelte sie wie unbeschwert. „Geh es an. Wir sollten sprechen. Und du hast so viel zu sagen, wie wir. Ich will endlich Klarheit, dann können wir weiter planen oder nicht. Aber du musst wissen, was du willst. Wenn du unsicher bist, dann bleib bei Merle.“

Gudekar nahm ihre Hände in seine und lächelte sie an. „Meta, ich will dich, und wenn du bereit dazu bist, will ich auch ein Kind mit dir. Doch scheint es mir, dass du nicht verstehst, worauf es in diesem Moment gerade ankommt. Es geht gerade nicht um die Planung, wie es langfristig mit uns und Merle weitergeht. Es geht gerade darum, dass wir alle überleben. Lass uns kurz mit Merle sprechen. Alles andere ist im Moment unwichtig.“

„Gut, mach, wie du meinst. Wir werden dann schon sehen, wie es weitergeht. Wenigstens ist es ein Anfang.“

Gudekar hatte genaue Vorstellungen, wie es weiterzugeben hatte. Die wollte er den beiden Frauen in seinem Leben in Ruhe geschützt vor anderen Ohren mitteilen.

***

“Jorgast, schau!” sprach Merle sogleich den Obstbauern an, mit einem breiten Lächeln, aber verhaltener Stimme, um Tsasal und den kleinen Jungen auf seinem Arm nicht zu wecken. “Hier ist deine wunderschöne Tochter.” Sie hielt ihm das Bündel hin, damit er den zweiten Zwilling aus der Nähe bewundern konnte. Gudekars verliebtes Getue nahm sie aus dem Augenwinkel wahr, aber stoisch hin. Nach den ganzen Strapazen hatte er sich wohl etwas Erholung und Ruhe ohne Gezänk verdient. Gleichmütig wandte sie sich wieder an den frischgebackenen Vater: “Gudekar, Rionn und Ihre Wohlgeboren von Kaldenberg haben getan, was sie konnten - und Tsa sei Dank ist auch alles gut ausgegangen. Isfried schläft jetzt friedlich; Perainhulda ist bei ihr.”

“Gepriesen sei Tsa!” rief Jorgast aus. “Euer Gnaden, Meister Gudekar, ich danke Euch! Wo ist die Baroness, damit ich auch ihr danken kann?” Die Anspannung der letzten Stunden fiel mit einem Mal von ihm. Erleichterung in seinem Gesicht war nicht zu übersehen, als die Tränen in seinem Gesicht zu laufen begannen.

Auf Jorgasts Frage nach der Baroness sah die junge Frau sich irritiert um. Irgendwie hatte sie darauf gehofft, Arda hier in der Küche anzutreffen. War sie etwa allein losgegangen? Als Merle gerade ansetzte, ihrer Besorgnis Ausdruck zu verleihen, schien Rionn mit dem Geburtssegen beginnen zu wollen. Sie legte den Arm um den völlig aufgelösten Obstbauern, streichelte sanft seinen Rücken und konzentrierte sich auf das Gebet.

Als die erste Freude über die beiden Neugeborenen und das Überleben ihrer Mutter sich berechtigterweise Bahn gebrochen hatte, schritt der Tsageweihte an Jorgast heran, nahm sanft und vorsichtig dessen kleinen Sohn auf seinen Arm. Dann ging er zu Merle und forderte sie auf, auch seine Schwester in seinen anderen Arm zu legen.

“O Lebenspendende! o Ewigjunge!

Sieh diese beiden Kinder, sieh diese Zwillinge!

Sie sind ein Geschenk! Wir danken dir, o gütige Tsa!

Bitte behüte die beiden!

Denn sie sind unschuldig und schutzlos gegen das Böse.

Leite und segne die beiden!

Sie mögen den Weg zu Dir und deinen göttlichen Geschwistern finden.”

Dann ging Rionn wieder zurück zu Merle und überreichte ihr eines der beiden Kinder. Das andere brachte er zu Jorgast.

Jorgast nahm jetzt voller Stolz seine Tochter entgegen.

Danach holte Rionn aus dem Amulett, dass der Tsageweihte stets um seinen Hals trug, ein kleines Prisma hervor, dass er schon öfter verwendet hatte. Er hielt das Prisma geschickt in das Licht einer Kerze und siehe, ein wunderbarer Regenbogen nahm vom Prisma seinen Anfang und hüllte die beiden Kinder in sein vielfarbiges Licht.

Der Segen und das wunderschöne Regenbogenlicht hatten Merle tief berührt und mit Ruhe und Göttervertrauen erfüllt. Sie spürte, wie die Anspannung nun vollends von ihr abfiel, setzte sich erschöpft an den Tisch und goss sich, da sie immer noch eines der Kinder hielt, mit der freien Hand etwas Wasser ein. “Rionn, Gudekar, für euch auch?” fragte sie die beiden Männer und hielt den Wasserkrug hoch. “Oder lieber einen Most?” Sie leerte ihren Becher in einem Zug und merkte erst jetzt, wie durstig sie nach der schweißtreibenden Geburt eigentlich war.

Gudekar schüttelte den Kopf und deutete auf Metas Becher. „Danke Merle, aber ich hatte schon.“

Sie zuckte nur mit den Achseln, runzelte nachdenklich die Stirn und blickte zu dem Tsageweihten. "Rionn, sag mal, wann ist dein Novize losgegangen?"

Rionn war auch noch beseelt und versunken in das von Tsa gewährte Zeichen und ihrer Zuwendung zu den beiden Neugeborenen. So überhörte er die Fragen nach den Getränken, obwohl auch er ziemlich Durst hatte. Als Merle jedoch nach Eoinbaiste fragte, schreckte er auf. “Das ist eine gefühlte Ewigkeit her. Die zweite Geburt hat doch bestimmt mehr als ein halbes Wassermaß gedauert, oder? Ich habe Eoin losgeschickt, da waren du und Gudekar doch noch gar nicht bei uns. Er muss euch beiden doch über den Weg gelaufen sein. Bestimmt ist er euch beiden entgegengekommen, oder? Hat er getrödelt? Manchmal ist er schon verträumt.”

"Nein, er ist uns nicht entgegengekommen...", murmelte sie leise. "Er hätte aber, oder? Und die Baroness von Kaldenberg, sie ist eben wohl auch allein rausgerannt..." Merles Miene war große Sorge, sogar Angst anzusehen. Sie hob den Blick und sprach lauter in die Runde, so dass alle es hören konnten: "Einige hier wissen es noch nicht, aber vorhin sind viele schlimme Dinge passiert. Gwenn wurde im Wald entführt; es gab Tote. Auch im Dorf ist es vielleicht nicht sicher. Niemand sollte mehr allein draußen rumlaufen."

“Alleine”, sprach der Tsageweihte nur leise vor sich hin. Ihm waren plötzlich auch das Entsetzen und die Erkenntnis vom Gesicht abzulesen. Wie konnte er den Novizen nur alleine losschicken? Nach dem, was sie zuvor erlebt und im Herrenhaus besprochen hatten, war das von ihm völlig gedanken- und verantwortungslos gewesen, den Jungen alleine loszuschicken. Wie konnte er nur nur so dumm sein? In Rionn stiegen die Selbstvorwürfe auf wie ein drohendes Monster aus der Tiefe. “Götter! Nein!”, schrie er entsetzt.

Merle schrak zusammen und erhob sich mit dem Kind auf dem Arm, um dem Geweihten sanft die Hand auf den Arm zu legen. "Rionn, beruhige dich! Es muss nichts bedeuten; lass' uns nicht in Panik verfallen! Eoin ist vielleicht querfeldein zum Gutshaus gelaufen, über die Wiesen hinter dem Dorf; deshalb sind wir ihm vorhin nicht begegnet. Und du sagst ja selber, dass er leicht abzulenken ist. Wahrscheinlich hat er sich im Herrenhaus mit irgendwem verquatscht. Es gibt viele Möglichkeiten, warum er noch nicht zurück ist." Auch wenn die junge Frau sich bemühte, ihre Stimme leicht und beschwichtigend klingen zu lassen, sprachen die Blässe ihres Gesichts und das hektische Flackern in ihren Augen eine andere Sprache. Sie wandte sich an die anwesenden Rittersleute, wobei sie Meta kurz mit dem Blick streifte, dann jedoch Jartgar anschaute: “Hoher Herr, hohe Damen, sollten wir nach dem Novizen und der Baroness suchen? Es wäre wirklich eine große Erleichterung zu wissen, dass es ihnen gut geht.”

“Ich könnte mich dem annehmen”, sagte Jartgar.

"Habt Dank, hoher Herr Jartgar", erwiderte Merle und nickte dem erfahrenen Ritter zu. "Doch denke ich nicht, dass Ihr allein draußen suchen solltet. Gwenn war in Begleitung der Frau von Kranickau sowie mehrerer Männer - und dennoch wurde ihre Gruppe überwältigt..." Unsicher blickte sie in die Gesichter der anderen.

“Ich werde selbstverständlich auch mit suchen”, erklärte Rionn umgehend.

„Hm“, überlegte Gudekar, „die Baroness schien zu wissen, was sie tun will, soll sie ihren Weg finden. Aber wir sollten eh zurück ins Herrenhaus. Da können wir nach Eurem Novizen fragen. Aber vorher muss ich noch mit euch beiden ganz kurz reden, Merle und Meta. Allein! Jorgast, können wir Eure Wohnstube nutzen?“

Jorgast nickte nur, während er freudig seinen Nachwuchs betrachtete. “Ja, geht nur in die Stube. Wenn Perainhulda mich lässt, würde ich mich gerne etwas zu Isfried legen.”

Merle nickte Jorgast zu und hob in Gudekars Richtung die Schultern. "Kurz gerne. Aber wenn das die Unterredung sein soll, die wir für heute Nachmittag mit Gwenn geplant hatten, denke ich nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist." Fragend schaute sie Gudekar in die Augen. "Eoin wird vermisst, wir müssen noch Runklers die Nachricht über Brun beibringen. Und schauen, wie die Lage im Herrenhaus ist, wie es Doratrava geht… Ich denke, Wiltrud wird auch am Boden zerstört sein… und keine Ahnung, wie Vater das mit Bernhelm wegsteckt. Gudekar, deine Schwester wurde entführt. Unsere Familie und diese Gemeinschaft wurden angegriffen. Wir sind alle mit den Nerven am Ende… und irgendwann möchte ich auch zu Lulu zurück. Willst du jetzt wirklich über unsere Ehe reden?" Zweifelnd kniff sie die Augen zusammen; in ihrem Blick waren Überforderung und aufkeimende Panik zu erkennen.

Der Verbleib des Novizen war für Gudekar momentan nebensächlich, und das Schicksal des toten Bäckerjungen war eh nicht mehr zu ändern. Bei der Erwähnung von Doratrava jedoch verzog er sein Gesicht, denn das und natürlich die Entführung von Gwenn waren genau die Knackpunkte, weshalb er unbedingt mit den beiden Frauen reden musste. “Ich denke, ich weiß, was dich bedrückt, Merle. Und es geht nicht um unsere Ehe, also doch, auch, aber anders, als du meinst. Es geht auch um das, was heute geschehen ist. Es ist wichtig! Wirklich.”

Sie musterte ihn skeptisch. "Ich vertraue dir, wenn du sagst, dass es wichtig ist. Aber ich kann dir gleich sagen, dass ich mich heute Abend zu keinen Absprachen oder Zusicherungen imstande fühle, was die Zukunft angeht. Ich merke, dass ich so einigermaßen funktioniere, weil ich mich mit aller Macht zusammenreiße. Um für die Leute da zu sein, die mich brauchen. Doch eigentlich möchte ich die ganze Zeit nur heulen und mich irgendwo verkriechen." Merles Stimme wurde sehr leise; ein kaum noch hörbares, tonloses Wispern. "Alles, zu was ich heute fähig bin, ist ein Waffenstillstand, um die Nacht zu überstehen. Es tut mir leid, aber taugliche Entscheidungen und Versprechungen kannst du gerade nicht von mir verlangen."

Gudekar schloss die Augen und kniff sich mit den Fingern an der Nasenwurzel. “Bitte, es ist wirklich wichtig! Es geht nicht um irgendwelche Absprachen.” Aber, dass sie keine Entscheidung würde treffen müssen, konnte er ihr nicht versprechen.

Wohl oder übel hatte die Ritterin den Disput mitbekommen. „Lass uns reden. Morgen werde ich abreisen, so oder so. Die Nacht heute gebe ich der einzig wahren Frau, die Gudekar gehört, ihr dürft euch trösten und gemeinsam einschlafen. Ich komme schon unter. Aber es wird morgen keine Hochzeit geben, ich bin hier und warte darauf, wie unser Leben weitergehen wird. Meinetwegen umreißen wir das Thema heute, aber morgen werde ich nicht mehr zur Verfügung stehen. Das Leben wird nicht besser. Jeden Tag könnte etwas dazwischenkommen.“

Völlig irritiert drehte sich Merle zu Meta. “Was soll das immer mit der gemeinsamen Nacht? Wie kommst du darauf, dass das wichtig wäre? Wahrscheinlich wird niemand von uns heute Nacht zum Schlafen kommen, bei allem, was hier gerade passiert. Gwenn wurde entführt, Eoin ist scheinbar spurlos verschwunden, ein Haufen Leute wurde grausam ermordet - und dir, Meta, dir geht es darum, wer mit wem einschlafen darf?!” Mit mühsam unterdrücktem Ärger schüttelte sie den Kopf. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie es Gudekar die ganze Zeit in Metas Gesellschaft aushielt… aber gut, das war sein Problem, nicht ihres. Sie erhob sich seufzend und rang sich ein gequältes Lächeln ab. “Na schön, reden wir kurz in Jorgasts Stube. Ich bin dazu bereit, weil es Gudekar wichtig ist. Aber ich habe im Moment nicht die Nerven oder die Zeit, mich mit deinen Befindlichkeiten auseinanderzusetzen, Meta.” Bevor sie sich zum Herausgehen wandte, blickte sie zu Alana und Jartgar. “Hohe Dame, hoher Herr, bitte entschuldigt uns. Es wäre sicherlich gut, wenn Ihr Euch schon einmal um die Suche nach Eoin kümmern würdet. Ich hoffe sehr, dass er wohlauf ist.”

Rionn war innerlich so aufgewühlt, dass der Inhalt des Gespräches vollkommen an ihm vorbei ging. Er verstand nicht, was gerade diskutiert wurde. Bei den letzten Worten Merles schaltete er sich wieder ein und blickte ebenfalls Jartgar und Alana an. “Ich komme mit”, sagte er nur. Ganz offensichtlich war seine Sorge um den Novizen.

Merle blickte fragend zu Gudekar. “Wäre es hilfreich, wenn Rahjel dabei ist?”

Gudekar schaute zu seinem Vetter und schüttelte den Kopf. „Nein, verzeiht. Aber Euer Rat wird dabei nicht gebraucht, Euer Gnaden. Was ich Merle und Meta zu sagen habe, ist nur für sie bestimmt.“ Dann stand er auf und schaute die beiden Frauen auffordernd an. „Kommt bitte, nur ganz kurz.“

Merle nickte ergeben, übergab Jorgast sein zweites Kind und griff sich im Vorbeigehen noch einen der Fleischspieße und einen Teller vom Tisch. Wirklich Hunger hatte sie nicht, aber es war wohl gut, etwas in den Magen zu bekommen, wenn die Gelegenheit sich schon einmal bot.

„Gut, machen wir einen Anfang. Merle, du hast ein Problem, du willst mich immer falsch verstehen. Vor zwei Götterläufen wurde ein Traviageweihter entführt, es gab zahlreiche Tote und am Ende dennoch eine Hochzeit. Unser Friede endet jetzt wohl.“ Wie hatte Gudekar es nur so lange mit dieser Frau ausgehalten? Gerade nach so einem Tag wünschte man sich doch, von einem lieben Menschen im Arm gehalten zu werden. Merle hatte zu wenig erlebt, sie würde immer das kleine Waisenkind bleiben.

"Ich hab nicht gesagt, dass unser Frieden endet", erklärte Merle mit gelassener Stimme und wandte sich zur Tür. "Im Gegenteil, ich wünsche mir Frieden. Wirklich. Aber lasst uns alles weitere lieber in der Stube besprechen."

Gudekar der inzwischen am oberen Ende der kurzen Treppe zum Flur stand drehte sich um und rief Merle und Meta zu: “Kommt ihr jetzt, oder wollt ihr eure Differenzen erst noch hier in der Küche vor allen austragen?” Damit ging er durch den Durchgang, um die Stube der Borkmunds zu betreten.

Mit leichter Sorge schaute der Geweihte der Rahja dem Liebestrio hinterher, doch wandte er sich dem Tsageweihten zu. “Wir sollten uns möglichst nicht trennen. Als Gemeinschaft werden wir stark sein. Rionn, wenn Ihr später Zeit habt, würde ich mit Euch auch sprechen wollen, doch sollte die Suche nach Eurem Novizen vorrangig sein.”

“Sobald die drei wieder bei uns sind, sollten wir losziehen. Das Kind und die Baroness werden wir schon finden”, sagte der alte Ritter Jartgar selbstbewußt.

“Eure Gnaden, hohe Dame, hoher Herr, wenn Ihr es gestattet, würde ich nun gerne nach meiner Frau schauen gehen und mich vielleicht ein wenig neben sie legen.” Jorgast wirkte müde und erschöpft, nach dem die größte Sorge um seine Frau und das - nein: die Neugeborenen von ihm gefallen war. “Würdet Ihr in der Zeit einen Blick auf Tsasal und Hageian halten?”

“Geht ruhig, die Kleinen sind sicher, ich werde aufpassen”, sagte die Ritterin Alana, die selbst ihren neugeborenen Sohn vermisste.

“Jaja”, erwiderte Rionn leicht abwesend und nervös auf die Aussagen des Rahjageweihten und des Ritters. Es wirkte nicht so, dass er Rahjel von Altenberg und Jartgar von Immergün wirklich  zugehört hatte, so sehr war er wohl in Gedanken bei der Frage, was mit dem Novizen geschehen sein mochte. Unruhig ging er in der Stube umher und wartete darauf, dass sie endlich aufbrachen, um die Vermissten zu suchen..

~ * ~

Sechs-Augen-Gespräch

Gudekar betrat zuerst die Wohnstube der Borkmunds. Kurze Zeit später folgten ihm Merle und schließlich auch Meta.

“Macht bitte die Tür zu!” forderte der Anconiter die beiden auf, nachdem er sich mit der Brust zur Lehne gewandt auf einen Stuhl gesetzt hatte. Sein Blick war ernst und wechselte zwischen den beiden Frauen hin und her.

Wenigstens hatten sie es geschafft, alleine zu dritt zusammenkommen und irgendwas zu besprechen. Viel Hoffnung auf eine Lösung machte sich Meta nicht. Sie hatte diese Leiche noch im Kopf und die neuen, sich andeutenden Schwierigkeiten. Ach, eine Miniaturvariante ohne Gwenn und Imelda… eine gefühlte Ewigkeit war vergangen, seit  sie das geplant hatten. Sie setzte sich Gudekar gegenüber auf einen Stuhl. Was war realistisch? Merle war ein Nervenbündel und brauchte eigentlich Ruhe und ihre Tochter. Gudekar körperlich angeschlagen und sicher dachte er nur an diesen Bäcker, der sein Leben seit langem bestimmte, wie sie heute erfahren hatte, und ihm beängstigend nah gekommen war. Die dubiose Kiste kam Meta kurz in den Sinn. Was sie wohl enthalten hatte? Ja, realistisch war, dass sie planten, wie sie den Tag morgen gestalten würden.

Auch Merle setzte sich auf einen Stuhl, sodass sie mit Meta und Gudekar ein Dreieck bildete. Appetitlos knabberte sie den kleinen Fleischspieß ab, den sie eben in der Küche mitgenommen hatte und schaute Gudekar auffordernd an. Metas Anwesenheit machte sie nervös. Trotz allem, was sie heute über seinen Ehebruch erfahren hatte - mit Gudekar allein konnte sie seltsamerweise immer noch vernünftig reden. Aber mit dieser Ritterin ging das überhaupt nicht. Dennoch, irgendwie musste sie lernen, halbwegs mit Meta und ihrer Art auszukommen, wenn sie Gudekar nicht aufgeben wollte. Seufzend legte Merle den Spieß auf den Teller und musterte erst Meta und dann Gudekar mit müdem Blick.  

Gudekar vergewisserte sich, dass beide Frauen ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet hatten. Er wartete noch einige Augenblicke, bevor er zu sprechen begann, um seine Worte noch eindringlicher wirken zu lassen. „Wir müssen fort.“ Es klang wie eine unumstößliche Tatsache, eine Feststellung.

„Ich hab nicht vor, hier einzuziehen. Ich will fort.“

"Du hast mir schon gesagt, dass du in die Rabenmark abhauen willst", sagte Merle in düsterem Tonfall. Ihrem ungeduldigen Blick war anzusehen, dass er endlich zum Punkt kommen sollte.

„WIR müssen fort. Wir alle drei. Sofort. Wir sind hier nicht mehr sicher.“

Meta lehnte sich zurück und musterte den Magnus skeptisch mit verengten Augen. „Jetzt? In Ordnung. Aber erst erklärst du mir, was das mit drei Personen sein soll und wie du dir die nächsten Tage vorstellst.“ Gudekar war oft genug chaotisch und hatte keine Vorstellung, was er machen sollte.

Auch Merle schaute Gudekar mit skeptischem Blick an. "Eobans Anklage gegen Doratrava hat mich auch erschüttert, das gebe ich zu. Aber du bist Anconiter und Sohn des Edlen. Du hast Isfried gerade das Leben gerettet. Wer sollte dir hier irgendwie gefährlich werden können?"

Gudekar schaute überrascht zu Meta. „Na, wir drei, natürlich! Du, Merle und ich. Und Lulu müssen wir auch mitnehmen.“

„Also schon mal vier Personen“, erwiderte Meta trocken.

Danach blickte er ebenso verständnislos zu Merle. „Das musst du noch fragen, wer uns gefährlich werden könnte?“

Merle kniff die Augen zusammen. "Du meinst den Frevler, den Pruch." Verunsichert schaute sie zwischen ihrem Mann und der Ritterin hin und her. "Doch wo wären wir sicher; wo könnte er uns nicht finden? Ist nicht der einzige Weg, ihn zu besiegen… ihn zu töten?"

“Wir müssen weg, weit weg", antwortete Gudekar. Er schüttelte resigniert den Kopf. “Du siehst doch, was er gerade tut. Jede von euch könnte die nächste sein. Ich muss euch dahin bringen, wo er nicht an euch herankommt. Ihn auszuschalten haben wir nun seit zwei Jahren versucht. Und er hat uns immer wieder gewarnt, wir sollten ihn in Ruhe lassen. Ich dachte, ich hätte die Kontrolle und er würde mir nichts tun, euch nichts tun. Doch heute hat er mich verhöhnt, indem er Gwenn geholt hat.” Gudekar stand von seinem Stuhl auf und lief im Zimmer auf und ab. “Er zeigt mir damit, dass meine Bemühungen des letzten Jahres bei ihm nicht fruchten. Ich dachte, ich könnte euch schützen, aber er hat mir gezeigt, dass ich mich getäuscht habe. Wenn wir bleiben, wenn ich weiter versuche, ihn… ihn zu jagen, wird er die nächste holen, an der mir etwas liegt. Dich Merle, dich, Meta oder sogar Lulu. Wir müssen weg. Sofort!”

"Aber…" Merle schluckte schwer und senkte den Blick, starrte auf die hölzernen Dielen des Fußbodens. "Was ist mit Gwenn? Siehst du denn gar keine Hoffnung, sie zu retten?" Sie merkte, wie es ihr die Kehle zuschnürte, so dass sie kaum noch atmen konnte. Das alles war wie ein Alptraum, aus dem es kein Erwachen gab. "Er hat sie lebend entführt. Gwenn leidet, sie wartet irgendwo auf Hilfe. Wir können sie doch nicht einfach aufgeben!"

Er hatte Gwenn lebend. Genau das ist das Problem, dachte Gudekar. “Und wo sollen wir Gwenn suchen? Seit einem Götterlauf versuche ich erfolglos, sein Versteck zu finden, obwohl ich mir sicher bin, dass es im Albenhusischen liegt.” Nervös lief der Anconiter weiter auf und ab. “Wenn ich aufhöre, ihn zu suchen, lässt er Gwenn vielleicht gehen. Gehe ich aber nicht fort, so besteht immer die Gefahr, dass er ihr mehr antut.”

"Glaubst du wirklich, er würde Gwenn einfach so gehen lassen? Nach dem ganzen Aufwand, sie zu holen?" Sie blickte wieder zu dem herumtigernden Magus; die Zweifel waren der jungen Frau deutlich anzusehen. "Gudekar, ehrlich gesagt kommt mir das alles so überstürzt vor, so… kopflos." Merle verzog das Gesicht, als sie an Nivards Bruder denken musste. "Rede doch erst einmal mit ein paar deiner Ermittler-Gefährten, was die jetzt machen… Ich meine, die sitzen ja im selben Boot."

Gudekar nahm wahr, dass Meta immer hibbeliger wurde und auch etwas sagen wollte. Dennoch fuhr er ihr über den Mund und antwortete zuerst auf Merles letzte Aufforderung. Denn er war sich sicher, dass es bei Meta weniger Überzeugungsarbeit bedurfte, um sie zum baldigen Verlassen des Dorfes zu überreden. „Geredet wurde nun wahrlich genug“, urteilte der Anconiter, der sich eh nicht als Mann der vielen Worte sah. „Und du hast ja an Doratrava gesehen, wie sie mit Gefährten umgehen, die ‚im selben Boot sitzen‘. Ich werde hier nicht länger sitzen und warten, bis sich einer von ihnen dazu entscheidet, mich wegen meiner reinen Liebe zu Meta auf den Scheiterhaufen zu stellen, ohne ein Urteil der Kirche oder gar der Gildengerichtsbarkeit abzuwarten. So, als wäre allein meine Liebe zu Meta“, er ging zu seiner Ritterin, legte seine Hände auf ihre Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Wange, „bereits ein Verrat an den Zielen der Gemeinschaft, als wäre meine Liebe einem Pakt mit Lolgramoth gleichzusetzen.“

Merle nahm Gudekars rührselige Liebesbekundung ungerührt hin und rollte nur leicht mit den Augen.

Meta hatte die ganze Zeit geduldig gewartet, die Frage, die sie am brennendsten interessierte, zu wiederholen. Nun ergriff sie das Wort, bevor Merle erneut nachhaken konnte.

Meta horchte den beiden kurz zu. „Jetzt mal zurück zum eigentlichen Thema. Wie stellst du dir das vor? Wir vier sollen wohin fliehen? Und wie sollen wir da deiner Meinung nach leben?“

Gudekar überlegte. Tatsächlich hatte er diese Details für nicht sonderlich wichtig erachtet. Es kam, wie es kam. Doch das sollte er sich wohl besser nicht anmerken lassen, dachte er. So antwortete er betont selbstsicher. „Zunächst müssen wir schnell das Tal verlassen. Mit der Ankunft der Vögtin und dem Theater, das Eoban veranstaltet hatte, wird unsere Abreise unbemerkt bleiben. Damit Pruch“ - ‚und die anderen‘, ergänzte er in Gedanken - „unserer Spur nicht folgen kann, sollte unser Ziel dabei zunächst offen bleiben. Wir verlassen die Nordmarken so schnell es geht. Vielleicht können wir zunächst nach Almada und den Winter in deiner Heimat verbringen? Sobald die Pässe frei von Eis und Schnee sind, reisen wir dann zum Baron von Galebfurten nach Tälerort, um unsere Verpflichtungen, also mein Versprechen zu erfüllen. Und ich denke, nun, da Merle und Lulu uns begleiten, wird es ihm noch leichter fallen, unser beider Aufenthalt zu akzeptieren.“

Meta hatte geduldig zugehört. „Nein, Gudekar. So läuft das auf keinen Fall.“

„Wieso nicht?“ fragte Gudekar ratlos. „Was schlägst du stattdessen vor?“

Meta sah Gudekar kurz zärtlich, dann aber entschieden und streng an. „Jetzt sag ich dir mal, was ich nicht mache. Ich werde nicht mit deiner Frau und deinem Kind rumziehen und zusammenleben. Das kannst du vergessen. Der Paktierer wird mich wohl sowieso nicht als Opfer auswählen, ich bin nicht deine Familie.“ Sie verschränkte die Arme. „Es ist dein Plan. Möglich wäre, Merle und Lulu an einen sicheren Ort zu bringen, dann reisen wir nach Tälerort. Was haltet ihr davon?“

Merles Kehle entwich ein zynisches Lachen. “Für euch beide wär’s doch am besten, wenn dieser Mörder Lulu und mich einfach abschlachtet. So, wie er es mit der Verlobten von diesem Radulf gemacht hat. Dann wärt ihr frei und könntet euer Leben endlich genießen.”

Spontan irritiert über diese Information warf Meta ihre Frage mitten in das Gespräch: „Bitte wie? Radulf war mit der Frau verlobt. Das war eindeutig, dass er die Familie treffen wollte. Es besteht Gefahr für Merle und Lulu. Mika aber auch. Für mich eher nicht.“

Gudekar schaute Merle entsetzt mit großen Augen an. Metas Frage hatte er zwar vernommen, aber das, was Merle ihm gerade vorgeworfen hatte, warf ihn aus der Bahn. “Merle! Wie kannst du so etwas sagen? Ich will nur euer Bestes, glaube mir!” Der Anconiter ging ein paar Schritte auf seine Frau zu und schaute sie traurig an. “Ich möchte dich und Lulu in Sicherheit wissen. Nur dann kann ich in Frieden mit Meta leben.“ Er traf ihn tief, dass Merle so etwas auch nur denken konnte. Nie hätte er sich so etwas gewünscht, nicht ernsthaft. Traute sie ihm das wirklich zu?

Sie schüttelte energisch den Kopf. “Wenn du mich loswerden willst, um ‘friedlich mit Meta zu leben’, wie du sagst, dann ist das für mich kein Traviabund mehr. Wenn du mich verlässt, mich verstößt, die Brücken zu mir, deiner Tochter, deiner Familie abbrichst - dann hast du auch deinen Traviaeid endgültig gebrochen. Dann gibt es kein gemeinsames Heim und Herdfeuer mehr. Und dann bist du in meinen Augen tatsächlich ein Eidbrecher und Frevler. Wie soll ich dir da noch glauben, dass du mein ‘Bestes’ willst?” Resigniert blickte sie Gudekar ins Gesicht und hob müde die Schultern. “Würde es dich dann wundern, wenn ich zu meinen Eltern gehe und sie darum bitte, die notwendigen Schritte einzuleiten?”

„Merle, bitte, jetzt verdreh nicht alles. So wie ich es verstanden habe, will Gudekar uns, also euch in Sicherheit bringen. Das hat jetzt nichts mit verstoßen zu tun. Es geht um wichtigeres. Erstmal Sicherheit.“ Herausfordernd sah sie zu Gudekar. Auf ihren Einwand hatte er noch nicht reagiert. „Und sollte es wirklich so akut sein, dann muss schnell gehandelt werden. Meine Junkerin Verema hat in Cres, Almada ein Lehen. Es wird gerade von einem Sohn des Rabensteiners verwaltet. Das wäre ein guter Ort.“

Gudekar ging nervös auf und ab, immer schneller, voller Unruhe. Er fing an zu hyperventilieren, konnte nicht mehr ruhig werden. “Radulf von Grundelsee. Ein Mitermittler von mir. Wir haben gemeinsam schon so manche Schlacht geschlagen. Er sollte gestern heiraten, doch seine Braut wurde vorher… ermordet.” Gudekar lief weiter auf und ab. “Er holt sie alle. Unsere liebsten. Eine nach der anderen. Alle. Wir müssen weg. Er ist zu mächtig.”

„Gudi, ich hab am See doch davon erfahren. Langsam reime ich es mir zusammen. Aber als deine Liebste, die seiner Ansicht nach gegen Travia arbeitet, noch dazu unwichtig ist, sehe ich mich nicht in Gefahr. Und jetzt hock dich hin und antworte mir.“ Sie sah zu Merle. Nicht feindselig, aber auch nicht freundlich. „Du auch. Lamentiert weniger rum. Lasst uns eine schnelle  Entscheidung finden.“

“Nivard von Tannenfels. Auch mit ihm habe ich seit Schweinsfold viel gemeinsam erlebt.“ Gudekar ignorierte Metas Worte. “Sein Bruder. Tot. Geköpft. Er nimmt nicht nur Bundpartner. Er will uns wehtun. Will uns treffen. Will uns brechen. Uns vernichten. Was ist mir das Liebste? Du!” Er schaute zu Meta. “Du!” Er schaute zu Merle. “Lulu.”

Meta war gerührt. So selten sprach er es so offen aus. „Das hab ich verstanden. Merle ist die Mutter deines Kindes.“ Dass sie gleichbedeutend die liebste Frau in seinem Leben war, das gab ihr zu denken und einen schmerzhaften Stich. Aber Gudekar war gerade in einer psychiatrischen Ausnahmesituation. „Ich denke, wir haben verstanden, dass wir jetzt weg müssen. Aber nicht so, wie du dir das vorstellst. Zu viert in Tälerort. Wir können uns schon zu zweit dort nur vorsichtig treffen. Denk mal nach, wie wir wohl untergebracht werden, wenn du mit deiner einzig wahren Frau und Kind dort auftauchst. Meine Situation wäre noch schlechter, als sie jetzt schon ist. So. Ich warte auf eure Meinung.“

“Gwenn. Warum Gwenn? Er hat sie geholt. Nicht getötet. Es ist eine Warnung. Er weiß, was mir Gwenn bedeutet. Er weiß aber auch, was ihr mir bedeutet.”

Merle versuchte trotz der Anspannung, die im Raum lag, ruhig und betont unaufgeregt zu sprechen. "Meta, ich habe sehr wohl verstanden, dass du mich gerne weit weg von meinem Mann sehen willst. Ich mit Lulu in Almada, du mit Gudekar in Tälerort. Für mich wäre das nichts anderes, als von meinem Ehemann verstoßen zu sein. Dann kann ich auch hier in Lützeltal bleiben, wo ich geliebte Menschen um mich habe, oder in Albenhus bei meinen Eltern. Der Pruch kann mich hier genauso gut aufspüren wie in Almada oder sonstwo auf dem Dererund. Worum es mir geht, ist die Frage, ob unser Traviaeid noch Gültigkeit hat oder nicht", erklärte sie mit fester, doch leiser Stimme. “Selbst wenn wir eine Vereinbarung schließen, die es uns erlaubt, innerhalb des Traviabundes andere Menschen zu lieben”, sie nickte Meta mit einem durchaus sanften, fast mitfühlenden Blick zu, “dann müssen wir beide weiterhin die Traviatreue ehren und respektieren - wenn auch nicht im rahjanischen Sinne. Mit unserem Eid bleibt es aber unsere Pflicht, einander treu zur Seite zu stehen, gemeinsam ein sicheres, warmes und beständiges Heim im Sinne der Gütigen Mutter zu schaffen und zu erhalten. Gerade auch für Lulu. Wenn du mir dies versprechen kannst, dann werde ich dich wegen deiner Liebe zu Meta auch nicht verurteilen oder anklagen. Dann werde ich versuchen, dir ein harmonisches und friedliches Leben zu ermöglichen, in dem natürlich auch Meta ihren Platz hat. Doch brauche ich deine Versicherung, Gudekar, dass dir der Eid, den du mir einst geschworen hast, noch immer etwas bedeutet.”

Gudekar schaute Merle mit großen Augen an. “Hast du mir zugehört? Ich habe gesagt, ich sorge mich um euch. Ich will euer Bestes. Ich habe gesagt, Ihr müsst die Nordmarken verlassen. Wenn wir hier weg sind, hat er keinen Grund mehr, euch zu suchen und zu holen. Wenn ich weg bin. Er agiert hier, wenn ihr weg seid, seid ihr sicher. Nicht hier in Lützeltal. Erst recht nicht in Albenhus. In Almada schon. Dort handelt er nicht. Hast du nicht gehört, in Cres könntet ihr unterkommen. Dort wärt ihr sicher. Sicherer als in Tälerort. Ich bleibe mit Meta auch über den Winter in Almada. Danach sehen wir weiter. Natürlich bist du vor Travia meine Frau. Lulu ist meine Tochter. Doch verstehe. Meta ist mehr als nur meine Wärmflasche für das Bett. In Almada könnte ich nach euch schauen. Dort wärt ihr sicher. Ich könnte lernen. Ich werde ihn jagen, ja. Ich werde ihn vernichten. Ich werde ihn zerstören, so wie er uns zerstören will. Doch bis dahin müsst ihr weg hier. Bis dahin müsst ihr in Sicherheit sein. In Almada seid ihr sicher. Bitte. Wenn ich mit ihm fertig bin, hole ich euch zurück. Wenn ihr sicher seid.”

„Merle, es war geplant, dass Gudekar und ich nach Tälerort reisen, um dort unsere Fähigkeiten im Kampf zu verbessern. Das ist kein gutes Pflaster für ein kleines Mädchen. Ich hab auch gesagt, dass Lulu in Gudekars Leben gehört und es auch so sein soll. Wo bitte ist das Problem, wenn ihr in Almada auf uns wartet oder in Albenhus, welches anscheinend gefährlicher und zudem weiter weg ist von Tälerort?“ Sie wandte sich an Gudekar. „Ich werde nicht als deine zweite Frau mit euch leben. Auf keinen Fall. Das war zwischen uns nie so geplant. Treffen, auch längere, das schon. Aber kein gemeinsames Leben.“

Merle schaute erst Meta und dann Gudekar selbstbewusst in die Augen. “Ich will einfach nicht, dass mein Mann sich in der Rabenmark umbringen lässt.” Sie schluckte und ihre Miene wurde sanfter, dann stand sie auf und legte Gudekar beschwichtigend die Hand auf den Oberarm. Ihrem Blick war anzusehen, wie viel er ihr immer noch bedeutete. “Bitte bleib mit Meta in meiner Nähe. Meinetwegen in Almada. Wo, ist mir eigentlich egal. Wir müssen auch nicht zusammen leben - aber auch nicht viele Meilen voneinander getrennt. So, wie es die letzten zwei Götterläufe war, so geht es einfach nicht weiter. Bitte, Gudekar, versuch’ deinem Rahja- und Traviabund gleichermaßen gerecht zu werden. Ich mische mich nicht in deine Beziehung mit Meta ein… aber ich erwarte, dass du dich mir und Lulu gegenüber wieder wie ein fürsorglicher Ehemann und Vater verhältst. Es ist einfach keine Ehe mehr, wenn mein Mann sich vielleicht einmal im Jahr zum Traviatag bei mir blicken lässt. Also, was ich damit sagen will... Ich wäre damit einverstanden, es den Winter über in Almada zu probieren.”

Gudekar beruhigte sich. Er blieb stehen und schaute Merle einen langen Moment an, dann schlich sich ein sanftes Lächeln in sein Gesicht. Ich sorge mich doch um euch. Deshalb möchte ich euch in Sicherheit wissen. Gut, Ihr reist mit uns nach Almada. Dort bringen wir euch nach Cres. Dort findet man euch nicht, wenn wir niemanden darüber informieren. Ich muss in Punin etwas recherchieren. Dort gehe ich mit Meta hin, aber ich schaue regelmäßig nach dir und Lulu, um zu wissen, dass ihr noch sicher seid.” Nun schaute er zu Meta. “Mein Schatz, wäre das in Ordnung für dich? Und wenn der Winter vorüber ist, schauen wir weiter.”

Merle schüttelte langsam den Kopf. “Nein. So hat sich das eben noch nicht angehört. Dort in Cres wäre ich ganz allein mit Lulu, ich hätte weder Freunde noch Familie um mich herum. Ich müsste in einem völlig fremden Land ein völlig neues Leben beginnen und würde mich allein auch nicht sicherer fühlen. Nur, wenn ich bei dir wäre, Gudekar, dann könnte ich es mir vielleicht vorstellen, nach Almada zu gehen oder sonst wohin in die Fremde.” Dem Blick ihrer großen braunen Augen in ihrem blassen Gesicht war anzusehen, dass der Gedanke, allein mit Lulu in einem Land zu leben, von dem sie keinerlei Vorstellung hatte, für Merle tatsächlich zutiefst beängstigend war. “Es wäre für mich nur denkbar, wenn ich mit nach Punin käme. Ich will nicht allein in dieses Cres.”

„Es wäre doch keine Dauerlösung. Ich werde sowieso mit Verema Kontakt aufnehmen. Seit sie selber zwei Kinder hat, ist sie viel sanfter geworden.“ Meta lächelte etwas. „Mein Vorschlag. Wir beeilen uns, nach Punin zu kommen, bis dahin sollte es organisiert sein. Ich bin offiziell zu eurem Schutz dabei. Meinetwegen begleiten wir Lulu und dich nach Likan. Aber dann brauche ich Zeit mit Gudekar alleine. Er wird in Punin lernen müssen und ich werde es nicht tolerieren, dass wir immer zusammen sind, also wir vier. Im Herzen ist er mein Mann und ich bin seine Frau. Das ist mein Angebot. Wir lassen euch nicht alleine, aber wir werden nicht immer beisammen sein. Gudekar? Was meinst du dazu?“ Es war deutlich zu sehen, dass Meta nicht zu mehr bereit sein würde.

Gudekar nickte. “Wir reisen gemeinsam dorthin. Ich kenne das doch auch alles noch nicht. Ich wollte schon lange Metas Heimat kennenlernen. Wir schauen uns alles gemeinsam an. Punin, Cres, Likan. Vielleicht gefällt es dir ja dort. Dann nehme ich mir etwas Zeit für Meta. Aber ich schaue regelmäßig nach dir und Lulu. Und wenn nicht, finden wir eine Lösung.“ Er wirkte voller Zuversicht.

“Ich lasse mich nicht in ein fremdes Land bringen und mit Lulu zu irgendeiner Verema abschieben, die ich überhaupt nicht kenne!" widersprach Merle, in deren Augen sich Tränen bildeten. "Nein. Nein! Das ist keine richtige Ehe. Das ist kein traviagefälliger Bund mehr. Und im Grunde glaube ich dir nicht mal, dass du jemals zurückkehrst, wenn du erst einmal mit Meta nach Punin verschwunden bist. Dafür hast du mich, habt ihr mich in den letzten zwei Götterläufen viel zu sehr verletzt und betrogen. Und zwar kaltblütig und rücksichtslos. Ich glaube nichts mehr, was du versprichst, Gudekar.” Merle erhob sich und strebte aufgebracht der Tür zu. “Das macht alles keinen Sinn. Ich will in den Nordmarken bleiben. Hier sind meine Freunde, meine Familie, meine Eltern. Unter dem Schutz der Traviakirche fühle ich mich sicherer als irgendwo sonst."

Gudekar beeilte sich, ihr den Weg zu versperren, bevor sie die Tür erreichen konnte. Gerade hatte er noch auf eine friedliche Einigung gehofft, die für alle gut gewesen wäre. Und nun wollte sie ihre Eltern einbeziehen, ihn bei ihnen anzeigen. Sie war bereit, ihn auf den Scheiterhaufen zu bringen. All seine Hoffnung brach auf einmal wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Es gab keinen Ausweg mehr. Er würde mit Meta gehen. Aber Merle durfte sie nicht aufhalten, ihnen nicht im Weg stehen. “Merle, bitte, glaube mir! Du machst einen Fehler! Ich werde dich nicht zwingen, mit uns mitzukommen, ich hatte so gehofft, du würdest es verstehen. Aber ich sehe, du hast kein Vertrauen mehr in mich.” Er ergriff ihre Hände und schaute tief in ihre Augen. In seinen Blicken lagen Enttäuschung und Traurigkeit. “Ich bin doch auf deiner Seite. Ich bin doch dein Freund. bian bha la da’in. Ich bin dein Freund. Ich möchte dir nichts Schlechtes. Ich möchte, dass du dich entscheidest, was du wirklich willst. Ich lasse dir die Entscheidung. Ich möchte nur, dass du dich jetzt ein für alle Mal entscheidest. Ich hätte dich und Lulu mitgenommen, wäre euch ein Beschützer gewesen. Hätte auch Meta, die Frau meines Herzens gebeten, euch zu beschützen. Doch ich sehe nun ein, dass es nicht mehr an mir ist, über dich zu bestimmen. Dies habe ich viel zu lange getan. Insbesondere in den letzten beiden Jahren habe ich über dein Schicksal bestimmt, obwohl ich nur daran interessiert war, mein eigenes Schicksal neu zu gestalten. Ich habe dir soeben angeboten, dass ich den Bund, in dem uns Travia verbunden hat, erfülle. Auch, wenn dies der Frau meines Herzens Leid zugefügt hätte, wäre ich bereit gewesen, unseren Bund zu erfüllen, meinen Treueschwur dir gegenüber zumindest im Sinne des Herdfeuers zu erfüllen, wenn schon nicht mit Rahjas Hingabe. Doch du hast abgelehnt. Du hast soeben gesagt, du bist bereit, unseren Traviabund zu brechen, in dem du nicht mit mir gehst, dich meiner Obhut nicht länger anvertrauen willst. Das verstehe und akzeptiere ich. Ich mache dir keinen Vorwurf deshalb. Doch dann kann unser Traviabund nicht länger bestehen, wenn dies dein wahrer Wille ist. Deshalb sage mir: wo ist es, wo du wirklich mit Lulu leben willst? Willst du hierbleiben, in den Nordmarken, in Albenhus?”

Meta lauschte sowohl Gudekars als auch Merles Antworten und ihre Geduld war am Ende. Sie seufzte, und wollte gerade aufstehen, als Gudekar in elfisch zu Merle sprach. Es war sinnlos. Sollten die Beiden doch nach Punin oder sonstwo mit Lulu abhauen. Sie war raus aus der Sache. Beide konnten ihren Weg gehen, wenn Gudekar wollte, würden sie sich finden. Mit ihr gab es in dieser brenzligen Situation keine Lösung. Sie würde alleine abhauen. Warum hing er nur so an dieser Frau? Das tat ihr weh. Meta hatte, dem Ernst der Lage bewusst, so viel Merle gegeben, doch das würde diese ihr sowieso nur wieder mies reden. Was gäbe sie darum, einfach in Gudekars Armen zu liegen, zärtlich und sich gegenseitig stärkend. Derzeit war das mit diesem Mann nicht möglich und diese illusorische Zukunft, in der er zwei Frauen an seiner Seite hatte, war gegen alles, was sie an Stolz und Liebe aufbringen konnte. Er liebte Merle viel mehr, als sie befürchtet hatte. Desillusioniert wollte sie aufstehen, hielt aber inne, um die Wirkung des Zaubers zu beobachten.

Merle blickte tief in Gudekars Augen und drückte seine warmen Hände. Ihr Herz floss schier über vor inniger Verbundenheit mit diesem Mann, ihrem Ehemann und besten Freund, ihrem geliebten Gudekar. "Natürlich vertraue ich dir! Wie könnte ich denn nicht?!" wisperte sie, während Tränen der Rührung über ihre blassen Wangen liefen. Sie fühlte Verwirrung, verstand nicht, wie Gudekar an ihr, an ihrem Vertrauen zweifeln konnte, warum er ihr diese Fragen überhaupt stellte - schon der Gedanke, ihn zu verlieren, ohne ihn zu sein, die Enttäuschung und Traurigkeit in seinen Augen brachen ihr fast das Herz. "Gudekar, ich habe dich sehr, sehr lieb! Und ich hoffe, ich bete, dass du mir auch wieder vertraust", beschwor sie ihn geradezu verzweifelt. "Verzeih mir, dass ich dich enttäuscht und mit meinen Worten verletzt habe! Ich hatte doch nur solche Angst, dass du mich nicht mehr magst, dass du mich nicht mehr bei dir haben willst und du spätestens im Frühjahr mit Meta fortgehen willst und mich verlassen… Aber jetzt weiß ich, dass du immer gut zu mir sein wirst, dass du mich nie im Stich lassen wirst. Und ich dich auch nicht! Bitte zweifle nie wieder an mir! Du bist mein Ein und Alles, der wichtigste Mensch in meinem Leben, das weißt du doch, oder? Natürlich möchte ich mit dir gehen, natürlich möchte ich bei dir sein! Bitte, bitte denke nicht, dass ich meinen Traviaeid jemals brechen würde!" Aus dem Impuls heraus warf sie sich mit einem unterdrückten Schluchzen in seine Arme, presste seinen so vertrauten, geliebten Körper haltsuchend an sich, leicht zitternd vom Überschwang ihrer Gefühle, küsste ihn erst schnell auf die leicht stoppelige Wange, dann noch einmal auf den Mundwinkel und schließlich, länger, direkt auf den Mund, zart, liebevoll und intensiv. Als sich ihre Lippen von seinen lösten, öffnete sie die Augen, klammerte sich noch immer an Gudekars Oberkörper fest und lächelte ihn mit all ihrer Hingabe und Wärme an; ihre schönen Augen strahlten voller Zärtlichkeit und tiefer, ehrlicher Zuneigung. "Liebster, ich vertraue dir blind mein Leben an. Ich werde immer für dich da sein, immer zu dir stehen - das habe ich dir doch vor Travia geschworen! Ich würde, wenn es nötig ist, mein Leben für dich geben! Ohne zu zögern. Ich will da sein, wo du bist; ich werde dir überall hin folgen, wohin du auch gehst! Das schwöre ich dir, mein Schatz, jeden Tag aufs Neue."

Gudekar schluckte und sah Merle entgeistert an. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Allerdings hatte er den Zauber noch nie zuvor auf einen Menschen gewirkt, der ihm auch nur annähernd so nah stand wie Merle es tat. Schlagartig wurde ihm bewusst, was er getan hatte, was er angerichtet hatte. Für den Augenblick war Merle ihm nun verfallen, doch hielt die Wirkung nicht einmal eine Stunde. In der Zeit würden sie es vermutlich nicht einmal schaffen, das Dorf zu verlassen, schon gar nicht, wenn sie auch noch Lulu mitnehmen wollten. Und dann? Wenn der Zauber von Merle abfiel, was würde sie dann tun? Sie würde erkennen, was er ihr angetan hatte und würde sich erst recht gegen ihn wenden. Es war ausweglos. Panik stieg erneut in ihm auf. Unbeschreibliche Panik schnürte seine Brust zusammen, nahm ihm den Atem. Verzweifelt blickte er zu Meta, suchte in ihrer Präsenz neuen Halt. Er musste mit ihr sprechen. Allein! Sofort. Es blieb nicht viel Zeit. Deshalb sprach er noch einmal zu seiner Frau. „Merle, ich weiß, was du für mich empfindest. Und auch du wirst immer ein Teil meiner Seele bleiben. Und solange du mich liebst, wirst du mir helfen müssen. Wir haben nicht viel Zeit, bevor meine Feinde uns finden. Wir müssen uns nun beeilen und schnell handeln. Merle, bitte geh zu Perainhulda und hole meine Tasche aus Isfrieds Zimmer. Sage aber niemandem, was wir vorhaben oder wohin wir wollen.“

Merle nickte verstehend. "Ja, ich beeile mich. Wir sollten so schnell wie möglich aufbrechen." Sie drückte Gudekar noch einmal fest an sich und wandte sich zur Tür des Salons, als sie inne hielt und ihm besorgt in die Augen schaute. “Aber… wenn wir drei einfach mit Lulu weggehen, ohne jemandem Bescheid zu geben, wer hilft dann Doratrava? Und wenn du sagst, dass wir wahrscheinliche Ziele des Pruchs sind - kann dann nicht genauso Siegmund sein Opfer werden?” Sie schloss kurz die Augen bei der Vorstellung, dass dem Kleinen ein Leid geschehen könnte. “Dann müssen wir doch zumindest noch mit Tsalinde reden. Vielleicht schließt sie sich uns ja mit ihrer Familie an. Wäre das nicht gut? Mit Lys haben wir dann sogar noch einen weiteren Kämpfer dabei. Und Lulu hätte schon einmal einen Spielgefährten in Almada.”

„Eines nach dem anderen, Merle! Um Doratrava kümmern wir uns noch. Und Tsalinde halte ich für intelligent genug, selbst auf sich und Siegmund aufzupassen. Geheimhaltung wird unser Leben retten. Niemand darf von unseren Plänen erfahren. Niemand. Das wünsche ich mir von dir. Und meine Tasche. Und nun geh, hol sie!“ Gudekar schaute sehr besorgt zu Merle.

Für ein paar Wimpernschläge zögerte sie und schien etwas einwenden zu wollen, doch schließlich nickte sie nur. Sie durfte nicht riskieren, dass Gudekar wieder an ihrer Loyalität zu zweifeln begann. “Ja, natürlich! Ich vertraue dir, mein Herz. Bin gleich wieder da mit deiner Tasche!” Liebevoll lächelte Merle ihn an, beugte sich vor und gab ihm noch ein schnelles Küsschen auf den Mund, dann schaute sie Meta an und hielt erneut inne. Hatte Gudekar vielleicht das Vertrauen in ihren Bund verloren, weil sie unfreundlich zu seiner Liebsten gewesen war? Musste sie, damit Gudekar sie wieder lieb haben konnte, auch lieber zu Meta sein? Ja, Gudekar liebte Meta, aber sie brauchte keine Angst zu haben, dass er sie deswegen verlassen oder verstoßen würde. Sie hatten beide Platz in seinem Herzen, daran gab es überhaupt keinen Zweifel. Und keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Gudekar würde für sie beide da sein, für sie beide sorgen. Verlegen trat sie einen Schritt auf die junge Ritterin zu und zwang sich, dieser direkt in die Augen zu schauen. “Meta, ich danke dir, dass du uns beschützt”, sagte sie leise und ehrlich zu ihr, dann machte sie tatsächlich kehrt und verließ eiligen Schrittes die Stube des Obstbauern.  

Noch immer war Gudekar vollkommen perplex und blickte auf die Tür, durch die Merle soeben den Raum verlassen hatte. Dann brach es aus ihm heraus. Es ging auf Meta zu, nahm sie fest in den Arm, drückte sie fest an sich und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. “Oh Meta, was habe ich bloß getan? Verzeih mir! Ich stürze uns ins Verderben! Was soll ich nur tun? Wir müssen weg hier, schnell!” Voller Verzweiflung liefen ihm die Tränen über das Gesicht.

Beruhigend nahm sie Gudekar in den Arm und hielt ihn kurz einfach nur fest. „Interessant, wie der Zauber bei ihr wirkt. Wieviel Zeit werden wir haben?“

“Viel zu wenig!” resümierte Gudekar. “Vielleicht eine halbe Stunde. Das reicht nicht, um das Dorf zu verlassen. Wenn die Wirkung von ihr abfällt, wird sie mich verraten. Meta, egal, was passiert, du musst wissen, wie sehr ich dich liebe!”

„Du hoffst, dass sie dir verzeiht und das, was sie gesagt hat, es muss ja die Wahrheit sein, irgendwann eintreten wird. Willst du sie wirklich hier lassen?“

“Ich weiß nicht, was sie tun wird. Ich habe das so noch nie getan. Was sie sagt, ist jetzt wahr, doch wenn sie begreift, was ich getan habe, wird sie mir nie wieder vertrauen. So sehr es mich schmerzt, weil ich Angst um sie und Lulu habe, aber wir können sie so nicht mehr mitnehmen.” In seiner Stimme lag blanke Angst und Verzweiflung.

Ungewohnt kühl betrachtete Meta ihren Liebsten. „Erkläre ihr, dass du nur so mit ihr und Lulu fliehen konntest. Ich werde hier bleiben.“ Vor Trauer senkte sie die Augen. „Was willst du? Sag es mir einfach. Soll ich auch heulen und um dich betteln wie Merle vor dem Zauber? Beeil dich. Wir haben nicht viel Zeit.“

Gudekar richtete sich auf, ging einen halben Schritt zurück, fasste Metas Hände und schaute ihr liebevoll in die Augen. “Ich möchte dich! Ich möchte mit dir fort! Du musst nicht um mich betteln, du hast mich doch. Du hast mich von Anfang an gehabt. Dir vertraue ich.” Ein vorsichtiges Lächeln schlich sich in sein Gesicht. “Lass uns einfach abreisen, nur wir beide, so wie wir es geplant hatten.” Er stupste auf ihre Nase, gab ihr dann einen Kuss auf den Mund.

Die Zeit drängte. Er würde weder Lulu, um die es Meta leid tat, noch die nervige Merle je aufgeben. Eigentlich ging es nur um Merle. „Dann los, beeilen wir uns. Zu den Pferden oder zu Fuß?“

“Draußen steht nur ein Pferd. Wir müssen ins Dorf zurück und unsere Pferde und Sachen holen. Das Wichtigste jedenfalls.” Gudekar überlegte. “Wir werden es nicht schaffen, bevor Merle Alarm schlägt.”

„Ich habe fast alles, was ich brauche. Geld und Essen müssen wir haben.“ Besorgt sah sie Gudekar an. „Schnell, geh vor, ich folge dir.“

“Warte, ich brauche wirklich meine Tasche. Die kann ich nicht zurücklassen." Besorgt schaute er zu Meta und zog sie näher zu sich heran. “Meinst du wir können, wir sollten uns mehr Zeit verschaffen?”  

„Wenn sie mit der Tasche kommt, wird es zu spät sein, oder?“ Panik stieg in ihr auf. Warum hatte er sie nicht weiter weggeschickt und die Tasche selber geholt. „Soll ich hier bleiben und du gehst… zu Lulu, oder schon mal irgendwo vor? Ich weiß es nicht. Bannbaladin ist ein guter Zauber. Ich hab keine Ahnung.“

“Gut, geh du schon raus zu dem Pferd. Das, auf dem Brun liegt. Es kommt nicht auf eine oder zwei Stunden an. Leg ihn ab. Die Geweihten können ihn später in den Ort bringen. Wir brauchen das Pferd. Ich komme gleich nach.”

Als Meta gehen wollte, zog er sie noch einmal an sich heran. “Denke bitte daran: Egal was passiert, ich liebe dich. Doch ich will nicht, dass dir etwas passiert. Im Zweifel rette dich, nicht mich!” Er gab ihr einen innigen Kuss auf den Mund. “Nun geh und wünsche mir Phexens Beistand!”

„Ich muss mich nicht retten, ich warte auf dich.“ Mit schräg gelegtem Kopf lächelte sie Gudekar lieb und zuversichtlich an. “Ich warte im Dunkeln mit dem Pferd, bis du kommst.“

Der Magier lächelte die Ritterin aufmunternd an. “Wenn alles klappt, sehen wir uns gleich.” Dann deutete er ihr an, zu gehen. Angespannt wartete er.  

Widerwillig ging Meta nach draußen und mühte sich erst mit dem inzwischen störrischen Leichnam ab, dann führte sie das Pferd so weit weg vom Haus, bis die Nacht sie beide verbarg. Ein braves Tier war das.

~ * ~

Eine Tasche zu holen

Merle verließ die Stube, in der sie mit Gudekar und Meta gesprochen hatte, um gegenüber in die Schlafstube der Borkmunds zu gehen. Dort hatte Isfried Borkmund gerade Zwillinge entbunden, was nur dank der Heilerin Ardare von Kaldenberg und der Unterstützung durch Gudekar gelungen war. Nun sollte Merle, die unter dem Einfluss eines Bannbaladin stand, Gudekars Tasche aus dem Zimmer holen. Vorsichtig öffnete Merle die Tür. Perainhuda Waldgrun, Dorfheilerin und Hebamme, stand neben dem Bett der Bauernfamilie und versorgte gerade eines der beiden Neugeborenen, während die junge Mutter noch immer unter dem Einfluss eines Schlafzaubers ruhte. Ihr Ehemann Jorgast hatte sich neben sie gelegt und war fast umgehend vor Erschöpfung ebenfalls eingeschlafen. Als Merle die Tür öffnete, schaute Perainhulda zu Merle und hob den Zeigefinger zum Mund. “Pssst!”

Leise trat Merle in das bäuerliche Schlafzimmer ein und nickte der Hebamme lächelnd zu. Das Bild von Isfried und Jorgast, wie sie so friedlich aneinander gekuschelt schliefen, berührte ihr Herz. Es hatte wirklich auf Messers Schneide gestanden, aber jetzt war alles gut. Sie zeigte auf Gudekars Ausrüstungstasche und gestikulierte Perainhulda, dass sie diese nur schnell holen wollte.

Perainhulda schaute etwas verwundert. Leise flüsterte sie: “Kann das nicht noch warten, bis sie ein wenig geschlafen haben, junge Dame? Oder hat es der gelehrte Herr so eilig?”

Merle runzelte leicht die Stirn. Gudekar hatte gesagt, dass sie die Tasche jetzt sofort holen musste, aber sie durfte Perainhulda auch nicht verraten, was los war. So zuckte sie nur indifferent mit den Achseln. "Es ist besser, wenn Gudekar sein Zeug schon mal zusammen hat", flüsterte sie zurück. "Er hat die Tasche heute schon mindestens zweimal irgendwo stehen lassen." Zufrieden mit sich, weil das noch nicht einmal eine Lüge war, schlich sie auf Zehenspitzen zu Gudekars Medizintasche, um diese rasch zu schnappen und der Familie wieder die wohlverdiente Ruhe zu gönnen.

Merle versuchte, Gudekars Umhängetasche zu greifen, in der er alles aufbewahrte, was er brauchte. Doch der Riemen hatte sich unter dem Schemel verfangen, auf den Gudekar sie gelegt hatte, und dieser fiel polternd um. Jorgast öffnete verschlafen die Augen. “Was ist denn passiert?” fragte er im Halbschlaf. Als er Merle erblickte, war er jedoch hellwach und schreckte hoch. “Junge Dame! Was ist denn los?”

Perainhulda blickte jedoch ärgerlich.

Merle unterdrückte bei dem Gepolter ein Fluchen und lief augenblicklich rot an. "Es ist nichts. Gudekar wollte nur seine Sachen haben. Ich bin so ungeschickt!" flüsterte sie verlegen und presste die große Tasche an ihren Oberkörper; ihr Blick flackerte nervös zwischen Perainhulda und Jorgast hin und her. Vorsichtig bewegte sie sich wieder in Richtung der Tür. "Es tut mir leid! Bitte lasst euch nicht mehr stören!"

Perainhulda nickte Merle kurz zu, da die beiden Kinder sich von dem Geräusch nicht stören ließen.

Jorgast lächelte sie an. “Sagt Eurem Gatten bitte, wie dankbar ich ihm und der anderen Heilerin bin, dass sie Isfried gerettet und mir zwei wundervolle Kinder geschenkt haben! Ich bete zu Peraine und Tsa für ihr Wohl!”

"Ja, ich werde es Gudekar ausrichten." Merle streichelte Jorgast sanft über den Oberarm und neigte lächelnd den Kopf. "Ich bin so froh, dass alles gut ausgegangen ist. Die Götter seien mit dir und deiner Familie." Sie merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, als sie daran dachte, wie sehr sie Lützeltal und die Menschen hier vermissen würde. Es war schwer, ohne ein Wort des Abschieds zu gehen. Ob sie sich zumindest von Ciala verabschieden konnte? Oder von Mika und Madalin? Und war nicht im Grunde Gudekars ganze Familie in Gefahr? Sie musste ihn fragen, ob sie nicht wenigstens ein paar Leuten Bescheid geben konnten. Bevor Perainhulda und Jorgast sahen, dass sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen, eilte sie mit einem entschuldigenden Kopfnicken zurück zur Tür.

“Danke!” hörte Merle noch hinter sich Jorgasts Stimme, als sie den Raum verließ.

Auf dem Flur bemerkte Merle gerade noch, wie sich die Haustür zum Hof hin leise schloss.

~ * ~

Gudekars endgültiger Treuebruch

Merle kehrte mit Gudekars Tasche zurück in die Stube, in der ihr Gatte auf sie wartete. Er saß in einem Sessel und hatte die Augen geschlossen. Seine Geliebte, die Ritterin Meta hatte den Raum inzwischen verlassen.

Merle schloss vorsichtig die Tür hinter sich, bevor sie ihren Mann leise ansprach: "Gudekar, hier sind deine Sachen." Wie zum Beweis hielt sie die Tasche hoch. "Was jetzt?"

Gudekar öffnete die Augen und lächelte sie an. “Vielen Dank, mein Schatz! Leg sie neben der Tür ab. Es tut mir aufrichtig leid, was dir von mir angetan wurde!”

Fragend musterte Merle ihren Mann, behielt die Tasche aber immer noch an sich gepresst, als wollte sie diese umarmen. "Schon gut. Ich weiß ja, dass Rahjas Ruf erbarmungslos sein kann. Und auch ich habe eine Menge Fehler gemacht in unserer Ehe", flüsterte sie sanft und liebevoll. "Heißt es nicht, dass man gestärkt daraus hervorgehen kann, wenn man gemeinsam schwere Zeiten bewältigt?” Sie schaute ihn vorsichtig lächelnd an; in ihren großen braunen Augen standen Hoffnung und tiefes Vertrauen. “Vielleicht ist das jetzt diese dunkle Zeit, die wir überstehen müssen, um am Ende unser Glück zu finden?” Merle ging ein paar zögerliche Schritte auf ihn zu und sah sich in dem Raum um, irritiert, dass Gudekar keine Anstalten machte, sich zu erheben. "Ähm, wollten wir nicht ganz schnell los?"

“Setz dich bitte ganz kurz, Merle!” Er deutete auf den zweiten Sessel neben ihm. Ohne abzuwarten, ob sie seiner Bitte folgte, sprach er weiter. “Ich habe dich hintergangen. Ich habe dich angelogen. Ich habe dich verletzt. Ich habe dich gedemütigt. Ich habe dich bloßgestellt. Ich bin in deinen Geist eingedrungen. Jeder einzelne Tat, die ich dir angetan habe, reicht, um mich zu verdammen, mich von deinen Eltern für immer in die Niederhöllen schicken zu lassen. Und dennoch liebst du mich und würdest alles tun, um bei mir zu bleiben. Ich verstehe dies nicht. Ich habe deine Liebe nicht verdient. Ich hoffe, du kannst mir später vergeben.” ‘Ich kann es nicht’, ergänzte er in Gedanken.

Verwirrt hörte sie seiner Ansprache zu. Hatte er nicht gesagt, dass sie sofort vor dem Frevler fliehen mussten? Und jetzt saß er hier wie ein Häufchen Elend und hielt lange Entschuldigungsreden? Sie stellte die Tasche auf einen Stuhl, setzte sich selbst aber nicht darauf, sondern ließ sich kniend auf den Fußboden neben seinen Sessel sinken, sodass sie ihren Kopf auf seinen Oberschenkel legen konnte. "Ach, mein Herz, es ist wirklich gut. Liebe kann man niemals 'verdienen'. Ich dachte, das weißt du, gelehrter Herr? Liebe ist einfach da, ohne eine Gegenleistung zu erwarten." Sie nahm Gudekars Hand, drückte sie sanft und lächelte ihn von unten her an, voll inniger Zuneigung. Dann hauchte sie einen zarten Kuss auf seinen Handrücken. "Ich weiß, dass du ein guter Mann bist, auch wenn du es selbst nicht zu glauben scheinst. Ich hätte dich auch geliebt, wenn du kein Adelsspross wärst. Kein gelehrter Magier, kein heldenhafter Ermittler auf geheimer Mission. Wenn du ein Waisenjunge gewesen wärst, ein einfacher Bauernbursche, ich hätte dich genauso geliebt, oder noch mehr. Und wenn wir in der kleinsten, ärmlichsten Hütte leben müssten, wenn wir völlig heimatlos wären - ich würde dich lieben. Nicht deinen Namen, deinen Titel, deinen Wohlstand, dein Wissen, deine Magie, sondern dich, mein Liebster, dich, um deiner selbst Willen. Ich will dich, Gudekar. Für immer, egal was geschieht. Nur dich, nur den jungen Mann, den ich seit so langer Zeit kenne, der mir vertrauter und lieber ist als irgendein Mensch auf Dere."

Gudekar lächelte sanft zurück. Er genoss ihre Zuneigung, ihre Zärtlichkeit und ihren Anblick. Er wusste, dass es vermutlich das letzte Mal war, dass er sie sehen konnte. Sanft streichelte er ihr Gesicht, ihre Wangen, fuhr mit den Fingern über ihre Lippen, ihre Nase, ihre Augen. Er dachte an all die vielen gemeinsamen, glücklichen Jahre zurück. Und er wusste, diese waren nun vorbei. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Er hatte sich für Meta entschieden. Und am Ende bedeutete dies eine Entscheidung gegen Merle, was er bis zuletzt nicht wahrhaben wollte, und was ihn zutiefst schmerzte. “Ich weiß, Merle, ich weiß.” Seine Stimme war leise und sanft, fast schon ein Flüstern. “Lass uns bitte noch einen Moment der Ruhe genießen. Schließe deine Augen!” Er strich mit der Hand über ihre Stirn und strich mit den Fingern ihre Augenlider zu. “Entspann dich. Alles wird gut!” Dann fing er an, ganz leise eine Melodie zu summen, die Merle nur entfernt wahrnahm. Und Merle schlief ein.

Je tiefer Merle einschlief, um so leerer und ausgelaugter fühlte sich der Magier. Und umso schlechter fühlte es sich in seinem Inneren an. Schließlich, als er sicher war, dass sie schlief, stand er vorsichtig auf, darauf bedacht, dass sie nicht auf den Boden sackte. Sachte hob er sie hoch, setzte sie in den Sessel, der noch warm von seinem eigenen Körper war. Er schob den zweiten Sessel davor und legte ihre Beine darauf ab. Dann nahm er seinen Mantel und deckte Merle damit zu, damit sie nicht auskühlte in dieser kalten Travianacht. Schließlich betrachtete er noch einmal seine friedlich schlafende Frau. Er ging zu ihr und gab ihr einen letzten Kuss auf die Stirn. “Es tut mir leid. Ich hoffe, du kannst mir eines Tages verzeihen. Bitte, gib auf Lulu acht. Sag ihr, es ist nicht ihretwegen. Es sind allein die Fehler ihres Vaters, die dazu geführt haben. Es sind allein meine Fehlentscheidungen gewesen.” Eine Träne tropfte auf Merles Wange. “Lebe Wohl, mein Sonnenstrahl!”

Gudekar drehte sich um, nahm seine Tasche und seinen Stab und ging hinaus. Im Hinausgehen griff er nach zwei grauen Wollumhängen, die Jorgast an einen Haken gehangen hatte. Einen warf er sich über, den zweiten legte er über den Arm.

~ * ~

Verhinderte Rückkehr ins Gasthaus

Wutentbrannt über die Unverfrorenheit dieses überheblichen Wichtigtuers hatte Arda die Stube der jungen Mutter verlassen und ihren Waffengurt aufgesammelt, den sie vor der Entbindung im Flur des Bauernhauses abgelegt hatte. Nun stand sie in der Mitte des Hofes. Vor ihr sah sie das Pferd an einen Zaun gebunden, auf dem die Geweihten und Rittersleut die Leiche des toten Bäckergesellen Brun hierher transportiert hatten. Es war dunkel geworden. Doch das Madamal, nicht mehr ganz in seiner vollen Pracht, tauchte das vor ihr liegende Tal in ein unwirkliches Licht. Nebelschwaden zogen vom Bach hinüber, den die Baroness linkerhand von sich plätschern hörte. Würde sie dem Bach entgegen seiner Fließrichtung folgen, würde sie schon nach etwa einer Meile die Brücke über den Bach erreichen, die sie ins Dorf und damit zu ihrem Quartier im Gasthaus “Zur Weißen Quelle” führte. Die kühle Abendluft in dieser Travianacht erfrischte die Seele.

Noch immer hatte Arda das Gefühl, nicht sauber zu sein. Anbetrachts der besudelten Kleidung war dies ein unbestrittener Fakt, und sie sah schon viele Tränen und Verzweiflungsausbrüche ihrer Zofe auf sich zukommen, in deren Obhut sie das besudelte Miederwams und die Bluse geben würde. Doch die Verunreinigung, welche die Baroness plagte, war auch immaterieller Natur. Sie ärgerte sich, dass der Magier derart versucht hatte, ihr die Butter vom Brot zu nehmen. Natürlich war er nützlich gewesen mit seiner Magie, doch auf seine Versuche, das Kommando im Zimmer an sich zu reißen, seine Kommentare zu ihrem chirurgischen Eingriff, von welchem er ganz offensichtlich nicht den blassesten Schimmer gehabt hatte - darauf hätte sie gut und gerne verzichten können. Es warf einen Makel auf die Erlebnisse der letzten Stunde, und diesen Makel wünschte sie sich irgendwie abzuwaschen.

Ein tulamidisches Gedicht kam ihr in den Sinn - “Ich wusch meine Seele im Flusse des…” sie überlegte, “...hm. Flusses.” , übersetzte sie im Geiste frei. Nun, dies war nur ein Bach, aber es sollte für ihre Zwecke reichen. Sie lief einige Schritte weg vom Bauernhaus, bevor sie den Weg verließ. Am Ufer des dahin plätschernden Gewässers sah sie sich um nach einer Stelle, die einen Zugang zum Wasser gewährte.  

Die Streuobstwiesen rund um den Borkmundhof reichten fast bis zum Ufer des rauschenden Baches. Doch war die Böschung meist entweder steinig oder mit dornigem Gestrüpp zugewachsen. Doch einige Dutzend Schritt bachaufwärts kam Arda an eine Stelle, die flacher in den Bach verlief. Hier waren die Steine zur Seite geräumt und der Zugang mit grasbewachsener Erde aufgeschüttet. Scheinbar wurde hier irgendwann eine Badestelle hergerichtet. Einladend funkelte das Wasser im sich spiegelnden Licht der Mada. Hatte Arda nicht irgendwo das Gerücht aufgeschnappt, dass das Wasser der Lützelquelle im Schein des vollen Madamals heilende Kräfte habe? Nun, Vollmond war in der Nacht zuvor. Doch einladend sah das Wasser dennoch aus.

Die Baroness zögerte nur kurz. Dann näherte sie sich der Badestelle, ging am Ufer in die Hocke und hielt ihre Hand ins Wasser. Wie zur Bestätigung nickte sie, dann begann sie sich auszukleiden. Das Miederwams, die Bluse und die Hose landeten achtlos im Gras - sie würden, realistisch betrachtet, ohnehin höchstens noch als Putzlumpen Verwendung finden. Das Waffengehänge hängte sie an den Ast eines nahen Baumes, die Stiefel lehnte sie neben ihrer Heilertasche an den Stamm.

Zügig, um sich nicht vom frischen Wasser ins Bockshorn jagen zu lassen, stieg sie in den Bach. Als sie ihren gepflegten Körper ins kühle Nass tauchte, gab sie einen wohligen Seufzer von sich.

Das Wasser war wirklich sehr erfrischend, gerade, weil es doch schon sehr kühl war. Doch es war nicht so kalt, dass einem der Atem wegblieb, zumindest fühlte es sich erstaunlicherweise nicht so an. Nach den Anstrengungen des Tages war es sehr belebend, in das Wasser einzutauchen. Nach dem ersten Untertauchen wusch sie sich den Dreck und Schweiß des langen Tages ab, den Staub des Waldes, das Blut und den Schmutz der Geburt. Auch der Ärger über die kleine, vorlaute Firunnovizin und ihren unverschämten Bruder, diesen überheblichen Anconiter, schien für den Moment von ihr abzufallen. So genoss sie einen Augenblick das kühle Nass auf ihrer Haut.

Dann nahm sie etwas bachaufwärts in Richtung zur Brücke eine Bewegung wahr. Irgendetwas schien da im Wasser zu schwimmen.

Arda hielt kurz inne, dann tauchte sie so ab, dass nur noch der Kopf oberhalb des Kinnes über dem Wasser herausragte. Sie bewegte sich halb schwimmend, halb auf dem Bachgrund laufend, flussaufwärts zu der Stelle, an welcher die Ufer näher beieinander lagen. So täte sie sich leichter, das Etwas - oder das Wesen? - näher zu betrachten, wenn es hier vorbei trieb oder schwamm. Wer weiß, bei den merkwürdigen Dingen, die hier geschahen, mochte auch hinter dieser schwimmenden… Sache eine interessante Geschichte stecken.

Sicherheitshalber brachte sie sich nahe ihrer Uferseite in den Schatten eines größeren Steins in Stellung. Dann galt es abzuwarten.

Als sich Arda dem Objekt näherte, wurde klar, dass dieses Etwas zwischen zwei größeren Steinen im Wasser eingeklemmt war und nun von der Strömung hin und her gespült wurde. Im fahlen Licht des Madamals erkannte Arda, dass dies wohl ein gefüllter, weißer  Leinensack war, solch einer, wie auch zur Lagerung und Transport von Mehl verwendet wurde.

Die Baroness näherte sich dem Leinensack und betastete den Stoff, um herauszufinden, ob sich etwas in dem Sack befand.

Arda erschrak, denn es fühlte sich an, als könnte in dem Sack ein menschlicher Körper verpackt sein.

Hektisch machte sie sich daran, den Leinensack zu öffnen.

Ardas Vermutung bestätigte sich sehr schnell, als ihr das bleiche Gesicht eines toten, jungen Mannes entgegenschaute.

Die Baroness fluchte, dass selbst ein Flussschiffer rote Ohren bekommen hätte.

Dann zog sie den Leichnam aus dem Sack und kehrte mit diesem im Schlepptau zum Badeplatz zurück. Dort war es mit viel Anstrengung möglich, den Leichnam ans Ufer zu ziehen. Was tun? Dass jede Hilfe für den jungen Mann zu spät kam, dafür brauchte Arda ihre Anatomiekenntnisse nicht. Sie konnte das Gesicht nicht zuordnen, schon gar nicht jetzt, aufgedunsen im Mondlicht. Erneut fluchte sie.

Noch deutlicher wurde es, dass jede Hilfe zu spät kam, als die Baroness beim Herausziehen der Leiche die tiefe Stichwunde in seinem Rücken entdeckte.

Tod durch Ertrinken oder Selbstmord scheiden also als Todesursache aus, war die zynische Schlussfolgerung der Baroness. Komisch nur, dass ihr überhaupt nicht zu Ohren gekommen war, dass im Dorf jemand vermisst wurde - oder hatte sie es überhört? Kam der Tote gar nicht aus dem Dorf? Oder doch, dämmerte es ihr: Es war doch etwas von vermissten Pferden oder vermissten Knechten, oder von beidem, die Rede gewesen… Im Rahmen der Brautentführung… Doch sie hatte den Neuigkeiten in Zusammenhang mit diesem bäuerlichen Brauch keine Aufmerksamkeit geschenkt.

Welch merkwürdige Methode nur, einen Toten in einem Mehlsack… Arda erschlafften die Gesichtszüge, kaum hatte sie diesen Gedanken geformt. Dann wurde ihr Gesicht zu einer Maske der Wut und Angst.

Sie nahm hastig ihre Kleidungsstücke, die verstreut am Ufer lagen, und ging mit ihnen nochmal kurz ins Wasser, um sie ordentlich zu durchfeuchten. Dann zog sie sich die triefnasse Hose und Hemd an, während sie die Miederweste und die noch trockenen Stiefel liegen ließ. Auch ihre Medicus-Tasche verblieb an Ort und Stelle. Dann warf sie sich ihren Waffengurt über die Schulter und lief barfüßig zum Bauernhaus zurück. Auf dem Weg besann sie sich eines Besseren und zog ihre Waffe. Mit dem blanken elfischen Jagdrapier in der Hand, und gehetztem Gesichtsausdruck lief sie weiter.

Problemlos erreichte Arda, deren Augen sich bereits an das Madalicht gewöhnt hatte, schließlich den Bauernhof der Borkmunds.

~ * ~

Bereit zum Aufbruch

Meta Croy hatte vor dem Bauernhaus der Borkmunds den Leichnam des Bäckergesellen Brun vom Rücken des Pferdes gehoben und anschließend etwas abseits auf ihren Geliebten, den Anconiter Gudekar von Weissenquell gewartet. Es vergingen einige kostbare Minuten, bis er schließlich im Licht der Eingangstür des Hauses erschien und nach ihr Ausschau hielt.

Aufgeregt hatte sie mit gespannten Sinnen gewacht. Ja, da war er. Mit Tasche. „Sssh! Soy aca. Ven, aber leise. Vielleicht finden wir noch ein zweites Pferd.“ Ihr schwirrten die Gedanken im Kopf, Gudekar sah furchtbar aus. Seelisch, das wurde ihr bewusst. Aber er war bei ihr.

Als Gudekar Meta entdeckte, lief er schnell zu ihr. „Meta, gut, dich zu sehen!“ Er schlang seine Arme um sie, ohne sein Gepäck loszulassen und drückte sie kurz, aber herzig. „Schnell, wir müssen los ins Dorf. Viel Zeit bleibt uns nicht. Aber du kannst schnell deine Klamotten einsammeln, ich habe noch kurz etwas zu erledigen. Dann holen wir unsere Pferde aus dem Stall.“

Meta nickte stumm, erwiderte seine Umarmung mit schnell pochendem Herzen und küsste ihn kurz auf die Stirn. „Ich weiß, es muss furchtbar für dich sein. Versprich mir, später in Ruhe mehr zu erzählen. Ich hatte so Angst, dass du bei ihr bleiben würdest.“ Er schüttelte stumm den Kopf. Sie wischte sich durch das Haar und sah sich um. „Los, zum Dorf. Ich hab eh nicht viel bei mir. Sag, du willst Lulu holen, oder?“

Gudekar wirkte entsetzt. “Nein, natürlich nicht! Das Kind gehört zu seiner Mutter. Das kann ich weder Merle noch Lulu antun. Sie hat es besser bei Merle.” Er seufzte. Er würde sie vermissen.

Gudekar wollte gerade das Pferd besteigen (oder wie sagt man hier?), als ihnen eine Person den Weg zum Dorf entgegeneilte. Es war die Baroness Ardare von Kaldenberg, die von ihrem Bad im Lützelbach zurückkehrte.

Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie war barfuß und ihre Waffe blank gezogen.

Zunächst nahm sie vor der Anbindestange vor dem Bauernhaus ein Bündel ähnlich jenem, das sie aus dem Bach gefischt hatte, wahr. Dann sah sie eine Bewegung am Wegesrand, wo sie die Silhouette eines Pferdes wahrnahm, neben dem zwei menschliche Gestalten standen.

Arda hatte genug. Aus Leibeskräften schrie sie: "Hey!" Die helle Stimme gellte über den Hof und die angrenzenden Obstwiesen.

Überrascht schaute Gudekar zu der Gestalt, die plötzlich auf sie zukam, die er jedoch nicht erkannte. Abwehrend hielt er seinen Magierstab in ihre Richtung.

„Aber du kannst Lulu doch nicht zu lange hier lassen. Sie gehört zu dir…, He, psst, was ist denn da los?“ Sie lockerte den Griff ihres Schwertes und stellte sich mit dem Pferd so vor Gudekar, dass man ihn kaum sehen konnte.

Sie stürmte auf die Gestalten zu, ihre Waffe in einer fließenden Bewegung zum Hieb aufziehend. Dann schrie sie noch etwas seltsames: "Onkel Gerding!" - weniger laut als bei ihrem ersten Ruf, aber doch gut hörbar.

Sofort wich Gudekar ein paar Schritt zurück, hob die Hände, eine davon inklusive des Stabes. “Haltet ein, wir sind friedfertig.”

„Baroness, wir sind es. Von uns droht keine Gefahr.“ Arda mochte zwar sehr eigen sein, aber Meta hatte sie bisher als vernünftige Frau eingeschätzt.

Als sie herankam, erkannte sie mit ihren an die Dunkelheit gewöhnten Augen Gudekar und Meta - sie wirkten wie ertappt. Ihr Ansturm kam etwa zwei, drei Schritte vor den beiden abrupt zum Halt. Doch sie lauerte gleich einer Katze, die baren Füße scharrten über den Dreck des Hofes, als sie sich seitlich bewegte, bis Gudekar, Meta und sie in einer Linie zueinander standen (und sich die beiden in einem potenziellen Waffengang gegenseitig behinderten). Ihre schlanke Waffe war noch immer aufgezogen, ruhte mit der stumpfen Klingenseite auf ihrer Schulter, die grässlich scharfe Schneide lauernd auf die Gegner gerichtet. Anscheinend verstand die Baroness auch etwas von Kampftaktik, und auch die Art und Weise, wie sie die Waffe führte, ließ auf Könnerschaft schließen.

“Baroness, Euer Wohlgeboren!” rief Gudekar. “Was ist Euch geschehen? Warum lauft Ihr barfuß?”

"Erklärt Euch!" zischte sie, die Frage ignorierend. Mit der freien Hand deutete sie auf das menschengroße Bündel im Hof. Dann schlussfolgerte sie tonlos, mit bodenlosem Entsetzen im Blick: "Ihr habt sie umgebracht!"

“Was?” fragte Gudekar und schaute zu dem toten Mann. “Achso, nein, natürlich nicht. Das war Brun, der Sohn des Bäckers. Er wurde von Pruch getötet.”

Meta steckte das Schwert zurück und zeigte ihre waffenlosen Hände. „Baroness, bei Rondra, das ist die Wahrheit. Das ist der arme Brun, den wir durch die Geburt aufgehalten leider nicht mehr seiner Familie übergeben konnten. Kalman hat die Geweihten Rahjel, Imelda sowie mich, Jartgar und Alana beauftragt, den Familien den Tod ihrer Verwandten zu sagen und Trost zu spenden. Es gibt keinen Grund, uns gegenüber feindselig zu sein. Mutter und Kindern geht es übrigens gut.“ Sie verstand nicht, warum die eigentlich gebildete Frau, die sie kannte, so verrückt war. Dicht stand sie neben Gudekar. Er spürte, dass sie entschlossen, verzweifelt und verwirrt war. „Ich bleibe bei dir“, flüsterte sie ihm zu.

“Warum schleicht Ihr hier herum wie Diebe?” herrschte Arda die beiden an. Sie machte keine Anstalten, ihre angespannte, kampfbereite Position zu verändern. An Meta gewandt, fuhr sie nicht minder barsch vor: “Öffnet das Bündel, zeigt mir diese Leiche!”

Dann wandte sie sich an Gudekar: “Wo ist Eure Frau?” Ehe Gudekar antworten konnte, ergänzte sie: “Und wenn Ihr Dummheiten macht, Magier, schneide ich Euch in Streifen!”

„Beruhigt Euch, bei den Göttern. Merle ist im Haus. Wir sind auf dem Weg zu meinem Gemach. Ihr kennt mich vielleicht noch vom Sehen. Und ich habe Kalman Diskretion versprochen. Wir sind ein Paar, aber wir wollen das nicht in aller Öffentlichkeit zur Schau stellen.“

Gudekar band seinen Stab am Sattel des Pferdes fest, um Arda zu zeigen, dass er nicht vorhatte, gegen sie einen Zauber zu wirken. Dann ging er vorsichtig zu Bruns Leichnam zurück und schlug die Decke weg. “Seht Ihr, Baroness, es ist Brun.” Gudekar schlug die Decke wieder über sein Gesicht. “Merle fühlte sich nicht gut, sie hat sich etwas hingelegt. Sie liegt in der Wohnstube. Ihr würdet mir einen großen Gefallen tun, wenn Ihr nach ihr sehen würdet und Euch um sie kümmert, wenn sie wieder aufwacht.”

Die Baroness richtete die Spitze ihrer Waffe auf Gudekar, dem sie in gebührendem Abstand gefolgt war, um sich von der Identität des Toten zu überzeugen. Doch ihre Paranoia war noch nicht besänftigt. In etwas weniger angespannter Haltung und minder barschem Ton, doch ohne Widerspruch zu dulden, forderte sie den Anconiter auf:  “Bringt mich zu ihr. Jetzt.” Die Geliebte des Magiers, die nach allem, was sie wusste, wohl eine Ritterin war, versuchte sie im Blickfeld zu behalten.

Gudekar schüttelte den Kopf. “Nein Baroness, das kann ich nicht. Ich habe einen schlimmen Fehler gemacht, den ich zutiefst bereue. Aber seid beruhigt, Merle geht es gut.” Er machte eine kurze Pause. “Es tut mir leid, was heute Abend geschehen ist, auch, was ich zu Euch gesagt habe. Es war wohl einfach die Aufregung nach all dem, was heute geschehen ist. Ihr wisst es noch nicht, Der Pruch hat das Dorf überfallen und meine Schwester entführt. Es gab mehr als nur einen Toten. Man beschuldigt Doratrava, mit dem Paktierer im Bunde zu stehen, obwohl dies nicht wahr ist. Ich muss ihr helfen. Bitte, lasst uns gehen!”

Als er die Worte gesprochen hatte, waren Schritte zu hören, die sich vom Bauernhaus näherten.

Meta drängte sich zwischen Arda und Gudekar. „Bei allem Respekt, Baroness. Ich bin Ritterin und seine Beschützerin. Mein Wort ist nicht das eines Bauern. Besinnt Euch. Ihr habt mir in dieser Sache keine Befehle zu erteilen. Wir werden gehen.“

“Bringt. Mich. Zu. Merle”, knurrte die Baroness mit einem gefährlichen Unterton. Die Spitze ihrer Waffe war nun auf die Brust der Ritterin gerichtet. In ihrem Gesicht war völlige Entschlossenheit geschrieben, und Gudekars Worte von einem Fehler und dem vermeintlichen Unvermögen, sie zu Merle zu bringen, hatten sie nur bestätigt. Wenn diese beiden hier nichts im Schilde führten, würde sie einen Besen fressen.

Meta nahm Gudekar bei der Hand und wandte sich zum Gehen. „Baroness, wärt Ihr eine würdige Gegnerin, hätte ich Euch gefordert. Doch das ziemt sich nicht für eine Ritterin. Und auch Ihr müsst die Göttin Rondra respektieren. Es ist ungeheuerlich, wie weit Ihr bei Eurem Stand sinken könnt und eine Ritterin einfach festsetzen zu wollen und es wagt, die Waffe zu ziehen. Nehmt etwas Arznei, damit kennt Ihr Euch besser aus. Komm, Gudekar, wir gehen.“

~ * ~

Ein Ruf aus dem Freien

In der Küche des Bauernhauses stand ein Fenster offen, um für etwas frische Luft zu sorgen. Rahjel, Alana und Jartgar saßen noch am Tisch, aßen vom Braten und den Fleischspießen und tranken etwas Most, während sie auf die beiden erstgeborenen Kinder der Borkmunds, Tsasal und Hageian, aufpassten. Rionn ging immer noch nervös auf und ab. Plötzlich hörten sie einen Ruf von draußen. “Hey!” und kurze Zeit später etwas leiser “Onkel Gerding!”.

“Was war das?”, fragte Tsasal neugierig.

“Oh”, sagte der Tsageweihte aufgeschreckt. Er war zusammengezuckt, als er die Rufe gehört hatte. “Sie haben vielleicht Eoin gefunden.” Schnell stürmte er zur Tür, die von der Küche nach draußen führte, um dort nachzusehen.

Die Ritterin Alana war schneller als die anderen beiden und war gleich hinter Rionn.

Rionn und Alana verließen die Küche und eilten um das Haus in die Richtung, aus der sie Stimmen vernahmen. Dort fand ein hitziger Disput statt. Als sie näher kamen, sahen sie die Baroness Ardare, die mit blank gezogenem Rapier(?) auf die Brust der Ritterin Meta deutete, die ihr Schwert selbst in der Scheide stecken hatte. Hinter der Ritterin stand Gudekar mit beschwichtigend erhobenen Händen.

Als Gudekar die Ankömmlinge erblickte, rief er laut: “Baroness, warum lauert Ihr uns hier in der Dunkelheit auf und bedroht uns unbegründet mit Eurer Waffe? Tragt Ihr mir meine scharfe Zunge derart nach, dass Ihr mich hier ruchlos ermorden wollt?”

Der Tsageweihte fühlte sich bei dem Anblick direkt an die Szene in Isfrieds Schlafraum erinnert, nach dem das zweite Kind zur Welt geholt wurde und Ardare dem Anconiter für seine frechen Worte eins mitgegeben hatte. Doch statt eine vermeintliche weitere Eskalation dieses Streits schlichten zu wollen, war Rionn ganz in seinen Sorgen um den Novizen verstrickt und rief die drei nur an: “Habt ihr ihn gefunden?”

Ardas Augen leuchteten kurz triumphierend auf, als Gudekar sich derart demaskierte. Sie war auf dem richtigen Weg, das wusste sie.

“Ich habe gerade eine Leiche aus dem Bach gezogen”, verkündete sie, an die Neuankömmlinge gerichtet. “Und der Herr von Weißenquell hier” - sie spie den Namen aus - “hat gerade zugegeben, dass er seiner Frau etwas angetan hat. Ich habe die beiden hier aufgehalten, als sie sich davonschleichen wollten wie Diebe!”

Meta griff immer noch nicht zur Waffe. Sie sprach ruhig und sehr deutlich. „Baroness, Ihr werdet Euch nun mäßigen, Ihr kennt nur einen Bruchteil dessen, was heute vor sich ging. Und Ihr werdet nicht länger mit Eurer Waffe auf eine Ritterin zielen, sondern uns gehen lassen.“ Sie blickte zu Gudekar. „Was auch immer Eure persönlichen Probleme sein sollten, Gudekar hat heute seine Schwester an den Paktierer verloren, gegen den er schon lange kämpft. Wie ich gerade höre, hattet Ihr anscheinend auch eine Aufgabe, die Euch ein Geweihter erteilt hat? Habt Ihr gar keinen Anstand?“ Den auf sich gerichteten Degen ignorierend drehte sie sich mit Gudekar an der Hand um und wandte sich zum Gehen.

“Ihr habt Eoinbaiste gefunden, Baroness? Wo? Zeigt uns die Stelle!” rief Gudekar erschrocken aus, als ihm bewusst wurde, was Arda gerade gesagt hatte. Ohne darauf zu achten, was Meta genau machte, ließ er sich von ihr mitziehen.

Rionns Augen weiteten sich erschrocken. Was sagten Ardare und Gudekar da?

Die Baroness sah sich kurz unter den Anwesenden um.

Auf diesen kurzen Moment der Unachtsamkeit hatte Gudekar gewartet und sprintete los in Richtung Pferd, Meta mit sich ziehend. Er wollte sich in den Sattel schwingen.

Arda nahm die Bewegung des Magiers jedoch frühzeitig wahr und versuchte ihm nachzusetzen.

Doch war sie überrascht, als er plötzlich innehielt, sich umdrehte, seine Ritterin losließ und direkt auf Arda zuging.

Die überraschte Baroness musste ihre Klinge senken, damit sich ihr Gegenüber nicht daran aufspießte.

Wütend schaute er sie an, nicht angriffslustig, aber zutiefst wütend, denn eine Vermutung hatte in ihm Fuß gefasst, die ihn zutiefst traf, ihn verzweifeln ließ, ihm Angst machte und ihn wütend werden ließ. Der Blick, den er auf Ardare warf, zeugte von einem tiefen Hass. Sie sah in seinen Augen, dass er in jenem Moment bereit war, sein eigenes Leben zu geben, um… ja, um was eigentlich? Es sah aus wie Rache, die er nehmen wollte. Mit einem scharfen Ton in der Stimme, die nichts mehr mit seiner arroganten Spitzzüngigkeit zu tun hatte, mit der er vorhin zu Arda geredet hatte, sprach er sie an. Hier war ein Mann, der plötzlich eine Erkenntnis gewonnen hatte und für seine Überzeugung bereit war, zum Äußersten zu gehen. “Ihr, Baroness! Wer seid Ihr wirklich? Wer sagt uns, dass nicht IHR der Pruch seid oder mit ihm im Bunde steht? Was treibt Ihr hier allein in der Gegend? Warum habt Ihr mich vorhin wirklich angegriffen? Um Eure Flucht aus dem Haus zu vertuschen? Hattet Ihr Sorge, nach der Geburt würde ich Euch vielleicht erkennen, wo ich seit zwei Götterläufen nach Euch suche? Seid Ihr es, die den Herrn Lares in den Wahnsinn getrieben hat, nachdem Ihr mit ihm hier geredet habt? Seid Ihr vorhin gegangen, alleine, ohne irgendjemandem zu sagen, wo Ihr hin seid, um Rionns Novizen abzufangen und zu töten? Habt IHR ihn in den Bach geworfen?” Tränen der Verzweiflung sammelten sich in seinen Augen und ließen ihn nur noch verschwommen sehen.

Ardare wollte ihm schon eine wütende Replik auf diese ganzen Vorwürfe entgegenschleudern, doch besann sich eines besseren. Sie bändigte ihre eigene Wut, denn sie erkannte, dass er nicht in der Lage gewesen wäre, sich zu wehren oder auch nur zu reagieren, wenn sie ihn jetzt körperlich angreifen würde. Er wäre ein leichtes Opfer gewesen. Ein gezielter Stich in sein Herz hätte gereicht.

“Habt IHR meine Schwester verraten, entführt oder… oder? Beschuldigt Ihr mich jetzt, um von Euren Taten abzulenken und mich loszuwerden, weil ich Euch seit zwei Jahren jage? Wie sonst könntet Ihr annehmen, ich könnte Merle oder sonst irgendjemandem, der mir etwas bedeutet, etwas antun. WAS HABT IHR MIT GWENN GEMACHT? Wo ist meine Schwester? Sagt es! Offenbart Euch! Und dann bringt Euer Werk zu Ende. Tötet mich, schaltet mich aus. Aber lasst meine Familie in Ruhe! Lasst Merle in Ruhe! Lasst Lulu in Ruhe! Lasst Meta in Ruhe! Gebt Gwenn frei! Sie werden Euch nichts tun. Nehmt mich!” Er sank vor der Baroness auf die Knie.

"Ihr seid nichts als ein weinerlicher, ichbezogener Wichtigtuer." Arda war nun ruhig, aber ihre Stimme troff vor Verachtung. "Ich habe mich dem Pruch bereits entgegengestellt, da hatte der Rest von Euch glorreichen Ermittlern noch nicht einmal die leiseste Ahnung von dieser Bedrohung. WAS habt Ihr gejagt, in den letzten zwei Jahren? Offensichtlich nur Schürzen!" Das Jagdrapier wies lapidar in Metas Richtung.

Gudekar senkte beschämt den Kopf.

"Der Herr von Mersingen ist seit längerem im Geiste zerrüttet, fragt seine Schwester. Ich habe versucht ihm zu helfen, so wie ich auch ohne zu zögern dieser Bauernfrau geholfen habe, als IHR nicht zur Stelle wart!"

Gudekar schnappte nach Luft, um sich zu rechtfertigen, besann sich jedoch eines Besseren.

Arda wandte sich kurz an Rionn: "Der Tote aus dem Bach ist nicht Euer Novize. Ich glaube es ist ein Stallbursche vom Gut." Sie atmete kurz durch. "Er ist in einem Mehlsack eingewickelt…", ergänzte sie bedeutungsschwer. "Etwa eine Viertelmeile von hier, am Badeplatz." Sie deutete mit dem Daumen der freien Hand hinter sich in die Richtung, aus der sie gekommen war.

Ein wenig atmete der Tsageweihte auf, als Ardare ihm diese Information schenkte. Doch dann wurde er sich mehr und mehr bewusst, welch eine angespannte Situation hier war, in der sie sich befanden. Er stand so neben sich, dass er das nicht erkannt hatte. Wohl aber nahm er wahr, dass Gudekar zumindest zwischenzeitlich vollstens davon überzeugt gewesen war, in Ardare eine Helferin des Bäckerpruchs zu sehen. Nun versuchte Rionn sich zusammenzureißen, um zu erkennen, ob er handeln musste, um hier ein Blutvergießen zu verhindern. Doch es machte den Eindruck, dass es sich schon etwas entspannte, weil Ardare nachzugeben schien.

„Dann muss das Marno sein. Er sollte mit Bernhelm und Brun“, der Magier deutete auf den Toten neben ihnen, „die Brautentführung durchführen, doch Liana, Ihre Hochgeboren, hat gesehen, wie Pruch ihn erdolcht, in den Bach geschmissen und seine Gestalt angenommen hat. Der Wind hat es ihr geflüstert“, ergänzte er.

Das Gesagte ignorierend, wandte Arda sich wieder an Gudekar: "Ihr habt den Verdacht gegen Euch selbst geschaffen und geschürt, ich bin ja wahrhaftig nicht die Einzige, die Euch der Bündelei mit unheiligen Wesenheiten bezichtigt hat. Doch wenn ich Euch hier so sehe, glaube ich Euch Eure Unschuld. Ihr seid nur seine Mirhamionette. Pruch hat Euch Euren sittlichen Südweiser genommen, sofern Ihr je einen hattet." Wieder zuckte die Klingenspitze kurz in Metas Richtung.

"Nicht mal ER will Euch töten, offensichtlich. Er ergötzt sich wohl weidlich an dem Unfrieden, den Ihr hier stiftet. Vielleicht ist es besser, wenn Ihr und Eure Buhle Euch einfach davonschleicht!" Ardas Mundwinkel waren verächtlich nach unten gezogen. Sie steckte ihr Jagdrapier weg und machte eine verächtliche, entlassende Handbewegung in Gudekars Richtung.

Gudekar schaute verwundert auf. Seine Verwunderung war weniger dem Umstand geschuldet, dass Arda ihn nun doch gehen lassen wollte, als vielmehr, dass er sich wohl in ihr getäuscht hatte und sie scheinbar weder der Paktierer war noch zu dessen Schergen gehörte. Kurzzeitig war er fest davon überzeugt gewesen.

Ardas Blick streifte Meta, sie hob kurz das Kinn in einer unausgesprochenen Herausforderung.

Dann, dem verbotenen Liebespaar die Schulter weisend, sagte sie zu den Personen, die gerade aus dem Haus gestürmt waren: "Ich werde nach Merle sehen, dann führe ich Euch zu dem Toten am Bach!"

Die Almadanerin in ihr hätte sie am liebsten gefordert, doch selbst dazu war die Baroness zu unwürdig. Auch sie musterte die Frau noch einmal genau. „Zu Eurem Glück seid Ihr nicht satisfaktionsfähig. Geht, wenn Ihr mit Euren Reden, die Ihr wohl am liebsten selbst hört, fertig seid, zu Stricknadeln und Handarbeit zurück. Ich empfehle Euch, da Ihr sicher gerne lest, das Buch ‚Als wie der Noble sich zu benehmen habe.‘ von Dom Danilo.“ Sie ignorierte Ardare und wandte sich dem arg angeschlagenen Gudekar zu.

Arda lachte höhnisch auf: "Ratschläge zum Benimm? Von Euch? Die bei einem Traviafest mit dem Brautsbruder ehebricht, vor den Augen seiner Angetrauten? Auch bei Euch hat der Pruch wohl das Oberstübchen durcheinandergebracht!" Sie machte mit einem Zeigefinger eine Drehbewegung neben dem Ohr und legte dann die Hand auf ihre Waffe: "Wenn ich für die Herrin Rondra gut genug bin, sollte es für Euch gerade noch reichen. Nennt mich 'nicht satisfaktionsfähig', und ich nenne Euch einen Feigling! Ansonsten werde ich Euch gerne meine 'Strickkunst' vorführen."

Gudekar stand auf, nahm Metas Hand und sagte: ”Bitte, Meta, ignorier sie und lass uns gehen!” Dann ging er langsam zum Pferd. Dabei hielt er die ganze Zeit Ardas Reaktion im Blick. Als er und Meta im Sattel saßen, sprach er zu Arda: „Habt Dank, Baroness, ich stehe in Eurer Schuld! Vergebt mir meine Überheblichkeit. Ja, bitte schaut nach Merle. Es geht ihr soweit gut. Ich habe ihr Ruhe geschenkt, doch wird sie vermutlich bald erwachen. Und dann wird sie nicht… begeistert sein. Lebt wohl!” Mit den Zügeln gab er dem Pferd zu verstehen, loszureiten.

„Gudekar, es reicht“, flüsterte Meta ihm ins Ohr. „Erzähl es mir später, was nicht stimmt.“

Der Tsageweihte schaute dem Geschehen traurig zu. Gudekar schien sich jeglicher weiteren Klärung zu entziehen. Vielleicht war alles auch mittlerweile zu verfahren? Rionn hatte noch am Beginn dieses Tages seine Hoffnung darin gesetzt, alles irgendwie aufklären und geradebiegen zu wollen. Aber das schien nun in weite Ferne zu rücken. Er fühlte sich ohnmächtig. Und es fiel ihm schwer, das zu akzeptieren. “Lebe wohl, Gudekar”, rief Rionn dem Anconiter traurig, aber ehrlich gemeint hinterher, “die Götter mögen dich behüten. Ich würde mich freuen, dich wiederzusehen.”

Arda nahm das Waffengehänge von der Schulter und schickte sich an, zum Bauernhaus zu gehen, da sie nicht erwartete, dass Meta sich auf einen Waffengang einlassen würde. Nicht jetzt, da sie und der wirrköpfige Anconiter sich so eilig anstellten, Lützeltal nächtens zu verlassen.

Gudekar ließ das Pferd loslaufen, bevor Meta noch etwas sagen konnte, was ihr und ihm am Ende das Leben kosten konnte. Gemeinsam ritten sie den Weg zum Dorf zurück.

“Wo wollen denn die beiden hin?”, fragte Jartgar den Tsageweihten und blickte den Beiden hinterher. Alana wandte sich der Baroness zu: “Schön, Euch unter den Lebenden zu sehen, Wohlgeboren Kaldenberg.” Auch ihr Bruder, der Rahjageweihte Rahjel, war nun aufgeschlossen.

"Ich habe auch nichts dagegen, am Leben zu sein", antwortete Arda lakonisch. "Bei Gelegenheit sollten wir unsere Badbekanntschaft auffrischen. In letzter Zeit hatte ich kein Glück mit meinen Zubernachbarn…" Vor ihrem geistigen Auge erschien der Tote aus dem Mehlsack. Zur Verdeutlichung zupfte die Baroness an ihrer nassen Bluse.

“Mmmh”, seufzte Rionn als er Gudekar und Meta hinterher blickte. Dann wandte er sich an Jartgar, um ihm Antwort zu geben. “Gudekar glaubt, dem Pruch fliehen zu können. Dabei trägt er ihn beständig mit sich.”

“Ich sehe eher eine Ritterin auf Abwegen. Bringen wir die Baroness in Sicherheit”, sagte der Ritter und kehrte um.

~ * ~

Schlafende Amsel

Der Weißmagier und seine stolze Ritterin waren losgeritten. Zurück blieben die Baroness Ardare von Kaldenberg, die Ritterin Alana von Altenberg, ihr Bruder Rahjel und der Tsa-Geweihte Rionn, der seinen Novizen Eoinbaiste vermisste. Am Bachlauf etwas dorfeinwärts lag die Leiche eines jungen Mannes (Gudekar hatte vermutet, es sei der Stallbursche Marno) in einem Mehlsack. Vor dem Bauernhaus lag in eine Decke gehüllt die Leiche des toten Bäckergesellen Brun. Im Bauernhaus lag die schlafende Merle von Weissenquell, zugedeckt mit dem blutverschmierten Umhang ihres Mannes.

Als Arda die Stube betrat und Merle mit eben jenem Umhang im Sessel sitzen sah, stürzte sie auf die Frau zu. Sie glaubte in ihrem überspannten Zustand, dass das Blut von Merle selbst stammen könnte. Schon glaubte die Baroness einen Riesenfehler begangen zu haben, als sie Gudekar hatte gehen lassen. Hastig riss sie die Decke fort, betastete vorsichtig die Schlafende.

Erleichtert ob des Fehlens einer offensichtlichen Verletzung atmete sie auf. "Frau Merle!" sprach sie die Schlafende an. Für Borons Arme war später noch Zeit, erst galt es einige Dinge bezüglich des untreuen Ehemanns dieser Frau zu klären.

"Merle! Wacht auf!" immer energischer, aber nicht grob, versuchte die Baroness ihr Gegenüber zu erwecken. Vergebens.

Wieder beschlich sie eine jähe Reue, Gudekar seiner Wege ziehen gelassen zu haben. Schnell fühlte sie nach Lebenszeichen, spürte den Hauch der Atmung auf ihrem Handrücken, den schwachen, langsamen Puls unter ihren Fingerkuppen. Keine Frage, Gudekar hatte etwas mit ihr gemacht. Vermutlich hatte das etwas mit seinem verstohlenen Abgang zu tun…

Arda blickte sich um, ob jemand von den anderen ihr gefolgt war. Als sie niemanden sah, rief sie: "Hohe Dame? Euer Gnaden?"

Rionn war der Baroness gefolgt, weil er durch das Geschehen vor dem Haus noch beunruhigter war als zuvor. Auch er fragte sich, was wohl mit Merle sei. Doch Ardare war deutlich schneller als er bei Merle. Als er den Raum betrat, rief sie gerade weitere Leute herbei. “Ich komme, Arda”, bestätigte er eifrig. “Ist Merle etwas passiert?”

“Merle? Hier?”, sagte nun Rahjel besorgt, der im Schulterschluss mit Rionn war. Jartgar und Alana waren vor dem Haus geblieben.

“Sie ist nicht erweckbar”, antwortete die Baroness. “Gudekar hat angedeutet, etwas mit ihr gemacht zu haben.” Sie schüttelte den Kopf. “Mir gefällt das nicht.” Um Rionn zu demonstrieren, dass Merle tatsächlich nicht aus dem Schlaf zu reißen war, schüttelte sie die Frau nachdrücklich an der Schulter.

“Ohje!”, drückte auch Rionn seine Besorgnis aus. Er kniete sich neben Merle und untersuchte ihre Lebenszeichen. Na, wenigstens lebte sie. Er schaute, ob es Anzeichen von Gift oder andere Einflüsse gab. Rionn war unsicher, was mit ihr war. Ratlos schaute er Ardare an.

“Wir sollten vorsichtig sein. Nicht jeder Schlafende sollte so einfach geweckt werden, wir waren gerade erst …”, hier unterbrach sich der Geweihte. Das Ereignis mit Doratrava gehörte jetzt hier nicht hin.

Alle Anzeichen bei Merles Schlaf glichen denen, die Rionn und Ardare bereits bei der Bäuerin Isfried bemerkt hatten, als Gudekar auf sie seinen Schlafzauber gewirkt hatte.

"Wie bei der Bäuerin - Isfried, oder? Ihr wisst, was das bedeutet…?" Arda warf dem Tsapriester einen bedeutungsschwangeren Blick zu.

“Sie ist nur betäubt? Es ist ein Zauber?”, stellte Rionn die rhetorischen Fragen. Er kannte das von Magiern in Tobrien, die so den Menschen etwas Ruhe verschafften… Er kannte das aus Tobrien? Rionn schüttelte den Kopf. Er hatte überhaupt keine Erinnerung an Tobrien. Er vermutete nur, dass er da irgendwo her kam, weil er in seinen Erinnerungssplittern sah, wie Menschen von Ogern gefressen wurden - wahrscheinlich seine Eltern. Das könnte Ysilia gewesen sein, wie ihm verschiedentlich bestätigt wurde, so beispielsweise von Ciria Herlogan. Also ein Zauber… “Wie können wir die Wirkung des Zaubers aufheben?” Der Tsageweihte überlegte. “Ich habe ein Aufputschmittel, den Elfentrunk, in meiner Tasche. Das könnte so stark sein, dass es gegen den Zauber wirkt, oder? Eoin holt gerade die Tasche mit dem Elfentrunk… äh…” Der Tsageweihte holte tief Luft, als er merkte, was für einen Unsinn er gerade redete. Und irgendwie wusste er in seinem Innern, dass dieser Zauber gar nicht aufgehoben werden konnte. Woher? Das war nicht seine Magiekundekenntnis.

“Ich… weiß nicht, ob das so funktioniert”, entgegnete Arda höflich. “Aber es ist dieselbe Wirkung, die auch bei der Bäuerin auftrat. Und das war sicher ein Zauber.” Die Baroness legte nachdenklich den Zeigefinger auf ihre Lippen und fuhr dann fort: “Ich frage mich nur, ob Gudekar in guter Absicht handelte und Merle willentliche Empfängerin des Zaubers war. Ist hier irgendwas vorgefallen, bevor der Magier hier mit seiner Buh… Geliebten herausgeschlichen ist?”

Nun schaute Rahjel besorgt. “Ich hatte gehofft, dass mein Vetter vernünftig handeln würde… doch das hier.” Er schüttelte den Kopf. “Er hat uns belogen, Merle und mich. Dennoch spürte ich keinen Makel auf seiner Seele, als wir zusammen im göttlichen Gebet waren.” Sanft strich er eine Strähne aus Merles Gesicht. “Ich befürchte, dass meine Kräfte Rahjas zu erschöpft sind, zu oft habe ich die Göttin um Hilfe gebeten. Wenn es ein Zauber wäre, hätte ich ein Gebet, das die Fesseln einer Beherrschung löst.” Da drehte er sich zu Rionn. “Habt Ihr nicht so etwas Ähnliches in Eurem Kanon?"

“Mmmmh”, bestätigte der Tssgeweihte nachdenklich. “Du meinst, ich sollte die Göttin um Gewährung von Freiheit bitten? Das Wirken der Göttin kann Beherrschungszauber lösen. Da hast du recht. Aber Gudekar, der Heilmagier, hat einen Heilungszauber auf Merle gewirkt.” Diesmal war es seine Magiekundekenntnis, die ihm das verriet.

“Doch, benötigte Merle Heilung? Wenn es gegen ihren Willen war, ist es Zwang. Etwas, das die göttlichen Schwestern verachten. Ich würde es drauf ankommen lassen.” Aufmunternd legte er seine Hand auf Rionns Schulter.

“Gut, ich will es versuchen”, willigte Rionn ein und konzentrierte sich auf das Gebet. Er rieb seine Fingerspitzen mit einem Öl ein, das er aus seiner Tasche holte, ein Öl, das aus Kirschblüten gerieben worden war. Dann zeichnete er Merle die Eidechse auf die Stirn. Dann versank er in Meditation und begann darum zu beten, dass die Ewigjunge Merles Ketten lösen sowie Körper, Geist und Seele befreien möge.

Rahjel legte sein geweihtes Tuch der Rahja auf sie.

Die Baroness unterdrückte ein böses Lächeln, schwieg und setzte eine Unschuldsmiene auf. Sie ließ die beiden Priester ihre Schlussfolgerungen ziehen, die durchaus im Sinne der Baroness waren. Der Anconiter hatte sie, Arda, geärgert, und dafür wünschte sie ihm, leidenschaftlich und rachsüchtig wie sie war, gerade alles Pech an den Hals.

Während Rionn sein Gebet an die Göttin in tiefster Meditation sprach, spürten er und Rahjel schon bald eine Fessel, die auf Merles Geist lag. Doch diese Fessel löste sich schon nach wenigen Minuten auf, auch ohne das Wirken der Göttin. Da Merles Schlaf dadurch jedoch dennoch nicht endete, sie sich nicht einmal regte, sprach Rionn das Gebet weiter, bis die beiden Geweihten die Präsenz der Göttin spürten. Wärme umfloss sie und floss dann zu Merle. Sanft begann sich Merle zu regen, als sie schließlich aus dem magischen Schlaf in einen ruhigen Schlummer wechselte. Unter ihren geschlossenen Lidern begannen ihre Augen, sich hin und her zu bewegen, als sie zu träumen begann.

Merle räkelte sich wohlig auf dem Sessel. Es war ein anstrengender Arbeitstag im Kloster gewesen. Schwere Geburt. Zwillinge. 'Das hast du großartig gemacht', murmelte sie in Gudekars Ohr, zu dem sie sich gekuschelt hatte, nachdem sie ihm vorsichtig seinen Weinbecher gereicht hatte. Sie hob den Kopf und schaute ihrem Ehemann direkt in die so vertrauten grauen Augen. 'Dachte wirklich, sie schafft's nicht… Ich bewundere, wie du das durchgezogen hast.' Gudekar nippte an dem Wein und legte leise summend seinen Arm um sie, damit sie sich noch enger an ihn schmiegen konnte. 'Bist du auch so müde?' hauchte sie und kraulte sanft das Haar in seinem Nacken. Sie würde ihm mal wieder die Haare kürzen müssen, überlegte sie flüchtig. 'Die Morgenglocke wird bald läuten.' Tränen sammelten sich in Merles Augen und liefen ihr über die Wangen, sie wischte sie lächelnd weg. 'Es ist nichts… weiß auch nicht, was mit mir los ist… War einfach ein langer Tag, was?'

Arda, Rahjel und Rionn sahen, wie sich Merles Schlaf verändert hatte. Der magische Schlaf, in dem ihr Zustand durch den schwachen Puls und die flache Atmung viel lebloser wirkte, war einem unruhigen Schlaf gewichen. Ihre Atemzüge waren nun kräftiger, tiefer. Ihre Augen bewegten sich, den Traumbildern folgend, und sie bewegte sich auch hin und wieder. Sie drehte sich wohlig auf die Seite, um sich in Gudekars Umhang einzukuscheln.

“Ich glaube”, flüsterte Rionn, als er merkte, dass Merle aus dem Tiefschlaf des Heilzaubers in einen gewöhnlichen Schlaf überging, “der Bann ist von ihr abgefallen. Sie ist frei.” Dann schaute er prüfend Ardare und Rahjel an. “Sollen wir sie schlafen lassen?”

Rionn hatte seine Frage noch nicht zu Ende ausgesprochen, da rüttelte die Baroness bereits an Merles Schulter: "Wacht auf! Ihr müsst uns erzählen, was passiert ist!"

Das unsanfte Rütteln riss Merle aus ihrem Schlaf und ihren süßen Träumen. Dennoch fühlte sie sich erholt und die Erschöpfung des Tages war teilweise von ihr abgefallen.

Die junge Frau schreckte hoch, riss die Augen auf und blickte sich verwirrt um. Unwillkürlich schaute sie zu dem Stuhl, auf den sie eben doch die Tasche gestellt hatte, die jetzt nicht mehr da war, dann in die Gesichter der drei Leute, die um sie herumstanden. “Gudekar”, brachte sie mit belegter Stimme heraus und wischte sich fahrig die Haare aus dem Gesicht. “Wo ist er?”

“Er ist fort mit Meta. Rionn meinte, er würde vor dem Pruch fliehen wollen”, sagte Rahjel ruhig.

Merle schaute Rahjel mit zusammengekniffenen Augen an und versuchte zu verstehen, was der Geweihte gesagt hatte. Sie merkte, dass sie sich erfrischt und ausgeruht fühlte, offenbar hatte sie geschlafen… aber wie lange? Und warum hier, in der Stube der Borkmunds? Es stimmte, Gudekar hatte vor dem Pruch fliehen wollen, nach… Almada? Punin? “Er hat… gezaubert”, presste sie unvermittelt hervor. ”Plötzlich ist er in meinen Geist eingedrungen… damit ich ihm willfährig bin. Das… das… hat er noch nie gemacht.” Ihr wurde übel, sie würgte und schluckte die bittere Galle herunter, die ihr bei dem Gedanken unweigerlich hochkam. “Es war ein… Bannbaladin, glaube ich. Ja, ich weiß es; ich habe diese elfischen Worte gehört…”

Arda beschränkte ihre Reaktion darauf, in gespieltem Erschrecken die Augenbrauen hochzuziehen. Sie tastete nach der Hand der Frau und drückte sie sanft.

“Es war viel Magie heute. Ich bin für dich da, wir sind für dich da, Merle”, sagte Rahjel einfühlsam und zog den Tsageweihten dazu.

Da Rionn noch kurz zuvor zu Füßen von Merle meditiert hatte, um die Freiheit von der Fessel des Beherrschungszaubers zu erbitten, war er immer noch ganz in ihrer Nähe. Er hatte Merles Aufwachen beobachtet - welches unsanfter vonstatten ging, als er es sich gewünscht hatte. Beruhigend sprach er nun zu Merle: “Mach dir keine Sorgen, die lebenspendende Göttin hat dich befreit von dem Zauber. Es ist gut. Da ist kein Bann mehr auf dir.”

“Habt Dank”, murmelte Merle; sie hielt Ardas Hand fest und nickte den beiden Geweihten zu, doch war ihr Blick glasig und ihr Gesicht kreidebleich. “Die Leute haben mir schon immer gesagt, dass man einem Madaverfluchten nicht trauen darf, aber ich hab darüber nur gelacht”, murmelte sie zu sich selbst. “Er hätte mich schon tausendmal seinem Willen unterwerfen können, all die Jahre lang - aber ich hatte nie Angst vor ihm und seiner Magie, niemals, könnt ihr euch das vorstellen?!” Sie lachte bitter auf. “Das hab ich einfach nicht erwartet. Ich habe ihm immer noch vertraut.”

"Und jetzt vertraut Ihr ihm nicht mehr?", fragte die Baroness, Merles Hand kurz drückend. "Seid Ihr Euch ganz SICHER, dass er Magie auf Euch gewirkt hat? Gegen Euren Willen?" Sie tat so, als ränge sie nach den richtigen Worten, doch in Wirklichkeit wusste die längst, wohin sie das Gespräch zu lenken gedachte. "Würdet Ihr diesen… Vertrauensbruch, diese Aussage, sagen wir, vor einem Gericht unter Eid tätigen?"

Merle schluckte und schaute die Baroness nachdenklich an. “Ja, ich bin mir sicher. Bei dem ersten Zauber habe ich ja die Worte erkannt. Und dann hat er mich losgeschickt, seine Ausrüstungstasche aus Isfrieds Zimmer zu holen. Irgendwie tief drinnen kam mir die ganze Situation auch seltsam vor, aber ich… ich hätte in diesem Moment alles für ihn getan. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er mich und Lulu mitnehmen und beschützen will.” Sie schluckte; noch immer versuchte sie, ein Gefühl von Übelkeit in ihrer Kehle zu unterdrücken. “Dann, als ich wieder hier im Zimmer war, sprach er davon, wie leid ihm alles tut. Und er hat mir gesagt, dass ich meine Augen schließen und mich ausruhen soll. Er hat über meine Lider gestrichen, irgendwas gesungen, glaube ich, da bin ich mir nicht sicher… Und plötzlich war ich weggetreten.”

“Ein Heilungszauber”, erklärte der Tsageweihte. “Gudekar hat dich in einen erholsamen Schlaf versetzt.” Dann senkte er den Blick und sprach in traurigem Ton weiter: “Aber der Beherrschungszauber davor war wider den Freiheitswillen der Ewigjungen. Gudekar ist auf einen schlimmen Kurs geraten. Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann… wie er wieder auf den rechten Weg zurückfinden kann…” Dann brach Rionns Stimme ab.

Merle hielt es nicht mehr in dem Sessel; sie schüttelte Ardas Hand und Gudekars Mantel zusammen mit Rahjels Tuch ab, sprang auf und begann rastlos in dem Zimmer herumzulaufen, ähnlich wie ihr Mann kurze Zeit zuvor. “Heilungszauber, ha! Er hat mich in den Schlaf versetzt, hat mich kalt lächelnd ruhig gestellt, um sich mit seiner dreckigen Hure aus dem Staub machen zu können. Und mich soll hier der Pruch holen!” Sie schluchzte auf, in einer Mischung aus tiefer Verletztheit und aufschäumender Wut. "Er sieht in mir nur noch einen ungeliebten, abgelegten Gegenstand... wie seinen alten Mantel", sie trat mit dem Fuß nach dem schmutzigen Stoffbündel auf dem Fußboden. "Dieser verdammte Arsch! Verdammter Gudekar!”

Rahjel kam ihr einen Schritt entgegen. “Ein Weg wird sich finden, deinen Schmerz zu lindern. Doch Rionn hat recht, Gudekar ist auf einen schiefen Weg geraten. Aus den Umständen geboren, könnte auch er Opfer des Pruchs geworden sein. Alle, die betroffen sind, bedürfen unserer Hilfe. Nicht zu vergessen, dass es mehr Opfer gibt. Doratrava zum Beispiel. Wir müssen alle finden und diesen Alptraum beenden.” Er hob sein Tuch wieder auf, das zu Boden gefallen war. “Lass deiner Wut freien Lauf, doch dann brauchen wir dich. Nur zusammen können wir Harmonie schaffen.” Dann richtete er seine Worte an den Tsageweihten. “Nicht wahr, Rionn?”

Der Tsageweihte blickte besorgt und fragend. “Was ist mit Doratrava? Ist ihr etwas zugestoßen? Als ich sie zuletzt gesehen habe, waren wir noch im Herrenhaus. Da ist sie verschwunden.” Immer mehr Entsetzen stieg in ihm auf. Was geschah hier alles? Er fühlte sich so entsetzlich ohnmächtig. Wie sollte er Merle Mut machen, wenn ihm derselbe mehr und mehr zu verlassen schien?

Merle blieb stehen und schaute Rahjel intensiv an. “Harmonie schaffen?” fragte sie mit ungläubigem Blick. “Wie stellst du dir das vor? Glaub mir, ich hab alles versucht, um mit Gudekar zu einer Einigung zu kommen. Ich hatte sogar kurz das Gefühl, mit ihm wieder reden zu können. Nach allem, was er mir angetan hat, seinem Ehe- und Eidbruch, seinen ganzen Lügen… am Ende hätte ich ihm verziehen! Aber was Meta zu mir gesagt hat, das war so feindselig, kalt und abweisend…” Sie atmete schwer, als sie sich mehr und mehr an die Unterhaltung mit den beiden erinnerte. “Meta wollte mich nur so schnell wie möglich aus dem Weg schaffen. Auf irgendein abgelegenes Gut in Almada abschieben, während sie das süße Leben mit meinem Ehemann genießt. Und er tut am Ende ja doch immer, was dieses boshafte Weib von ihm verlangt." Schnaubend stieß sie die Luft aus und zeigte Rahjel ein freudloses, resigniertes Lächeln. “Aber egal! Jetzt ist ohnehin alles verloren und zerstört! Er ist in meinen Verstand eingedrungen, hat an meinem Willen und meinen Gefühlen herumgepfuscht, bis nichts mehr von mir übrig war... Ich werde nie wieder vertrauen, nie wieder richtig unbeschwert sein. Nie wieder der Mensch, der ich früher war. Was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun, Rahjel? Wofür brauchst du mich noch? Ich will ihn nicht mehr retten! Ich will, dass er bestraft wird!"

Wieder lief sie wie ein gefangenes Tier im Raum herum, bis ihr Blick auf Rionn fiel und sie sich an dessen Frage erinnerte. Sie schloss kurz die Augen und atmete scharf ein. “Doratrava wurde von Eoban festgesetzt. Er wirft ihr vor, mit dem Pruch im Bunde zu sein”, informierte sie den Tsa-Geweihten knapp. Dann begann sie fahrig, ihr Kleid zu richten und ihre langen, zerzausten Haare im Nacken neu zusammenzuknoten. “Ich werde mich jetzt darum kümmern, meiner Freundin zu helfen. Soll Gudekar sich mit seiner blöden Buhle zum Namenlosen scheren. Morgen erhebe ich Anklage gegen ihn auf allen Wegen, die mir möglich sind. Um ihm und Meta ihr schönes Leben so gründlich zu verderben, wie ich nur kann. Und erst wenn Gudekar so leidet wie ich, dann ist dieser Alptraum für mich zu Ende.”

Nach Merles Ausbruch, der leidenschaftlicher und rachsüchtiger ausgefallen war, als selbst Arda lieb gewesen war, räusperte sich die Baroness verlegen. Ihre Gefühle waren diesmal authentisch, sie empfand sogar etwas wie schlechtes Gewissen. Jetzt galt es, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, denn an ausführlichen Ermittlungen mit praioskirchlicher Beteiligung hatte die adelige Hexe auch kein Interesse. Kurz berührte Arda den ungeschnittenen smaragdgrünen Stein, den sie um den Hals trug - ein hesindegefälliges Artefakt, welches sie bei Aktivierung vor Magie schützte. Ein Vorfahr namens Gerding, ein Ritter des Donnerordens hatte ihn einst erhalten, angeblich von der Göttin der Weisheit selbst.

Um sich, vor allem aber Merle abzulenken, sagte sie mit ernster Stimme: "Ich will Euch auch helfen mit Doratrava, sie ist auch meine Freundin. Doch zunächst… Es gab einen weiteren Toten. Er liegt am Bach."

"Einen weiteren Toten?" wiederholte Merle mit schreckensgeweiteten Augen. Noch immer hatte sie das Gefühl, in einem Alptraum gefangen zu sein.

Die Baroness blickte in die Runde: "Es wäre mir ein Anliegen, diesen Toten und auch denjenigen, der im Hof liegen gelassen wurde, ins Dorf zurückzubringen. Wären mir die Dame und die Herren dabei bitte behilflich? Es liegt ohnehin auf Eurem Weg."

Rionn beobachte sorgenvoll, wie Merle unruhig und aufgebracht im Raum auf und ab lief. Sie tat ihm leid. Ja, sie hatte recht, Gudekar hatte ihr Schlimmes angetan. Aber war er frei gewesen in seinen Handlungen? Oder hatte der Bäckerpruch es geschafft, Harmonie und Frieden zu zerstören, vielleicht sogar sich Gudekars Geist zu bemächtigen? Hatte er ihm in Schweinsfold etwas in sein Herz gesetzt, das ihn nicht mehr klar und objektiv denken ließ? Sie würden es wohl nicht mehr herausfinden, jetzt da Gudekar sich entzog.

“Merle”, versuchte der Tsageweihte sie anzusprechen, “deine Seele und dein Leben hat schweren Schaden genommen. Gudekar hat unverzeihlich an dir gehandelt. Ich möchte aber nicht ausschließen, dass auch hier des Pruch unheimliche Machenschaften dahinterstecken."

Merle schüttelte verzweifelt den Kopf. "Das hatten wir doch vorhin schon überlegt. Aber dann war Gudekar wieder ganz… normal, richtig lieb zu mir, fast wie früher. Er ist so anders, wenn Meta dabei ist. Wie hätte ich ahnen können, dass er sowas tut… Wenn ich gewusst hätte, dass er mich verzaubern würde, dann hätte ich ihn nicht so provoziert… Ich hab ihm ja immer noch vertraut!"

Rionn seufzte. “Gerade das scheint mir ein Anzeichen dafür zu sein, dass sein Geist verwirrt ist, dass er sich verirrt hat. Ich kenne diese Meta nicht. Nicht ausreichend. Vielleicht ist sie der Einfluss, den der Pruch eingesetzt hat? Das ist jedoch Spekulation.” Der Tsageweihte schüttelte den Kopf. Mit solchen Gedanken musste man vorsichtig und zurückhaltend sein. Das zeigten doch die voreiligen Beschuldigungen gegen Doratrava.

“Aber du, Merle”, wandte sich Rionn wieder an sie. “Du brauchst Zeit, dass sich deine Seele erholen kann. Sicher steht Rahjel dir zur Seite. Ich biete mich ebenfalls an, dich zu begleiten, wenn du das möchtest.” Rionn versuchte ihren Blick einzufangen, um ihr in die Augen zu schauen und ihr seine Ernsthaftigkeit und Sorge anzuzeigen.

“Doch heute Nacht”, sprach Rionn dann eher allgemein in die Runde, “müssen wir uns der akuten Gefahren erwehren. Wir müssen versuchen, weitere Opfer zu verhindern. Wir müssen die Vermissten suchen: Gwenn, Eoin,...” Kurz versagte ihm die Stimme. “Und ich würde auch gerne schauen, ob ich Doratrava helfen kann."

Merle hielt inne; es schien ihr zu gelingen, die brodelnde Wut gegen Gudekar und Meta für den Moment an den Rand ihres Bewusstseins zu drängen. Sie schluckte und nickte tapfer. "Natürlich. Ich werde tun, was nötig ist. Also, zuerst würde ich kurz nach Isfried und den Kindern schauen. Und dann bringen wir die Leichen ins Dorf, fragen im Gutshaus nach Eoin und schauen, was wir für Doratrava tun können?” Sie hob unsicher die Schultern. “Aber wenn ihr es lieber anders machen wollt, schließe ich mich dem an.” Traurig, doch dankbar und scheinbar wieder gefasst blickte die junge Frau zu den beiden Geweihten. “Rionn, Rahjel, danke. Für alles.” Sie wandte sich Arda zu, die sie als respekteinflößend, dabei aber insgeheim auch beeindruckend und bewundernswert empfand. “Auch Euch, Euer Wohlgeboren.” Noch einmal band sie den Haarknoten in ihrem Nacken fester zusammen, ging zu dem Sessel und griff nach Gudekars Mantel auf dem Boden. Als sie den sich so vertraut anfühlenden Stoff in ihrer Hand spürte, schossen ihr augenblicklich wieder Tränen in die Augen. Ganz automatisch hatte sie überlegt, dass sie den Mantel waschen und vermutlich an ein paar Stellen ausbessern müsste… so wie sie es viele Male zuvor getan hatte. Doch waren diese Zeiten vorbei. Nie wieder würde sie sich um Gudekars Kleidung und Ausrüstung kümmern. Er würde nie wieder nach Hause zurückkehren. Leise schluchzend ließ sie sich auf den Sessel sinken, den schmutzigen Magiermantel verkrampft an sich klammernd.

Arda ging auf Merle zu, legte ihr die Hand auf den Arm.

Merle blickte mit tränenfeuchten Augen auf und schenkte der Baroness ein gequältes, aber dankbares Lächeln.

War da etwas aus Gudekars Manteltasche gefallen? Auf dem Boden, wo sich eben der Mantel befunden hatte, lag ein kleiner, zusammengeknüllter Zettel.

Interessiert nahm die Baroness den Zettel auf und las ihn, ohne auch nur daran zu denken, ob sie damit in die Privatsphäre anderer Menschen eingriff. Zu sehr war sie vom Jagdfieber ihrer eigenen Neugier gepackt.

“Was ist das?” fragte Merle mit leiser, matter Stimme. Sie blickte, scheinbar nur mit mildem Interesse, auf den Zettel in Ardas Hand.

“Aha?”, wurde auch Rionn aufmerksam und versuchte, einen Blick zu erhaschen. Seine Neugier war deutlich stärker aufgewacht.

Auf dem Zettel stand in Handschrift: “Was glaubst du, verbindet uns?”

Arda hatte damals Pruchs erstes Versteck in Talwacht ausgehoben, wobei sie den Paktierer beinahe erwischt hatten. Doch er war entkommen.

Dabei wurden auch viele handschriftliche Dokumente entdeckt und sichergestellt, die auch Adare ausgiebig studiert hatte. Doch lag das inzwischen soweit zurück, dass sie sich an Pruchs Schrift nicht mehr erinnern konnte. Sie mochte nicht ausschließen, dass diese Nachricht hier von Pruch stammte, doch bestätigen konnte sie es nicht. Es hätte genauso gut von jedem anderen stammen können.

Daher zuckte sie mit den Achseln und bot den Zettel der nächstbesten Person neben sich an. Als niemand Anstalten machte ihn zu nehmen, hielt sie ihn weiter so, dass die anderen ihn betrachten konnten.

Rionn schnürte sich sein Herz zu, als er sich an die Gespräche seiner Gefährten in Schneidgrasweiler erinnerte und an die Warnung, die sie damals in einer Schatulle erhalten hatten. Dort lagen zerbrochene Gänsefedern und ein Zettel drin. Und unbemerkt trotz eines Odems von Gudekar hatte die Schatulle einen Fluch über die Gemeinschaft gebracht. Auf dem Zettel damals stand die ebenfalls kurze Frage: „Was plant die Herzogenmutter?“ Doch waren die Worte damals auf den Zettel gedruckt. Hier, auf Gudekars Zettel, war die Frage in Handschrift geschrieben. Aber Gudekars Handschrift war es nicht, da war sich Rionn sicher.

Merle hatte das Gefühl, die Schrift schon einmal gesehen zu haben. Es war jedenfalls nicht Gudekars Handschrift, da war sie sich sicher. Mit einem unguten Gefühl fragte sie sich, ob es die Schrift war, mit der diese verdammte Kiste an Nivard adressiert war. Ausschließen konnte sie es nicht.

“Ich glaube, das ist dieselbe Handschrift wie auf dem Kästchen, das der sterbende Scherge des Paktierers vorhin in der Hand hatte", sprach Merle zögernd ihren düsteren Verdacht aus. Erneut war alle Farbe aus ihrem Gesicht entwichen. "Auf der Kiste war mit Blut geschrieben: 'Für Nivard von Tannenfels', und darin…", die Stimme der jungen Frau drohte zu versagen; sie schluckte mühsam und räusperte sich, "...darin befand sich der… Kopf von Nivards Bruder. Meint Ihr", flüsterte sie kaum hörbar und blickte erschrocken in die Runde, "...meint ihr, Gudekar war mit dem Feind in… Kontakt?!”

Rionn wurde bleich, als Merle vom Kopf in dem Kästchen sprach. Mit sehr ernster Stimme und Dringlichkeit in seinen Worten sagte er zu Arda: "Leg den Zettel sofort aus der Hand!"

Mit der Dickköpfigkeit einer Person, die sich nicht gerne etwas sagen lässt, behielt Arda den Zettel in der Hand. “Warum denn?” wollte sie vom Tsageweihten wissen.

Immer noch mit deutlichem Ernst und Besorgnis im Gesicht erklärte Rionn: "Pruch hat schon des Öfteren auf solche kryptischen Schriftstücke einen dämonischen Fluch gelegt. Ein Analysezauber vermag es nicht zu erkennen, aber eine Auraprüfung, weil ihre Macht nicht magisch, sondern niederhöllisch ist. Zuletzt in Schneidgrasweiler hat ein solcher Fluch erst Tsalinde, dann Eoban panisch fliehen lassen."

Ardas Blick senkte sich kurz zu dem Stück Papier in ihren Händen. Dann hob sie ihr Kinn stolz. “Pff…”, machte sie, verächtlich die Augen rollend. “Seht Ihr mich fliehen?”

Sie knüllte den Zettel zusammen, ging betont gelassen zum in die Mauer eingelassenen Herd Kaminofen, deren Vorderseite vermutlich in der Küche stand, öffnete die eiserne Klappe und schleuderte das zerknüllte Stückchen in die glimmenden Kohlen. Dann gesellte sie sich mit verschränkten Armen wieder zu den anderen.

Verstohlen rieb sie sich die Finger. Vor lauter Schreck hatte sie vergessen, den Riegel der Ofenklappe mit dem Lappen zu öffnen. Sie hoffte, den anderen war nicht aufgefallen, wie weich ihre Knie gewesen waren, als sie zum Ofen gelaufen war.

Doch im Nachhinein war sie zufrieden mit ihrer Tat. Was, wenn nicht der Herd einer Familie, war geeignet, einen mit einem travialästerlichen Fluch beladenen Zettel zu zerstören?

Mit großen Augen beobachtete Merle Ardas Tun. Eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf fragte sich, ob man das Pergamentzettelchen hätte aufbewahren sollen, als Beweisstück oder um es anderen Leuten zu zeigen; doch im Herzen war sie einfach unsagbar erleichtert, als das entsetzliche Ding verbrannt war. “Gudekar hat den Zettel scheinbar ziemlich lange mit sich rumgetragen”, überlegte sie mit unbehaglicher, angsterfüllter Miene. “Ähm, vorhin, da hat er sowas gesagt… dass er versucht hätte, Pruch helfen. Ihn zu… retten.” Sie kniff nachdenklich die Augen zusammen und versuchte, sich an Details zu erinnern. “Ja, so hat er es ausgedrückt… Dass er dachte, er hätte die Kontrolle und seine Bemühungen würden fruchten, aber es wäre ein Irrtum gewesen… er hätte sich überschätzt. Und am See… dieser Scherge… der hat gehöhnt, Gudekar wäre so von sich eingenommen, dass er glaubt, er könne Pruch zurück ins Licht führen. Erinnerst du dich nicht auch daran, Rahjel?” Sie blickte sorgenvoll zu dem Rahja-Geweihten, dann in die Gesichter von Rionn und Arda. “Ich weiß nicht… für mich klingt das so, als wäre Gudekar beim Versuch, Pruchs Seele zu retten, mehr und mehr selbst in die Dunkelheit geglitten.” Immer noch seinen Mantel umklammernd, senkte sie den Blick in Trauer, als hätte sie ihren Mann nun endgültig verloren.

Arda stand dabei und nickte, als habe sie Merles Gedanken verfolgt. Im Inneren aber tobte noch die Aufregung.

Der Tsageweihte musste schon schlucken, als Ardare den Zettel dem Feuer übergab. Nun würde er nicht mehr prüfen können, ob seine Vermutung stimmte, dass dieser Zettel mit einem Fluch beladen war. War dies der Weg gewesen, wie der Bäckerpruch seinen Einfluss auf Gudekar wirken konnte? Wie lange hatte er den Zettel bei sich gehabt?

"Schergen am See?", fragte Rionn. Dieser Teil von Merles Ausführungen hatte ihn aufmerksam gemacht. "Was ist am See geschehen?" Erwartungsvoll blickte er Rahjel und Merle an.

Die junge Frau blickte kurz ins Leere, um sich an alles zu erinnern, was für Rionn von Bedeutung sein könnte. "Als Doratrava, Rahjel und ich vorhin am Quellsee waren, da haben wir Gwenns Stute und den Leichnam der Frau von Kranickau gefunden, die ja Gwenns Beschützerin war. Und ein sterbender Mann lehnte an einem Baum; offenbar hatte er mit der Frau von Kranickau gekämpft. Obwohl er tödlich verwundet war, hat er uns verspottet und ausgelacht. Er hat geprahlt, sein Herr hätte Gwenn. Und wenn die Schnüffelei nicht aufhört, würden sie den nächsten holen." Merle schluckte und verzog das Gesicht beim Gedanken an das fiese Grinsen des Mannes. "Rahjel wollte ihn dazu bringen, im Angesicht Golgaris auf den Pfad der Zwölfgötter zurückzukehren, doch er hat nur höhnisch gelacht. Da hat Rahjel sein heiliges Tuch über ihn geworfen und der Scherge hat laut geschrien und ist gestorben, ohne noch etwas zu sagen. In der Hand hielt er dieses Kästchen, das... ihr wisst schon."

"Danke", sagte Rionn in leisem Ton und nickte, da er nun mehr und mehr erfuhr, was geschehen war, während sie über das plötzliche Verschwinden Doratravas, Merles und Rahjels gerätselt hatten und anschließend bei Isfried gewesen waren. "Ehrlich gesagt, ich kann dir nicht sagen, ob wir Gudekar irgendwann retten können. Ich hoffe es." Aus seiner Stimme klang Ratlosigkeit. "Der Pruch war wohl nie zu retten - seit seiner ersten Verbrechen auf der Bluthochzeit und schon davor. Wenn Gudekar das vorgehabt hatte, so war das sehr naiv. Den Pruch können wir nur dem Gericht der Götter überantworten." Bei dem letzten Satz wechselte der Klang seiner Stimme. Es war - für einen Tsageweihten überraschend - Zorn heraus zu hören. "Aber jetzt müssen wir versuchen, die Menschen hier zu schützen und zu retten…"

Merle nickte nur zustimmend, sagte jedoch nichts weiter und starrte mit leblosem Blick ins Leere. Es erschreckte sie zutiefst, wie eng Gudekar offenbar schon mit dem Feind verstrickt war. Glaubte er tatsächlich, dass ihn und diesen brutalen Mörder und Dämonenpaktierer irgendetwas verband; hasste er die Gütige Mutter - und sie als seine Ehefrau - im Grunde seines Herzens genauso abgrundtief wie der Pruch? Hätte Gudekar ihr gesagt, was er vorhatte - hätte sie ihn aufhalten, ihn retten, für ihn da sein können? Oder wäre sie mit ihm zusammen der Dunkelheit anheimgefallen, wie es jetzt wohl Meta tat? Nein, sie musste stark sein, schon für Lulu. Sie musste akzeptieren, dass von dem liebevollen jungen Mann, den sie einst geheiratet hatte, nichts mehr übrig war. Sie musste ihn aufgeben, auch wenn es ihr das Herz zerriss. Und, überlegte sie mit entschlossen zusammengekniffenen Lippen, wahrscheinlich selbst helfen, ihn am Ende zur Strecke zu bringen.

Die Baroness löste sich aus ihren Gedanken und sah, dass Merle ihrerseits noch in Gedanken gefangen war. Sie hüstelte kurz und wagte einen neuen Versuch: “Dann… wollen wir jetzt die Toten ins Dorf bringen und dort nach dem Novizen und nach Doratrava sehen?”

Während Merle und Ardare in ihren Gedanken versunken waren, hatte auch Rionn geschwiegen. Er hatte kaum noch Worte. Was hier in Lützeltal geschah, wühlte ihn tief im Innern in besonderem Maß auf. Das Schicksal der Menschen hier, die Toten, die Vermissten, das Drama um Gudekar und Merle und Meta, … all das triggerte bei Rionn, dass immer wieder Erinnerungssplitter aufstiegen von ähnlichen Erfahrungen, die er vermutlich im Osten gemacht hatte. Er konnte diese Bilder nicht zuordnen, wusste nicht wer oder was es war, was er sah. All das lag in jener Zeit, an die er seine Erinnerungen verloren hatte, bevor er damals auf diesem Feld in Albernia in jener Sternennacht gefunden wurde. Es waren Bilder voller Leid und Bestürzung, Sorge und Ohnmacht - so, wie er sich hier in Lützeltal auch fühlte. Als die Baroness hüstelte, kehrte auch der Tsageweihte wieder in die Gegenwart zurück. “Ja”, stimmte Rionn nur knapp zu, “lass uns gehen.”

~ * ~

Eidechsenspur

Während Arda, Rionn und Rahjel nach Merle schauen gegangen sind, entschieden sich Rahjels Schwester Alana und der etwas ältere Ritter Jartgar, sich auf die Suche nach dem verschwundenen Tsa-Novizen Eoinbaiste zu machen. Doch wo sollten sie anfangen? Am wahrscheinlichsten war es, dass er zum Dorf gegangen war, doch auf dem Weg dorthin waren Gudekar und Meta entlang geritten. Dort müssten sie ihn finden – wenn er dort langlief. Oder sollten sie die Wiese absuchen? Oder erst den Bauernhof genauer in Augenschein nehmen? Am Bach hatte Ardare bereits eine Leiche gefunden, sollte der Novize dort als weiteres Opfer liegen? Es gab so viele Möglichkeiten…

"Bleiben wir zusammen. In dieser Dunkelheit bleibt uns erstmal nichts übrig, als den Bauernhof näher zu untersuchen", sagte Jartgar. Alana nickte. Beide fingen an, den Hof in Augenschein zu nehmen.

Der Bauernhof bestand aus zwei T-förmig zueinanderstehenden Gebäuden mit einem grasbewachsenen Platz dazwischen. Auf der Efferd zugewandten Seite des Platzes zog sich das Wohngebäude, das sie schon kannten, längs zum Bach hin. Quer dazu stand auf der gegenüberliegenden Seite das Scheunen- und Stallgebäude und trennte den Hof von den Streuobstwiesen, die bis zum Waldrand reichten. Firunwärts begann mittig zum Platz der Feldweg, den Meta und Gudekar fortgeritten waren. Am Praios zugewandten Ende bildete ein Ziehbrunnen den Abschluss des Hofes. Vor dem Scheunentor lag der tote Körper von Brun, mit einer Decke zugedeckt.

“Nichts”, sagte Jartgar. Besorgte Blicke trafen Alana. “Weit können wir jetzt nicht, ohne die Anderen hinter uns zu lassen."

“Die Wiese, die könnten wir uns noch vornehmen”, schlug sie vor. Den Namen des Jungen rufend, schauten die beiden sich die Wiese an.

Das Madalicht erlaubte es den beiden zunächst, sich auch abseits des Hofes auf den Obstwiesen gut genug zu orientieren. Doch langsam zogen immer mehr Nebelschwaden vom Bach her über die Wiese, so dass die Rufe nach Eoinbaiste dumpfer klangen als erwartet. Eine Antwort blieb aus. Auch wurde es immer schwerer, auf der Wiese zu erkennen, was weiter als zwei, drei Schritt entfernt von einem lag.

~ * ~

An der Wegscheide

Imelda von Hadingen, die fröhliche Ingrageweihte, und der Krieger Hesindiard Zerf hatten im Keller der Bauernhauses der Familie Borkmund ein altes Gewölbe entdeckt, von dem aus ein langer Gang fast bis zur Brücke über den Lützelbach führte. Die beiden hatten den versteckten Ausstieg gerade verlassen, gefolgt von der Bauernmagd Durinja, als sie von Süden her Hufgetrappel hörten.

“Versteck dich und verhalt dich ruhig”, raunte der Krieger Durinja zu, “warte, bis wir dich rufen.” Währenddessen schloss er die Luke und setzte den Findling wieder darauf. Dabei achtete er auf zwei Dinge: erstens, dass er dabei möglichst leise war und zweitens, dass der Findling wieder so dastand, wie zuvor. Der Abdruck, den dieser auf der Luke hinterlassen hatte, war ihm dabei eine große Hilfe.

Durinja huschte hinter einen nahe gelegenen Busch und duckte sich, aber so, dass sie die anderen gut im Blick behielt.

Hesindiard trat auf den Feldweg, legte seine Hand auf seinen Schwertknauf und nickte grimmig der Geweihten zu. Dann rief er: “WER DA? GEBT EUCH ZU ERKENNEN!”

Das Pferd, dass im Galopp den Feldweg entlang lief, wurde von dem Reiter abrupt gestoppt, als der Krieger auf den Weg trat. Der Reiter war ein Mann in einem graubraunen Mantel. Hinter ihm im Sattel saß eine Ritterin, doch seitlich am Sattel war ein langer Wanderstab befestigt, der Stab eines Magiers.

“Brrr!” stoppte Gudekar das Pferd. Dann schaute er zu dem Krieger, den er nach kurzem Blick erkannte. Er schlug die Kapuze zurück, um sich zu erkennen zu geben. “Gudekar von Weissenquell. Wir haben uns eben bei den Borkmunds gesehen. Und das ist Meta Croy, meine Bedeckung. Was macht Ihr hier, so allein im Wald?” fragte der Magier skeptisch.

“Dasselbe könnte ich Euch fragen. Noch dazu mitten in der Nacht.” Hesindiard entspannte sich etwas, ließ die Hand aber weiterhin auf dem Knauf. “Ihre Gnaden und ich haben einen Wink von Meister Phex erhalten, dem wir gerade folgen. Und was macht ihr Zwei hier?”

Gudekar zögerte einen Moment, bevor er antwortete. “Die Kinder sind zur Welt gebracht, die Mutter ist wohl auf. Meine Dienste dort werden nicht länger benötigt. Ich kehre ins Dorf zurück, um dort nach… nach Personen in Not zu sehen.”

“Ich dachte, es stand schlecht um sie. Solltet Ihr nicht zur Nachsorge dort bleiben, falls sich ihr Zustand wieder verschlechtert?”, hakte der Krieger skeptisch nach.

Gudekar schüttelte den Kopf. “Seine Gnaden hat einen Wundsegen auf sie gesprochen und ich habe ihr einen heilenden Schlaf geschenkt. Sie ist außer Gefahr. Außerdem sind noch genügend andere Heilkundige dort. Doch was war dieser Wink des Listigen, der Euch hierher führte?”

“Ein Fuchs. Vermutlich nur ein einfaches Tier, aber, wer weiß, möglicherweise ein Fingerzeig oder gar der Listige höchstselbst. Das gilt es herauszufinden.”

Die Ritterin drehte sich so weit hinter Gudekar nach vorne, dass sie sich an seiner Taille halten musste, um nicht zu rutschen. „Oh, ein Fuchs. Das mag, nein, das muss ein göttliches Zeichen sein. Und der haust im Keller bei den Bauern?“ Die Familie mit den vielen Kindern. Herr Phex mochte über sie wachen, damit sie nicht in Armut verfielen. „Er hat uns zusammengeführt. Wo wollt Ihr denn hin und war nicht Imelda mit im Keller?“

Verwundert, da sie gerade eben noch ihre Freundin in der Küche des Bauernhauses zurückgelassen hatte und diese nun hier draußen antraf, ebenso den Magier, kam die junge Geweihte aus dem Schatten hervorgetreten. Sie nickte beiden grüßend zu. “Meinen Glückwunsch, Gudekar, dass du es geschafft hast, Mutter und Kinder zu retten. Vielleicht bist du ja doch kein so schlechter Magier?”, feixte sie, wurde jedoch gleich wieder ernst. “Aber ja, ich denke auch, dass der Fuchs ein göttliches Zeichen sein könnte.” Fragend schaute sie der Ritterin in die Augen. “Meta, wollten wir nicht gemeinsam den zweiten Leichnam zu seinen Angehörigen bringen? Und ist das nicht das Pferd, wo er drauf lag?"

„Ah, da bist du ja“, rief Meta freudig und ließ sich nun vom Pferd gleiten. „Manchmal kann er mehr, als nur Licht machen.“ Sie wurde ernst und biss sich auf die Unterlippe, dann antwortete sie. „Imelda, im Fluss wurde noch eine zweite Leiche gefunden. Wahrscheinlich Marno. Das wird noch dauern, bis es da weitergeht. Es sind viele Leute, jeder hat seine Meinung… Gudekar hat das brave Pferd genommen und will die Zeit nutzen, im Dorf nach dem rechten und Lulu zu sehen.“

“Achso…”, murmelte Imelda und kratzte sich am Hinterkopf. “Und was ist mit der Leiche des jungen Bäckers, um die wir versprochen hatten, uns zu kümmern?", fragte sie erneut beharrlich nach. “Wo liegt die denn jetzt? Habt ihr die einfach vom Pferd gehoben?”

Gudekar hatte sich zunächst zurückgehalten und Meta sprechen lassen, als Imelda aufgetaucht war, da die beiden ja gute Freundinnen waren. In der Zeit hatte er versucht zu überlegen, wie er es Imelda am Besten erklären sollte, und sich nachdenklich am Hinterkopf gekratzt. “Nun, Euer Gnaden, es ist wirklich überraschend, Euch hier zu sehen.”

Die Luft war inzwischen abgekühlt in dieser frischen Travianacht und kleine Dampfwölkchen bildeten sich nun auch vor seinem Mund, als er sprach, ebenso wie bei den anderen. Nebelschwaden zogen vom Bachlauf hinauf auf den Weg.

“Zunächst einmal muss ich sagen, dass mein Anteil an der erfolgreichen Geburt eher nebensächlich war. Der Dank dafür, dass Mutter und Kinder leben, gilt zunächst Mutter Peraine und Schwester Tsa, und natürlich der Baroness von Kaldenberg, die - ich wäre geneigt zu sagen: ‘ein wahres Wunder vollbracht hat’, das Kind aus dem Bauch der Mutter zu holen, wenn nicht Seine Gnaden Rionn das wahre Wunder vollbracht hätte, um die Mutter zu heilen. Meine Anwesenheit dort wäre letztlich gar nicht von Nöten gewesen. Und ja, wir haben wahrlich Bruns Leichnam vom Pferd gehoben, da es eilt, dass wir ins Dorf zurückkehren, und das Leben höhere Priorität haben sollte als der Tod. Damit es nicht noch mehr Tote am Ende des Tages gibt.”

Der Krieger räusperte sich lautstark, um die Anderen an seine Anwesenheit zu erinnern: “Was denn für Leichen? Worum geht es hier genau?”, fragte er skeptisch. “Es gibt mir hier eindeutig zu viele Tote bei dieser Hochzeit!”

Gudekar blickte den Krieger an, bis ihm bewusst wurde, dass dieser wohl noch nichts von dem Zwischenfall mit Gwenn erfahren hatte. “Nicht nur Ihr habt heute durch ein tragisches Unglück einen Bruder verloren. Es gab am Nachmittag einen Angriff eines Paktierers auf meine Familie. Meine Schwester wurde von ihm, nun, entführt. Hoffe ich. Dabei wurden drei, nein, jetzt wissen wir, es sind sogar alle vier Personen aus ihrem Gefolge ermordet worden: Die Bedeckung meiner Schwester, meines Vaters Knecht Bernhelm, der Bäckergeselle Brun, sowie vermutlich unser Stallbursche Marno. Letzteren hat die Baroness von Kaldenberg angeblich im Bach entdeckt.”

“Das tut mir leid. Möge Boron deren Seelen gnädig sein”, antwortete der Krieger betroffen. Dann fiel ihm noch etwas ein: “Sagt, ist der Tsa-Novize wieder aufgetaucht?”

Kopfschüttelnd antwortete der Anconiter: “Nein, leider noch nicht. Wir wollen zurück ins Dorf reiten. Dann sehen wir vielleicht, ob er dort irgendwo aufgehalten wurde.”

“Dann will ich euch nicht länger aufhalten.” Der Krieger wandte sich Imelda zu: “Wie sieht es mit Euren Künsten im Spurenlesen aus, Euer Gnaden?”

Imelda ignorierte die Frage des Kriegers zunächst, räusperte sich, trat einen Schritt näher an Gudekar heran und hob ihre Laterne, um ihm damit prüfend ins Gesicht zu leuchten. “Du hast Bruns Leiche in den Dreck geworfen, gelehrter Herr, um was genau zu tun? Werd’ doch bitte mal ein bisschen konkreter.” Mit zusammengekniffenen Augen musterte Imelda, die nun die ganze Ernsthaftigkeit und Autorität einer Geweihten der Zwölfgötter ausstrahlte, den Magus. “Was in Rondras Namen gibt es ganz genau so Dringendes zu klären im Dorf, dass deine Gefährtin ihr Wort als Ritterin dafür bricht?”

Der Magier schaute Imelda abwägend an. ‘Ich kann sie nicht anlügen!’ entschied er schließlich. “Genaugenommen habe nicht ich Brun in den Dreck gelegt. Aber ja, wir haben das Pferd gebraucht, auf dem er lag. Aber macht da bitte keinen Akt draus, Euer Gnaden. Ich muss dafür sorgen, dass Doratrava kein Unrecht geschieht. Darum hat mich Merle gebeten und ich habe es ihr versprochen.”

“Nicht du, Gudekar, hast den Leichnam in den Dreck gelegt?” Nun hielt Imelda das heilige Licht auch in Richtung ihrer Freundin. ”Ich dachte, ihr wolltet nach Lulu sehen? Oder den Leuten im Dorf helfen, bei was auch immer? Und was soll mit Doratrava sein? Der ging es doch den Umständen entsprechend gut und sie war in Begleitung anderer tapferer Recken?” Kritisch musternd schaute sie die beiden an. “Bei den Göttern, Ihr wollt doch nur schon wieder einen Stall aufsuchen, damit ihr es wie die Tiere treiben könnt. Wie oft habt ihr es heute schon getan? Hat das nicht Zeit, bis Meta ihre Aufgaben erledigt hat?” Streng sah sie ihre Freundin an. “Meta, du hast allen das Wort als Ritterin gegeben, dich der Angelegenheit mit dem Leichnam anzunehmen. Und dann beschwerst du dich bei mir, dass dich die Leute als Ritterin nicht ernst nehmen. Ihr werdet euch doch noch ein halbes Stundenglas länger zusammenreißen können, bevor ihr wieder übereinander herfallt. Das ist kein Grund, den armen Brun im Dreck verrotten zu lassen. Das würde ich mit deinem leblosen Körper doch auch nicht tun!”

Wütend stellte Meta sich Imelda entgegen. „Du hast nicht den Hauch einer Ahnung, was da los war. Es waren nicht nur Gudekar und ich dort. Aber natürlich weißt du genau, was ich mache und was ich eigentlich will!“ Es ärgerte sie, da sie sich Arda gegenüber gerne noch weiter verteidigt hätte und diesmal sogar ritterlicher gewesen war, als so oft zuvor. „Ja, du hast behauptet, ich wäre mit dir nicht alleine. Aber du bist genauso voreingenommen, wie die gesamte Bagage hier. Rahjel und Rionn, mit ihnen waren noch zwei Geweihte anwesend. Es nutzt nichts, dir von meinen Schuldgefühlen zu erzählen, du würdest sie mir eh nicht glauben. Auch nicht, dass ich mich um Lulu sorge oder was ich alles getan hätte. Das wievielte Mal führen wir so ein Gespräch heute schon, beste Freundin? Zu oft.“ Bitter fühlte es sich an, als sich die Enttäuschung wie ein kalter Klumpen in ihr zusammenkrampfte. „Ja, ich war es. Aber wie ich mich dabei gefühlt habe und was genau mit dieser ach so wundervollen Arda los war, das interessiert dich nicht.“ Meta wusste, dass keine Erklärung ihr helfen würde. Imelda sah in ihr eine selbstsüchtige Geliebte, wie alle anderen auch. Sie hatte Merle ehrlich helfen wollen. Ihr und dem Kind. Sie hatte Angst um ihr Leben gehabt und wollte Gudekars unbedingt retten. Aber all das war sinnlos. Imelda hatte ihr Urteil bereits gefällt und sicher wäre sie Mika, von der sie sich mehr erhofft hatte und Merle eine wunderbare Freundin. Meta würde alleine klar kommen müssen, wie immer. „Du hast deine Meinung, ohne meine Seite der Geschichte zu hören. Wir können so keine Freunde sein, Imelda. Ich dachte, wenigstens du würdest etwas Gutes in mir sehen.“ Es war traurig. Gudekar war so psychisch in seiner Angst und seinem Kummer versunken gewesen, dass auch er mal wieder nicht realisiert hatte, wie es ihr eigentlich ging. Sie wollte nichts mehr erklären, dass sie immer wieder darauf hingewiesen hatte, den Leichnam abzuliefern, dass Jartgar es dann doch nicht wollte, sie bereit gewesen wäre, Merle und Lulu fast alles zu geben. Dass Gudekar an seinen Gefühlen für Merle verzweifelte und sie selbst ihn vor Tod, Anklage und Hinrichtung durch seine angeblichen Gefährten bewahren wollte. Ihre Freude, Imelda zu sehen, war verschwunden. Es blieb eine grässlich leere Stelle.

Gudekar verspürte den unbändigen Wunsch, Meta einfach in den Arm zu nehmen, zu drücken und sie tröstend zu streicheln. So stieg auch er aus dem Sattel, drehte sich um, ergriff mit der Hand, die nicht die Zügel hielt, ihren Arm und zog sie näher zu sich heran, und drückte sie ganz fest an sich.  „Ich hab‘ dich lieb, Kleines!“ flüsterte er ihr zu.

Es war wie Balsam auf Metas Seele. So liebe, ehrliche Worte. Das, was sie vorhin durchgemacht hatten, hatte sie endgültig verbunden, da war sie sich sicher. Zärtlich drückte sie seine Hand zurück und blies sich eine Strähne aus dem Gesicht.

Imelda schloss für einen Moment die Augen und versuchte durchzuatmen. “Du hast recht, Meta, ich habe deine Seite der Geschichte nicht gehört, aber gefragt habe ich dich schon zweimal und ich habe von deinem Gudekar viele Versionen einer Antwort erhalten, was ihr im Dorf wollt. Welche davon stimmt denn jetzt? Und was davon ist so wichtig, dass du dein Versprechen brichst?”

Grimmig und abweisend wies Meta auf Gudekar. „Fragt ihn.“

Dann richtete der Anconiter sich auf und wandte sich an Imelda. „Euer Gnaden, Ihr tut Eurer Freundin Unrecht! Es sind keineswegs Rahjas Verlockungen, die uns zur Eile antreiben. Heute sind viele furchtbare Dinge geschehen in Lützeltal. Der Paktierer hat mit voller Härte zugeschlagen. Vier Menschen wurden getötet von ihm, meine Schwester, wie Ihr wisst, entführt. Doch vielleicht noch viel schlimmer und nachhaltiger ist der Unfrieden, der Zweifel und das Misstrauen, die er gesät hat, unser aller Herzen vergiftet hat. Eine wahre Hexenjagd hat begonnen. Im Dorf hat man Doratrava festgesetzt und wegen der Entführung von Rahjel und Merle der Paktiererei und Kollaboration mit Pruch bezichtigt, was aber illusorisch ist. Und auch ich muss fürchten, dass man mich auf den Scheiterhaufen bringen will. Die Baroness von Kaldenberg führt einen persönlichen Rachefeldzug gegen mich, weil ich es wagte, ihre Talente bei der Geburtshilfe in Frage zustellen, weil sie vorhatte, vollkommen stümperhaft der Schwangeren den Bauch aufzuschlitzen, um das Kind herauszuschneiden. Tätlich angegriffen hat sie mich und später noch einmal mit dem Rapier bedroht. Meta, Eure Freundin, Euer Gnaden, meine tapfere kleine Heldin, hat sich ihr ritterlich entgegengestellt und wäre bereit gewesen, sich mit der Baroness zu duellieren, um meine Ehre zu verteidigen.” Er schaute zu Meta und lächelte sie an. “So etwas Wundervolles hat noch nie ein Mensch für mich getan!” Er gab ihr einen kurzen Kuss auf die Stirn und schaute dann wieder ernst zu Imelda. “Euer Gnaden, wenn Ihr zum Bauernhaus zurückkehrt, wird man mir schlimme Dinge vorwerfen. Ich fürchte, man wird versuchen – die Baroness wird versuchen, mich zu kompromittieren. Einige Dinge davon werden wahr sein. In meiner Angst, meiner Panik, der Frevelei bezichtigt und vor die Inquisition geführt zu werden wegen meiner Liebe zu Meta und dem Bruch des Traviabundes, habe ich etwas getan, was ich niemals hätte tun dürfen und was ich zutiefst bereue. Ich muss fort. Es tut mir leid! Doch, bitte glaubt nicht alles, was Euch erzählt wird. Ich bin kein Paktierer! Ich habe Angst!” Er drehte sich um und zog Meta mit sich, um wieder auf das Pferd zu steigen.

"Ihr seid feige, Gudekar von Weissenquell, weiter nichts", spuckte Hesindiard aus. "Wie erbärmlich Ihr Euch hier im Staube windet. Einfach widerlich! Wo ist denn das edle Blut Eurer Abstammung? Wirkt es nicht in Euch? Ich könnte kotzen, wenn ich solche Worte höre. Eure Freundin ist in Gefahr, Eure Familie wird angegriffen und was macht Ihr? Davonlaufen! Wegen einer Streitigkeit mit einer Baroness. Zeigt Rückgrat, Mann!"

“Kotzt so viel Ihr wollt! Aber verlangt dann kein Kraut von mir gegen Euer Magendrücken”, entgegnete der Magier ihm unbeeindruckt und hielt Meta die Hand hin, damit sie wieder hinter ihm auf den Rücken des Pferdes steigen konnte. “Und Doratrava zu helfen ist mein nächstes Ziel, so Ihr uns nun gehen lasst.”

So geschickt, wie sie aufsprang, verriet die gute Reiterin, die Meta war. Vor diesem Gschwerl wollte sie nicht mehr viel Zeit und Worte verlieren. „Die Götter seien mit Euch, wir müssen los.“

Der Krieger trat vom Weg. "Geht nur. Ich halte Euch nicht auf." Dann spuckte er vor dem Pferd auf den Boden.

Aufmerksam hatte Imelda dem Gesagten gelauscht. Noch immer hatte sie keine richtige Antwort ihrer Freundin erhalten, auch wenn sie schon dreimal nachgefragt hatte. War es wahr? Wollten die beiden sich feige aus dem Staub machen? “Ähm, Ihr wollt uns hier einfach stehen lassen? Ich denke, Doratrava soll geholfen werden? Wollt ihr zwei uns da nicht mitnehmen?” Mit großem Unverständnis sah sie Meta an. “Wie wollt ihr denn Doratrava helfen und heißt das, dass ihr fliehen wollt? Möchtest du dich der Verantwortung denn nicht stellen, Meta? Du bist Ritterin; was soll nur Thymon davon halten, wenn er davon erfährt? Meta, bitte sprich mit mir!”

Gudekar ließ das Pferd sich umdrehen, so dass er noch einmal die Ingrageweihte direkt ansehen konnte. “Imelda, ich bitte Euch, in aller Freundschaft, stellt keine Fragen, deren Antworten Ihr nicht hören wollt. Ihr wart nicht dabei, als Doratrava von meinem Bruder festgesetzt wurde, angestachelt von Eobans Wahnvorstellungen. Die wenigen, die noch bei Vernunft waren, haben bereits alles versucht, was möglich war, um Eoban und Kalman von Ihren fehlgeleiteten Fantasien abzubringen, erfolglos. Heute gibt es nur noch einen Weg, Doratrava vor der Inquisition zu retten. Und auf diesem Weg könnt Ihr uns nicht begleiten, Euer Gnaden. Und bitte, habt Vertrauen in die Ritterlichkeit Eurer Freundin. Sie hat nichts unehrenhaftes getan. Wir hätten Bruns Leichnam nicht zurückgelassen, wenn wir nicht gewusst hätten, dass mit Rionn und Rahjel zwei zwölfgöttliche Geweihte dort waren, um sich um den Toten zu kümmern.”

“Ich bin eine Geweihte der Zwölfgötter, Gudekar. Doratrava ist auch eine gute Freundin von mir. Wenn die Not und Hilfe so dringend sind, wie du es beschreibst, dann verstehe ich nicht, dass ihr beide uns im Wald zurücklassen wollt. Es scheint mir hier des Nächtens recht gefährlich zu sein.” Sie kam dem Anconiter auf dem Ross näher. “Wir stehen doch noch auf der gleichen Seite, nicht wahr?”

“Imelda”, sprach er sie nun persönlicher an, “ich weiß nicht mehr, wer auf welcher Seite steht. Ich stehe jedenfalls nicht auf der Seite des Pruch. Aber ich fürchte, inzwischen gibt es hier weit mehr als zwei Seiten. Ja, du bist eine Geweihte der Zwölfe. Und deshalb kann ich dich nicht mitnehmen, Doratrava zu helfen, so wie ich den einzigen Weg sehe. Und was das Allein-Zurücklassen angeht: Ihr habt den Weg doch auch allein hierher gefunden, in dieser gefährlichen Nacht. Dann nehmt den gleichen Weg zurück. Dort warten noch weitere Ritter und Geweihte auf Euch. Sie werden Euch sicher schon vermissen.”

Ausdruckslos sah Meta zu Imelda hinab. „Ich stehe nicht auf der Seite des Pruchs. Ich werde Gudekar und seine Familie beschützen. Er ist meine Seite. Und Ihr kümmert Euch lieber um den seelischen Beistand als Geweihte. Fangt meinetwegen bei Merle an.“

Der Magier lenkte sein Pferd zu dem Krieger und sprach auch ihn noch einmal an. “Ich weiß sehr wohl, wie es sich anfühlt, einen geliebten Menschen zu verlieren und das Gefühl zu haben, nicht alles mögliche getan zu haben, im entscheidenden Moment nicht an seiner Seite gewesen zu sein, dabei gleichzeitig zu wissen, dass man den Tod nicht hätte verhindern können. Deshalb vergebe ich Euch Eure Wut. Doch bitte ich Euch, Menschen nicht nach dem zu beurteilen, was Ihr auf den ersten Blick zu erkennen glaubt, solange Ihr nicht die gesamte Wahrheit kennt. Könnt Ihr hinter die Fassade blicken?” Viel zu oft schon musste der Magier genau dies in seinem Leben erfahren, dass andere ihn nur wegen seiner magischen Begabungen verachteten, ohne darüber nachzudenken, was in ihm selbst vorging. Zu oft wurde er von seinen Mitmenschen vorverurteilt, ohne dass sie sein Ich hinterfragt hatten. Die Zeit, in der er dies schluckte, ohne zu protestieren, sollte nun vorbei sein. Voller Traurigkeit in seinen Augen ergänzte der Anconiter: “Ihr kennt meine Motivation nicht, also urteilt nicht über mich.”

"Ich muss Eure Motivation nicht kennen, denn das, was Ihr tut, tun wollt, ist falsch! Ihr verstößt gegen Recht und Moral. Aber, Ihr seid erwachsen. Tut, was Ihr nicht lassen könnt. Doch, rechnet damit, dass Ihr Konsequenzen zu erwarten habt."

„Konsequenzen?“ Gudekar lachte höhnisch auf, „Wenn Ihr wüsstet…“

“Nun, gelehrter Herr Gudekar, Ritterin Meta. Da ich keine Antworten von euch erhalten habe und ihr mich anscheinend nicht bei der Rettung Doratravas dabei haben wollt, empfehle ich mich. Komm, Hesindiard. Gemeinsam werden wir wohl sicher zum Bauernhaus zurückkehren.” Sie drehte sich noch einmal zu Meta und Gudekar und zog eine Augenbraue hoch. “Der Grund, weshalb ihr eine Geweihte der Zwölf und Freundin nicht mitnehmen wollt, hört sich nicht nach einem sehr ‘ritterlichen’ Unterfangen an. Ich hoffe, unser Weg wird sich eines Tages noch einmal kreuzen. Mögen die Götter mit euch sein.” Sie senkte sichtlich traurig ihr heiliges Licht. “Falls ihr irgendwann doch einmal die Hilfe einer Freundin benötigen solltet, so werde ich für euch da sein.” Dann wandte sie sich ab. “Hesindiard, würdest du mich zum Bauernhaus begleiten? Wie es aussieht, müssen wir Hilfe für Doratrava holen.”

“Imelda!” rief Gudekar ihr noch einmal hinterher. “Wenn eine Freundin unschuldig in Not geraten ist, würdest du, als Geweihte der Zwölfe, etwas tun, was gegen Recht und Ordnung verstößt, um deiner Freundin das Leben zu retten, auch wenn es dich selbst in Gefahr bringt?”

“Ja! Wenn ich von der Sache überzeugt bin, dann würde ich selbstverständlich versuchen, Gerechtigkeit walten zu lassen.” Sie drehte sich ernst zu dem Anconiter. “Das habe ich in der Vergangenheit bereits getan. Auch für Doratrava. Daher wünsche ich euch beiden viel Erfolg bei eurer Mission!” Sie vollführte einen Knicks und wandte sich ab.

Hesindiard drehte den beiden lediglich den Rücken zu, ohne Ehrerbietung. Nach ein paar Schritten rief er nach Durinja.

Gudekar war gleichzeitig erleichtert und enttäuscht, dass sich Imelda von ihnen abwandte. Natürlich war es besser so, war sie doch eine Geweihte und er hatte vor, weiteres Unrecht zu begehen, um Doratrava zu helfen. Doch es hätte so gut getan, eine Freundin an der Seite zu haben. “Ich hoffe, unsere Wege kreuzen sich eines Tages in besseren Zeiten, unter besseren Vorzeichen wieder. Lebt Wohl, Imelda! Mögen die Zwölfe mit Euch sein!” Er drehte sein Pferd und ritt mit Meta zur Brücke über den Bach.

Erst jetzt fiel Imelda auf, dass ihre Laterne schon eine ganze Weile leicht, kaum wahrnehmbar geflackert hatte, was stetig weiter ging. Imelda war wohl zu sehr auf das Gespräch konzentriert, um das Flackern zu bemerken.

Als der unheimliche Magier weg war, kam Durinja auf Hesindiards Rufen aus dem Gebüsch. “Ist er weg? Seht mal, was ich gefunden habe!” Sie hielt ein ledernes Etui hoch.

Das Flackern in Imeldas Laterne wurde eine Nuance stärker.

Hesindiard kam näher, damit genügend Licht auf den Gegenstand fiel. "Das sieht aber hochwertig aus. Wo genau hast Du es denn gefunden?", wollte der Krieger wissen.

“Das lag dahinten vor dem Busch, wo ich mich versteckt habe”, berichtete die Magd.

Imelda trat einen weiteren Schritt näher an Durinja heran und hielt prüfend ihre Laterne zu der Etui, um es besser erkennen zu können.

Das Etui war ordentlich, wenn auch nicht meisterlich gefertigt. Es war ein Etui, in dem Handwerker ihr besonderes Werkzeug aufzubewahren pflegten. In der Innenseite der obersten Lasche waren einige Buchstaben eingebrannt: EAvR.

Beim Näherkommen flackerte Imeldas Laterne leicht.

"EAvR", grübelte der Krieger, "EAvR - ich komme gerade nicht drauf, wer das sein sollte. Wir könnten aber Aelfhelm fragen. Der kennt sich gut aus mit dem Adel. Der wird wissen, wessen Initialen das sind."

Imelda nickte und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. "Wie hieß denn dieser vermisste Novize? War das nicht irgendwas mit 'E'?"

„Eoinbaiste, hat der Tsageweihte gesagt“, warf Durinja ein, die fragend auf das Etui blickte. „Was da wohl drin sein mag?“

“Weiß denn jemand, wie der Junge mit vollem Namen heißt und ob er adelig ist?” Durinja schüttelte nur den Kopf. Der Krieger kniff kurz die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. “Sagt, Euer Gnaden, hat Eure Laterne einen Sprung bekommen? Das Licht flackert so ungewöhnlich, als ob es dort einen Luftzug gibt.”

“Wie?” Oh? Nein, mit der Laterne ist alles in Ordnung.” Erst jetzt konzentrierte sich Imelda auf das heilige Licht, welches schwächer als gewöhnlich gegen eine dunkle Aura anzukämpfen schien. Prüfend schwang sie die Laterne ein wenig hin und her und ging ein paar Schritte herum, um zu schauen, ob sich hier, ähnlich wie im See, ein unheiliges Portal befunden haben könnte.

Und tatsächlich wurde das Licht der Laterne dunkler, als Imelda in die Richtung ging, in der Durinja das Etui gefunden hatte. Erneut drohte das Licht der Laterne zu erlöschen. Doch dieses Mal hielt Imelda rechtzeitig inne, bevor es ganz aus ging.

“Ich fürchte, dass der Träger des Etuis genau wie Gwenn entführt wurde”, erklärte Imelda und ging unruhig wieder ein paar Schritte zurück. “Das ist kein guter Ort hier. Durinja, Hesindiard, lasst uns besser wieder zurückkehren!”

Hesindiard nickte nur und rollte den Stein wieder von der Luke. "Wo der Fuchs wohl hin ist?", überlegte er laut. "Ich meine, der wird den Stein weder von der Luke herunter, noch wieder hinauf gerollt haben, oder? Das gleiche gilt für den Novizen."

Imelda kannte zumindest einen bestimmten Fuchs, der dies vermutlich zu Wege gebracht hätte, verzichtete jedoch darauf, diesen Gedanken auszusprechen, um Durinja und Hesindiard nicht zu verwirren. "Bestimmt hat er irgendwo in dem Tunnel seinen eigenen Ausgang", sagte sie stattdessen. "Wir können ja auf dem Rückweg drauf achten."

Schließlich brachen Hesindiard und Imelda auf, um zum Bauernhof zurückzukehren. Dort wollten sie Rionn fragen, ob das gefundene Etui vielleicht seinen verschwundenen Novizen gehört, und den anderen über die Ereignisse berichten. Da sie es für sicherer hielten, nahmen sie wieder den geheimen Tunnel, den sie zuvor entdeckt hatten.

Unterwegs achteten sie neugierig darauf, ob sie eine Stelle finden konnten, an denen der Fuchs den Gang verlassen haben konnte. Und tatsächlich fiel ihnen nun ein geeignetes Loch im Mauerwerk auf, direkt neben einer der Treppenstufen. Hier begann ein schmaler Gang, durch den sich der Fuchs problemlos bewegen konnte. Mit dieser Erkenntnis kehrten sie zurück durch das Gewölbe in den Keller des Bauernhauses.

***

Als sie außer Hörweite waren, seufzte Meta und sprach Gudekar an. „Das war nicht schön grad. Danke, dass du so lieb warst, ich verstehe so vieles nicht. Aber jetzt können wir nicht richtig darüber reden. Über Imelda, Merle, Lulu und vieles mehr… geht’s dir etwas besser?“

“Besser ist wohl das falsche Wort. Mir geht es anders. Befreit einerseits, doch auch sehr sorgenvoll. Wir haben nicht viel Zeit, man wird uns schon bald jagen. Und dennoch muss ich noch etwas erledigen. Ich muss einer Freundin zu helfen versuchen. Ich habe es versprochen.” Und ein Versprechen gegenüber einer hilflosen Person galt viel für den Anconiter. “Ich muss zu Doratrava. Willst du in der Zeit deine Sachen aus dem Zimmer holen?”

„Nein. Ich trenne mich nicht mehr von dir, bevor wir hier weg sind. Ich traue niemandem mehr. Wir müssen uns beeilen, Doratrava ist zwar sicher keine Freundin von mir, aber ich werde dir helfen. Hier geschieht viel zu viel Unrecht.“ Nach dem, was Meta erlebt hatte, war sie sicher, dass Doratrava unschuldig war. Sie mochten sich nicht leiden können, aber böse war sie nicht.

Meta konnte das strahlende Lächeln, das ihre Worte in sein Gesicht gezaubert hatten, nicht sehen, da sie hinter ihm saß. Sie war sein Sonnenschein, das Licht, das auch in der dunkelsten Stunde die Schatten von seiner Seele vertrieb. “Ich werde dich auch nie wieder von mir gehen lassen.”

~ * ~

Austausch im Bauernhof

Imelda von Hadingen und Hesindiard Zerf kehrten gefolgt von der Magd Durinja durch den Geheimgang im Keller zurück zum Bauernhof der Familie Borkmund. Dort kümmerte sich Durinja sogleich um die Kinder Tsasal und Hageian, die von den anderen allein in der Küche zurückgelassen worden waren. Die Rittersleut Jartgar von Immergrün und Alana von Altenberg hatten auf dem Hof nach Spuren von dem verschwundenen Novizen Eoinbaiste gesucht, schließlich aber erfolglos aufgeben müssen. Auf dem Hof war nichts zu entdecken und allein wollten sie nicht den Hof verlassen. So traten auch sie in der Stube des Bauernhauses, wo sich Rionn, Alanas Bruder Rahjel und die Baroness Ardare von Kaldenberg um Gudekars Frau Merle Dreifelder kümmerten, die von dem Anconiter ungewollt in einen magischen Schlaf versetzt und durch göttliches Wirken daraus wieder erweckt worden war. Diese hatten gerade entschieden, die Leichen des Bäckergesellen Brun und des Stallburschen Marno zu bergen und zurück ins Dorf zu bringen. Letztere Leiche hatte Ardare erst vor kurzem im Lützelbach entdeckt und ans Ufer gezogen.

Merle Dreifelder wirkte gedankenverloren und abwesend; sie nickte Imelda und Hesindiard kurz grüßend zu, blieb aber mit Gudekars Magiermantel über dem Arm in der Nähe von Rahjel und Rionn stehen und überließ den anderen das Reden.

Mit einem kurzen Anflug von Verblüffung nahm Rionn wahr, dass alle fast gleichzeitig in die Küche des Bauernhofes zurückkehrten, als Rahjel, Merle, Ardare und er gerade im Begriff waren aufzubrechen. Er schaute in die Runde und fragte: “Wir möchten hinüber ins Dorf. Kommt ihr mit?”

“Gerne, Euer Gnaden Rionn. Jedoch haben wir etwas, das wir Euch unbedingt zeigen müssen.” Imelda nickte ernst zu Hesindiard, dass dieser das gefundene Etui vorzeigen möge. “Euer Gnaden, sagen Euch die Initialen EAvR etwas?”

“Rionn! Einfach nur Rionn”, protestierte der Tsageweihte, dem wieder einmal zuviel Gnaden verteilt wurden. “E. A. V. R.? Mmmh”, überlegte er dann. “Ich weiß nicht… Wo habt ihr diese Initialen denn gesehen?”

"Hier", sagte der Krieger und überreichte Rionn das Etui, in welchem Werkzeug aufbewahrt wurde. "Auf der Innenseite der obersten Lasche. Könnte das E für Eoinbaiste stehen? Ich denke nicht, dass das dem Hohen Herrn Eoban gehört. Dann müsste es ja EvA heißen."

Als Hesindiard ihm das Etui überreichte wurde Rionn schlagartig kreidebleich. Eoinbaiste hatte das ihm einmal gezeigt und ihm stolz erzählt, dass er das Etui selbst gefertigt hatte. Noch stolzer war er auf das, was er darin aufbewahrte. Der Inhalt war etwas sehr besonderes. Rionn räusperte sich. Die Worte wollten schwer über seine Lippen. “Wo… mh-ch-mh… wo hast du das Etui gefunden?”

“Am Waldrand Richtung Dorf, nicht  weit weg von hier…”, erklärte Imelda und sah mitfühlend zu Rionn. Sie presste die Lippen aufeinander und fuhr mit sanfter Stimme fort: “Vermutlich wurde dort ein Portal in den Limbus geöffnet, soweit wir das beurteilen können.”

Merles Interesse schien geweckt und sie trat näher, um das Etui zu betrachten. "Das gehört deinem Novizen?" fragte sie Rionn leise mit unbehaglicher Miene. "Es ist seltsam… am See fanden wir ein Taschentuch mit Gwenns Monogramm. Meint ihr, er platziert diese Spuren… absichtlich?"

“Möglich”, bestätigte Rionn Merles Vermutung. “Denn Eoin hat so gut auf das Etui aufgepasst, dass er es niemals verloren hätte. Es bedeutet ihm viel.” Der Tsageweihte dachte kurz nach. “Möglicherweise konnte auch der Inhalt des Etui nicht mit in den Limbus, weil darauf eine Macht liegt, die dem Willen des Bäcker-Jast entgegenwirkt…” Rionn zuckte mit den Schultern.

“E. A. V. R. steht für `Eoinbaiste Adlerkralle von Rechklamm´. Der Junge stammt aus einer Familie in Eisenstein…” Es wurde Rionn flau, als er mehr und mehr realisierte, dass der Pruch den Novizen in den Limbus entführt hatte. Er würde das seiner Familie erklären müssen… Leicht schwankte er und wirkte unsicher.

Imelda hörte den Worten Rionns aufmerksam zu. Konnte es tatsächlich an dem Gegenstand selbst liegen oder war es gerade bei dem Taschentuch doch eine bewusst gelegte Spur, wie es Merle vermutete? Die Gegenstände der Opfer hatten Initialen… Unweigerlich ging Imeldas Blick zu ihrem Trinkhorn, welches am Schmiedegürtel befestigt war. Sollte sie vom Pruch entführt werden, wäre dies… Abrupt wurde sie aus den Gedanken gerissen und eilte zu dem scheinbar taumelnden Geweihten. "Rionn!", rief sie laut aus und versuchte, ihn mit ihren Armen zu umfangen, bevor er umkippen konnte.

“Danke…”, stammelte der Tsageweihte mit dünner Stimme, als Imelda ihn stützte. “Mir ist gerade etwas schummrig…” Dann brauch er ab und schaute verstört ins Leere.

Tatsächlich drängten sich mit Gewalt Bilder aus seinem Unterbewusstsein an die Oberfläche. Es waren keine der üblichen Nachhallerinnerungen. Die Nachricht über die Entführung des Novizen triggerten bei Rionn vor allem dramatische Erinnerungsfetzen an, wie: Menschen, die von Ogern gefressen wurden, oder Kinder, die in einem Tsa-Tempel verbrannten. Dabei waren es insbesondere Gefühle wie Ohnmacht und Entsetzen sowie eine massive Trauer und ein quälender Verlust, und schließlich ein intensiv empfundener Zorn wider die Täter, die so schlimme Ereignisse verursacht hatten: Galotta, Haffax… und schließlich auch Jast-Brin von Pruch.

Der Tsageweihte wirkte wie weggetreten.

Die Hadingerin kaute ernst auf ihrer Unterlippe. Dann nahm sie den Tsageweihten liebevoll in den Arm und drückte ihn fest. “Es tut mir sehr leid. Ich wünschte, es gäbe bessere Nachrichten.” Für ein paar Atemzüge hielt sie inne und versuchte, den Schmerz nachzuempfinden, den Rionn fühlen musste. Dann löste sich ein wenig aus der Umarmung. “Gibt es irgendetwas, was ich für dich tun kann?”

Der Tsageweihte schüttelte nur leicht den Kopf. Es war aber nicht klar, ob er Imelda tatsächlich zugehört hatte. Er war nicht wirklich in der Gegenwart präsent.

Die Baroness von Kaldenberg war auch physisch nicht präsent, was aber aufgrund der Diskussion um das Etui kaum aufgefallen war, da sie sich wortlos absentiert hatte.

Erst jetzt, als Arda wieder von draußen hereinkam, wurden die anderen ihrer gewahr - zumal sie sich auch verbal bemerkbar machte: "Ich habe einen Handkarren gefunden. Der reicht für zwei Tote aus." Unternehmungslustig stemmte sie die Arme in die Hüfte. Ein kurzes Zittern bemächtigte sich ihrer, als die mollige Wärme in der Stube ihr vor Augen führte, wie frisch es geworden war.

"Wollen wir?" fragte die junge Adelige. Alleine, wusste sie, würde sie die Toten nicht auf den Karren wuchten können.

"Bringen wir es hinter uns", nickte Merle. "Vielleicht können uns Borkmunds auch einen Ochsen oder Esel anspannen. Soll ich Durinja danach fragen?"

“Wir kommen natürlich mit”, sagte der Ritter Jartgar, der mit Alana hereinkam. “Wir haben gehört, dass der Junge vermisst wird. Unsere Suche war erfolglos”, beendete der Alte seinen Bericht. Der Rahjageweihte Rahjel war schweigsam, doch stimmte er zu.

So brachen sie gemeinsam auf in Richtung Dorf, nachdem Durinja einen Esel vor den Handkarren spannte und sie die Leiche von Brun aufgeladen hatten.

~ * ~