LH7-Für Rondra

7. Akt: Für Rondra – Die Suche nach Gwenn

(13. Travia 1045 BF, nachmittags)

  • Es startet die Suche nach der Braut
  • inklusive der Rückkehr von Merle, Doratrava und Rahjel

Ein Kapitel der Lützeltaler Hochzeit


Die Suche nach der Braut

Nachricht auf dem Dorfplatz

Kalman von Weissenquell, Sohn des Edlen von Lützeltal, führte seinen zukünftigen Schwager Rhodan Herrenfels auf den Dorfplatz. Rhodans Braut Gwenn von Weissenquell, ehemalige Haushofmeisterin am Albenhuser Gräfinnenhof, war entführt worden. Dabei handelte es sich wohl um eine traditionelle Brautentführung, die in Lützeltal meist am Tag vor dem Traviabund durchgeführt wurde, und bei der zumeist enge Freunde der Braut diese an einen geheimen Ort führten, wo man gemeinsam aß, trank, sang und feierte, bis der Bräutigam auftauchte, um die Braut auszulösen, indem er die Zeche der Entführer bezahlte. Die Hinweise deuteten darauf hin, dass der Knecht Bernhelm Lützelfisch, Vertrauter des Edlen und der Stallbursche Marno sowie eine weitere Person die Entführer waren, denn sie waren mit Pferden aufgebrochen. Unter anderem fehlte das Elenviner Pferd der Braut. Auch die Begleitschützerin Herlinde von Kranickau schien die Gruppe begleitet zu haben. Wulfhelm Häsler, Sohn des Jagdmeisters von Lützeltal hatte sich als Mitwisser der ‘Verschwörung’ zu erkennen gegeben und wartete auf das Eintreffen des Bräutigams.

Als Rhodan und Kalman sich den Wartenden näherten, lief ein Junge grinsend auf Rhodan zu und drückte ihm einen Zettel in die Hand. Es war Vitold Rodenbach, Sohn des Braumeisters. Nachdem Rhodan den Zettel entgegengenommen hatte, versuchte der Junge flugs wieder, in der Menschenmenge zu verschwinden.

Rhodan faltete den Zettel auseinander und las in einer ordentlichen Schrift die Botschaft:

„Wenn Ihr Eure Braut wiederfinden wollt, folgt der Spur des Bluthes der Elfen.”

Die Kunde von der Brautentführung, ob nun als traditioneller Scherz oder als ernst zu nehmende Bedrohung, hatte weitere Hochzeitsgäste auf den Dorfplatz gelockt, darunter Imelda von Hadingen, Caltesa von Immergrün und ihren Sohn Jartgar, Darian von Sturmfels, Meta Croy, Lucilla und Lûthardt von Galebfurten, Alana von Altenberg sowie Vinja Rankmann.

Alle Umstehenden, die sich neugierig versammelt hatten, blickten den Bräutigam fragend und erwartungsvoll an.

“Was steht denn da?” fragte Imelda neugierig nach und versuchte hibbelig den Hals reckend einen Blick auf den Zettel zu erhaschen.

Rhodan musste mehrfach blinzeln, bevor er die Botschaft auf dem Zettel ernsthaft wahrnahm. Alles war plötzlich völlig surreal. Hatte Herr Lares etwa Recht? War der Bäckerpruch über die Hochzeitsgäste gekommen und hatte seine Braut entführt? Wenn ja, dann würde er ihn selbst über den Sternenwall schicken, bei Phex! Vinja beugte sich neugierig über den breiten Arm des großen, massigen Handelsmanns. Rhodan las die Worte vor. „Bluthes, was für eine merkwürdige Schreibweise.“

Imelda tänzelte herum und sprang aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. “Ich weiß es, ich weiß es!” rief sie lauthals aus und hob eifrig herumfuchtelnd die Hand.

„Dann sprecht“, fuhr Rhodan sie ungewohnt rau an. Man merkte, dass ihm die Nerven blank lagen.

Irritiert über die harsche Art des Bräutigams fragte Imelda verwundert nach: “Ähh, seid Ihr sicher? Vielleicht wollen die anderen ja auch erst noch ein bisschen raten?”

Wulfhelm, der ein leises Lächeln gezeigt hatte, als er den Hinweis vernahm, war ebenfalls irritiert - er hatte sich vorgenommen, sich zurückzunehmen, diesen Teil der Feierlichkeiten vor allem dem Bräutigam zu überlassen. Jetzt war er auf einmal nicht mehr sicher, ob dieser in der richtigen Stimmung für solcherlei Zerstreuung war. Trotzdem schwieg er, während sein Lächeln verblasste.

Der Sturmfelser trat hinter Imelda und legte eine Hand auf ihre Schulter.

“Es gilt, eine Braut zu retten”, sagte er gutmütig und ein wenig feierlich. “Da wollen wir doch keine Zeit verschwenden.” Er betrachtete Rhodan. Dessen hitziger Ausbruch irritierte ihn etwas und stimmte ihn nachdenklich. Doch er beschloss, einstweilen nichts zu sagen.

Imelda lächelte Darian kurz an, dann wandte sie sich wieder Rhodan zu. “Bluth der Elfen… damit ist eindeutig das Albenbluth gemeint!” verkündete sie und warf dem Bräutigam einen naseweisen Blick zu, der die Offensichtlichkeit dieser Antwort signalisieren sollte. “Das ist doch dieser rote Kräuterlikör, den es hier gibt. Sehr leckeres Zeug; hab ich gestern schon probiert. Bestimmt auch ganz ausgezeichnet bei Magenbeschwerden oder zur Verdauung nach einem fettigen Essen…” Die junge Geweihte merkte, dass viele ungeduldige, fragende Blicke auf sie gerichtet waren. “Na ja, jedenfalls wird der hier in der Brennerei Rodenbach gemacht.” Sie zeigte über den Dorfplatz. “Denke, da müssen wir jetzt hin!”

Rhodan hielt einen Moment den Kopf gesenkt, so als grübelte er über etwas. Dann hob er seinen Kopf und zeigte ein vorsichtiges Lächeln. „Das klingt plausibel. Schließlich hat Ihre Hochgeboren von Rodaschquell keinen Tropfen ihres wertvollen Lebenssaftes verloren. Es muss wohl der Schnaps sein. Lasst uns dieser Spur rasch folgen“, sagte er und machte sich bereits auf, zu eilen. Den stets gutgelaunten Händler umwehte eine düstere Aura.

„Gut“, stimmte Kalman zu, „gehen wir zum Rhodenbach.“

Auch der Sturmfelser nickte kurz. Rhodans Bemerkung hinsichtlich der Baronin war zwar richtig, schien ihm jedoch irgendwie fehlplatziert und seltsam.

Der Ritter straffte sich und marschierte dann mit der Truppe zum Dorfplatz weiter.

“Ich kenne ihn ja nicht gut”, sagte er leise zu Imelda, “aber irgendwie scheint mir Herr Rhodan … ich weiß nicht. Ich kann’s nicht so recht in Worte fassen.”

“Total durch den Wind?” raunte Imelda zurück. “Kein Wunder bei dem Sturm…”, sie lächelte leicht amüsiert, zuckte kurz mit den Schultern und wurde etwas ernster: “Meinst du, er macht sich tatsächlich große Sorgen um seine Braut?”

Da musste der Ritter lachen. “Total durch den Wind, was? Naja, da hast du Recht. Das wäre ich vermutlich auch, wenn ich an seiner Stelle wäre. Aber ernste Sorgen machen? Es ist doch bloß eines der üblichen Brautspiele. Wir suchen sie, finden sie, und fertig.”

Imelda nickte eifrig. "Und wir verkosten währenddessen natürlich auch einige Köstlichkeiten der Lützeltaler Region!"

Er schaute zum Dorfplatz und machte mit dem rechten Arm eine ausholende Geste.

“Schau nur, sie beseitigen schon das Chaos des Sturms!”

***

Die kleine Gruppe der Suchenden brach auf und lief über den Dorfplatz, der sich inzwischen deutlich geleert hatte. Nur vereinzelte Lützeltaler waren damit beschäftigt, die Unordnung und Verwüstungen, die der Sturm hinterlassen hatte, aufzuräumen. Man versuchte die Girlanden mit orangenen Wimpeln zu reparieren und wieder aufzuhängen, Zweige und Äste, die von den Bäumen gefallen waren, einzusammeln und zusammengefallene Marktstände wieder zu errichten.

Als Rhodan und seine Gefährten vor dem Brauhaus standen, erklärte Kalman: „Im Schankraum des Brauhauses haben die Rahjanis dieser Tage einen provisorischen Schrein errichtet. Meint Ihr, dort könnte sich Gwenn versteckt halten?“

„So, da bin ich wieder, Hoher Herr.“ Meta eilte zu Kalman. „Ich kann auch alleine suchen, oder mit Imelda...“ Sie warf der Geweihten einen aufmunternden Blick zu. „Sie sind aber vielleicht doch etwas weiter. Warum hätten sie sonst die Pferde geholt? Ich würde mir meines nehmen und das Ka..Dorf umrunden.“

"Keine Panik", sagte Imelda mit einem fröhlichen Lächeln. "Das ist eine traditionelle Brautentführung und wir haben das erste Rätsel schon entschlüsselt!" Die Geweihte zeigte auf das Brauhaus. "Da drin geht's wohl weiter mit dem nächsten Hinweis. Und Aufteilen sollten wir uns auf gar keinen Fall… sonst verpasst noch jemand die schönen Getränke, die uns am Ende als Belohnung erwarten!" Aufmunternd zwinkerte Imelda ihrer Freundin zu.

“Außerdem hat Imelda versprochen, auf mich aufzupassen”, warf der Sturmfelser grinsend ein und nickte, wie um seine Worte selbst zu bestätigen. “Da geht es gar nicht, dass sie mir jemand von der Seite abspenstig macht.”

„Nein, wir sollten uns nicht aufteilen. Das wäre ungeschickt, ob der Lage“, bemerkte Rhodan ernst. „Gehen wir hinein und prüfen, ob Gwenn hier ist. Der provisorische Schrein war jedenfalls bisher sehr gemütlich - ich würde mich für sie freuen, sollte sie hier gefangen gehalten werden.“

“Gut, dann nichts wie hinein”, forderte Kalman auf. “Machen wir dem Spuk ein Ende.”

“Den Rahjaschrein?”, murmelte Wulfhelm halblaut und sah an sich herab. So wie er zur Zeit aussah, fühlte er sich ganz und gar nicht angemessen gekleidet für einen Besuch im Haus der Göttin. Etwas betreten hielt er sich im Hintergrund.

Skeptisch sah Meta zu Imelda. „Das glaube ich nicht. Was sollen wir denn im Rahjaschrein?“ Resigniert hob sie die Schultern, zur Not würde sie einfach danach machen, was sie für sinnvoller hielt. „Meinetwegen, wenn alle gehen, dann komme ich halt mit. Zumindest in den Schrein, danach sehen wir weiter.“

Mit einem liebevollen Lächeln blickte Imelda ihrer Freundin in die Augen. “Meta, es gab doch einen Hinweis: ‘Wenn Ihr Eure Braut wiederfinden wollt, folgt der Spur des Bluthes der Elfen.’ Und ich hab gleich erkannt, dass damit das Albenbluth gemeint ist, dieser leckere Kräuterschnaps”, erklärte sie stolz. “Der wird bei Rodenbachs Brennerei hergestellt. Wo gerade der provisorische Rahjaschrein untergebracht ist.” Das strahlende Lächeln der jungen Geweihten wurde noch breiter. “Ich bin mir seeehr sicher, dass da drin das nächste Rätsel auf uns wartet!”

„Ah, wir folgen der Spur des Schnapses.“ Meta runzelte die Stirn, schmunzelte aber dann, da dies einfach zu Imelda passte. „Ich hatte eher an echtes Blut gedacht. Ich bleibe skeptisch, aber ich mache mit. Auch, wenn ich das alles für ein recht ernstes Spiel halte.“

“Hääähh?”, fragte Imelda verwirrt. “Wie kommst du denn auf so eine komische Idee, Meta? Das ist doch eine ganz normale Brautentführung.” Die Ritterin war nach Rhodan die zweite Person in dieser Runde, die solch seltsame Andeutungen über Blut und Gefahren machte. Verunsichert und nun mit leichter Sorge sprach die Geweihte ihre Freundin an: “Meta! Gibt es da etwas, was wir wissen sollten?”

Meta zögerte und betrachtete Imelda ungewöhnlich ernst. „Gudekar meint... ich solle mir nicht so viele Gedanken machen. Es war heute kein guter Tag für mich und ich sehe wohl zu viel Gefahr.“ Sie zupfte Imelda eine Strähne unter ihren Suppenschüsselhelm hervor und flüsterte ihr dabei ins Ohr, wohl wissend, wie schwerhörig diese war. „Wenn wir zu zweit sind, erzähl ich dir von meinen komischen Gefühlen. Sei bloß leise.“ Als sie fertig war, fuhr sie in normaler Lautstärke fort. „Dann gehen wir doch mal zum Schrein und suchen nach dem Schnaps.“

Dass dieser Tag für ihre Freundin anstrengend gewesen war und diese mit ihren Gefühlen einen ähnlichen Sturm erlebte, wie er vorhin über das Lützeltal gepeitscht kam, war der Hadingerin bewusst. "Machen wir so!", flüsterte sie zurück.

“Bist du nun fertig mit der Tändelei? Können wir nun?”, fragte der Sturmfelser neckisch, der sich bewusst etwas abseits gehalten hatte, als er bemerkt hatte, dass das Gespräch zwischen Imelda und jener ihm eher fremden Ritterin sich vertiefte.

“Ja ja, Herr Darian. Nur keine Sorge, wir haben nicht über dich gelästert. Das machen wir erst, wenn wir ganz alleine sind.” Sie gab dem Sturmfelser einen leichten Hüftstoß und hakte sich bei ihm unter. “Dann mal rein in die gute Stube!”

Der Sturmfelser lachte einmal mehr laut auf. “Lästern? Über mich? Oh, da würde ich zu gerne Mäuschen spielen!”

"Das hättest du wohl gern." Imelda schmunzelte und warf Darian einen vielsagenden Blick zu. Dann schritt sie ihm voran in das umgestaltete Brauhaus.

~ * ~

Im Schrein der Liebholden

Rhodan Herrenfels und die anderen Sucher betraten den Schankraum des Brauhauses, der von den Rahjageweihten zur Feier von Gwenns und Rhodans Hochzeit liebevoll in einen Schrein der Schönen Göttin verwandelt worden war. In der Mitte des Raumes stand auf einer mit roten Tüchern verdeckten Holzkiste eine von Rosen und Weinreben umrankte Holzstatuette der liebreizenden Göttin, welche aus dem Fundus der jungen Geweihten Rajalind stammte. Weniger aus ihrem als aus dem Besitz ihres Glaubensbruders Rahjel von Altenberg stammten die hölzernen Phalli, die zu Füßen der barbusigen Holzschönheit bereit lagen. Daneben standen kunstvoll geschwungene Flaschen mit Likören und Krüge mit Weinen und gesüßtem Sauerbier, eine Anzahl an Bechern und eine Schale mit Keksen in Gänseform und kleinen leckeren Kuchen. Im hinteren Teil der Gaststube hing ein purpurner Vorhang, der einen Bereich vom Rest des Raumes abtrennen könnte. Doch im Moment war der Vorhang geöffnet. Ein Duft aus Rösenöl und Rauschkraut durchströmte den von Kerzenschein erhellten Raum, der statt der üblichen Tische und Stühle mit Decken und gemütlichen Kissen ausgestattet war und zu sinnlichem Verweilen einlud. Unmittelbar vor dem Schrein war eine Decke ausgebreitet, auf der inmitten einer Kisseninsel die junge Rahjageweihte Rajalind von Zweibruckenburg und ihr Novize Leander saßen. Während in einem Schälchen süßliches Rauschkraut verbrannte, ließ die Geweihte sich von dem nur wenige Jahre Jüngeren mit einer Handmassage verwöhnen.

Als der Bräutigam mit den Seinen durch die Tür trat, sah die Geweihte allerdings auf. Sie wandte sich kurz an den Novizen, der daraufhin nickte, und dann erhob die junge Frau sich mit einem Lächeln im Gesicht. Ihr rotes, ärmelloses Trägerkleid mit dem tiefen Ausschnitt flatterte dankbar und verspielt um ihre Beine, als sie barfuß mit sanften Schritten und einem Lächeln auf die Besucher zulief. Wobei sie gezielt auf den Bräutigam zukam. Ihr langes Haar lag dabei locker auf ihrem Rücken, die Strähne über den Ohren trug sie am Hinterkopf zusammengefasst, darüber einen feinen Kranz aus Blumen. Weitere Blumen ‚sprossen‘ auf der Zeichnung auf ihrem Arm.

„Willkommen, willkommen, Kinder der Schönen. Kommt doch und setzt euch zu uns. Wir haben schon auf euch gewartet.“ Sie winkte den Gästen freundlich zu, näher zu treten und schenkte Rhodan bei ihren Worten gar ein neckisches Zwinkern, während sie ohne Scheu seine Hand ergriff und ihn sanft mit sich in Richtung des Novizen führte.

War es der einladende Blick der Geweihten? War es das Rauschkraut? War es diese besondere Stimmung? Oder vielleicht all das zusammen? Der Rodaschqueller Ritter, in der Blüte seines Lebens, biss sich dezent auf die Unterlippe, als er eintrat und den Odem der Liebreizenden Göttin erfasste, in sich aufnahm und willkommen hieß.

Auch Rhodan entspannte sich merklich. Nicht nur der vertraute Duft des Rosenöls - seines Rosenöls wohlgemerkt. Auch und besonders die Tatsache, dass die Geweihte sie erwartete, nahm ihm die Anspannung. Also wirklich nur ein Spiel? Ganz ohne Risiko für Gwenn?! Hoffentlich. „Die Liebreizende zum Gruße, Euer Gnaden Rajalind. Danke für Eure freundliche Einladung. Wie Ihr sicherlich wisst, bin ich auf der Suche nach meiner alsbald Angetrauten…“

„Oh ja, ich hörte davon.“ Rajalind schmunzelte.

„….wir wollen doch sichergehen, dass das schöne Fest stattfinden kann.“

„Aber natürlich wollen wir das.“

„….Und wo, wenn nicht bei Euch, sollte sie es sich an solch einem wichtigen Tag gut gehen lassen?“ Der großgewachsene, dicke Mann lehnte sich leicht zurück und legte die Hände auf den Bauch. Man konnte sehen, dass der Händler wusste, wie „gut gehen lassen“ ging.

Die Geweihte lachte amüsiert, während sie Rhodan direkt ins Zentrum des Kissenlagers zog, wo sie ihn sanft auf eines der Kissen niederdrückte: „Es ist nie verkehrt, es sich gutgehen zu lassen, bei so vielen Genüssen, die die Schöne uns schenkt. Da habt ihr Recht. So nehmt doch Platz und seid für einen Augenblick im Angesicht der Herrin der Liebe”, dabei deutete sie mit einer Armbewegung auf die kleine Holzstatue, „unsere Gäste. Ihr alle-alle-alle-alle!“ lud sie die kleine Schar überschwänglich ein, sich zu setzen. Spätestens ihre letzten Worte machten deutlich, dass sie ihrer Herrin wohl schon eine ganze Weile lang im Dampf des verbrennenden Krauts diente.

„Und, ist sie hier? Meine Verlobte?“

“Eines nach dem anderen, mein ungeduldiger Freund,” entgegnete die Geweihte daraufhin nur und nahm den Becher entgegen, den ihr der Novize reichte. Sie trank etwas von dem Inhalt, bevor sie ihn dann an Rhodan weitergab. “Trinkt und esst zuerst einmal etwas.” Zur Verdeutlichung streichelte sie beschwichtigend über die Wange des Herrenfels.

Der Inhalt des Bechers verströmte den betörenden Geruch reifer süßer Erdbeeren mit Alkohol.

Der Händler hob die Augenbrauen, dann nahm er mit einem Achselzucken den Becher entgegen. „Danke!“

Rhodans anfängliche Skepsis sollte sich schon nach dem ersten Schluck wandeln, weckte der Geschmack in ihm doch Erinnerungen an den ersten zarten Kuss seiner geliebten Gwenn. Süß, samtig und unschuldig.

Wulfhelm war unweit des Eingangs stehen geblieben und sah sich mit leicht geöffnetem Mund um. Der ihm hinreichend bekannte Raum war nicht wiederzuerkennen. Für einen langen Moment vergaß er sein Unbehagen ob seines Äußeren, ehe er sich wieder erinnerte und etwas betreten über seinen schmutzstehenden Wollmantel strich.

Freudig schritt Imelda, die ihren Tellerhelm abgenommen hatte, zu Rajalind und verneigte sich leicht. “Es freut mich sehr, Euch wiederzusehen. Wir hatten letzte Nacht bei der Wanderung ja noch nicht die Gelegenheit, miteinander zu sprechen. Habt Dank für die Gastfreundschaft und dass Ihr an dieser schönen Brautentführung teil habt.” Imelda war gespannt, wie es nun weitergehen würde. Ob das nächste Rätsel wohl mit der Schönen Göttin zu tun hatte?

„Liebe Schwester!“ Keine Frage, sondern eine freudige Feststellung. „Ich erinnere mich. Du warst im Tempel und hast Pelura mit uns gespielt! Komm, nimm Platz. - Wir haben Kekse und Kuchen und Bier und Wein und Likör. Bitte, nehmt reichlich der Gaben der Genusspatronin” sprach die Rahjageweihte vernehmlich in die Runde.

Davon fühlte sich Vinja angesprochen, die sich bisher zurückgehalten hatte. Als sich herausstellte, dass die Geweihte Imelda und nicht die Akoluthin der Rosenherrin meinte, war die Braunhaarige sichtlich enttäuscht.

“Setzt euch, setzt euch. Es ist Platz für einen jeden… oder eine jede.” erklärte die Geweihte frohlockend und verteilte im Folgenden weitere Becher an ihre Gäste, die sie aus der Hand des Novizen entgegennahm. So fiel nicht nur ihr leicht verklärter Blick auf ein weiteres bekanntes Gesicht, sondern suchte sie auch mit jedem irgendwo Körperkontakt. Nicht aufdringlich, sondern beiläufig und sanft. Mal fasste sie jemand am Arm, mal fuhr sie liebevoll über die Wange, oder die Schulter. Und alle bekamen einen Sitzplatz und sogleich etwas zu Trinken. Die Zweibruckenburg wusste wohl Gastgeberin zu sein.

Meta verneigte sich angedeutet vor der Geweihten, die sie ja schon kennengelernt hatte. Vorsichtshalber griff sie zu ihrem Amethystanhänger, Zaina sollte bleiben, wo sie war. „Rahja zum Gruße.“ Rajalind spürte eine seltsame Präsenz der Schönen, als Meta ihren Anhänger zärtlich berührte.

“Ja! So ist es!” Die Augen der Geweihten leuchteten vor ihrer inneren Freude auf. “Rahja grüßt euch - euch alle - und schenkt euch einen Moment Besinnung. Lasst euch nieder und eure Gedanken und Gefühle zu, denn vor der Schönen dürft ihr euch offenbaren, wie ihr seid!” Ob sie dies an Meta adressierte, war nicht ganz deutlich, da sie sich sogleich anderen zuwandte, nachdem sie der Ritterin ihren Becher mit Wein gereicht hatte.

Und so ließen sich auch die Erbvögtin und ihr ritterlicher Begleiter einladen Platz zu nehmen im Schrein der Liebholden, um von ihren leiblichen Genüssen zu kosten.

Die junge Ingra-Geweihte schlenderte zu der Statue und den davor aufgebauten Gaben Rahjas. Eine dezente Röte lag auf ihren Wangen, als sie interessiert die verschiedenen Objekte betrachtete. Dass sie bereits gestern mit Mika und Meta hier gewesen war und ausgiebig über die Verarbeitung und Qualität der Liebeshölzer philosophiert hatte, wollte sie sich nicht anmerken lassen. Sie griff zu den Gänsekeksen und angelte zwei aus der Schale, dann nahm sie auf einem der Kissen neben Darian Platz. Einen der Kekse hielt sie fragend dem Sturmfelser Ritter vor die Nase. “Na, was zu knabbern? Die sind lecker!”, behauptete sie, ohne selbst bereits abgebissen zu haben.

Dieser indes war abgelenkt - was nicht weiter verwunderte. Die junge Rahjageweihte hatte ihm lächelnd in die Augen geblickt und dann ihre Hand über seine Brust geführt. Eine laszive und zugleich beiläufige Geste, die jedoch ihre Wirkung nicht verfehlte, denn dem Herrn von Sturmfels schien dies durchaus zu gefallen.

Imelda zog eine Augenbraue hoch, konnte sich jedoch ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. “Wer nicht will, der hat schon!”, befand sie und schob sich nacheinander die beiden Gänsekekse genüsslich in den Mund.

Erst jetzt bemerkte der Ritter, dass Imelda mit ihm sprach? “Wie”, fragte er bloß und wandte sich ihr zu.

Imelda zwinkerte ihm zu. “Sollte ein Ritter nicht immer seine Aufmerksamkeit überall in seinem nächsten Umfeld haben?” gab sie undeutlich von sich, während sie versuchte, den zweiten Keks noch schnell herunter zu mumpeln. “Und Herr Darian, was gefällt dir am besten hier im Hause Rahjas?”

Es mischte sich ein Hauch von “ertappt” in das kecke Grinsen des Sturmfelsers. “Es gibt eben Dinge, die eine besondere Herausforderung darstellen, wenn es darum geht, seine Aufmerksamkeit für sein gesamtes Umfeld aufrechtzuerhalten”, sagte er - und konnte sich einen letzten Blick auf die Gestalt der Rahjani nicht verwehren.

“Was mir hier am besten gefällt, willst du wissen?”

Er überlegte nicht lange.

“Ich … ich bin kein Mann großer Worte. Aber ich denke, es ist dieses Gefühl von Freude und Zufriedenheit, das ein jeder verspüren muss, wenn er ein Haus der Rahja betritt. Spürst du es nicht auch?”

“Spüren? Was genau meinst du denn?” Imelda schob sich eine ihrer rotblonden Locken hinters Ohr und sah den Ritter intensiv an. “Es ist schon wunderschön hier, oder? Es gibt viele leckere Getränke und Kekse… Auch der Duft, welcher im Raum liegt, ist wirklich betörend. Und gemütlich ist es auch!” Die junge Hadingerin strahlte über beide Ohren. Flüchtig blickte sie zum Schrein und seufzte verträumt. “Hach, was wäre das Leben ohne die Gaben und den Segen der Schönen Göttin?”

“Na, wie ich eben sagte …”

Er nahm den Kopf leicht in den Nacken und schloss einen Moment seine Augen.

“Dieses Gefühl von Glück, Zufriedenheit… Ungezwungenheit.” Er sah Imelda wieder an. “Ja, ich denke, das trifft’s am besten. Nach der Tragödie bei der Jagd, dem Sturm … es tut einfach gut, hier zu sein. Ohne Verpflichtungen, ohne Etikette … einfach mal so sein, wie man ist und sein will.”

Er griff nun ebenfalls nach einem der Kekse und biss eine Hälfte ab.

“Sind wirklich gut”, sagte er grinsend.

“Sage ich doch!”, verkündete Imelda mit einem übertrieben theatralischen Augenrollen und stupste ihn erst mit ihrer Schulter an, lehnte sich dann jedoch ein wenig zu ihm herüber, so dass sich ihre Oberarme weiterhin leicht berührten. “Dies ist ein einzigartiger Ort, an dem man von all den Sorgen und Nöten Deres ablassen kann.” Verträumt sah sie zur Mitte des Raumes und begann zu schmunzeln. “Weißt du, für mich ist es manchmal so in der Schmiede… na ja, nur dass ich dann mit voller Wucht auf Metall schlage, aber auch das entspannt irgendwie.”

“Ja … ja, das kann ich gut verstehen. Ich bin kein geschickter Handwerker so wie du. Aber mir geht’s manchmal so, wenn ich mit Meister Keldor auf der Jagd bin.” Er lachte kurz. “Der ist genau so, wie du dir den typischen Jagdmeister vorstellst: Schweigsam, ernst, einzelgängerisch, ein bisschen grummelig vielleicht. Aber genau der richtige, wenn du auf der Jagd bist. Ich kenne ihn, seitdem ich gerade erst zum Mann geworden bin - und er hat mich viel gelehrt. Und wenn wir beide nachts ins Lagerfeuer starren, dann geht es mir vielleicht so wie dir, wenn du die Esse schürst und eine Waffe schmiedest.”

Er knuffte sie nun leicht zurück.

“Dabei würde ich dir übrigens gern mal zusehen, wenn dir das nichts ausmacht. Die Schmiedekunst habe ich schon immer sehr hoch geschätzt. Wir haben zwar einen Schmied auf der Burg, aber der … “ Darian grinste breit und amüsiert “... der ist ein Angroschim und NOCH grantiger als unser Vogt, möchte ich meinen. Und das will was heißen!” Seine blitzenden blauen Augen verengten sich beim Lachen zu schmalen Schlitzen.

Die junge Geweihte lachte amüsiert. “Kann ich mir gut vorstellen! Auf meiner Walz hatte ich unglaublich viel mit Angroschim zu tun. Wenn man sich an sie gewöhnt hat und sie sich an einen selbst, dann kommt man ganz gut mit ihnen aus.” Imelda wog den Kopf ein wenig hin und her. ”Ich wohne ja hier bei Meister Limrog und habe als Gastgeschenk eine Flasche Angbarer Bockbier mitgebracht. Das kam gleich ganz gut an, denke ich.” Imelda nippte von ihrem Trinkhorn. "Also, das mit dem Schmieden lässt sich ganz sicher einrichten. Du bist auch immer herzlich willkommen bei uns in Hadingen. Wobei, dass du einfach nur zuschaust, wie ich hart arbeite, kannst du vergessen, mein Freund.” Imelda lachte laut auf und lehnte sich weiter keck gegen Darians Schulter. “Wenn du mich schon in der Schmiede besuchst, dann musst du auch mal zeigen, was du mit einem Hammer so anstellen kannst. Gibt es denn etwas, was du für dich selbst brauchen könntest?”

“Was ich mit einem Hammer anstellen kann?” einmal mehr musste Darian grinsen. “Einen Nagel in ein Brett hämmern, das sollte gehen. Aber wenn du denkst, ich wüsste, wie ich das Ding benutze, um ein Schwert zu schmieden oder sonstwas - tja, da muss ich dich enttäuschen!”

Er schaute sich um, und griff selbst nach einem Kelch, um mit Imelda anzustoßen.

“Aber ich komm’ dich trotzdem gern in Hadingen besuchen. Waffen benötige ich momentan keine. Ich führe das Schwert meines Oheims, das aus bestem Koscher Stahl gemacht ist. Und der Dolch hier an meiner Seite - den kennst du ja schon. Den hat mir ein Angroschim gemacht. Aber mein Harnisch ist mal wieder ein bisschen zerbeult vom Tjost. Und der Blick von Meister Lugrobasch daheim auf der Rodaschblick wird von Mal zu Mal finsterer, wenn ich ihm den Harnisch gebe.”

“Klar, bringe dein Rüstzeug gerne mit! Ich bin es gewohnt, die Rüstungen von Hardomar, also meinem Bruder, auszubessern”, erzählte sie mit einem Schmunzeln. “Das Gestech ist ja zu seiner großen Leidenschaft geworden und er trainiert daheim fast täglich. Wir haben zahlreiche Lanzen und nun auch einen kleinen Übungsplatz. Vielleicht magst du dich dann ja auch mit meinem Bruder ein bisschen im Gestech üben?” Bevor Darian jedoch antworten konnte, begann Imelda zu kichern. “Oder auch mit mir.”

“Klar, warum denn nicht? Gern sogar. Mittlerweile zumindest.”

Den fragenden Blick der Hadingerin klärte er schnell auf.

“Früher habe ich mir nichts aus dem Tjost gemacht. Ich hielt ihn für Angeberei affektierter Ritter, die nur auf dem Turnierfeld umherstolzieren und ihre teuren Rüstungen zur Schau tragen wollen. Echter, rondragefälliger Kampf, das war für mich immer mit Schwert und Schild oder Zweihänder. Darin war ich schon früh gut. Im Tjost allerdings nicht.”

Imelda räusperte sich leise, als Darian von affektierten Rittern sprach. Sie hoffte sehr, der Sturmfelser würde ihren Bruder nicht für einen solchen halten. “Hardomar ist schon sehr ehrgeizig, was das Gestech angeht. Letztes Jahr beim Herbstturnier in Yantirbair ist er ja immerhin Dritter geworden. Aber ich hoffe vor allen Dingen, dass er sich dabei nicht alle Knochen bricht. Ist ja schon so, als würde man absichtlich mit vollem Tempo gegen einen Baumstamm reiten, oder?” Flüchtig beobachtete die junge Hadingerin ihre Freundin Meta, welche sich die Fläschchen genauer ansah. Dann schaute sie wieder leicht verträumt zu dem Ritter neben sich und lächelte ihn glücklich an. “Wie kam es denn dazu, dass du dich jetzt mehr für den Tjost interessierst?"

“Naja. Ich war damals jung. Und ich wollte alles auf einmal. Aber Lanze ausrichten, Schild halten und Pferd führen, das ist nicht so einfach. Als ich nicht gleich die Erfolge errang, die ich mit dem Schwert oder dem Zweihänder oder im Ringen erzielte, stand ich mit dem Tjost eine Weile auf Kriegsfuß. Und in Gareth habe ich eine Menge Ritter gesehen, die einen stolzen Namen und teure Rüstungen tragen, aber nicht wirklich etwas drauf haben und schnell wie Krebse auf dem Boden liegen.”

Er lachte kurz auf, dann schaute er ein versöhnlich-verlegen.

“Aber heute weiß ich es eben besser. Und halte es daher für meine Pflicht gegenüber meinen beiden Herrinnen, mich auch im Tjost in Form zu halten und ihn als ehrbaren Kampf unter meinesgleichen anzuerkennen. Auch wenn ich klassische Ritterrüstungen nach wie vor nicht mag, weil sie deine Beweglichkeit und deine Sicht zu sehr einschränken.”

Ein flüchtiges Schmunzeln umspielte Imeldas Lippen. Als der Ritter vom ‘Ausrichten seiner Lanze’ sprach, lag ihr eine freche, doppeldeutige Bemerkung auf den Lippen, doch biss sie sich schnell genug auf die Unterlippe, um sich selbst davon abzuhalten. Auch wenn sie in einem Schrein der Liebholden waren und sie am heutigen Tage schon einiges getrunken hatte, gab es wohl doch Sprüche, die sie lieber nicht bringen sollte, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Imelda merkte, dass sie ein bisschen errötete, streifte die dummen Gedanken ab und räusperte sich kurz. “Deine beiden Herrinnen… das sind die Baronin und Rondra, nehme ich an?”

“So ist es.” Er klang ein wenig ernster als sonst. Bedächtiger vielleicht.

“Seltsam, nicht? Wo die beiden unterschiedlicher nicht sein könnten. Die eine würde nie etwas von mir verlangen, wohingegen die andere alles fordert. Und so versuche ich, beiden gerecht zu werden. Und das ist gar nicht so einfach.” Er lächelte versonnen.

“Aber genug von mir! Ich würde gern mehr von dir erfahren. Du bist eine Dienerin des Herrn von Feuer und Stahl. Meistens denke ich dabei immer an grimmige, bärtige Schmiedemeister, die den ganzen Tag an der Esse stehen.” Er hob sogleich beschwichtigend seine Hände.

“Ja, ja. Ich weiß! So ist es ja nicht immer. Aber das ist eben das erste Bild, das mir bei dem Herrn Ingerimm einfällt! Wie bist du zu deiner Weihe gelangt? War dir schon immer klar, dass du ihm dienen willst?”

“So so… grimmige, bärtige Männer”, erwiderte Imelda feixend. “Vermutlich noch mit ‘nem ordentlichen Schmerbauch, was?” Sie lachte belustigt auf. “Ne, ich will nicht behaupten, dass es solche Ingra-Diener nicht gibt… aber meiner Meinung nach hängt deren Erscheinung weniger mit dem Dienst an unserem Gott zusammen und mehr mit dem sonstigen Lebenswandel. Deftiges Essen, viel Bier und so… Körperlich extrem stark muss man fürs Schmieden nämlich eigentlich nicht sein; ich schwinge im Gegensatz zu einem Schwert ja ein vergleichsweise leichtes Hämmerchen. Und tut mir leid, dass ich keinen Bart habe!” Wieder grinste sie breit und lachte dem Ritter schallend ins Gesicht. “Wie ich meinen Weg zu Ingra gefunden habe? Eigentlich wurde es mir fast in die Wiege gelegt. Unser Tempel in Hadingen ist über einer Kaverne mit flüssigem Gestein gebaut und alle paar Götterläufe schießt da die Lava nach oben… Das ist ein großartiges Spektakel, das ich als Mädchen einmal mit ansehen durfte. Schon seit ich denken kann, war ich fasziniert von Feuer, Glut und Hitze. Da meine Familie über viele Generationen dem Feuergott gedient hat, war mein Weg also fast klar - wobei der Tempel eigentlich einen mystischen Kult feiert und ich mehr dem Schmieden von Waffen zugeneigt bin. Ich liebe die Herausforderung, aus den verschiedenen Metallen etwas Neues zu schaffen… die Spannung, wie das Stück am Ende wohl gelingen wird…” Ein bisschen verlegen biss sich Imelda auf die Unterlippe, schaute nach unten und dann Darian in die Augen. “Ähm, Darian, hoffentlich langweile ich dich nicht damit! Wenn du mich nicht aufhältst, kann ich ewig übers Schmieden philosophieren.”

Er hob beschwichtigend eine Hand. “Und ich hör’ dir gerne zu. Schließlich habe ich ja auch gefragt. Das würde ich auch zu gerne mal sehen, dieses Feuerspektakel mit der Lava. So etwas habe ich noch nie gesehen und dachte immer, das gäbe es nur auf den Zyklopeninseln.”

Einen Moment sah der Ritter etwas nachdenklich aus.

“Etwas Neues schaffen. Ja, natürlich. Das ist es ja, was du tust. Was im Grunde jeder Schmied macht, wenn man’s genau nimmt. Aber so habe ich das bisher nie wirklich gesehen. Sondern eher als ein … alltägliches Handwerk.” Er machte gleich eine abwehrende Geste und lächelte. “Nicht falsch verstehen. Das heißt nicht, dass ich es nicht geschätzt hätte. Aber es war für mich nichts … Besonderes. Nicht so, wie du es schilderst. Du musst dir halt einen griesgrämigen alten Angroschim vorstellen, der den ganzen Tag auf seinem Metall herum hämmert und seine Ruhe haben will.”

Wieder musste er amüsiert grinsen.

“Und der Bart, den er hat, der würde dir auch nicht stehen.”

“Du hättest mich sehen sollen, bevor ich mich heute morgen rasiert habe!”, rief Imelda laut aus und lachte herzlich. Erst nach einigen Herzschlägen ging ihr durch den Kopf, dass Darian ihre letzte Bemerkung auch doppeldeutig verstehen könnte. Dementsprechend verlegen lief sie ein wenig rot an.

Das schallende Lachen Darians gesellte sich hinzu, und er legte spontan kurz seinen Arm um ihre Schulter.

Wahrlich: Diese Dienerin Ingerimms war völlig anders als diejenigen, die er bisher kennengelernt hatte!

Die Ritterin ging ebenfalls durch den Raum, sah sich dabei aber nur nach Fläschchen um. Sie hätte gerne sofort gefragt, aber die anderen sollten erstmal zu Wort kommen.

Es standen eine Handvoll Flaschen auf dem improvisierten Altar.

“IMELDA!” rief Meta laut. „Komm mal her, ich brauche dein Gespür für Schnaps.”

„Nehmt doch diesen, den kennt ihr sicher noch nicht, da bin ich mir sicher,“ verriet der Novize mit einem vielsagenden Schmunzeln, während er den beiden Damen, die sich die „Auslage“ ansahen, nacheinander einen Becher reichte, die er und die Geweihte schon vorbereitet hatten. Wie es aussah, war Leander überwiegend treffsicher, was die Zuordnung von Getränk und Gaumen anging. Auch bei den beiden Damen hatte er nicht lange überlegen müssen, seinen Blicken waren die beiden nicht entgangen, auch wenn er stets auch seine Tempelschwester im Blick behielt, um ihr entsprechende Getränke für ihre Gäste zu reichen.

In dem von Meta befand sich wie schon auch in Rhodans Becher ein herrlich fruchtiger Erdbeer-Likör, dessen Geruch und letztlich auch der Geschmack einen an die süßen, frisch vom Erdbeerfeld geernteten, noch sonnenwarmen Früchte erinnerte.

In dem Becher von Imelda schimmerte ein leichter Weißwein, der sanft auf den Lippen prickelte und im Gaumen zu Bildern von weißen Trauben, von der Praiosscheibe verwöhnten Hängen, zauberhafte kleine Stiefmütterchen zwischen den Reben, Gänseblümchensalat und fangfrischem Fisch explodierte, zu denen er wohl sehr gut zu passen schien.

Die ehemalige Hadinger Weinkönigin nippte von dem Weißwein und schloss die Augen, als sie den edlen Tropfen sich möglichst lange auf ihrem Gaumen entfalten ließ. “Mmhhh, sehr lecker. Genau das Richtige nach der Schmiedearbeit oder an einem heißen Tag.” Sie betrachtete die Flüssigkeit in dem Glas und schwenkte den Wein gekonnt. “Ich war ja heute schon an der Esse”, verkündete sie und wandte sich Meta zu, während sie jedoch neben Darian sitzen blieb. “Na, Meta, wie ist dein Likör? Magst du mal bei mir probieren und ich probiere bei dir?”

Meta roch kurz an ihrem Getränk und trank den Likör dann in einem Schluck aus. Ah, Imelda hatte diesen Ritter dabei, der könnte nützlich sein. „Nein, passt schon.“ Aufmunternd lächelte sie Darian an. „Kommt doch beide mit und helft mir bei dem, was in den anderen Flaschen ist. Wir suchen ja nach etwas elfischem.“ Darian klärte sie noch auf, was die Vermutung ihrer Freundin anging. „Imelda glaubt, es könnte sich um Albenbluth handeln. Vielleicht finden wir einen weiteren Hinweis, wenn wir das Gesöff haben.“

“Ihr sucht nach etwas Elfischem?” Er lachte schallend und schüttelte dann entschuldigend den Kopf.

“Alkoholisches wird’s dann nicht sein. Meine Herrin riecht Alkohol auf mehrere Schritt Entfernung und sieht dann irritiert-angewidert zur Seite. Elfen vertragen keinerlei Alkohol, sie finden ihn widerlich, daher brauen sie auch nichts dergleichen.”

Er schmunzelte kurz.

“Schade eigentlich. Die wissen nicht, was ihnen entgeht …”

“Tja, bedauerlich… da entgeht ihnen leider viel. Aber ich bin froh, dass du einen guten Tropfen zu schätzen weißt, Darian!” Imelda blickte zu der Ritterin auf und winkte ihr, sich zu den anderen zu gesellen. “Ich denke, wir hatten das erste Rätsel bereits gelöst und in dem zweiten Rätsel geht es um etwas anderes.” Gespannt ging ihr Blick zu der Rahjageweihten. Ob diese ihnen gleich eine neue Aufgabe geben würde? “Entspann’ dich, Meta, und genieße es, an dieser schönen Queste teilzunehmen.”

“Hm… ich bin kein Weinkenner, aber ich hörte, dass die Winzer ihren Weinen manchmal die seltsamsten Namen geben. Vielleicht weiß die charmante Rahjajüngerin ja etwas mit “Albenbluth” anzufangen. Hat sie schon jemand gefragt?”

“Ja, ja, das war ja auch nur so im übertragenen Sinn gemeint”, kommentierte Meta kurz Darian. “Wie? Schon gelöst? Wie äh, wo?” Meta sah sich im Raum um und suchte nach der Gruppe, die wohl auf der richtigen Spur war.

Imelda seufzte leicht. “Also, ich bin mir schon recht sicher, dass es nur bei der ersten Aufgabe um das Albenbluth ging. Dieser Hinweis hat uns hierher ins Brauhaus geführt. Jetzt, wo wir hier sind, erwartet uns ganz sicher eine zweite Aufgabe. Das ist ganz oft so bei einer Schnitzeljagd.” Die Geweihte versuchte ein sanftmütiges Lächeln aufzusetzen. “Daher sollten wir das Albenbluth nun abhaken und auf die nächste spannende Queste warten, die uns hier ganz sicher gleich präsentiert wird.” Gespannt blickte sie zu der schönen Geweihten in der Mitte der versammelten Gruppe. “Aber wenn ihr unbedingt ein Albenbluth trinken wollt, lasst euch nicht abhalten!”

Der Ritter zuckte mit den Schultern. “Na, dann eben kein Albenbluth. Dann hoffen wir mal, dass wir hier eine neue Queste serviert bekommen. Vielleicht geht’s nun um Riesenschweiß oder Drachenaugen.” Er grinste einmal mehr und machte nicht den Eindruck, als würde er das Ganze allzu ernst nehmen und sich stattdessen lieber gut amüsieren.

Kalman ging in den Schankraum und stellte sich an den Tresen, der gleich neben der Eingangstür gebaut war. Er nahm einen Weinbecher von Rajalind entgegen, doch es war offensichtlich, dass sich Kalman in der Umgebung nicht wohl fühlte, und erst recht nicht unter den Berührungen der Geweihten. Dennoch ließ er sich von ihr leicht widerwillig auf eines der Kissen führen.

Mit einem Blick zu Wulfhelm, der ebenfalls zurückhaltend wirkte, forderte Kalman den Gefolgsmann auf: “Komm, Wulfhelm, setz dich auch und trink etwas! Der Göttin zu Ehren. Und es lenkt ab.”

“Ja, Herr.” Wulfhelm nickte, aber ohne Überzeugung.

“Ja, ja, nur herein, ihr Lieben! Niemand soll allein an der Tür stehenbleiben, wenn es doch in unserer Mitte Gesellschaft und Genüsse und ein weiches Kissen gibt,” kam die Geweihte auf Wulfhelm zu und streckte freundlich den Arm nach ihm aus, um ihre Hand sogleich sanft an seinen Oberarm zu legen. Das Lächeln, das sie dem scheuen jungen Mann dabei schenkte, war aufrichtig und ihre Augen begegneten seinen fast liebevoll. Der Duft, der dabei von der jungen Frau ausging, war der von Rosenöl und Rauschkraut. „Trinkst du gerne Sauerbier oder möchtest du mal einen neuen Geschmack ausprobieren?“ fragte sie ihn dabei.

Wulfhelm lächelte verlegen und löste sich mit ein paar Handgriffen aus seinem Mantel. “Gerne… Gerne etwas Neues. Euer Gnaden. Der… Der Alltag hat mich früh genug wieder.” Er versuchte es mit einem etwas linkischen Grinsen, aber seine Augen verrieten das unweit der Oberfläche begrabene Unglück.  

Die Geweihte lächelte aufmunternd. “Dann, setz dich erst recht und lass los, was dich bedrückt. Die Herrin ist genau für solche Momente da.” Bedächtig streichelte sie seinen Oberarm, während sie Wulfhelm fürsorglich zu den Kissen führte. Nur wenig später hatte er einen Becher in der Hand, aus dem es nach reifen roten Kirschen roch, aus denen man einen herrlich fruchtigen, auf Zunge und Gaumen samtig weichen Likör gezogen hatte, dessen Alkoholgehalt niedrig war und daher die fruchtige Süße umso stärker wog. Nichts, mit dem man sich wegballern und dauerhaft vergessen konnte, aber trotzdem für etliche schöne Momente in einen von Bienen und Schmetterlingen beseelten sonnigen Kirschenhain entführte, in dem es nach Sommer und Unbeschwertheit roch.

Auch die anderen wurden herzlich willkommen geheißen. Zudem reichte die Geweihte die Schale mit den kleinen Handkuchen und den Gänsekeksen herum.

So saßen alsbald alle, die sich auf die Suche nach der Braut begeben hatten, auf einem Kissen auf dem Boden der Brauerei vor dem Schrein. In den Händen Becher mit unterschiedlichsten Getränken. Der Novize Leander hatte es beinahe meisterlich verstanden, für jeden das ‚passende‘ Getränk auszusuchen. Passend deshalb, weil es entweder ein unbekannter Geschmack war, den man bisher noch nicht wusste vermisst zu haben, bis man ihn schließlich genoss. Oder passend, weil er zu den Eindrücken, die man gerade im Herzen trug, passte, da er sich wohlig in selbige einbettete, dunkle für einen Moment aufhellte, traurige erheiterte, fragenden antwortete, hektische beruhigte, angespannte entspannte etc. Oder passend, weil er Erinnerungen hervorrief, die so wunderschön waren, dass man von selbst lächelte.

Ihre Gnaden Rajalind saß zufrieden in der Gruppe ihrer Gäste, selbst ein seliges Lächeln im Gesicht, beantwortete hier eine Frage, sprach da ein paar liebe Worte. Sie schaffte es, jedem Einzelnen ihre Aufmerksamkeit zu schenken, so dass sich auch diejenigen wichtig und gesehen fühlten, die es aus Stand oder anderen Gründen nicht waren. Nebenbei bot sie an, dass Leander und sie jedem, der mochte, mit köstlichem Rosenöl und einer wohltuenden Massage der Handflächen und Finger einen weiteren Moment der Entspannung schenken würde.

Rhodan erzählte freimütig von der Freude, die er ob der bevorstehenden Trauung empfand. Darüber hinaus entlastete er sein Herz von den Sorgen, die die Unbillen des Sturms und der Zustand seines Herren verursachten. Insbesondere Lares’ Geisteszustand schien ihm ein schwerwiegendes Übel. Dennoch behielt er Vermutungen über die Ursache für sich, genauso wie die Tragödie um Gudekar. Nur ganz selten blinzelte er nach Metas Amulett. Nicht, dass das kleine göttliche Wesen vor lauter Wohlgefühl wieder unabhängig wurde!

„Vielleicht solltet Ihr Euren Herren auch einmal hierher schicken, Rhodan?“ schlug Kalman vor.

Die Rahjani nickte begeistert. “Aber ja! Das solltet ihr unbedingt. Die Schöne ist nicht nur die Herrin unserer Sinne, sondern sie weiß auch um die Kunst, Wunden zu heilen und Ketten zu sprengen.” schloss sie etwas kryptisch.

"Ich wäre an einer Eurer geschickten Handmassagen interessiert!", meldete sich Imelda aufgeregt und rutschte unruhig auf dem Kissen hin und her, während sie eifrig die Hand nach oben streckte. "Ich habe ja heute auch schon mit der Hand viel gehämmert und ich bin dort tatsächlich ein wenig verspannt, glaube ich."

Daraufhin kam Leander mit dem Fläschchen Rosenöl zu ihr und verwöhnte die Ingrageweihte.

Extrem entspannt grinste Imelda leise seufzend in sich hinein.

Meta hatte sich auch zu den anderen in die Gruppe gesetzt und ihren Zaina-Amethysten vorsorglich unter ihrem Gewand verborgen, nachdem sie Rhodans Blick bemerkt hatte. Stumm hockte sie da und lauschte.

Kalman ließ der versammelten Gruppe einige Zeit, zur Ruhe zu kommen, etwas zu trinken und sich ein wenig zu entspannen. Der Tag war anstrengend gewesen, nicht nur für Wulfhelm, der bereits ab dem Morgengrauen oder, besser gesagt, bereits davor bei der Jagd geholfen hatte. Auch für die im Dorf gebliebenen war der Sturm mit Angst und Anspannung verbunden gewesen. Ein paar Augenblicke der Ruhe und Besinnung taten allen gut.

Doch dann trieb ihn doch die Ungeduld. “Euer Gnaden, Ihr habt die Frage meines baldigen Schwagers noch nicht beantwortet. Nun, dass Gwenn und ihre Begleiter nicht hier sind, ist offensichtlich. Doch habt Ihr einen Hinweis, wo sie sich aufhalten könnte?”

„Wird denn in Lützeltal jede Braut entführt, oder wer kam auf diese lustige Idee? Ich kenne diesen Brauch bisher nicht. Erzählt mir doch erst ein bisschen davon,“ bat die junge Geweihte freundlich. Ihre Augen strahlten, während sie Kalman interessiert anblickte und aus ihrem eigenen Becher Sahnelikör trank.

„Ich kann Euch darüber nichts berichten. Mich hat dieser Scherz auch unverhofft ereilt“, zuckte der große, beleibte Mann mit den Schultern. Dabei machte er eine lustige Figur - irgendwie wirkte diese Geste ob seiner Masse unbeholfen, wo er doch sonst behände und gewandt war.

„Nicht unbedingt jede Braut“, erklärte Kalman geduldig. „Aber es ist ein weit verbreiteter Brauch. Freunde des Brautpaares entführen die Braut oder den Bräutigam und verstecken sich an einem Ort im Dorf oder einem Hof. Der Partner muss dann auf die Suche gehen und am Ende die entführte Person auslösen, indem die Getränke und vielleicht das Essen bezahlt werden. Am Ende feiern alle gemeinsam und ausgiebig. Glücklicherweise findet die Trauung am Tag danach erst zur Traviastunde statt“, lachte Kalman.

“Wie praktisch,” lachte die Geweihte mit. Sie konnte sich gut denken, wie diese Feste aussahen. “Diesen schönen Brauch sollte es überall geben! - So nehmt doch noch Kuchen! Und von den Keksen! Und haltet noch einen Moment inne in eurer Hatz. Es wurde sicherlich bisher noch jede Braut gefunden, nehme ich an?” Ohne Antwort abzuwarten stand sie schmunzelnd auf, ging zum Altar hinüber und griff nach jener Laute, die am Altar lehnte. Bunte Bänder zierten den schlanken Hals des Instruments, welches sich liebevoll-zärtlich an ihren üppigen Busen schmiegte. “Etwas habe ich noch für euch. Ich glaube, es ist ein Rätsel. Man sagte mir, dass ihr sicherlich etwas damit anfangen können werdet.” Rajalind zwinkerte in Rhodans Richtung und stimmte mit glockenklarer Stimme ein kleines Lied an, zu dem sie sich auf der Laute begleitete. Es waren feine Töne und ein schöner Sang.

“Ich hab keinen Hals, auch keinen Kopf,

nicht Arme, noch Beine, ich armer Tropf.

Mal bin ich voll und mal bin ich leer.

Doch immer und stets wieget mein Holz sehr schwer.

Wer mich erkennt, der sage es laut.

Und vielleicht findet ihr dann eure Braut.

La la la laaaa, la la la laaa…”

Die Geweihte wiederholte die liebliche Melodie noch einmal, während sie ‘la la la’ sang. Gespannt wartete sie auf Reaktionen.  

“Hm, welches Holz wiegt sich im weitesten Sinne”, sann Lucilla leise murmelnd nach und blickte dabei zu Lûthardt. Dieser zuckte mit den Schultern. “Das eines Schiffes, einer Kutsche… einer Mühle?”, antwortete er, mehr fragend, als ernstgemeinte Erwiderung.

Imelda lauschte dem Gesang Rajalinds mit einem breiten Schmunzeln und klatschte für einen Moment begeistert der schönen Geweihten zu, bevor ihr Arm sofort in die Höhe schnellte. “Ich weiß, ich weiß!”, rief sie aufgeregt und sah freudestrahlend in die Runde, wer sich ebenfalls meldete.

Rhodan lächelte, ob der Gewitztheit der Ingrageweihten. Hatte sie womöglich die Weihe verfehlt? „Ich hätte auf die Zehntscheuer getippt: Diese ist nur nach der Erhebung des Zehnten voll. Hier wird viel Holz geschlagen und darauf der Holzzehnt erhoben. Dieser wiegt immer schwer - schließlich wird er in Stück Holz(stämmen) abgeliefert.“

“Ach nein, das ist falsch!”, warf Imelda lauthals ungefragt ein und setzte an, die Lösung herauszuposaunen. Doch dann zögerte sie, biss sich auf die Lippen und versuchte, die ihr auf der Zunge liegende Antwort zurückzuhalten. “Verzeiht bitte meinen vorlauten Einwurf, Herr Herrenfels, aber ich bin mir schon recht sicher, dass es mit der Brauerei zu tun hat!” Sie wippte ungeduldig auf ihrem Platz hin und her. “Also mit der Lagerung!”

Derweil summte und zupfte die Geweihte ihr kleines Liedlein weiter, schmunzelnd.

Wulfhelm sah nachdenklich hinab auf den Rest seines Getränks in seinen Händen. “Ein - Becher?“, rätselte er halblaut, offenbar wenig überzeugt von seiner Antwort.

“Naja, ich hätte auf ein Fass getippt”, sagte Darian gut gelaunt. Aber ein Becher würde auch passen. Allerdings ist ein Fass schwerer. Wegen dem “stets wieget mein Holz sehr schwer”, nicht? Also ich bleibe bei einem Fass.”

Imelda, die ebenfalls das Fass für die richtige Antwort hielt, war sehr froh, dass Darian zur gleichen Lösung wie sie gekommen war. “Ja, das denke ich auch! Wir sollten gleich zum Keller mit den ganzen Fässern! Die werden hier doch irgendwo gelagert!”

“Fässer?” brachte sich Kalman ein. “Hm, die gibt es viele. Natürlich hat der Rodenbach hinten im Lager jede Menge davon. Aber auch auf dem Markt war der Weinstand, der wurde jedoch im Sturm abgebaut. Bei uns im Gutshaus haben wir Weinfässer. Und natürlich im Wirtshaus. Da hat der Rodenbach heute Vormittag gerade ein neues Bierfass hingebracht. Ich hatte ihm noch geholfen, es auf die Schubkarre zu hieven. Wer weiß, wer noch alles Fässer lagert? Wie sollen wir da das richtige finden?”

„Das Rätsel hat man sich doch nicht heute ausgedacht. Wir können deshalb alle Orte ausscheiden, an denen sich spontan ein Fass befindet. Das Wirtshaus ist ein öffentlicher Ort. Das klingt vernünftig.“

Meta hatte ebenfalls zuerst an einen großen Becher, dann aber an ein Fass gedacht. Es mochte auch ein Regenfass sein. Anscheinend musste sie wohl oder übel beim Spiel bleiben. Sie fühlte sich, als wäre sie von denen, die das, was wirklich wichtig war, taten, getrennt und in eine unwichtige Gruppe verfrachtet worden. Wäre sie doch bei dem Magier geblieben.

“Wo befindet sich denn das aller-, allergrößte Fass, das Lützeltal zu bieten hat?” fragte Imelda nach, während sie nachdenklich eine rotblonde Locke zwirbelte. Sie ging davon aus, dass die Lösung etwas besonders großes und prächtiges sein musste - schließlich waren sie hier bei einer Hochzeit.

„Naheliegend wäre natürlich das Braufass im Brauhaus. Ist gerade ein Sud angesetzt?“

„Oh, es gibt ein aller-allergrößtes Fass hinten im Lager“, zitierte die Geweihte da Imeldas Worte. Die Rahjani hatte bislang ihre Finger äußerst geschickt über die Saiten der Laute tanzen lassen und tat es immer noch, als sie sich jetzt selbst zu Wort meldete. Zuvor war sie der Unterhaltung nur stumm gefolgt. „Aber meine Lieben, ihr wisst doch, dass Genuss nicht von Größe abhängig ist.“ Sie schmunzelte ob der schlüpfrigen Bemerkung. „Falls ihr es dennoch sehen wollt, das aller-allergrößte Fass, kann ich es euch gern zeigen. Wollt ihr, hm?“

"Ja, wir wollen es sehen!", rief Imelda lauthals heraus. "Und was die Größe angeht... so kommt es ganz gewiss auch auf den Inhalt an."

„Gebraut wird das Bier in mehreren Schritten. Die Maische reift zunächst in einem großen Bottich“, erklärte Kalman. „Als Fass würde ich es nicht gerade bezeichnen. Dann braucht man noch eine Sudpfanne. Genauer weiß ich das aber auch alles nicht. Am Ende kommt das Bier in die Fässer. Aber ja, der Rodenbach hat hinten ein recht großes Bierfass zur Lagerung. Da holen sich die Dörfler dann Krüge und Kannen voll ab. Wer braucht schon ein ganzes Fass voll Bier daheim?“ Kalman stand auf und deutete auf den versteckten Durchgang zum hinteren Teil des Brauhauses. „Lasst uns doch einfach nachschauen!“

“Ja, das ist eine sehr gute Idee,” lud Rajalind die Gesellschaft ein. Die Rahja-Geweihte grinste freudig und eben so, als ginge aus ihrer Sicht ein Plan auf. Sie legte das Instrument beiseite, erhob sich und führte die Suchenden zu einer Tür in der Rückwand, die hinter roten Stoffbahnen versteckt war. Sie öffnete die versteckte Tür und wies den Besuchern mit einer ausladenden Handbewegung freudig den Weg hindurch. Die Gäste empfing der Duft von süßem Malz und herber Maische.

“Der Weg steht euch frei,

zu finden die Braut,

wenn ihr dem Rätsel

immer vertraut.

La la la laa, la la la laa,

la la la laa, la du di daa,”

trällerte sie mit ihrer lieblichen Stimme und der gleichen Melodie, die sie bisher schon sang und spielte.

“Ja, Euer Gnaden!“ bedankte sich Kalman. “Habt Dank für die Gastfreundschaft und die Entspannung, die Ihr uns bereitet habt!” Er merkte jetzt, da er aufgestanden und zwei Schritte gelaufen war, dass der Wein ihm leicht zu Kopf gestiegen war.

~ * ~

In der Brauhalle

Kalman führte Rhodan und die anderen Gäste den Flur, der sich hinter der Tür erstreckte, entlang, bis sie auf der linken Seite die Tür zum Brauraum erreichten. Der Raum war geprägt von den großen Gefäßen, die es zur Bierherstellung bedurfte: Zunächst stand in der Mitte ein großer hölzerner Maischebottisch, aus dem es nach vergorenem Getreide roch. Dahinter folgte die kupferne Sudpfanne, die in einen gemauerten Ofen eingelassen war. An den Wänden standen Getreidesäcke, leere Fässer und Eimer. Volle Fässer lagen auf ihrem Bauch, so dass sie leichter gerollt werden konnten. Rechts des Eingangs jedoch war ein sehr großes Fass aufgebockt. Unter einem Zapfhahn stand eine hölzerne Kanne zum Abfüllen des frischen Gebräus.


“Den Göttern zum Gruße! Wilkommen alle miteinander!” begrüßte Erlwulf Rodenbach Rhodan, Kalman und die ihnen folgenden Gäste. “Edle Damen, edle Herren, so tretet doch ein und genießt ein frisches Bier mit mir!”

“Hoffentlich müssen wir nicht das große Fass zusammen aussaufen, bevor es den nächsten Hinweis gibt”, raunte Meta Imelda zu. “Bier auf Wein, das lasse sein.”

“Den Spruch kenne ich aber auch anders”, sagte Darian feixend, während er das kolossale Fass bestaunte: “Bier auf Wein, das ist fein!”

“Genauso kenne ich das auch!” jubelte Imelda breit grinsend und schlug Darian anerkennend auf die Schulter. Dann sprang sie zu Meta und legte kumpelhaft den Arm um ihre Freundin. “Keine Sorge, gemeinsam würden wir es schon schaffen, das zu leeren!” Mit großen, faszinierten Augen betrachtete die Geweihte das prächtige Fass. “Das ist bestimmt kein Starkbier, das die hier brauen…” Sie zuckte mit den Schultern. “Tatsächlich glaube ich aber, dass eine andere Aufgabe auf uns wartet.”

Vinja streifte durch das Lager der Fässer und bestaunte die vielen großen Bottiche. Der Geruch faszinierte die junge Frau - die Mischung aus gärendem Bier, malziger Süße und atmendem Holz. „Na, lieber Rhodan, meinst du, deine Verlobte versteckt sich im Maischebottich?“, neckte sie ihn, sodass es alle in der Halle vernehmen konnten. „Kann sein? Schau doch mal nach“, erwiderte dieser locker. Offensichtlich konnte er dem Spiel so langsam etwas abgewinnen. „Und in der Zwischenzeit genehmige ich mir eine Halbe Eures süffigen Gebräus, werter Meister Rodenbach.“

“Sehr wohl, die Herrschaften und die Damen! Nehmt euch dort aus dem Regal”, Erlwulf deutete auf einen Buffetschrank, in dem mehrere Holzhumpen gestapelt waren, “einen Becher.” Derweil ging der Braumeister zu dem großen Fass und stellte eine Kanne unter den Zapfhahn. Langsam, so dass es nicht zu sehr schäumte, ließ er die Kanne, die er dabei schräg hielt, voll mit dem goldgelben Gebräu laufen. Als die Kanne voll war, nahm er sie und fragte in die Runde: “Und wer möchte etwas probieren?”  

“Das scheint keine Brautsuche zu sein, sondern vielmehr eine Verkostung, was?” Der Rodaschqueller Ritter zuckte die Schultern.

“Nun, wenn das zur Suche gehört, dann müssen wir wohl unsere Pflicht erfüllen”, sagte er mit gespieltem Ernst - und hielt Imelda ungefragt und lächelnd gleich ebenfalls einen Becher hin.

Rhodan lachte. "Na, wenn sich meine Verlobte irgendwo mit zünftiger Musik und Häppchen vergnügt, dann, bei der Herrin Travia und ihren schnatternden Gänsen, sollten wir auch einen Schluck davon abkriegen."

„Aber vielleicht sollten wir aufpassen, dass wir noch in der Lage bleiben, Gwenn überhaupt zu finden“, wandte Kalman ein. „Ich habe das Gefühl, die Rahjani und Erlwulf haben sich gegen uns verschworen, auf dass wir bereits auf dem Weg zu Gwenn unter die Tische sinken und Gwenn ihren letzten Abend allein mit den Knechten verbringen muss.“ Kalman lachte, nahm dann aber doch ein Schluck des Bieres. Der Einwand brachte Vinja zum Kichern. "Nein nein, ich pass schon auf die Herren der Schöpfung auf."

“Es wäre ja eine Sünde ein in Gastfreundschaft gebotenes Getränk auszuschlagen.” Wulfhelm angelte sich mit einem geschickten Handgriff einen der Humpen und hielt ihn breit lächelnd dem Braumeister hin.

Die junge Hadingerin spürte, wie das Dererund sich ein wenig drehte, doch versuchte sie sich nicht anmerken zu lassen, dass sie etwas beschwipst war. “Oh, danke, Herr Darian.” Imelda nahm mit einem glückseligen Lächeln den Becher entgegen, trat näher an den Sturmfelser heran und zuppelte möglichst unauffällig an seinem Oberteil. “DU!...”, flüsterte sie etwas lauter. “...das riecht unglaublich lecker, aber ich glaube, ich schaffe kein ganzes Bierchen mehr. Hilfst du mir?”

Derweil goß Erlwulf allen Gästen, die ihm den Becher hin hielten von dem frischen Gebräu ein.

Es schmeichelte ihm, dass die Geweihte an seinem Hemd nestelte, und er ließ es zu. Dann nahm er einige kräftige Schlucke aus seinem Becher, leerte ihn in wenigen Zügen, und griff dann breit grinsend nach Imeldas.

Auch wenn die Frage absolut überflüssig war, stellte er sie dennoch:

“Was machst du da eigentlich?”

“Wie? Ähm, festhalten!” verkündete Imelda belustigt und ließ sein Gewand wieder los. “Also mal kurz ein bisschen probieren, das würde ich ja schon!”

Das Bier schmeckte leicht säuerlich, aber nicht bitter. Anders als das bunt gefärbte Sauerbier, dass einige Gäste bereits auf dem Fest kennengelernt hatten, schmeckte dieses nicht süß nach verschiedenen Früchten, die erfrischende Wirkung des kühlen Gesöffs wurde vielmehr durch den Geschmack verschiedener Kräuter verstärkt. Seine belebende Wirkung mochte vielleicht auch daher rühren. Vielleicht jedoch auch vom Alkoholgehalt, der nicht zu hoch war, um einen ungeübten Trinker sofort einzuschläfern, aber auch nicht so niedrig, dass nicht auch ein regelmäßiger Zecher von übermäßigem Genuss nicht nüchtern blieb.

“Fein, ja, lässt sich sehen!”, kommentierte Rhodan den Geschmack des Bieres.

“Ja, nicht wahr?” fühlte sich der Brauer bestätigt. “Auch ein köstliches Getränk, nicht wahr? Nicht so edel vielleicht, als wenn man die Kräuter brennt, aber halt etwas gegen den Durst, das man sicher nicht überall bekommt.”

Den Austausch um das Bier nahm Darian nicht so recht wahr. Oder besser: Er interessierte ihn im Augenblick nicht.

“Festhalten?”, sagte er belustigt zu Imelda. “Dabei habe ich doch dein Bier fast allein getrunken. Aber damit sind wir dann ja quasi quitt, was? In Schweinsfold war ich derjenige, der sich beim Tanzen festhalten musste, und da hast du mich ja gut zu führen gewusst.” Er strahlte.

Schweinsfold. Meta kicherte erst und lachte dann auf, als sie daran dachte, wie sie Imelda kennen gelernt hatte. Trotz der Bedenken kostete sie inzwischen auch von dem Bier. Nur mit mieser Miene rumstehen, das war Linnys Part gewesen, als sie noch mit ihm auf Reisen war. „Ritter Darian… Imelda, meine Freundin seit der Hochzeit damals… sie ist eine Königin, wenn es um Gebrautes und Gebranntes geht“, irgendwann hatte Imelda so einen Titel erwähnt, das Bier war aber wirklich süffig und beruhigte Metas aufgewühlten Geist. „Darian, glaubt mir, manchmal muss man die stärkste Frau halten. Das macht wirklich starke Männer aus.“ Sie lächelte den Beiden lustig zu und hob nochmal ihren fast leeren Becher. „Auf unsere Suche.“ Natürlich spürte sie fast körperlich die strengen Blicke Danilos und Linnarts, die vor ihrem geistigen Auge erschienen. Sie würde sich zurückhalten. Und das Gespräch zwischen Imelda und dem Darian wollte sie eigentlich nicht mehr stören.

Rhodan quittierte das mit einem wissenden Blick. Manchmal musste man offensichtlich auch schwache Männer festhalten. Schwach an Hirn und Willen. Doch wollte er hier keinen Streit anzetteln, ohne mit seiner Verlobten zuvor über die Fortschritte in Sachen Gudekar gesprochen zu haben.

“Eine Königin von Gebrautem und Gebranntem, das ist mal ein Titel! Das toppt ja fast Rosenkönigin”, kicherte Vinja und war ein klein wenig neidisch auf so viel Rahjanische Anerkennung.

“Ach, Ritterin Meta! Du übertreibst mal wieder.” Die Geweihte, welche rot angelaufen war, winkte ab und wandte sich an Vinja. “Ich war vor ein paar Götterläufen Obstweinkönigin Hadingens", erzählte sie sichtlich stolz. "Das ist bei uns eine große Sache. Ich hatte aber auch Glück, dass mein Bruder im Auswahlgremium saß… Jedenfalls geht's da nur um Vergorenes, nicht Gebrautes und Gebranntes. Letzteres ist bloß ein persönliches Interesse von mir. Wenn ich mal Zeit habe." Immer noch sichtlich verlegen nahm sie Darian den Bierkrug wieder aus der Hand und hob diesen zuprostend in Richtung ihrer Freundin Meta. “Auf unsere Suche!” Nach einem Schluck des süffigen Bieres reichte sie dieses mit einem Lächeln an Darian zurück.

Vinja deutete mit einem Nicken des Kopfes in Imeldas Richtung, sah dabei aber den großen Händler an. “Meinst du nicht, dass wir in Rosenhain auch so etwas brauchen? Nein? Mit einer feschen jungen Dame als Werbegesicht verkauft sich der Rosenblütenwein garantiert viel besser!” Das rang Rhodan nur ein mitleidiges Lächeln ab. Diese Vertriebsform mochte vielleicht klappen, wenn man Apfelwein oder Starkbier an ein paar Bauern verkaufen wollte. Doch sie vertrieben ein Luxusgut an die Noblesse der Nordmarken. Sowas zog bei den Einkäufern der Höfe nicht. Oder? Naja, vielleicht sollte er darüber ein paar Takte mit Gwenn sprechen - oder vielleicht mit seinem Schwager? “Glaubt Ihr das auch, Schwager Kalman? Worauf achtet Eure Hofhaltung beim Einkauf?”

„Naja, Ihr dürft Lützeltal nicht mit einem Hofe wie in Albenhus vergleichen“, erklärte Kalman verlegen. Mit einer ausholenden, um sich zeigenden Geste deutete er auf die Umgebung. „Wir versuchen, mit dem zurechtzukommen, was unser Tal zu bieten hat oder was wir mit Nachbarn handeln können. Was das Grafenland nicht selbst zu bieten hat, das kaufen wir natürlich dazu, Wein zum Beispiel, wenn wir bei den flüssigen Genüssen bleiben. Dabei ist es uns wichtig, dass es schmeckt und dabei bezahlbar bleibt. Wie die Flasche oder das Fass dabei ausschaut, das spielt keine Rolle, wenn der Wein in die Krüge und Becher kommt.“ Rhodan nickte, als hätte dies seine Vermutung bestätigt.

„Der Mann der Domna Verema, der hohe Herr Rahjaman, das ist der beste Weinhändler, den ich kenne. Über Länder hinweg macht er das mit Beziehungen und Können.“ Meta legte den Kopf schief und versank kurz in Gedanken. „Liegt aber sicher auch daran, dass der Wein der Traurigsteiner der Beste ist. Kein Gepantsche. Man muss ihn den richtigen Leuten probieren lassen, da braucht er kein hübsches Gesicht, welches beim Verkauf hilft… hm, wenn man den Rustikal als Kunden gewinnen will ist das aber sicher hilfreich.“

Kalman fiel auf, dass seine Worte vielleicht falsch verstanden werden konnten, deshalb wollte er noch klar stellen, dass dies bei der Hochzeit anders als sonst sei. „Versteht mich bitte nicht falsch, werter Schwager, für Eure Feier haben wir natürlich wirklich gute Weine ausgewählt. Schon allein wegen der vielen hohen Herrschaften, die zu Besuch hier sind, werden wir nicht die Weine anbieten, mit denen wir uns im Alltag zufrieden geben. Auch vom Linnartsteiner wird es zu trinken geben. Mein Bruder hat uns den Wein der Familie vom Traurigenstein ans Herz gelegt.

Meta wandte sich wieder an Imelda. „Hast du ein Gefühl, wie wir hier weiterkommen?“

“Ja, natürlich habe ich das, Meta! Wir folgen doch ganz einfach den Spuren der Schnitzeljagd.” Imelda wandte sich wieder Vinja, Rhodan und Kalman zu. “Also, die Aufgaben einer Obstweinkönigin liegen ja nicht nur darin, bei dem Weinfest nett auszusehen.” Sie wickelte sich eine ihrer rotblonden Locken um einen Finger und strich diese hinters Ohr. “Im gesamten Folgejahr muss sie Hadingen vertreten und dessen lokale Produkte präsentieren. Daher ist das Auswahlverfahren recht anspruchsvoll. Dass sie alles über Obstwein, dessen Herstellung und die örtlichen Bauernhöfe weiß, wird vorausgesetzt. Die Qualität fängt schließlich beim Grundprodukt an. Die Obstweinkönigin muss am Ende auch erklären, warum welcher Wein mit Preisen gekürt wird, was wiederum unter den Obstbauern ein Ansporn ist, jedes Jahr noch besseren Obstwein herzustellen.” Imelda blickte etwas verträumt in Erinnerungen schwelgend nach oben. “Man ist als Weinkönigin schon viel unterwegs und lernt viele interessante Leute kennen. Es ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, die wir bei uns sehr ernst nehmen!”

Kalman lachte. „Vielleicht sollten wir mal eine Weißbierkönigin küren hier in Lützeltal. Und in ein paar Jahren kann sich Madalin den Titel verdienen.“

Meta wollte sich einen Kommentar erst verkneifen. Ein großes Fest, ein Weißbierfest, am Ende gar mit Auftritten abgehalfterter, älterer Barden, Bratwurst, gesellige Spiele oder gar einen Lauf, dessen Sieger ein kleines Fässchen… Nein, zu rustikal. „Imelda würde da sicher auch gewinnen.“ Sie zwinkerte in die Runde und verbannte diese merkantilen, skurrilen Gedanken.

Die Hadingerin zog belustigt eine Augenbraue hoch und wandte sich interessiert an Kalman. “Was gibt es denn hier im Lützeltal für Feste? Ich bin mir sicher, dass die Leute gerne euer leckeres Bier verköstigen und das käme doch der ganzen Bevölkerung zugute?”

„Ihr meint Feste, bei denen Gäste von außerhalb kommen? Die gibt es hier nicht.“ Aus Kalmans Lachen konnte Imelda nicht erkennen, ob er die Vorstellung tatsächlich amüsant fand, oder ob es sich um von Frustration getriebenem Sarkasmus handelte. „Wisst Ihr, Euer Gnaden, nach Lützeltal verirrt sich normalerweise niemand so einfach. Aber natürlich feiern wir hier im Tal unsere Feste. Das wichtigste lokale Fest ist der Tag der Heimkehr, den wir zusammen mit dem Volk als Erntedankfest begehen. Und das Saatfest im Frühjahr. Aber auch die meisten anderen Feiertage der Zwölfe werden teilweise begangen.“

“Nun, was ich vom Lützeltal gesehen habe, hat mir sehr gut gefallen und das Hochzeitsfest hier ist bisher großartig!”, erklärte Imelda fröhlich. “Euer Weißbier gefällt mir außerordentlich gut. Das ist was ganz Besonderes! Am besten fand ich das mit dem grünen Sirup, mit Waldkräutern!”

„Es ist mir eine Ehre, diese lobenden Worte aus Eurem Mund zu hören, Euer Gnaden.“ Kalman verbeugte sich vor der jungen Geweihten. „Doch ist dies kaum vergleichbar mit Festen, wie sie in Albenhus gefeiert werden, allen voran das Flussfest oder das Fest der Freuden. Sowohl das Fest als auch der Markt hier sind äußerst bescheiden im Vergleich. Und auch ein Sturm wie der heutige hätte in Albenhus wohl kaum derart die Feierlichkeiten beeinträchtigt.“

“Ich denke, Ihr macht das Beste aus Euren Möglichkeiten”, warf der Sturmfelser ein. “Denn natürlich bietet ein kleines Dorf nicht dieselben Möglichkeiten wie eine Stadt. Wie unser Vogt auf der Rodaschblick immer sagt: Wenn die Ware stimmt, stimmt auch der Preis. Wenn Ihr also mit Eurer Braukunst etwas habt, das es sonst nirgends gibt und das die Leute mögen, dann kann auch ein kleiner Ort wie dieser sich gut weiterentwickeln.”

“Nun, zumindest uns hier im Dorf schmeckt es.” Kalman hob seinen Krug in die Luft. “Prost!”

“Prost, auf eine erfolgreiche Suche!” Meta hob ebenfalls ihren Krug. Sollte es sich ergeben, würde sie mit Kalman über das Weingeschäft reden. Ihr waren schon einige Gedanken gekommen, wie er die Sache gewinnbringender gestalten könnte. Meta runzelte die Stirn. Was dachte sie nur schon wieder? Sie würde Gudekars Familie zwar beschützen, aber am Ende waren es doch keine Freunde oder Geschäftspartner. Sie würden sie ablehnen. Aus deren traviagetränkter Sicht mochte man es ihnen nicht einmal übel nehmen.

„Prost“, stimmten Vinja und Rhodan mit ein.

Und ebenso hob der Sturmfelser seinen Krug. “Prost!”

Vinja streifte währenddessen weiter die Fässer entlang - so als suchte sie die Braut hinter einem Fass.

Sie fand zwar die Braut nicht, doch an der Seite des großen Fasses, aus dem Erlwulf gerade das Bier abgezapft hatte, sah sie plötzlich ein zweimal zusammengefaltetes Pergament, das seitlich mit einem kurzen Metallstift an die äußere Fasswand geschlagen war. Beschriftet war das Schriftstück mit den Worten: “Dem suchenden Bräutigam”.

"Ha, da ist ein Zettel!", stieß sie freudestrahlend aus. Offenbar war sie stolz wie eine Schneekönigin, das Pergament gefunden zu haben und grinste überlegen, als der dicke Händler den Zettel entgegennahm und studierte.

"Sehr schön!", rief Imelda laut jubelnd aus und trat eilig an Rhodan heran. Gierig versuchte sie, einen Blick auf den Inhalt des Zettels zu erhaschen. Doch sie konnte von ihrer Position aus nicht gut genug auf den Zettel schauen, um die leicht verschnörkelte Schrift zu entziffern. "Was steht denn drin?" fragte sie neugierig nach.

Auf der Innenseite des Pergaments konnte Rhodan die saubere Handschrift seiner Zukünftigen erkennen. Mit verzierten Lettern las er:

„Dies ist ein Fass gar groß und fein.

Es lagert Bier im Überfluss.

Das Fass des Bluthes ist wohl klein,

Sein Inhalt doch ein Hochgenuss.

Woanders wird er hier gebrannt.

Ist Gwenn vielleicht dorthin gerannt?”

Ein Schmunzeln huschte über das große Gesicht des Händlers. Seine Augenbrauen schnellten nach oben, belustigt über die Frechheit seiner Verlobten. Mit ihr würde er viel Spaß haben. Was für eine gute Frau. "Also, meine Liebste lässt ausrichten, wir suchen ein anderes, kleineres Fass. Ein Brandweinfass."

Kalman blickte genervt. “Dann müssen wir wohl wieder nach hinten umziehen, in die Brennstube. Da stehen doch die Brandweinfässer. Wobei ich sicher bin, dass Gwenn dort wieder nur einen Hinweis versteckt hat. Würden sich dort fünf Leute aufhalten, dies hätten wir doch bemerkt.”

Rhodan zuckte die Achseln. “Schritt für Schritt - so arbeitet auch der ehrbare Kaufmann.”

Die Ritterin verdrehte die Augen. Sie würden sich durch dieses Nest saufen müssen und am Ende als johlende Gruppe vielleicht dieses Biest finden. Zumindest hätten sie die Braut dann hoffentlich lebend gefunden. Diese Sache mit dem unheiligen Paktierer, die ging ihr trotz Wein und Bier nicht aus dem Kopf. Im besten Fall waren es wieder Hirngespinste, da sie Gudekar kurz vor dem Sturm über die Mission informiert hatte.

Als Kalman den Blick der Ritterin sah, musste er dann doch schmunzeln. Freundlich sprach er sie an. „Ihr scheint ebensowenig Gefallen an Gwenns Scherzen zu haben wie ich, hohe Dame Croy. Ich weiß, Ihr hattet bereits vorhin im Stall Sorge wegen der Entführung. Nun ist es eine Hochzeitstradion, der Gwenn folgt, um ihren zukünftigen Gemahl zu necken. Doch scheint Ihr noch immer in Sorge zu sein. Habt Ihr dazu konkreten Anlass?“

Meta presste die Lippen aufeinander und wog den Kopf hin und her. “Wahrscheinlich habt Ihr Recht und es ist alles nur ein Brauch. Aber ich bleibe skeptisch. Gudekar hat mich zum Schutz mitgenommen. Sicher nicht ohne Grund.” Sie sah Kalman an und lächelte versöhnlich. “Es schadet sicher nicht, wenn ich vorsichtig bleibe. Diese andere Beschützerin, die Flötzplogen, die passt wohl auf Gwenn auf. Eigentlich sollte ich bei Gudekar sein, durch den Sturm hat es mich in diese Gruppe geweht.” Sie zuckte mit den Schultern. “Vamos a ver.”

Kalman lächelte die junge Ritterin an. “Dann lasst uns die Suche schnell voran bringen. Gehen wir in die Brennstube und suchen den nächsten Hinweis.” Der Lützeltaler legte seine Hand auf Metas Schulter und schob sie sacht zum Durchgang in den Gang. Als sie ein wenig abseits der anderen standen, fragte er sie: “Sagt, hohe Dame, Euch liegt viel an meinem Bruder?”

„Natürlich.“ Unschuldig sah Meta Kalman an. „Ich passe auf ihn auf und er ist ein guter Mensch.“

Kalman blickte ernst. „Es ist sehr löblich, dass Ihr versucht, den Anschein zu wahren. Aber Ihr braucht mir nicht weismachen, dass Ihr lediglich zu seinem Schutz an Gudekars Seite steht. Es ist offensichtlich, was Gudekar uns vorzugaukeln gedenkt.“

Meta hob den Kopf, eine Hand in die Hüfte gestemmt, mit der anderen vage zu ihren Worten gestikulierend. „Ich wahre keinen Schein, was ich gesagt habe, entspricht der Wahrheit. Es ist, wie es ist. Dennoch sprecht Ihr mit mir. Was gaukelt Gudekar Euch denn vor? Und was ich?“ Herausfordernd, nicht feindlich oder unfreundlich sah sie Kalman in die Augen. Kurz zuckte ihr Mundwinkel. „Wir sollten ehrlich miteinander sein. Hier. Unter vier Augen.“

Kalman musste nun doch wieder schmunzeln. Wie standhaft sie versuchte, das Offensichtliche für sich zu behalten. „Also gut, meine Liebe, es ist doch offensichtlich, dass Gudekar uns vorgaukeln will, Ihr wäret nur zu seinem Schutz an seiner Seite. Und dennoch ist es für jeden, der seine Augen nicht verschließt, deutlich, dass Ihr mehr mit ihm teilt als nur den Weg. Ich will offen zu Euch sein. Ich verstehe nicht, was eine ehrbare Frau wie Ihr an meinem Bruder findet, aber gut. Ich habe nichts gegen Euch. Und eigentlich sollte es mir egal sein, was Gudekar heimlich in seiner Kammer treibt. Doch vor einem muss ich Euch warnen. Seht es nicht als Drohung an, sondern als gut gemeinten Rat. Solange Ihr Euer Techtelmechtel im Geheimen auslebt, soll es mich nicht stören. Doch versucht nicht, Euer Verhältnis öffentlich zu machen. Gudekar ist im Traviabund. Und man kann über Merles Herkunft denken, wie man will, sie ist ein Teil der Familie Weissenquell. Wir werden deshalb nicht dulden, dass sie öffentlich gedemütigt wird.”

Anerkennend und sichtlich überrascht musterte Meta Kalman von Kopf bis Fuß. „Respekt. Das hätte ich Euch nicht zugetraut. Ich werde Merle nicht öffentlich demütigen. Da habt Ihr mein Wort. Aber ich kann nur für mich sprechen.“ Stolz hob sie ihr Kinn. „Außerdem werde ich mich auch nicht öffentlich demütigen lassen. Bis zu einem gewissen Grad kann ich es um Rahjas Willen hinnehmen, aber irgendwann wird es der Almadanerin in mir zu viel. Mir ist es wichtig, jetzt auf Gudekar und seine Familie aufzupassen. Und ich stimme Euch zu, dass manches nicht jeder wissen muss. Es soll so wenig Ärger wie möglich geben. Mein Wort gilt, wenn meine Würde respektiert wird.“

“Sehr gut, natürlich sollt auch Ihr keine Demütigung erfahren”, nickte Kalman bestätigend. “Es geht dabei auch nicht nur um die Ehre der Familie oder von Euch. Ihr bringt Euch und Gudekar in ernste Gefahr. Und auch, wenn ich von dem, was er ist, nicht begeistert bin, so ist er mein Bruder und es wäre mir nicht recht, wenn ihm ein schlimmes Schicksal widerführe.”

Erschrocken und verwundert atmete Meta scharf ein. „Wie..? Ihr meint, wenn man uns als Frevler vor Travia bezeichnen würde?“ Sie flüsterte. Dies war die einzige Gefahr, die Kalman meinen konnte. Über diesen Paktierer, von dem Gudekar erzählt hatte, wusste er, wenn überhaupt, sicher nicht viel. Dafür war er zu sorglos. Sie flüsterte und fuhr sich gedankenverloren durch ihr Haar. „Das meint Ihr, oder? Dass man auf Gudekar aufpassen muss, das war mir schnell klar. Ach Mist. Er ist gerade irgendwo und ich kann ihm nicht zur Seite stehen. Aber, aber ich wollte nach Gwenn sehen. Es ist wohl nur ein harmloses Spiel. Das wusste ich aber nicht.“ Kalmans Warnung hatte Meta deutlich berührt. „Was ist das für eine Gefahr? Wenn ich es weiß, dann kann ich uns schützen. Ist es gar besser, wenn ich nicht mehr in seiner Nähe bin, bis die Feierlichkeiten vorüber sind? Und Gudekar ist Euer Bruder. Aber er ist auch ein vielschichtiger, guter und intelligenter Mann. Travias Schwester Rahja, sie verbindet uns. So, wie wir sind.“

„Über Gudekars Charakter brauchen wir nicht diskutieren, er ist, wie er ist.“ Kalman runzelte die Stirn. „Und dennoch wünsche ich ihn nicht in die Arme der Inquisition. Ein Traviafrevel ist ein Vergehen, das im Albenhusischen nicht auf die leichte Schulter genommen wird. Und schon gar nicht seit der Pruch hier sein Unwesen treibt. Die Vögtin, die Gwenn für morgen zur Hochzeitsfeier erwartet, versteht da zur Zeit keinen Spaß. Das hat Gwenn mir vorhin noch einmal deutlich gemacht. Ihre Hochgeboren ist bemüht, den Schaden für Travias Gemeinschaft möglichst gering zu halten, damit das Ansehen der Gräfin keinen Schaden nimmt, während sie in Gareth bei der Kaiserin weilt. Jegliche Frevelei, die in Zusammenhang mit dem Paktierer gebracht werden könnte, wird zur Zeit von Ihrer Hochgeboren mit harter Hand verfolgt. Schon der Verdacht, so er zu Hochgeboren Dürenwalds Ohren kommt, könnte Gudekar oder Euch in die Fänge der Inquisition führen.“

Rhodan hatte das Gespräch mit halbem Ohr verfolgt. Kalman schlug kluge Winkelzüge. Er drohte nicht selbst, sondern sprach aus, was realiter drohte, wenn man sich nur zu dämlich anstellte. So entstand eine latente Drohkulisse. Der Händler musste also nicht weiter tun, als nachzuhelfen. Das tat er, indem er schweigend im Schatten seines Schwagers verweilte und unauffällig nickte. Unter der Schwelle des Bewusstseins würde genau dies wahrgenommen werden.

Meta hatte Kalmans Worten aufmerksam gelauscht und nickte ernst. Ruhig überlegte sie, bevor sie dem Edlen antwortete. „Das sollte von meiner Seite kein Problem sein. Entweder bin ich die Beschützerin Eures Bruders, oder ich lasse mich gar nicht erst offen blicken, wenn Euch das lieber ist. Gudekar wird das auch schaffen. Mit Beteiligten, die vor der Vögtin zu…unsicher werden könnten, solltet Ihr noch reden.“ Sie verschränkte die Arme und hob die Augenbrauen. Dieser Gordito, der Weinpanscher, stand schon wieder zu nah für ein vertrauliches Gespräch. „Vale! Ich werde der Vögtin keinen Anlass geben, an dem guten Ruf des Hauses zu zweifeln.“

“Sehr gut, meine Liebe, sehr gut!” Kalman reichte Meta versöhnlich die Hand. “Macht Eurem Schützling bitte deutlich, wie ernst die Lage für ihn ist und dass auch er ab jetzt mehr Vorsicht walten lassen sollte.”

Meta nahm Kalmans Hand, drückte sie und sah ihm in die Augen. “Das werde ich. Behaltet Ihr seine Frau im Auge. Ich werde Merle nicht provozieren, das verspreche ich. Ihr könnt sie sicher besser einschätzen. Gerade, wenn die Vögtin da ist. Falls Ihr und Gudekar es für nötig haltet, wird Witta mich gar nicht sehen.”

Ein leicht gequältes Lächeln kam über Kalmans Lippen. “So sei es”, bestätigte der Lützeltaler Ritter, ohne genau zu sagen, welchen Teil von Metas Worten er damit meinte.

Stirnrunzelnd beobachtete Imelda, wie die Ritterin etwas abseits mit Kalman tuschelte. Leider verstand sie kein Wort von dem, was da geredet wurde. Ob die beiden einen Verdacht hinsichtlich des nächsten Rätsels hatten? Oder ging es um etwas ganz anderes? Aufgrund der ernsten Mienen vermutete Imelda, dass Kalman Meta vielleicht auf ihre Affäre mit Gudekar ansprach. Angespannt kaute sie auf ihrer Unterlippe; hoffentlich kam es nicht zum offenen Streit. Die Hadingerin seufzte innerlich; bei dieser Angelegenheit konnte sie Meta jetzt ohnehin nicht helfen. Daher wandte sie sich mit einem lauten Räuspern an Rhodan: “Verzeiht, aber gibt es noch einen Hinweis in der Nachricht, um was für ein Branntweinfass es sich explizit handeln könnte?” Sie verzog den Mund zu einem leisen Lächeln. “Nicht zufällig ein Fass Albenbluth, oder?”

Der dicke Händler hatte Imelda nahen sehen und wandte seine Aufmerksamkeit unvermittelt der Geweihten zu. „Doch, doch“, konstatierte er. „Es ist von einem Fass des Bluthes die Rede.“

“Aha!” jubelte Imelda und hüpfte ein bisschen auf der Stelle. Aufgeregt wandte sie sich an den Braumeister Erlwulf. “Verzeihung! Aber wo wird denn das Albenbluth gelagert?”

Erlwulf drehte sich zu der Geweihten um, da er das Gefühl hatte, dass er mit der Frage angesprochen war. „Ähm, die Fässer lagere ich hinten in der Brennstube in einem Regal. Gestern hatte ich noch neun Fässchen voll mit Albenbluth. Eines wurde auf dem Volksfest angebrochen, eines wurde vor der Wanderung des Herrn Magus zum Forsthaus gebracht. Und ein drittes habe ich heute vormittag rüber in die Weiße Quelle gebracht. Die anderen sechs Fässchen könnt Ihr gerne betrachten, wenn es Euch auf Eurer Queste hilft.“

“Das wird es ganz sicher!”, rief Imelda hoch motiviert. “Ich habe ein gutes Gefühl, dass wir auf der richtigen Fährte sind. Dann werden wir zunächst mit den sechs Fässchen hier beginnen”, schlug sie vor und hielt nach der Brennstube Ausschau.

“Dann also auf zum nächsten Fass.” Darian zuckte kurz die Schultern und ging ebenfalls Richtung Brennstube. “Hoffentlich ist der Hinweis tatsächlich in einem der sechs Fässer verborgen und nicht im Forsthaus”, murmelte er.

So recht hatte Meta alles nicht mitbekommen. Die Truppe setzte sich aber in Bewegung und eine freudig lachende Imelda führte sie an. Also auf zum nächsten Faß.

~ * ~

In der Brennstube

Erlwulf führte den Bräutigam und sein Gefolge in den Brennraum, der linkerhand am Ende des Ganges lag, also direkt neben der Tür, durch die Rajalind die Gesellschaft vor kurzem erst nach hinten geführt hatte. Links vom Durchgang stand an der Wand ein großer Maischebottich, aus dem es, obwohl er zur Zeit leer war, intensiv nach vergorenem Obst roch. Daneben war an der Wand ein Brennkessel gebaut. Zur Befeuerung hatte dieser unten einen gemauerten Kachelofen, dessen Abluft durch einen Schornstein in das obere Stockwerk führte. In den Kamin eingelassen war eine kupferne Brennblase, in die die Maische gefüllt werden konnte. Die Brennblase öffnete sich in den Geisthelm, von dem aus sich die geistreichen Dämpfe durch ein Rohr in die Kolonne und schließlich in den Kühlzylinder verteilten. Ein Duft nach verschiedenen Destillaten lag in der Luft. An der gegenüberliegenden Wand standen Regale, in denen Krüge, Flaschen und kleinere Fässer mit unterschiedlichem Inhalt gelagert waren. Davor stand ein Schreibpult, auf dem ein Buch lag, in dem der Bestand an Spirituosen ordentlich protokolliert wurde, wie Rhodan anerkennend feststellen konnte. Ein kleiner quadratischer Tisch mit vier Schemeln stand in der Mitte des Raums, darauf standen etliche kleinere Tonbecherchen. “Hier wird der Albenbluth gebrannt, ebenso wie all unsere anderen Köstlichkeiten. Habt Ihr schon einmal meinen Tannenwipfelgeist probiert? Eine besondere Spezialität, aber nicht für jede Zunge geeignet.” Erlwulf zwinkerte dem dicklichen Händler zu.

„Oh nein, habe ich noch nicht. Das klingt ja ganz interessant! Brennt Ihr den Schnaps aus Zirbennadeln oder wirklich aus Tannensprösslingen?“, frug er versiert.

Vinja hatte viel mehr Spaß, die Fässer nach weiteren Nachrichten abzuklopfen. Zwar war sie eine Akoluthin der Herrin Rahja, aber angesichts ihres schmalen Körperbaus einfach nicht in der Lage, wie ein Loch zu saufen. Der Herr Rhodan trug dagegen das Fass sprichwörtlich vor dem Bauch.

Kalman blieb am Eingang des Raumes stehen und lehnte sich lässig an den Türrahmen. Er hatte erst am Vormittag eine Schnapsprobe mit seiner Schwägerin in diesem Raum genossen und ihm war nicht danach, noch einmal die Brände durchzuprobieren. Aber er wollte Rhodan und den anderen Gästen den Spaß nicht nehmen.

“Den Wipfelgeist kenne ich. Ein recht strammer Absacker, möchte ich meinen. Die Angroschim aus Bergstätt haben ihn mal mitgebracht und schwören Stein auf Bein, dass der Schnaps da ein Renner ist und die Angroschim das Zeug …“ Er räusperte sich kurz entschuldigend “... lieben wie Katzen die Milch. Seitdem haben wir auf der Rodaschblick auch immer ein Fässchen davon da, weil hin und wieder Angroschim aus Xorlosch zu Gast sind und der Vogt sie immer vor Verhandlungen gewogen machen will.” Er schmunzelte.

“Habt Ihr gar unseren Wipfelgeist, Hoher Herr?” fragte Erlwulf den Ritter begeistert. “Der mundet besonders, habe ich Recht? Zumindest wenn man ihn verträgt. Ihr solltet ihn unbedingt probieren, Meister Herrenfels. Hört Ihr, auch die Zwerge lieben diesen Brand, meint Ihr nicht, da ließe sich ein gutes Geschäft draus schlagen?” Der Rhodenbach ging zu einem Regal und nahm eine Flasche mit einem klaren Schnaps. Schon beim Entkorken entströmte ihr ein Duft nach den Ölen frischer Tannennadeln. “Wir nehmen zum Brennen natürlich nur junge Triebe der Silbertanne. Also zu jung dürfen sie nicht sein, aber im Rondra geerntet, wenn die Praiosscheibe sie genügend ausgetrocknet hat und der Ölgehalt steigt, ergeben sie ein besonders intensives Aroma.” Der Brennmeister schenkte in einige kleine Becher einen Schluck der Spirituose ein und reichte den ersten davon an Rhodan. “Urteilt selbst!”

Das Interesse der Rodaschqueller Nachbarn weckte auch Rhodans Neugier. Es gab also Zwerge, ganz in der Nähe - aus Xorlosch gar - die auf diesen lokalen Brand abfuhren? Der gewiefte Händler witterte ein einfaches, aber lukratives Investment. „Ja doch, danke Euch!“, antwortete er Erlwulf und meinte dann zu seinem ritterlichen Saufkumpan: „Wie viele Fässer braucht der Herr Vogt denn regelmäßig?“

Auch Erlwulf hörte jetzt sehr genau zu. Ließ sich da vielleicht ein gutes Geschäft anbahnen? Der Bräutigam sollte ja wohl ein ganz passabler Kaufmann sein, wenn man den Gerüchten im Dorf trauen konnte.  

“Regelmäßig?” Darian warf den Kopf in den Nacken und musste nochmals laut lachen. “Mein Bester, “regelmäßig” kauft Herr Korninger gar nichts, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt! Aber hin und wieder brauchen wir halt Nachschub. Die Wirtin vom Rosenhof in Kelnen dagegen, Friedselma mit Namen, bei der werdet Ihr sicher eine dankbare Abnehmerin finden. Immerhin grenzt Rodaschquell ja direkt an Xorlosch.”

Ob er einen Zug von dem Zeug nehmen wollte, da war er sich nicht so sicher. Aber kneifen war noch nie sein Ding, und die aufmunternd-zustimmenden Gesichter um ihn herum taten ihr Übriges, dann doch noch ein Pinnchen von dem starken Brand zu nehmen. “Ach, was soll’s”, sagte der Ritter gut gelaunt und stürzte den Geist hinunter.

Der Geschmack war tatsächlich äußerst gewöhnungsbedürftig und der Schnaps brannte in der Kehle, als würden die trockenen Tannennadeln noch darin schwimmen und in den Hals pieksen. Doch schon bald stellte sich eine wohlige Wärme im Bauch ein. Nach einem schweren Essen mochte der Schnaps sicherlich etwas Gutes haben. Doch zum Genießen war er eher nicht geeignet.

Der Händler nahm den Schnaps trotz des beißenden Geruchs entgegen und probierte wie ein Kenner zunächst ein wenig davon, um den Geschmack im Mund wirken zu lassen. Ja, dieses Zeug war eindeutig giftig und nichts für Mamas Alrikchen. Aber dass es den Zwergen mundete, konnte er sich 100% vorstellen. Schade, dass Erbosch sie nicht begleitet hatte. Vielleicht musste er dem alten Griesgram einen Humpen davon mitbringen - womöglich würde er dann nicht mehr so über die Bilanzen maulen. „Der Rosenhof, ja sicherlich.“, bestätigte er. „Herr Erlwulf - was gibt eure Brennblase für einen Ausstoß her? Wie viele Fässer im Mond wärt Ihr in der Lage, zuverlässig zu liefern?“ In einem Zug schluckte er den Rest im Becher, um auch die Wirkung spüren zu können. Und bei Rahja, dieser Schnaps brannte kräftig; so als hätte man die Tannennadeln in seinem Rachen angezündet.

Erlwulfs Augen wurden groß bei Rhodans Frage. Er fing an zu stottern. “Ich… ich.. ich müsst das wohl erst einmal nachrechnen. Allzuviel sicher nicht. Die Tannenwipfel kann ich nur zu einer bestimmten Zeit ernten, und nur so viel, wie mir Leodegar zugesteht. Und ich müsste erst um ein höheres Brennrecht nachfragen.” Die Brennerei war stets eher ein Nebengeschäft der Rodenbachs. Doch nun witterte Erlwulf eine gute Gelegenheit. “Also, wenn ihr mir genügend Vorlauf gebt, … Nun, lasst uns doch ein anderes Mal darüber sprechen.” Er schaute Rhodan intensiv an und trat von einem Bein auf das andere. Kalman nickte ihm aufmunternd zu. “Wie viel würdet Ihr denn…? Was wäre denn Euer Bedarf?”

Der Händler wog mit seiner Rechten und seiner Linken die Luft, während er den Blick zu Boden gerichtet hatte. Dabei murmelte er etwas, was wirkte, als ob er kalkulierte - ein Vorgang, der schon vor mehreren Minuten abgeschlossen war. „Vorbehaltlich eines Einspruchs meines Herrn, des Junkers von Mersingen - der mir in diesen Angelegenheiten umfänglich vertraut - hatte der Rosenhainer Kontor Interesse an der Abnahme von drei Fässern Eures Brandes pro Mond - sagen wir: Für die nächsten phexgefällig neun Monde. Dann sollten wir uns noch einmal über die Liefermenge unterhalten.“   

Erlwulf schluckte und schüttelte dann den Kopf. “Falls Ihr es nicht vernommen hattet, edler Herr, ich kann diesen Brand nur im Rondramond brennen. Und auch dann nur in begrenzter Menge. Ihr meintet jedoch kleine Fäßchen, wie wir sie für unsere Spirituosen verwenden, also zu je ein Urn, nicht wahr?”

„Hm. Ja, ich meine die Kleinen - Größere Fässer würden zu schnell zu viel Destillat an die…“, er schwenkte mit der freien Hand durch die Luft, „Alveranier verlieren. Nur im Rondramond? Dann müsst Ihr für ordentlich Vorrat sorgen.“

“Drei pro Mond… für neun Monde… und dann noch das, was wir hier verbrauchen… dann müssten es drei göttergefällige Dutzend Fässchen sein, die ich davon brennen muss.” Sorgenfalten bildeten sich auf der Stirn des Rodenbachers. “So viel… ich weiß nicht. Vielleicht hat der gelehrte Herr ja eine Idee, wie ich dies bewerkstelligen kann.” Er bedauerte, nicht gleich die Hand auf das Geschäft anbieten zu können. Ein solch lukratives Angebot hatte er schon lange nicht mehr vernommen.

„Da ist Eure Kreativität gefragt“, bestätigte Rhodan. „Aber ich bin mir sicher: Am Willen des hiesigen Landesherrn wird es nicht scheitern.“ Dabei zwinkerte er Kalman zu, der zustimmend nickte.

Aus was man nicht alles Gesöff machen konnte. Meta hielt ihren Becher in der Hand, beobachtete fasziniert und neugierig die wasserklare, waldduftende Flüssigkeit. Dieser Geist tarnte sich gut, doch sicher würde Meta gleich einige lustige Gesichter sehen, wenn das Zeug seinen Weg bis in den Magen gefunden hatte. Sie selbst hatte noch nicht vor, zu trinken.

Die junge Hadingerin beobachtete genau, wie Erlwulf die Flasche entkorkte und die Becherchen füllte. Sie seufzte beim Gedanken an diesen leckeren Geist, da sie sich bereits ein wenig beschwipst fühlte. Andererseits wollte sie nicht unhöflich erscheinen. “Ganz schön starkes Zeug!”, rief sie kichernd zu ihrer Freundin Meta. “Sehr lecker, aber man sollte ihn nicht unterschätzen.” Sie roch an dem kleinen Gläschen und nahm den Duft genüsslich auf. Dann prostete sie mit einem leichten Lächeln den anderen zu. “Waldmanns Dank!” Sogleich kippte sie das Becherchen herunter und spürte, wie sich die Welt noch stärker zu drehen begann. Eilig suchte sie den Augenkontakt Darians.

Während Rhodan sich überlegte, ob und wie man die lokalen Spirituosen gewinnbringend vermarkten könnte, blickte er sich in der Brennstube um, wobei er zu erfassen versuchte, welche verschiedenen Brände es hier wohl geben mochte. Sein Blick blieb dann an einem Regal hängen, in dem mehrere kleine Fässchen nebeneinander standen. Drei Fässchen auf den linken Seite des Regalbretts, dann ein freier Platz, zwei Fässer auf der rechten Seite. Auch Metas Augen folgten bald denen ihres früheren Weggefährten und sie sah die Fässer ebenfalls. Imeldas Blicke blieben jedoch an Darian hängen.

Der Sturmfelser genoss die Gesellschaft und die lockere, ungezwungene Atmosphäre. Heiter - und sicherlich auch angeheitert - prostete er hier und da zu und blickte sich um. Bis er Imeldas Blick bemerkte - und inne hielt. In der rechten Hand noch immer einen Krug oder ein Pinnchen - spielte das noch eine Rolle? -, interessierte er sich weniger für das Drumherum, sondern vielmehr für diese kecke Geweihte. Und wie jeder Mann mochte auch er es, so angesehen zu werden. Seine Augen wurden etwas schmaler, als er breit lächelte und Imelda tief in die Augen schaute.

„Sagt, Meister Erlwulf: Wohin ist denn das Fässchen verschwunden, das hier“ - er deutete auf die Lücke - „gelagert war.“ Ob des scharfen Geschmacks schaubte der Händler noch immer betont durch die Nase.

Erlwulf schaute zu dem Regal, auf das Rhodan zeigte und war irritiert. “Ich bin mir sehr sicher, dass es heute morgen noch sechs Fässer waren, die dort standen. Moment, ich schaue in meinem Buch nach.” Der Braumeister ging zu dem Pult und schlug sein Buch auf. Aufmerksam ging er die letzten Einträge durch, blätterte dann noch einmal zurück und verglich die Zahlen. “Hm, nein, es müssten tatsächlich noch sechs Fässer Albenbluth sein!” Er schlug das Buch zu und ging alle Regale durch, ob das sechste Fass vielleicht an einem anderen Ort gelagert war. Doch kopfschüttelnd signalisierte er, dass er erfolglos blieb. “Nein, es ist wirklich weg!”

„Heidewitzka, heute morgen also? Hat meine Verlobte gar ein eigenes Fass bekommen? Hoffentlich ist es noch nicht leer, sonst ist sie morgen noch nicht nüchtern“, frotzelte Rhodan. Hatte derjenige Spuren hinterlassen, der das Fass entwendet hatte?

„Hmm.. wäre nicht schlecht für die Hochzeitsnacht…“, murmelte Meta mehr zu sich selbst. Bisher waren auch immer irgendwo Zettel aufgetaucht. Bei Fässern. „Lasst mich mal schauen, ich hab noch nicht so viel getrunken und flinke Finger.“ Sie schlängelte sich an dem verlassenen Bräutigam vorbei und untersuchte neugierig die Lücke. Vielleicht steckte auch etwas am Rand oder unter den Fässern.

Tatsächlich entdeckte Meta an der Stelle, wo eigentlich das Fass stehen sollte, ein kleines Ledersäckchen, das in der Mitte eines Haufens mit Tannennadeln vermischten Waldbodens drapiert worden war.

Vorsichtig öffnete Meta das Säckchen. „Da schaut, was statt dem Fass da war“, sagte sie unbestimmt in normalem Tonfall. Sie wollte die Begleiter an ihrer Entdeckung teilhaben lassen, aber Imelda nicht stören.

So schüttete Meta den Inhalt des Säckchens auf den kleinen Tisch in der Mitte des Raumes. Heraus fielen verschiedene eigentlich frische, doch langsam welk werdende Kräuter – und ein zusammengefaltetes Blatt Papier.

Rhodan lachte innerlich. Wenn diese Ritterin wüsste, was für flinke Finger er hatte. Eine kleine Kostprobe durfte sie haben. Er schnappte den Zettel aus dem Grün und faltete ihn auseinander.

„Na, hab ich ihn Euch gut in die Finger zufliegen lassen, Herr Rhodan. Dann lest doch mal vor, wir wollen Gwenn ja noch finden, bevor das Fass leer ist.“ Lesen würde er schon noch können. Auch Rahjaman vertrug recht viel und Meta wollte einfach nur weiterkommen. Gut, dass sie sowieso kein Geld mehr im Beutel hatte. Dieser Händler war, was sie sich vage erinnerte, nicht von Adel. Der hatte sich sicherlich dubios hochgearbeitet und mit Gudekars Schwester jemanden aus einer Familie getroffen, die ihre Angehörigen jeden heiraten ließen. Waisenmädchen, Weinpanscher… Sie schmunzelte. Obwohl sie nicht wollte, gefiel ihr die Suche.

Rhodan entfaltete den Zettel. Die Schrift darauf erkannte er nicht. Wieder war der Text in Versform verfasst.

“Rot ist das Bluth der Alben unter ihrer Haut.

Doch grün ist die Essenz, aus der es gebraut.

Der Kräuter sieben, frisch und saftig gepaart:

Joruga, Donf und Belmart.

Lulanie

darf fehlen nie!

Mit der Schere

pflück’ die Einbeere!

Gilbornskraut

mundet der Braut.

Rahjalieb

ebenfalls dazu gib!

Sie wachsen beim Haus im Wald.

Dort findet Ihr auch die Braut alsbald.”

Imelda lächelte glücklich und hielt noch etwas länger den intensiven Augenkontakt mit Darian aufrecht. Für einen Moment schien alles andere im Raum vergessen und sie bekam erst beim Vorlesen des neuen Hinweises wieder mit, was um sie herum geschah. Interessiert wandte sie sich an Kalman: “Das ist doch vermutlich das Forsthaus! Oder gibt es noch eine andere Hütte im Wald, auf welche Eurer Meinung nach die Beschreibung zutreffen würde, Herr Kalman?”

Statt Kalman ging jedoch Erlwulf gleich auf die Frage ein. “Ja, natürlich ist das Forsthaus gemeint. Dort in der Umgebung suchen wir immer die Kräuter, die wir für das Albenbluth brauchen.” Sein Blick wanderte entschuldigend zu Kalman, weil es ihm nun auffiel, dass er dem Sohn seines Edlen ins Wort gefallen war.

Doch Kalman lächelte freundlich und nickte ihm aufmunternd zu.

„Seid Ihr Euch sicher? Wie weit ist es gleich wieder bis dorthin?“ Meta wusste es nicht mehr genau von ihrer Wanderung, ein Viertel Stundenglas, oder mehr? „Das würde die fehlenden Pferde erklären. Nix wie los, wenn Ihr meint.“

„Zu Fuß dauert es etwa ein halbes Stundenglas. Mit Pferd wenige Minuten“, erklärte Kalman. „Je nachdem, wie eilig man reitet.“

Imelda kicherte vergnügt, ging zu ihrer Freundin Meta und flüsterte ihr von hinten ins Ohr: “Also, dass du mal wieder lieber reiten möchtest, hätte ich mir denken können.” Dann gab sie ihr einen leichten Hüftstoß und wandte sich an den Ritter Darian. “Herr Ritter, Ihr seid ja sicherlich recht geschickt zu Pferd. Hättet Ihr noch Platz auf Eurem stolzen Roß? Ich bin nämlich nur zu…”, Imeldas Augen leuchteten plötzlich weit auf vor Begeisterung und sie wippte aufgeregt ein wenig hin und her. “Habe ich dir schonmal von Hilbertio erzählt? Was ist eigentlich von allen Tieren auf dem Dererund jenes, welches du am meisten magst? Also, außer deinem Roß natürlich. Ich nehme an, dass du dieses vermutlich über alles andere auf der Welt liebst. Magst du zufällig Esel und Maultiere?”

“Esel? Maultiere?” Darian schaute sie irritiert und amüsiert zugleich an. “Was in aller Welt sollte ich mir groß aus denen machen? Ich reite Bérrenn, einen etwas kräftigeren Elenviner. Maultiere und Esel sind für die Bauern. Bérrenn und ich müssen eine Einheit bilden. Er muss wissen, was ich will, und daher ist er mir von allen Tieren natürlich das liebste. Ich muss mich auf ihn verlassen können. Und Meister Keldor hat mich gelehrt, die Tiere gut zu behandeln. Daher schaue ich meist auch selbst nach ihm. Aber wer ist nun Hilbertio?”

Imeldas Laune schien schlagartig zu ernüchtern. Sie presste die Lippen aufeinander und sah Darian mit zusammengekniffenen Augen an. “Ach, weißt du… Hilbertio ist mein bester Freund und hat mich auf meiner Walz begleitet. Er ist treu und die letzten zwei Götterläufe stets an meiner Seite gewesen, hat mir Trost gespendet, als ich allein in den Bergen unterwegs war und wenn ich jemanden brauchte, der mir einfach nur zuhört oder an den ich mich nachts ankuscheln konnte, wenn es geschneit hat und wir es uns in einem Heuschober gemütlich gemacht haben und… er ist das flauschigste und süßeste Grautier, was man sich auf dem ganzen Dererund vorstellen kann.” Verlegen lächelte sie den Ritter an. “Was hältst du davon, wenn du mir Bérrenn vorstellst und ich mache dich mit Hilbertio bekannt? Du wirst ihn lieben, glaub mir… und Bérrenn vermutlich auch.”

Innerlich seufzte der Sturmfelser. Na, das hätte ich mir auch denken können!, ging es ihm durch den Kopf. Es war sonnenklar, dass Hilbertio ein Esel oder ein Maultier war. Oder ein Maulesel? Darian brachte das immer durcheinander. Das eine waren die Weibchen, das andere die Männchen. Aber - nun ja - Heuchelei war noch nie sein Ding. Und zu Eseln, Schafen, Schweinen und Hühnern und anderen Nutztieren außer Pferden hatte er für gewöhnlich nur wenig Bezug.

“Schau”, sagte er in einem leicht versöhnlichen Ton, “für mich dreht sich alles um Bérrenn. Hat er das richtige Futter bekommen? Ist meine Rüstung bei einem Turnier nicht zu schwer? Denn er ist ja kein Trallopper Wallach. Sind die Hufe in Ordnung? Wenn ich unterwegs bin, muss ich mich auf ihn verlassen können. Und er sich genauso auf mich. Daher sind wir ein gutes Gespann. Und ich verstehe, dass deshalb dein Hilbertio auch für dich ein treuer Gefährte ist. Gerne würde ich ihn mal sehen.”

Er grinste breit. “Ob das auch für Bérrenn gilt, kann ich nicht sagen. Er hat seinen eigenen Kopf.”

“Einen eigenen Kopf hat Hilbertio auch!”, lachte Imelda laut auf. “Aber er ist ein ganz Lieber. Esel spielen bei uns in Hadingen eine wichtige Rolle.” Die Geweihte sah glücklich zum Sturmfelser auf. “Wir haben eine große Eselszucht und mein Bruder hat mir das wundervollste Grautier aller Zeiten geschenkt.”

“Bérrenn ist mein drittes Pferd”, sagte er leicht und mit einem gewissen feierlichen Ernst, als er an seinen Kampfgefährten dachte. “Und seit mehreren Jahren nun schon trägt er mich. Er weiß, dass ich hitzköpfig bin. Er weiß, dass ich manchmal zu stark oder abrupt nach dem Sattel greife, um mich auf ihn zu schwingen. Er weiß, wenn ich ungeduldig bin - und das ist oft der Fall. Aber vor allem: Er weiß sofort, was ich will, wenn ich ihm ein Kommando gebe. Manchmal schon, bevor ich den Gedanken selbst habe.”

Er schaute Imelda nun ernst in die Augen und lächelte dabei versöhnlich.

“Daher kann ich mir vorstellen, was dein Hilberto für dich bedeutet."

***

Kalman winkte den Brennmeister zu sich. “Rodenbach”, raunte er ihm zu, “heißt das, Gwenn erwartet allen Ernstes, dass wir jetzt alle zu Fuß ihr zum Forsthaus hinterhereilen, während sie mit ihren Leuten gemütlich vorausgeritten ist? Oder soll jetzt jeder von uns gehen und sein Pferd satteln?” Der Edlensohn schaute sich um. “Ich weiß nicht einmal, wer von den Anwesenden wo sein Pferd untergestellt hat.”

“Keine Sorge, hoher Herr”, wiegelte Erlwulf ab, “während Ihr Euch in der Schankstube von der Rahjani habt verwöhnen lassen, habe ich für jeden ein Pferd satteln und einen Einspänner”, dabei deutete er auf die ältere, vornehme Dame, “herrichten lassen. Sie stehen drüben an der Scheune neben der Schmiede bereit. So, wie Gwenn es mir aufgetragen hat.”

Kalman hob eine Augenbraue, zog den Mundwinkel hoch und nickte. “Also gut. Sie hat wohl an alles gedacht.”

„Ach, Ihr habt bereits gesattelt. Wenn dem so ist, dann wisst Ihr sicher, ob sich meine Verlobte tatsächlich im Forsthaus aufhält oder dort nur ein weiteres Gelage wartet. Langsam mache ich mir ein wenig Sorgen um sie“, gab der Händler zu.

Meta blickte hellhörig zu Rhodan. Endlich. Sie sorgte sich schon seit die Pferde verschwunden waren, trotz Gudekars halbherziger Beruhigung. Ach Gudekar… sie sollte bei ihm sein und Acht geben anstatt dieses Miststück von Schwester zu suchen. Hoffentlich saß Gwenn beschwipst mit ihrem Fass im Forsthaus, dann würde Meta Gudekar suchen und ihre Rolle als Beschützerin wieder aufnehmen.

“Ähm, ja, nun”, druckste Erlwulf Rodenbach herum. “Beim Forsthaus wurde wohl ein Imbiss vorbereitet, da die Edle Dame meint, nach dem ‘vielen Gesaufe’ bräuchtet Ihr bestimmt ‘erst einmal etwas zwischen die Zähne’. So hat sie es gesagt.”

Er versuchte es, den Impuls zurückzuhalten. Allein, es mochte ihm nicht gänzlich gelingen. Darian unterdrückte zwar ein schallendes Gelächter, aber ein kurzes, prustendes Geräusch - begleitet von zuckenden Schultern - ließ sich nicht vermeiden. Eines von der Art, wie es entsteht, wenn der Mund beim Lachen geschlossen bleibt und stattdessen die Nasenhöhlen strapaziert werden.

Erlwulf blickte den Ritter ganz betreten an. Hatte er etwas falsches gesagt?

Rhodan konnte den Impuls dementgegen nicht unterdrücken. Ein schallendes, dröhnendes Lachen rollte durch den Raum. Er musste sich den großen Bauch halten. „Meine… liebe… Gwenn“, prustete er. Als das Lachen abebbte, ergänzte er: „Das sieht ganz nach ihrer Fürsorge aus. Sie hat wahrlich ein gutes Herz.“

Erlwulf atmete innerlich tief durch. Er war beruhigt, nichts gesagt zu haben, was die edle Dame in den Augen ihres Bräutigams schlecht aussehen hätte lassen. Dem feisten Händler schienen Gwenns Worte wohl zu gefallen.

***

„Worauf warten wir eigentlich noch?“ fragte Kalman. „Lasst uns zu den Pferden und dann zum Forsthaus und hoffen, dass Gwenn dort wohlbehalten auf uns wartet.“ Der Ritter ging zum Flur hinaus Richtung Hinterausgang des Brauhauses.

„Und wer zahlt mir das fehlende Fass?“ rief Erlwulf dem Sohn seines Herren hinterher.

„Das organisiere ich Euch wieder“, versprach Rhodan vollmundig. „Und wenn es mittlerweile ein leeres Fass sein sollte: Setzt es schon einmal auf meine Rechnung.“

Erlwulf lächelte und hoffte auf letzteres.

“Wartet”, ergriff nun die Erbvögtin das Wort, da sie nun tatsächlich etwas beizutragen hatte. “Der Weg zum Forsthaus ist durch einen umgestürzten Baum versperrt und die Wegstelle durch das dichte Unterholz drumherum nicht einfach umgehbar. Es wäre also sinnvoller, den Weg zu Fuß zu beschreiten.” Lûthardt, der junge Ritter an der Seite der Adligen nickte bestätigend.

„Die Wege des Herrn…“, murmelte Rhodan mit einer gewissen Frustration in der Stimme. „Wie weit ist es bis zu der Stelle, an der der Baum liegt? Vielleicht können wir einen Knecht oder zwei mitnehmen, die auf die Pferde aufpassen, sodass wir dort absatteln können.“

„Aber wartet, euer Wohlgeboren“, schaltete sich Kalman ein. „Eine Frage hätte ich noch: war denn Gwenn mit ihren Begleitern bereits an der Jagdhütte, als ihr aufgebrochen wart? Wenn nicht, wird ihr Trupp die gleichen Probleme gehabt haben wie wir. Sie waren ja wohl ebenfalls mit Pferden unterwegs und hatten vielleicht ein Fass dabei, wer weiß was noch.“

“Nein, bis zu unserem Aufbruch ist dort niemand angekommen”, entgegnete die Galebfurtnerin.

“Dann müssen sie einen anderen Weg genommen haben, wenn sie mit Pferden unterwegs sind”, überlegte Kalman.

Damit wandte er sich wieder Erlwulf: „Nun sprecht, Meister Rodenbach: war das Forsthaus Gwenns endgültiges Ziel oder wo will sie auf uns warten?“

Zunächst schüttelte der Brennmeister grinsend den Kopf. Doch als er sah, dass Kalman von Weissenquell keine Geduld mehr für Spielereien hatte, wurde er ernst und antwortete wahrheitsgemäß. „Sie wollte an der Quelle auf Euch warten.“

Kalman verdrehte die Augen.

Das Spiel wirkte irgendwie nicht mehr wie ein solches. Dem Sturmfelser war dies gewissermaßen einerlei. Es war Sache der Brautleute, zu entscheiden, wie lange sie sich damit aufhielten.

Sein Blick ging zum Bräutigam, denn der musste letztlich das entscheidende Wort sprechen.

„Nun, bevor wir versuchen, uns zur Jagdhütte durchzuschlagen“, schlug Kalman schließlich vor, „nur um dann festzustellen, dass Gwenn dort gar nie angekommen ist, könnten wir beim Lützelfisch nachfragen, ob er zufällig etwas gesehen hat oder weiß. Schließlich liegt seine Fischzucht ja quasi an der Weggabelung am Bach. Und er ist Bernhelms älterer Bruder. Vielleicht ist er ja eingeweiht.“

„Lützelfisch? Der mit den Fischen?“ Meta erinnerte sich an den lustigen Namen und den netten jungen Mann dazu. „So einen Kerl hab ich vorhin ins Lazarett gebracht. Er will mir zum Dank seine Fische zeigen. Wenn nicht das halbe Dorf so heißt, dann muss das vom Alter her Sohn oder Neffe sein.“ Bei abgeschiedenen Dörfern gab es bisweilen nur wenige Namen und alle waren miteinander verwandt. “Der weiß vielleicht was und er ist nicht weit weg.“

„Dann sputen wir uns, bevor der gute Mann in seinen wohlverdienten Feierabend geht und sich um seine Familie kümmert“, konstatierte Rhodan, wohl wissend, dass Bauern und Arbeiter keinen ‚Feierabend‘ hatten. „Auf weitere Stationen der Schnitzeljagd können wir meiner Meinung nach verzichten. Irgendetwas sagt mir, dass wir schon ziemlich spät dran sind.“ Als er die Worte aussprach, kroch dem dicken Mann ein kalter Schauer über den Rücken, der ihn selbst überraschte. Woher kam diese plötzliche Anwandlung? Hatte er etwa eine Eingebung? „Um die weiße Quelle zu erreichen, können wir doch sicherlich den Pfad zur Hütte umgehen?“

“Ihr könnt es wohl kaum erwarten, Eure Zukünftige wiederzusehen”, kommentierte Imelda Rhodans Sorge. Sie fand es ein wenig bedauerlich, dass sie nicht noch etwas zu Essen bekamen, das hätte nicht nur gut gemundet, sondern auch dem vielen Wein und Bier entgegengewirkt. Immerhin hatte sie in dem provisorischen Schrein ein paar Kekse ergattert. Aber sie konnte den Wunsch des Bräutigams gut nachempfinden, seine Geliebte nur allzubald wieder in den Armen halten zu können. Auch wenn dies ein wenig geschummelt war... “Dann schauen wir mal nach Eurer lieben Braut, Herr Rhodan!”

“So ist es, Meister Herrenfels”, pflichtete Kalman seinem angehenden Schwager bei. “Wenn Gwenn direkt zur Quelle geritten ist, können wir den Weg diesseits des Baches nutzen. Ich würde aber gern vorher Meister Lützelfisch befragen.”

“Dann auf auf!”

~ * ~

Am Pferdestall

Kalman verließ das Brauhaus und ging forschen Schrittes auf die Scheune auf der anderen Wegseite zu, die während des Festes auch als Pferdestall für die Gäste diente. Hier hatte jemand - vermutlich Bernhelm und Marno, die beiden Knechte der Weissenquells, und weitere Helfer - ordentlich vorgesorgt. Kalmans Pferd war inzwischen gesattelt und vom Gutshof hergebracht worden. Auch die Pferde der Gäste, die im Dorf untergekommen waren, waren abrittbereit, darunter auch Bérrenn und Hilbertio, der Maulesel der Ingrageweihten. Für die anderen Gäste, deren Pferde nicht hier untergebracht waren, hatte man Tiere aus dem Stall der Weissenquells oder aus dem Dorf bereit gemacht. Auch vor den Einspänner war, wie angekündigt, ein Pferd gespannt. Nichts sprach dagegen, loszureiten.

„Na, dann holen wir sie endlich. Hurtig.“ Meta stieg auf eines der Pferde und gesellte sich zu Kalman. Imelda hatte sicher mit Darian genug zu besprechen. Esel und Elenviner sollten sich ja auch noch kennenlernen.

Auch Rhodan schwang sich in den Sattel - immer ein Auge auf die junge Ritterin mit dem besonderen Halsschmuck. „Auf auf die Herren und Damen! Keine Zeit zu verlieren! Meine Liebste möchte abgeholt werden - sie hat lange genug warten müssen.“

Darian ging auf seinen stolzen, schwarzbraunen Elenviner zu, tätschelte ihm den Hals und kontrollierte Sattel und Hufe - so, wie er es immer machte. Da alles zu seiner Zufriedenheit war und das Pferd zuversichtlich schnaubte, stieg er in den Bügel und sprang ebenfalls in den Sattel. Sein Blick glitt über die Runde, ob auch die anderen bereit waren.

Die junge Hadingerin sah ungläubig den Knecht an, welcher ihr Hilbertio zuführte. “Ähm, Verzeihung…”, rief sie dem Burschen entgegen. “Das ist mein Grautier! Auf ihm reite ich doch nicht!” Laut seufzend drehte sich die rotblonde Hadingerin um und schritt zu Darian. “TADAAA!”, rief sie freudig aus und deutete auf den gut gepflegten kleinen Esel neben sich. “Das ist Hilbertio! Ist er nicht unglaublich knuffig?” Sie öffnete eine der Satteltaschen, griff nach einer Mohrrübe und biss davon ab. Kauend versuchte sie weiter zu sprechen: “Er ist jetzt drei Götterläufe alt. Na los, Hilbertio, stell’ dich vor!” forderte sie ihn auf, worauf das Grautier tatsächlich eine leichte Verbeugung mit dem Kopf zu vollziehen schien und mit einem der beiden flauschigen Ohren wackelte. “Süß, was?”, kommentierte sie stolz und ließ nun Hilbertio von ihrer Möhre abbeißen. “Und du musst wohl der stolze Bérrenn sein?”, fragte sie neugierig, gab ihrem Grautier den Rest der Möhre und streichelte liebevoll über den Hals des Elenviners. “Wie es aussieht, hat man kein Reittier für mich organisiert”, überlegte sie dann laut, “...also müsste ich wohl bei einem der Ritter mitreiten? Oder?”

„Bei mir kannst du leider nicht mit aufsitzen, Imelda. Ich will etwas schneller vorankommen.“ Meta ließ ihr Pferdchen tänzeln, als ob sie gleich lospreschen würde. Ihr Blick war auf einem dunklen Elenviner hängen geblieben.

Imelda schmunzelte breit zur Ritterin. “Ach, schon recht. Meta. Aber danke, dass du an mich gedacht hast!”, rief sie ihrer Freundin zu und holte nun aus ihrer Satteltasche eine zweite Möhre heraus. “Na, Bérrenn? Magst du auch Möhren? Hilbertio gibt dir ganz sicher gern eine ab!”

Lautes, schallendes, von Herzen kommendes Lachen war das Erste, das Imelda und die anderen hörten.

“Komm’, Bérrenn, sei artig! Und grüße deinen kleinen grauen Freund und vor allem die Dame, die neben dir steht”, sagte er dann und tätschelte einige Male den Hals seines Elenviners.

Es war ein - für einen Elenviner - durchaus kräftiges, etwas größeres Tier, wenngleich freilich kein “Schlachtschiff” wie ein Tralloper Riese. Intelligent und temperamentvoll, mit schwarzbraunem, glänzenden Fell sowie einer kleinen weißen Blesse auf der Stirn, war Bérrenn ein Pferd von genau jener Art, wie es geschaffen war für einen in der Regel leicht gerüsteten Krieger wie Darian, der die Lederrüstung der Vollplatte vorzog.

Der Elenviner hob und senkte einige Male sein schönes Haupt, wie um die Worte des Ritters zu bestätigen.

“Die Möhre wird dir doch sicher schmecken, nicht?”, fragte Darian gespielt und gab seinem Hengst mit einem winzigen, kaum spürbaren Stoß mit seinem Fuß und einem minimalen Ruck an den Zügeln ein Zeichen, sich leicht zu Imelda zu drehen - um dann flugs die Möhre verschwinden zu lassen.

“Da Euer gelehriger und kluger Hilberto Euch bedauerlicherweise nicht als Reittier zu dienen mag, erlaubt mir bitte, Euch einen Platz an meiner Seite auf Bérrenn anzubieten, holde Maid.”

Darian grinste Imelda breit an und streckte ihr seine Hand entgegen.

“Uhh! Na, wenn Ihr darauf besteht!”, rief Imelda begeistert und ergriff geschwind die Hand des Ritters, um sich hinter ihn auf den Elenviner zu schwingen. “Bis später, Hilbertio! Ich besuche dich heute Abend”, rief sie liebevoll dem kleineren Esel entgegen, welcher neugierig zu ihr hoch lugte, ein paar Schritte näher kam und Imelda am Fuß anstupste. “Ich bringe dir dann auch was Feines mit. Versprochen!”, erklärte sie und streichelte Hilbertio von oben kurz über das Ohr.

Dann schmiegte sie sich von hinten an den Sturmfelser Ritter heran, schlang die Arme um ihn und drückte sich an ihn, sodass dieser die üppige Oberweite der sonst recht schlanken Geweihten deutlich spürte. “Also Herr Ritter. Ich hoffe, reiten könnt Ihr ja gut?”, fragte sie belustigt mit gesenkter Stimme.

Eine Antwort erhielt sie nicht sofort. Erst nach einer kleinen Pause, in der Darian noch einmal Bérrenns Hals tätschelte. Weil das zusätzliche Gewicht ihn anfangs etwas irritieren mochte. Um die richtige Länge der Zügel und den Sitz der seiner Stiefel in den Steigbügeln zu kontrollieren. Und vor allem, um Imelda kurz warten zu lassen. Denn die kleine, neckische Schote mit dem “wenn Ihr drauf besteht” wollte er natürlich nicht unerwidert lassen. Irgendetwas sagte ihm, dass Imelda das vermutlich auch erwartete.

Schließlich drehte er sich zur Seite, lächelte keck und antwortete ruhig und mit einem gelassenen Ton der Selbstverständlichkeit: “Nein. Ich bin ein miserabler Reiter. Du solltest dich besser gut festhalten!” - um Bérrenn kurz darauf, nachdem er sicher war, dass sie seiner Empfehlung Folge leistete, einen Stoß in die Flanke zu geben, um schnell zu den anderen aufzuholen.

“Wie?”, brachte Imelda gerade noch heraus, bevor sie sich mit einem hellen Jubelschrei an Darian festklammerte, als dieser Bérrenn signalisierte, geschwind losstürmen.

Als alle Gäste in die Sattel gestiegen waren und Wulfhelm bereits auf dem Kutschbock des Einspänners saß, fiel Wulfhelm auf, dass die Dame Caltesa nicht mit den anderen aus dem Brauhaus gekommen war. Wulfhelm bot sich an, nach ihr zu suchen, doch Kalman winkte ab. “Wenn sie sich entschieden hat, nicht mit uns mitzugehen, dann ist das umso besser… für sie. Wir haben es eilig und sollten aufbrechen.”

Wulfhelm schlug noch vor, dass er dann die Kutsche hierlassen und mit dem Pferd hinterherreiten könne. Doch auch das lehnte Kalman ab. Er meinte, man wisse nicht, ob man den Wagen noch brauche, wenn dieser schon vorbereitet worden war. Und vielleicht mochte ja Ihre Gnaden von Hadingen dann lieber gemütlich auf der Kutsche mitfahren.

~ * ~

An den Fischteichen

Rhodan und seine Begleiter ritten endlich los, auch wenn der eine oder die andere sich vielleicht überlegte, ob es nach den vielen geistreichen Getränken eine kluge Idee war, sich auf den Rücken eines Pferdes zu setzen. Rhodan ritt voraus, Kalman direkt links neben ihm. Direkt hinter der Brücke über den Lützelbach zweigte ein kleiner Pfad ab in Richtung der Fischzucht Lützelfisch. Kalman schlug diesen Weg ein, denn er wollte Welferich Lützelfisch, den Bruder des Knechts von Vater Friedewald befragen, ob er etwas von Gwenns “Brautflucht” (Kalman wollte es nicht länger “Brautentführung” nennen, hatte Gwenn doch scheinbar alles selbst eingefädelt) wusste.

Welferich kam sogleich um die Hausecke herum, als er die Reiter hörte. Auffällig waren seine gewachsten Lederstiefel, die ihm bis zur Mitte der Oberschenkel reichten, ohne dass sie geschnürt werden konnten. Aus ihren Schäften lugte eine Latzhose hervor. Über die Schulter gelehnt hielt er ein an einem langen Stock befestigtes Netz, in der anderen Hand trug er einen mit Wasser gefüllten Eimer, in dem drei Bachforellen zappelnd ihrem Ende entgegengeführt wurden. “Den Zwölfen zum Gruße, Hoher Herr!”, grüßte er den Ritter.

“Den Zwölfen zum Gruße, Meister Lützelfisch”, grüßte auch Kalman. “Sprecht, habt Ihr zufällig vor kurzem meine Schwester Gwenn und Euren Bruder hier gesehen?”

Der Fischer überlegte nicht lange, sondern nickte sogleich. “Ja, hoher Herr. Sie sind tatsächlich vor einiger Zeit hier vorbei gekommen. Ich war gerade damit beschäftigt, zu schauen, ob der viele Regen während des Sturms, der die Fischteiche zum Überfließen gebracht hat, bevor ich die Schleusen öffnen konnte, viele Forellen an Land gespült hat. Zum Glück waren es nicht so viele. Die meisten konnte ich einlesen und zurück in die Teiche werfen. Und die anderen landen nachher in der Räucherkammer. Der Schaden hält sich also in Grenzen.”

“Das freut mich zu hören”, antwortete Kalman, ehrlich beruhigt. Auch ihn sorgte es, wenn die Untertanen seines Vaters durch ein Unglück in wirtschaftliche Not gerieten. “Aber bitte, verratet uns, wo sind Gwenn und ihre Begleiter hingeritten?”

“Achso, ja, sie sind die Straße Richtung Jagdhütte Eures Vater geritten. Das war noch während des Sturms. Sie hatten es eilig, wahrscheinlich wegen des Wetters. Wer mag bei so einem Sturm schon durch den Wald reiten, wenn er nicht muss? Da bleibt man besser unter einem Dach. Außer, wenn man nach seinen Fischen schauen muss, natürlich.”

Kalman wollte sich gerade für die Information bedanken und abwenden, als Welferich überraschend weitersprach. “Aber es dauerte gar nicht lange, da sind sie zurückgekommen. Eigentlich können sie es in der Zeit nicht bis zur Hütte geschafft haben. Das war übrigens kurz bevor das Jagdhorn erschallte. Ich hatte noch überlegt, ob ich da ins Dorf sollte und nachsehen, was denn eigentlich passiert war, aber ich musste mich ja um die Fische kümmern, zumal Gorwin sich ja während des Sturms den Fuss verletzt hatte und mir nicht helfen kann.”

“Ja, ja”, wurde Kalman langsam ungeduldig. “Und wo sind sie dann hin geritten?”

Welferich war ganz verwundert, warum Kalman dies fragte. “Na, sie sind firunwärts den Weg an der Mühle vorbei zur Quelle eingeschlagen. Gwenn vorweg, neben ihr Marno, Euer Stallbursche. In der Mitte ritt der junge Runkler, also der Bäckergeselle”, erklärte er an Rhodan gewandt. “Bernhelm kam kurz hinter ihm. Und dann war da noch eine Soldatin. Sie schien die anderen zu verfolgen. Oder die Nachhut zu bilden, um alle im Blick zu behalten. Wer kann das schon sagen? Ich kenne mich in solchen Dingen nicht aus. Ich denke aber, sie hielt die Augen offen und suchte die Gegend nach Gefahren ab. Sie wirkte nicht sehr glücklich über den Ausritt.”

“Ja, das war wohl die Dame von Kranickau”, bestätigte Kalman. “Habt Dank, Meister Lützelfisch. Falls Ihr noch ein paar geräucherte Forellen fertig habt, bringt sie am besten zum Herrenhaus, ich denke, wir werden nachher hungrig zum Gut zurückkehren und mehr Gäste zu bewirten haben, als ursprünglich gedacht.”

“Sehr gern, hoher Herr, stets zu Euren Diensten!” Welferich verbeugte sich ehrerbietend.

“Gut”, Kalman wandte sich zu Rhodan, “dann reiten wir ihnen hinterher.”

“Jawohl, habt vielen Dank, auch im Namen meiner Braut”, bestätigte der Händler. “Nun, die Herrschaften”, richtete er seine Worte an alle Mittrinkenden. “Jetzt wissen wir, wo meine geliebte Braut ist. Die Jagd nach dem verlorenen Schatz hat mithin ein gutes Ende. Geben wir unseren Pferden die Sporen!” Sonst war Rhodan nicht der Typ für Ansprachen, aber um seine Frau gut dastehen zu lassen. Seine Frau…, welch erfreulicher Gedanke.

Nervös rutschte Meta im Sattel hin und her, ließ ihr Pferd sich einmal um die Hinterhand drehen und wartete auf Kalmans Zeichen. „Hoher Herr, Ihr habt gut entschieden. Wir sollten uns beeilen, irgendwas stimmt hier nicht.“ Als sie losritten brachte Meta sich an Kalmans Seite und sprach ihn an. „Wer ist dieser Runker und warum haben sie wohl ihren Plan geändert? Bernhelm und Marno kennt ihr sicher gut genug und sie haben sich in letzter Zeit auch nicht auffällig benommen?“

“Der Runkler? Das ist der Sohn unseres Bäckermeisters, Brun heißt er mit Vornamen.” Kalman hielt sich die Hand vor den Mund und raunte in Metas Richtung, in dem missglückten Versuch, dass Rhodan ihn nicht hörte. “Brun ist ein Freund von Gwenn aus Jugendtagen. Die haben als Kind schon am Bach miteinander gespielt. Ein guter Freund von ihr.”

Rhodan hörte das Geflüster und ignorierte es demonstrativ. Innerlich schmunzelte er. Natürlich hatte seine Liebste eine Vorgeschichte. Natürlich hatte sie (sicherlich) ein paar Liebschaften gehabt. Und? Man war Mensch.

Wulfhelm verfolgte die Unterhaltung schweigend. Bei der von Meta geäußerten Besorgnis wirkte er kurz irritiert, als würde er ihre Einschätzung ganz und gar nicht teilen, er enthielt sich aber eines Kommentars. Kalmans Erläuterungen ließen ihn kurz einen schmunzelnden Seitenblick zum Bräutigam werfen.

Das mochte alles nichts heißen. Meta dachte an Ganterwald zurück. War der damals auf der Ringsuche anders gewesen? „Ihr kennt die drei Burschen lange genug. Überlegt doch mal, ob sich einer seit den Feierlichkeiten seltsam benommen hat, anders, als man ihn kennt. Und diese Wache, die Ritterin, die war doch nicht immer bei Gwenn.“

Darian rollte mit den Augen. Was soll der Fischer schon darüber wissen?, dachte er etwas ungeduldig und hatte nur im Sinn, weiterzukommen, anstatt hier herum zu stehen. Andererseits … er stutzte. In der Tat war es etwas seltsam, dass die Gruppe zurückgeritten war, anstatt schnell ihr Ziel zu erreichen.

Bérrenn schnaubte und tänzelte ungeduldig hin und her. Er spürte die Empfindungen seines Reiters.

“Ruhig, mein Großer.” Der Sturmfelser hielt die Zügel und strich dann sanft über den Hals seines Gefährten.

“Die sind bestimmt wegen des umgestürzten Baumes umgekehrt!”, rief Imelda ihrer Freundin Meta entgegen, als diese sich immer mehr in weit hergeholte Theorien zu verstricken schien. “Folgen wir doch einfach ihrer Spur!” Nun wandte sie sich vom Rücken des Elenviners aus an den Fischer: “Habt Dank für Eure Auskunft, Herr Lützelfisch! Eure Forellen sind ganz sicher eine Wucht.”

“Habt Dank, Euer Gnaden. Sicherlich ergibt sich heute Abend für Euch die Gelegenheit, eine zu probieren”, erwiderte der Forellenzüchter.

Die Geweihte schmunzelte und flüsterte zu Darian: “Wir haben bei uns an der Folde auch leckere Forellen. Ich bin zwar keine gute Köchin; immerhin lebe ich in einem Schlösschen. Aber Fleisch oder Fisch auf einen Rost über heißen Kohlen zuzubereiten, das liegt mir wirklich gut. Es gibt kaum etwas besseres! Jedenfalls kommt es ja darauf an, dass die Glut schön heiß ist.” Imelda merkte, dass sie ins Schwafeln kam und stoppte sich selbst. “Also, magst du generell dein Fleisch lieber gut durch oder noch etwas blutig?”

Ein schallendes Gelächter. “Die Frage aller Fragen”, sagt er lakonisch. “Und eine, an der fast eine Baronie zugrunde gegangen wäre.”

Er prustete noch immer ein wenig und musste sich erst beruhigen, ehe er fortfuhr.

“Also ich persönlich würde ja sagen: weder noch! Ist es zu durch, ist es trocken und fad. Ist es zu blutig, kaust du darauf herum wie auf einer Schuhsohle. Ich mag es innen leicht rosig. Aber diese Frage hat unsere Köchin auf der Rodaschblick schon vor Jahren für alle Zeiten entschieden.” Und wieder musste er lachen.

Imelda seufzte gedankenverloren. “Ich mag es auch ein wenig rosig. Schön saftig und innen so, dass man nicht auf rohem Fleisch kaut. Die Aromen des heißen Feuers sollte man auch noch schmecken, finde ich. Wer weiß, vielleicht besuche ich dich ja mal eines Tages und dann muss ich unbedingt das Fleisch eurer Köchin mal probieren.” Etwas verwirrt über ihren letzten Satz lachte Imelda amüsiert auf. “Also, ich meine, wenn sie gegrilltes Fleisch zubereitet. Hachje, der Schnaps war schon stärker, als ich dachte, was?”

Vielleicht, wenn man zu viel davon oder zu schnell getrunken hat. Oder beides?

Darian sagte es nicht, aber seinem gutmütig-nachsichtigen Grinsen konnte man vielleicht entnehmen, was er dachte.

“Du kannst jederzeit auf die Rodaschblick kommen. Aber sieh’ dich vor unserer Köchin vor - und fang’ keine Diskussionen mit ihr an, die sich um Küchenbelange drehen.”

Imelda lachte. “Ich bin ganz pflegeleicht. Versprochen!” Sie strich sich eine Locke hinters Haar. “Normalerweise speisen wir daheim auch nicht so fein. Zum Abendmahl kommt meist die ganze Familie zusammen. Wenn ich den Tag über in der Schmiede hart gearbeitet habe, ist es das Beste, wenn alle beisammen sind und den Abend in Ruhe ausklingen lassen.”

Derweil wandte sich Kalman an die junge Ritterin. “Für Bernhelm lege ich meine Hand ins Feuer. Er ist Vater Friedewalds engster Vertrauter und, gut, ich habe ihn gestern und heute kaum gesehen, aber mir ist nichts Ungewöhnliches an ihm aufgefallen. Ebenso die hohe Dame von Kranickau. Sie ist sehr gewissenhaft und erfüllt den ihr aufgetragenen Wachdienst anstandslos. Brun Runkler kenne ich einfach nicht gut genug und sehe ich für gewöhnlich auch nicht oft genug, um über ihn ein Urteil fällen zu können. Und was Marno angeht, nun, er hat halt die Flauseln eines heranwachsenden Mannes, dem man es nie recht machen kann, der in allem, was man ihm sagt, Übles sieht. Ein ganz normaler Heranwachsender also.” Kalman lachte.

~ * ~

Das verschreckte Pferd

So machten auch die Brautsucher kehrt und ritten zurück über die Brücke, nur um direkt danach den Weg nach Norden einzuschlagen. Zügig aber nicht hetzend ließ Kalman sein Ross den Weg entlang galoppieren, vorbei an der Schreinerei und der Wassermühle, vorbei an Hof Borkmund. Weiter dem Bachlauf folgend. Weitere Höfe lagen am Weg, die sie unbeachtet liegen ließen. Wenn ihnen ein Dorfbewohner begegnete, wurde dieser gefragt, ob Gwenn und ihre Begleiter gesichtet wurden, was mal bejaht und mal verneint wurde. Irgendwann waren jedoch die letzten Höfe des Dorfes passiert und die Auenlandschaft ging sacht in die Ausläufer des hier noch lichten Haderholzes über, als ihnen ein brauner Warunker entgegen gerannt kam. Das Pferd war gesattelt, jedoch fehlte der Reiter auf seinem Rücken. Das Pferd lief geradewegs auf die Reiter zu und machte keine Anstalten, anzuhalten. Der Weg war hier im Wald, wo die Bäume nun rechts und links des Pfades standen, gerade breit genug, dass zwei Reiter neben einander reiten konnten, oder die kleine Kutsche fahren konnte. Ein vorsichtiger Reiter konnte sein Pferd, so er genügend Zeit gehabt hätte, vielleicht zum Ausweichen ins Unterholz leiten, doch weder die Kutsche noch das fliehende Pferd waren dazu so schnell in der Lage.

Als Kalman gewahr wurde, dass das Pferd keine Anstalten machte, stehenzubleiben, rief er: “Vorsicht!”, und zog so an den Zügeln seines Pferdes, dass es seitlich in die Büsche lief. Nur mit Mühe konnte sich Kalman im Sattel halten, als ihn die Äste eines niedrigen Baumes an der Schulter trafen. Zumindest ein kleines Stück des Weges war nun frei.

Meta ritt hinter Rhodan und Kalman, als das reiterlose Pferd kam. Schnell hatte sie die Zügel aufgenommen, da wich Kalmans Pferd in die Büsche aus. In die so entstandene Lücke trieb sie ihren Wallach energisch und stellte ihn quer vor die Gruppe, in der Hoffnung, den Stallgefährten zu bremsen.

Geistesgegenwärtig gab der Ritter der Elfe seinem Pferd einen leichten Stoß in die Seite und zog zugleich schnell am Zügel, um Bérrenn einen Satz zur Seite machen zu lassen.

Ein reiterloses, gesatteltes Pferd! Bei der Herrin Rondra! Was war geschehen?

Er beruhigte den Elenviner, der immerhin zwei Menschen tragen musste.

Mit einem erschrockenen Aufschrei hielt sich Imelda an dem Sturmfelser Ritter fest und klammerte sich an ihn. Als sie zum Stillstand gekommen waren, sah sie sorgenvoll zu dem herrenlosen Pferd herüber. “Das ist ja seltsam! Gut gemacht, Darian. Und du auch, Bérrenn.”

Rhodan hatte sein Pferd mühelos zum Stehen gebracht. Er schwang sich aus dem Sattel. Der Anblick des Pferds ohne Reiter ließ ihn erschaudern. Irgendwas war hier schrecklich schief gelaufen. Er musste dieses Pferd beruhigen, um es untersuchen zu können. Nun war er wahrlich kein Rosstäuscher und erst Recht kein Stallbursche. Aber in der höchsten Not konnte er auf die Hilfe seines alveranischen Herrn vertrauen. Im Stillen rief er Feqor, den heimlichen Jäger in sternenklarer Nacht an. Wenn das Leid der Wüstenvölker groß und die Echsischen sich über die Stämme hergemacht hatten, dann hatte der Himmelsfuchs Ruhe und Ordnung in versprengte Reihen gebracht. Diese Ruhe wollte nun auch der dicke Händler dem armen Tier gegenüber ausstrahlen. Mit ausgestreckter offener Hand näherte er sich dem scheuen Pferd, so als ob es nicht durchginge.

Der Schimmel der Erbvögtin wurde nervös, obgleich Lucilla zusammen mit Lûthardt am Ende der Gruppe ritt. Das Pferd spürte die aufkeimende Unruhe und die Adlige reagierte zu langsam, so dass der Schimmel bereits dabei war auszubrechen. Doch der junge Ritter, der auch im Sattel nicht von der Seite der Junkerin wich, ließ seinen Rappen einen Satz nach vorne vollführen und griff in das Zaumzeug des nervösen Tieres, um es zum Stehen zu bringen. Derweil wart die Gefahr weiter vorne bereits gebannt, so dass es unnötig wurde dem reiterlosen Pferd auszuweichen.

Wulfhelm, verwirrt durch die entstandene Unruhe, brauchte einen Moment, um die Situation vom Einspänner, auf dem er Platz genommen hatte, zu erfassen. Falls es tatsächlich ein Streitross war, das auf sie zuhielt, war es gut möglich dass es versuchen würde durch sie hindurch zu pflügen und nicht wie ein gewöhnliches Tier eine Kollision meiden würde - und nun stellte sich ausgerechnet Gwenns Zukünftiger ihm in den Weg!

Kurzentschlossen sprang er vom Bock hinab und bewegte sich in Richtung der Spitze der Gruppe, wobei er eine, wie er hoffte, beruhigende Geste mit den Armen machte.  

So war es noch einmal gut gegangen. Denn durch das beherzte Eingreifen der Ritterin, die sich und ihr Pferd quer vor die Reitergruppe stellte, sowie das beruhigende Handeln von Rhodan und Wulfhelm, entschied der Wallach schließlich, dass es wohl doch klüger war, seinen Spurt zu unterbrechen, und blieb stehen. Völlig abgekämpft schnaubte und prustete das Tier, wobei ihm weißer Schaum aus dem Maul troff. Auch an den Hinterläufen hatte der Schweiß einen schmierigen, weißen Film gebildet. Insbesondere der Bräutigam schien eine beruhigende Aura auf das verschreckte Pferd zu haben. Vorsichtig streichelte er den Kopf des schäumenden Pferds. Nun konnten sie das Tier genauer betrachten.

“Es ist eines aus unserem Stall”, stellte Kalman fest. “Wo ist der Reiter?”

"Beim listigen Fuchs, das müssen wir herausfinden", bestätigte der Händler. Er suchte nach Blutspritzern und Kampfspuren auf dem Fell des Tieres. War es noch gesattelt oder hing das Zaumzeug in Fetzen?

Das Pferd war noch gesattelt, doch saß der Sattel schief, als hätte jemand daran gezerrt. Auch ein seitlicher Transportgurt hing geöffnet herunter. Nein, nicht geöffnet. Der Riemen war von scharfer Klinge durchtrennt. Erst bei genauerem Hinschauen waren einige Blutspritzer auf dem braunen Fell des Tieres zu erkennen. Doch das Pferd selbst wirkte unverletzt.

Die Augen des ansonsten so heiteren Sturmfelsers wurden schmaler. “Ein durchtrennter Riemen?”, rief Darian. Es klang zornig. Bérrenn spürte den plötzlichen Sinneswandel seines Herrn und musste erst wieder von diesem beruhigt werden.

“Weiß man, wer diesen Wallach sonst reitet?”, fragte er dann in die Runde.

„Ganz unterschiedlich, wer es gerade braucht“, erklärte Kalman. „Aber von den Begleitern von Gwenn ist es Bernhelm, der Windmond besonders bevorzugt.“

„Wir sollten uns beeilen. Anscheinend ist die Gruppe mit der Braut überfallen worden. Rumstreunendes Gesindel… vielleicht oder was auch immer sich hier rumtreibt.“ Meta ritt wieder zu Kalman und ließ den Wallach bei Rhodan. „Lange kann es noch nicht her sein. Er wird geflüchtet sein, sobald er reiterlos war. Und weit ist es im Galopp doch nicht mehr zur Quelle?“

“Ritterin Meta hat ganz recht!”, rief Imelda besorgt. “Sie müssten noch ganz in der Nähe sein! Es sei denn…”, die junge Hadingerin seufzte, “...das Pferd wurde erneut aufgeschreckt durch einen anderen Umstand. Wie auch immer, wir sollten eilig, jedoch wachsam weiterreiten, nicht wahr?”

“Das sehe ich ganz genauso”, stimmte Kalman der Ritterin und der Geweihten zu. “Wir sollten uns beeilen. Im vollen Galopp mögen es noch gut fünf Minuten sein bis zur Quelle. Windmond können wir später einfangen.”

Der Sturmfelser zog die Zügel etwas zu sich heran. Versicherte sich mit einem Blick, dass Imelda ebenfalls soweit war.

“Dann lasst uns keine Zeit verschwenden. Hey, HEY!”

Er presste seine Waden beidseitig gegen die Flanken Bérrenns, um diesen zügig in den Galopp anzutreiben.

„Mit etwas Glück läuft er eh in den Stall. Wir sollten schnell los und kampfbereit sein.“

“Bei den Göttern, meine Verlobte”, war das Einzige, was über die Lippen des Händlers kam. Er hatte die Augen geschlossen, weil hinter den Lidern eine Welt zu zerbrechen drohte. “Los, los!”

Der Hinterhalt

Kalman setzte sich wieder an die Spitze der Reiterschar. Nun war es ihm egal, ob der Bräutigam oder jemand anderes ihm vorn folgte. Es ging vielleicht um das Leben seiner Schwester und ihrer Begleiter. Was auch immer passiert sein mochte.

Kalman trieb sein Pferd an und eilte sich, weiterzukommen. Doch nur zwei Wegbiegungen weiter musste er sein Pferd abrupt anhalten lassen. Ein Bild des Schreckens bot sich ihm und den folgenden Reitern. Ein Grauschimmel lag auf dem Weg, scheinbar schwer verletzt. Unter dem Pferd lag ein Seil, das ursprünglich offensichtlich quer über den Weg gespannt war, nun jedoch locker auf dem Boden lag. Auf und neben dem Weg lagen die Körper von vier Männern in den Lachen ihres Blutes.  

Perplex schaute Meta auf das blutige Szenario. „Wie? Das passt aber nicht. Wo sind die Frauen? Kalman, welcher von den Kerlen ist Euch unbekannt?“ Sie selbst konnte nicht erkennen, ob einer davon Brun oder Bernhelm war.

Neben dem Pferd, das sich offensichtlich die Vorderläufe gebrochen hatte, lag ein junger Mann in der gepflegten, aber einfachen Kleidung eines Handwerkers. Vor ihm lagen die Leichen zweier Männer. Der linke war offensichtlich ein geübter Krieger, der ein Schwert mit blutverschmierter Klinge in der Hand hielt. Rechterhand lag ein gepflegter, älterer Mann mit grauen Haaren und Vollbart. Er hatte gute Kleider an und war den meisten Gästen wohlbekannt, hatte er doch am Vorabend noch die Nachtwanderung zur Quelle des Lützelbachs organisiert. Es war Bernhelm Lützelfisch, der Knecht und Berater der Familie Weissenquell. Aus einem kleinen, zerschlagenen Holzfass, das an seiner Seite lag, war eine rote Flüssigkeit ausgelaufen, die nach Kräutern und Alkohol roch. Die vierte Person war ein bulliger, ziemlich heruntergekommener Kerl, der noch immer einen Speer in der Hand hielt. Auch die Speerspitze war voller Blut.

Kalman stieg wortlos aus dem Sattel und ging zu den Toten. Zunächst kniete er neben Bernhelm nieder. Er fühlte ihm den Puls, doch gleich darauf schloss Kalman mit den Fingern Bernhelms Augen und legte dessen Hände auf den Bauch, um die klaffende Wunde zu verdecken.

Jetzt erkannte Meta Bernhelm auch. Er hatte sie bei der Wanderung zur Quelle geführt. So, wie er da lag, war er ihr erst fremd vorgekommen. Der andere Mann, nicht der Ritter, das könnte Brun sein, mutmaßte sie.

“Bei der gütigen Mutter, was ist hier geschehen?”, stieß die Erbvögtin erschrocken aus, als sie der blutigen Szenerie ansichtig wurde. Lûthardt zog ohne zu zögern sein Schwert und ließ sein Pferd sich zwischen Lucilla und die am Boden liegenden schreiten. Seine Intention war klar, im Ernstfall würde er die Junkerin mit seinem Körper abschirmen.

“Seid achtsam!”, stieß der junge Ritter hervor, während seine Augen die Umgebung musterten. “Vielleicht sind die Mörder noch in der Nähe.”

Doch die Umgebung war ruhig. Von weiteren Angreifern war keine Spur.

Wulfhelm betrachtete die Szenerie mit einer seltsamen Distanz: der Anblick von Blut und Eingeweiden war nichts ungewöhnliches für ihn, aber der tote Körper von Bernhelm, ein Mann, den er seinen Freund genannt hatte, war zu viel für ihn. Mit einer hölzernen Bewegung stieg er ab, stürzte fast und stolperte dem Blutbad entgegen. Sein Blick war leer und er murmelte etwas, zu leise als das man es verstehen konnte. “Gwenn!”, wiederholte er dann lauter. “Sie ist nicht unter den Toten. Also sind sie womöglich entkommen - oder sie haben sie verschleppt.”

Imelda klammerte sich mit der linken Hand fest an Darians Ärmel. Entsetzt betrachtete sie die Leichen und schluckte hart, als sie das ihr vertraute Gesicht Bernhelms erkannte. Ihr stockte der Atem und sie hielt sich einen Moment lang die andere Hand vors Gesicht. “Wie furchbar!”, rief sie laut aus. “Bernhelm hat doch nie jemandem was zu Leide getan!” Mit einem beklommenen Gefühl schaute sie die anderen Toten an, ob sie noch jemanden erkannte. “Darian, sollten wir vielleicht absteigen?”

Die plötzliche Anspannung des Reiters war deutlich spürbar. Sowohl für Imelda als auch für das Pferd. Das Erste, was Darian tat, war, sich sehr genau umzusehen. In die Büsche zu schauen. Einen Blick zu werfen auf die schwereren Äste der Bäume. Womöglich gab es noch Angreifer.

Erst, als er sicher war, niemanden entdeckt zu haben, sprang er vom Pferd und hielt Imelda nach einem kurzen Nicken seine Hand hin. Er wirkte nervös. Wachsam. Aber vor allem eines: zornig.

Die junge Geweihte nahm die Hand des Ritters dankbar an, ließ sich vom Rücken des Pferdes herabgleiten und suchte ein wenig Halt in den Armen Darians. Dann trat sie an dessen Seite und begutachtete mit Bestürzung den Schauplatz des Schreckens.

Fast beiläufig reichte er ihr seinen Arm, ohne dabei etwas zu sagen - geschweige denn seine Wachsamkeit zu vernachlässigen.

Nun schaute Kalman die anderen Toten an und erschrak, als er den gestürzten und erdolchten Reiter sah. „Verdammt, bei Rondra. Das ist der Bäckersohn!“ Die anderen Gesichter waren ihm fremd. Kalman blickte besorgt zu Wulfhelm. „Wer sind diese Männer? Und was können sie von Gwenn wollen? Lösegeld vielleicht?“ Natürlich hatte Kalman eine dunkle Ahnung, wusste er doch über Gudekars Mission grob Bescheid. Und auch, warum die Dame von Kranickau hier zu Gwenns Schutz abgestellt war. Doch wollte er der Tatsache nicht ins Gesicht blicken.

“Es ist nur ein Mann”, konstatierte Rhodan nüchtern, tonlos. Jede Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Lares von Mersingen hatte Recht behalten. Mit Sicherheit. “Nur ein Mann”, wiederholte er, so als würde es dadurch realer. Er hatte die Daumen beider Hände unter den Gürtel untergehakt und die Knöchel traten weiß hervor, weil er das Leder im Zorn verdrehte.

“Nur ein Mann?” wunderte sich Kalman. “Ich sehe hier eindeutig zwei Männer, die nicht zu unserem Dorf gehören. Zwei Angreifer. Mindestens!”

“Wie? Zwei der Toten hier gehören nicht ins Dorf?”, erwiderte Rhodan erstaunt. “Zwei? Dann, dann… könnte es sich tatsächlich um einen…profanen Raubüberfall handeln?!” Die Verwirrung stand dem Kaufmann ins Gesicht geschrieben. “Ich dachte, es kommt nur ein Drahtzieher in Betracht. Aber der wäre alleine in der Lage, ein solches Blutbad anzurichten. Wenn sich dem Überfall Schergen angeschlossen hatten, wird es kaum der… Ich…ich…muss das überprüfen!”

„Ich weiß nicht, wer dahintersteckt und was ihre Motivation war, Gwenn zu überfallen.“ Kalman schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich weiß nur, dass Gudekar uns seit über einem Jahr gewarnt hat, dass dieser Paktierer es auf uns abgesehen haben könnte, um sich an meinem Bruder zu rächen. Und letztlich haben wir wohl alles nicht mehr ernst genug genommen. Hoffen wir nur, dass die Dame von Kranickau Gwenn beschützen und sie mit Marno entkommen konnte.“

„Wenn es der Erzketzer war, dann fürchte ich, wird das eine unerfüllte Hoffnung bleiben“, knirschte Rhodan.

Das arme Pferd mit den gebrochenen Beinen war noch nicht tot. Es hob den Kopf und versuchte verzweifelt, aufzustehen, die Vorderbeine knickten aber in einem hässlichen Winkel ab und es fiel wieder zu Boden. Meta hätte es von seinem Leid erlöst, aber Zaina wäre sicher dagegen, Pferde zu töten. „Darian! Schaut Euch das erbärmliche Tier an. Könnt Ihr es bitte erlösen? Da ist nichts mehr zu machen.“

Noch immer sagte der Sturmfelser nichts. Seine Miene hatte sich noch mehr verfinstert. Er sah sofort, dass Meta recht hatte. Das Pferd litt Qualen, die niemand hier heilen konnte. Die Wut und den Zorn, den er in sich aufkeimen spürte, vermochte er vielleicht im Zaum zu halten. Doch was in ihm vorging, war nur zu offensichtlich für jene, die einen Blick in seine Augen warfen.

Er nickte nur einmal langsam und ging langsam auf das Tier zu.

“Wendet die anderen Pferde ab”, sagte er trocken.

Dann kniete er sich mit dem rechten Bein hin. Zog den wunderbaren Dolch, den ihm einst ein zwergischer Meister zum Dank geschenkt hatte, während er mit der anderen Hand den Hals des Pferdes streichelte.

Einige Worte des Trostes, des Friedens hatte er im Sinn. Aber sie kamen ihm nur schwer und brüchig über die Lippen, als er sie ins Ohr hauchte.

Dann ging es ganz schnell.

Er nahm den scharfen Dolch, setzte ihn an, und zog ihn dann kraftvoll durch, um den Hals des Tieres zu öffnen.

Entsetztes Wiehern. Zucken. Blut, das auf den Boden quoll. Hinterläufe, die verzweifelt ausschlugen.

Während das Pferd sein Leben aushauchte, streichelte er weiter die Flanke.

Einige Momente später war es vorbei. Der Kopf sank zu Boden, und das Zucken des Leibes verebbte. Er kniete noch immer vor dem Tier. Ließ seinen eigenen Kopf hängen. Tränen des Zorns rannen aus seinen Augenwinkeln. Tränen, die niemand sah.

Kalman war derweil neben den Ritter getreten und legte ihm die Hand auf die Schulter. Mit gedämpfter Stimme sagte er nur ein Wort, denn Worte des Trostes hatte er nicht parat. Worte des Trostes wären auch unangebracht gewesen, hatte er doch selbst das Pferd oft genug bei der Arbeit geführt und ab und an geritten. “Danke!”

Imelda wollte den Ritter nicht stören. Erst als er sich erhob und umdrehte, sah Darian, dass sie hinter ihm stand. Mit einem melancholischen Lächeln sah sie ihn intensiv, fast hilflos an; ihre Augen waren gerötet und eine einzelne Träne lief ihre Wange herunter. “Glaubst du, Gwenn ist entkommen?”, fragte sie mit leicht zittriger Stimme.

Der Ritter der Elfe straffte sich. “Ich hoffe es”, sagte er trocken. “Ich hoffe es.”

Grübelnd und unzufrieden sah sich Meta um. „Und die andere, diese Ritterin, die fehlt auch noch.“

Kalman sah sich noch einmal um und schüttelte dann den Kopf. “Hier können wir wohl vorerst nichts weiter tun, außer die Leichen zu bergen. Aber zuerst müssen wir Gwenn finden. Wir sollten weiter!”

“Ja! Es geht schließlich um meine Verlobte!” Als ob dies noch nicht allen bewusst gewesen wäre - doch diente dieser Satz mehr Rhodan dazu, seinen wirren Kopf zu sortieren.

Ratlos sah sich Meta um. „Ja…genau. Aber wo? Den Weg weiter?“ Aufmerksam ließ sie ihren Blick über den Waldrand schweifen, in der Hoffnung, eine Spur zu entdecken, da fiel ihr noch etwas ein. „Moment, wer fehlt noch alles? Gwenn, die Ritterin und der andere Bursche. Marno, oder?“

„Ja, genau, die drei müssen noch unterwegs sein“, bestätigte sich Kalman, während er mit der Stiefelspitze die toten Angreifer umzudrehen versuchte. „Hoffentlich!“ Wütend trat er einem der Toten in die Seite.

Kalman konnte ein lautes Räuspern hinter sich vernehmen. “Auch wenn ich Euren Zorn gut nachempfinden kann, hoher Herr - haltet Ihr es für angemessen, den Leichnam eines Toten mit den Füßen zu treten?!” Sie ging etwas näher an den Weissenqueller heran. “Wir können uns noch nicht einmal wirklich sicher sein, was sich hier genau zugetragen hat. Auch wenn die Vermutung nahe liegt, dass es sich bei diesem Verstorbenen um einen Schurken gehandelt hat, wissen tun wir es nicht. Bitte beweist etwas Respekt vor dem Herrn Boron.”

Kalman blickte sich um und wurde dann doch etwas verlegen, auch, wenn sich sein Zorn nicht wirklich legte. “Verzeiht, Euer Gnaden, mein Verhalten war wahrlich nicht göttergefällig. Möge Boron mir vergeben. Es ist nur, … ich sorge mich derart um meine Schwester. Und Bernhelm hat einen solchen Tod wahrlich nicht verdient!” Er wies auf den engen Berater seines Vaters, der für ihn stets wie ein guter Onkel war.

“Ich weiß… ich empfinde genau wie Ihr Trauer und Wut. Zwar habe ich Bernhelm nur kurz getroffen, doch als guten und aufrichtigen Mann kennengelernt.” Behutsam legte die Geweihte ihre Hand auf die Schulter Kalmans. “Mit der Hilfe der Götter werden wir diejenigen, die dafür verantwortlich sind, finden und sie ihrer gerechten Strafe zuführen. Davon bin ich fest überzeugt!”

„Danke, Euer Gnaden. Möge Rondra dafür sorgen, dass Eure Worte wahr werden.“

Meta schaute sich derweil nach Spuren um, doch in der näheren Umgebung war im Wald nichts Auffälliges zu finden. Auch rund um die Stelle des Überfalls war es schwer, Spuren zu finden, denn die Gruppe der Sucher hatte den vom Regen aufgeweichten Waldboden inzwischen stark durcheinander getrampelt. Jenseits des Seils jedoch waren sehr deutlich zwei Fußspuren und die Hufspuren dreier Pferde zu erkennen. Die Fußspuren kamen von Norden auf den Hinterhalt zu, die Pferdespuren, die einige der Fußabdrücke überdeckten, wiesen in die entgegengesetzte Richtung, vom Ort des Geschehens weg in Richtung der Quelle.

„Merkwürdig. Ich seh nix. Als wären sie einfach weggeflogen…“ Ratlos sprach Meta zu niemandem bestimmten, dann blieb ihr Blick auf den Spuren jenseits des Seils hängen und es dauerte etwas, bis sie erkannte, was sie da sah. „Kalman! Rhodan! Imelda! Schaut mal da drüben. Da sind Spuren. Korrigiert mich, wenn ich das falsch deute, aber ich glaub, wir müssen zur Quelle. Schnell.“

Entschlossen nickte Imelda ihrer Freundin zu. “Ganz recht, Ritterin Meta. Verlieren wir keine Zeit!”, rief sie laut aus, trat zu Bérrenn und strich ihm liebevoll über die Mähne. Dann sah sie sich suchend nach dem Sturmfelser Ritter um. “Herr Darian, dein treues Pferd und deine ähm…”, Imelda überlegte kurz und fuhr nach einem kurzen Räuspern fort, “...und deine Begleiterin sind zur schnellen Weiterreise bereit.”

Kalman folgte Metas Blicken. „Ja, stimmt. Die Pferdespuren deuten zum See. Gut gemacht, hohe Dame! Sie sind wohl dorthin geflohen. Vielleicht sind sie dann ja doch weiter geritten und den anderen Weg zum Forsthaus zurück, um sich in Sicherheit zu bringen. Wir sollten uns jedoch eilen, falls sie doch unterwegs noch Probleme bekommen haben. Achtet auf dem Weg bitte alle auf irgendwelche ungewöhnlichen Hinweise im Wald. Nicht, dass wir aus Versehen noch an ihnen vorbei reiten oder in einen anderen Hinterhalt geraten.“

Es tat gut. Ihre Stimme zu hören. Sie in der Nähe zu wissen. Und nur zu gut wusste er, dass sie ihn auf ihre Weise beruhigen wollte. Und zu einem gewissen Teil gelang ihr das auch.

Noch immer war der Stumfelser übermannt von den Eindrücken. Von der Wut darüber, dass einmal mehr die Schergen des Pruchs ihr Unwesen trieben. Und darüber, dass er ein Leben hatte nehmen müssen. Sinnlos. Ein treues Pferd, das seine Reiter loyal getragen hatte. Tot. Weil diese Schweine ein Seil gespannt hatten, um es zu Fall zu bringen. Wenn er einen dieser Bande in die Hände bekommen würde, dann …

Seine harte Faust wurde dunkel, als er die Finger so fest es ging ineinander presste.

Dann sah er Imelda an. Zwang sich zu einem kurzen, beruhigenden und doch zugleich auch gequälten Lächeln. Sie konnte sehen, dass er innerlich noch völlig aufgebracht war. Fort war er, der heitere, lächelnde Darian. Ernst wirkte er. Grübelnd. Und vor allem: Wie ein brodelnder Vulkan.

Dann schwang er sich auf Bérrenn, hielt ihr einmal mehr seine Hand hin, und sagte nur, “Komm. Gerne wird Bérrenn dich tragen.”

Imelda ergriff dankbar die Hand Darians und schwang sich auf das stolze Ross. Als sie hinter ihm saß, legte sie ihre Arme um seinen Oberkörper und schmiegte sich eng an ihn. Sie wollte dem Ritter das Gefühl geben, dass er nicht allein war - und auch ein Teil in ihr suchte nach Trost und Halt. “Der Herr Ingra wird uns Stärke geben, für das, was kommt”, sagte sie leise, aber voller Göttervertrauen.

Es tat gut, die Berührung der Geweihten zu spüren. Ihre Nähe. Ihren Halt. Darian sagte nichts. Er legte nur einmal kurz seine Hand auf die von Imelda.

Sie fühlte noch immer die Anspannung in ihm. Aber dennoch gab er dem Hengst sachte zwei Stöße in die Flanke, um ihn in Bewegung zu bringen.

Kalman stieg wieder auf sein Pferd. „Die Leichen können wir später bergen. Die Lebenden haben Vorrang.“ Kalman ritt los, doch er fürchtete, was sie finden könnten. Der Händler folgte unmittelbar hinterdrein.

Der streitbare Herr von Sturmfels kommentierte dies nur mit einem düsteren Nicken. Kalman hatte Recht. Auch wenn ihm, Darian, nicht behagte, was dies bedeutete: die Leichen hier liegen zu lassen, bis sich die Zeit fand, sich ihrer anzunehmen. Einmal mehr musste der Ritter mit sich kämpfen, um seinen Zorn in Zaum zu halten. Einmal mehr ballte er seine Faust, und seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

Und die Reiterin, die auf seinem Pferd saß, spürte einmal mehr nur zu deutlich, wie sich sein Körper anspannte. Wie eine Bogensehne, kurz bevor sie den Pfeil entlässt.  

Imelda hielt sich instinktiv gut bei Darian fest, darauf eingestellt, dass der Ritter mit Bérrenn erneut jeden Moment losstürmen würde. “Auf geht’s!”, rief sie von hinten.

Als die Gruppe ein gutes Stück des Wegs zur Quelle geritten war, erklang ein schriller Schrei den Weg voraus an ihr Ohr. Ein Schrei des Schreckens, Entsetzens, ein Schrei von unbändiger Pein. Kurze Zeit später galoppierte erneut ein Pferd auf sie zu. Es war ein schwarzes Elenviner Vollblut. Es war mit dem Sattel eines Kriegers gesattelt und hatte ein Tuch mit dem Wappen der Plötzbogener über seinem Rücken. Doch dieses Pferd verlangsamte seinen Lauf von selbst, als es auf die Reiter zukam.

Der großgewachsene Mann trieb sein Pferd an dem durchgegangenen, reiterlosen Ross vorbei. Das bestätigte seine Furcht noch. Wenn dieser Bastard seiner Verlobten etwas angetan haben würde, dann, bei Phex, würde er ihn jagen. Jagen und finden.

Der Sturmfelser wartete einen Augenblick, da Kalman bereits dem sich nahenden Pferd entgegenritt.

Er zügelte Bérrenn.

“Ruhig, ruhig”, sagte er.

Allein, der treue Freund spürte nach wie vor, was in seinem Herrn vorging. Den Zorn, der Darian nie verlassen hatte. Und er tänzelte unruhig hin und her.

Schließlich öffnete sich der Wald hin zu einer Lichtung. Doch am Ende des Weges lag an einen Baumstamm gelehnt der blutüberströmte Körper eines Mannes, eines Kriegers, eine Hand auf eine tödliche Bauchwunde gepresst. Ein zynisches Lächeln lag auf seinem Gesicht und stand in einem Widerspruch zu den gebrochenen, schreckgeweiteten Augen.

Kalman zügelte sein Pferd und kam so vor dem Toten zum Stehen.

~ * ~

Auftauchen

Erwachen

Eine Weile fühlte Merle nichts. Leere. Dunkelheit. Dann umwehte ein angenehm kühler Lufthauch die feinen Härchen auf den Stellen ihrer Haut, die nicht von ihrem Kleid bedeckt waren, oder wo die Splitter das Kleid zerfetzt hatten. Es war ein angenehmer Windhauch, der das Brennen der kleinen Wunden, die die Splitter gerissen hatten, linderte. Genau, wie das feuchte Gras unter ihr.

Merle rappelte sich langsam und leise stöhnend auf und versuchte zu verstehen, was geschehen war, wo sie sich befand. Sie erinnerte sich an die unbeschreiblichen rahjanischen Wonnen, die sie empfunden hatte - oder war das ein Traum gewesen? - den schrecklichen Schmerz kurz danach, messerscharfe Glassplitter, die ihre Haut zerschnitten... Doratravas gellender Schrei! Beunruhigt blickte die junge Frau sich um und überprüfte ihren Körper nach schlimmeren Verletzungen.

Als Merle die Augen öffnete, sah sie Laubbäume um sich herum. Die Gegend wirkte real, vertraut. Die Sonne stand bereits tief, es war wohl später Nachmittag. Sie blickte auf ihren Körper und entdeckte viele kleine Schnittwunden durch die Splitter, die sie getroffen hatten, doch es waren keine ernsthaften Wunden, wie sie schnell erkannte. Sie ließ ihren Blick über die Umgebung schweifen. Sie lag eindeutig auf einer kleinen Waldlichtung. Als sich Merle leicht aufrichtete, entdeckte sie in etwa drei Schritt Entfernung Rahjels Körper, der ebenfalls von kleinen Schnitten übersät war. Auch seine Kleidung war von den Splittern zerfetzt, genau wie Merles Kleid. Rahjel hatte die Augen geschlossen, atmete aber tief und regelmäßig.

Merle eilte an Rahjels Seite, begutachtete schnell die vielen kleinen Wunden an seinem Körper und fühlte seinen Puls. Dann rüttelte sie entschlossen an seiner Schulter. “Rahjel!” rief sie ihn eindringlich an. “Rahjel, wach auf!”

Schlagartig öffnete er seine blauen Augen. Grell wirkte das Licht für einige Augenblicke, doch dann erkannte er Merle. “Rahja. Merle. Sind wir …”, der Geweihte richtete sich auf und betrachtete seine Wunden. “Die Splitter. Es hätte schlimm enden können. Wie geht es dir … und wo ist Doratrava?”, fragte er und schaute sich um.

Doratrava war jedoch auf der Lichtung nicht zu sehen.

"Ich bin in Ordnung", entgegnete sie und warf einen weiteren prüfenden Blick auf seine Verletzungen, dann schaute sie sich gründlicher auf der Lichtung um. "Ich glaube, wir sind wieder in unserer Welt. Aber Doratrava ist nicht hier." In Merles Miene waren Sorge und dunkle Vorahnungen abzulesen. "Rahjel, hast du sie auch so entsetzlich schreien hören?"

Auch Rahjels Schnittwunden waren nicht viel schlimmer als jene von Merle. Es waren nur leichte Kratzer, vielleicht ein paar mehr, vielleicht etwas tiefer. Natürlich wäre es immer besser, die Wunden zu reinigen, aber sicherlich würden sie auch so schnell heilen. Vielleicht.

Besser wäre es, ein Bad in einem der Tempel der Liebholden zu nehmen, denn ein makelloser Körper ist ihr genehm. Doch das musste warten. Wichtiger war es, in Sicherheit zu sein … und Doratrava zu finden. Mit einem starken Griff in seine seidene Tunika zerriss Rahjel das obere Stück, so dass er seinen Oberkörper frei hatte. “Ja, der Schrei war mir nicht entgangen. Wir müssen sie finden.” Nun zerriss er den Stoff in Streifen. “Wir können die tiefsten Schnitte damit verbinden. Sobald wir wieder im Dorf sind, lassen wir uns richtig versorgen.”

Merle nickte verstehend und nahm die Stoffstreifen von ihm entgegen. “Warte, ich helfe dir. Bei mir sieht’s nicht so schlimm aus.” Sie begann mit schnellen, geschickten Handgriffen, Rahjels stärker blutende Schnitte zu versorgen. “Ich hoffe nur, dass Doratrava in Ordnung ist…” murmelte sie dabei mit einem leichten Zittern in der Stimme. Sie wollte nicht daran denken, dass die Tänzerin vielleicht nicht heil zurückgekehrt sein könnte. Nein, ihre Freundin musste hier irgendwo sein, versuchte sie sich einzureden.

Der seichte Wind, den Merle und Rahjel auf ihrer Haut spürten, brachte auch Geräusche mit sich. Das Rascheln der Blätter. Vögel, die ihr fröhliches Lied zwitscherten. Ein entfernter Rabe, der krächzte. Sogar das Summen von Bienen war zu vernehmen. Es war befreiend nach der unnatürlichen Stille, die Merle und Rahjel noch vor kurzem umgeben hatte. Irgendwo in der Ferne war das Rauschen eines seichten Wasserfalls zu hören. Auch Gerüche umgaben die beiden nun. Es roch nach Herbst, nach den ersten vermodernden Blättern. Nach Wald. Es roch nach Leben.

Merle atmete die frische, sich so lebendig anfühlende Luft tief ein, stand auf und machte sich schnell und effizient daran, ihre Kleidung und ihr Erscheinungsbild halbwegs zu richten. Da ihr Zopf völlig zerzaust war, öffnete sie diesen, fuhr sich ein paar Mal mit den Fingern durch die hüftlangen, dunkelblonden Strähnen und zupfte Grashalme heraus, dann klopfte sie mit den Händen ihren Rock ab. Das an vielen Stellen zerrissene graue Kleid war wohl nicht zu retten, aber immerhin hatte es anscheinend viele der "Scherben" abgehalten. Merle runzelte die Stirn, als sie daran dachte, wie sie hierher gekommen waren. Ihr Dekolleté und Gesicht waren noch immer schweißglänzend, ihre Wangen gerötet und vermutlich haftete ihr der Geruch des gerade vollzogenen Rahjadienstes an; zumindest klebten die Liebessäfte von Rahjel und ihr selbst spürbar zwischen ihren Schenkeln; doch war Merle entschlossen, jetzt nicht in schamhafter Befangenheit zu verharren. Ja, sie war eine traviafromme Frau und gegenüber Fremden schüchtern, aber prüde war sie nie gewesen. Es war eben, wie es war. Merle fühlte sich durchaus imstande, Rahjel weiterhin offen in die Augen zu schauen, ohne peinlich berührt im Boden zu versinken, schließlich waren sie erwachsene Menschen. Jetzt ging es erst einmal darum, Doratrava wiederzufinden. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und nickte Rahjel mit einem schmalen, aber nicht unfreundlichen Lächeln zu. "Sobald du dich einigermaßen fühlst, lass’ uns da hin gehen, wo das Wasser rauscht. Wenn das hier wirklich das Lützeltal ist, kann ich mich vielleicht orientieren."

Der Geweihte nickte, zumindest war es ein Anfang. “Erfrischung wird uns gut tun. Wir sollten aber vorsichtig sein. Doratrava ist eine Gefahr. Für sich und andere. Sie scheint besessen zu sein. Sie muss unbedingt in einen der Tempel Rahjas … oder Tsas. Meine Befürchtung ist, dass sie weitere Menschen in diese … Welt verschleppen mag. Hoffen wir, dass die Wesenheit … der Dämon ihre Seele noch nicht in die Niederhöllen gerissen hat. Wir können den Göttern danken, dass wir das überlebt haben, Merle. Ich habe schon einiges erschreckendes und skurriles erlebt in meinem Leben, doch das steht ganz oben auf meiner Liste.” Seine Stimme klang ernsthaft besorgt. Dann fiel ihm etwas ein. “Hast du mein Tuch gesehen, das mit golden gestickten Ornamenten?” fragte er und schaute sich um.

Auf der Lichtung war das Tuch nicht zu sehen. Wenn es nicht in der Anderswelt zurückgeblieben war, so muss es wohl an einen anderen Ort geweht worden sein. Vielleicht dorthin, wo es auch Doratrava hinverschlagen hatte? Falls diese überhaupt mit Merle und Rahjel zurückgekehrt war…

“Nein…” Merle schüttelte den Kopf und begann, sich genauer umzusehen. "Es muss weggeweht sein, als wir... Rahja gehuldigt haben." Während sie die Lichtung absuchte, schaute sie Rahjel herausfordernd in die Augen. "Ich glaube nicht, dass Doratrava eine Gefahr ist", widersprach sie seiner Einschätzung. "Sie ist die liebevollste und gutherzigste Frau, die man sich vorstellen kann." Ein zartes Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit, als sie an die süßen Küsse und Zärtlichkeiten dachte, die sie eben noch mit Doratrava ausgetauscht hatte. "Nein, in ihr kann nichts böses sein. Vielleicht hat sie unabsichtlich einen Zauber gesprochen, der das alles bewirkt hat. Dieses Ding, ‘Thu’...", Merle biss sich auf die Unterlippe, um sich an das "Gespräch" mit dem Wesen zu erinnern, "...es hat gesagt, Doratrava hätte etwas... geweckt und 'ihre Kraft genommen'..." Sie warf dem Geweihten einen fragenden Blick zu, ob er damit etwas anfangen konnte. "Aber ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass sie mit einem… Dämon im Bunde ist." Die Falten auf Merles Stirn ließen erkennen, dass es dahinter arbeitete und sie grübelnd versuchte, das Erlebte irgendwie zu verstehen und einzuordnen.

“Da muss ich dir leider widersprechen. Sie ist gefährlich. Sie hat uns fast umgebracht … oder zumindest von Dere gerissen. Ich weiß, dass sie im tiefsten Herzen gut ist, doch das ´Ding´ ist ein Problem. Wenn es ein Teil von Doratrava ist, so ist sie besessen. Und das ist nichts Gutes. Erst wenn sie davon befreit ist, ist sie die Doratrava, die wir lieben.”

“Ich glaube nicht, dass dieses Ding ein Teil von ihr ist!” widersprach Merle. “Mir hat Doratrava erklärt, dass sie uns durch einen instinktiven Zauber in eine Feenwelt gebracht hätte. Und dieses Thu-Wesen, das war doch offenbar Teil dieser Welt, nicht von Doratrava.” Die junge Frau schaute den Geweihten nachdenklich an und seufzte. “Lass’ uns erstmal in Ruhe mit ihr reden, wenn wir sie gefunden haben, ja? Gudekars Gefährten haben sich ohnehin darauf geeinigt, dass jeder von ihnen sich in Albenhus einer Seelenprüfung unterzieht. Da wird dann ja herausgefunden werden, ob auf ihrer Seele irgendein… Schatten liegt, oder?”

“Wir haben es doch erlebt, dazu brauche ich keine Seelenprüfung mehr. Den Worten Doratravas kann man nicht vertrauen, wissen wir denn, mit wem wir wirklich gesprochen haben? Ich hoffe zu reden bewirkt etwas, denn beim letzten Mal hat der Dämon in ihr uns irgendwohin verschleppt. Ich war schon einmal in einer Feenwelt. Aber ich kann nicht sagen, ob das, wo wir waren, wirklich eine war. Auch wenn es ein Zauber von ihr war, so kann sie ihn nicht kontrollieren und das wiederum ist gefährlich, findest du nicht?”, fragte Rahjel.

"Ich weiß, dass sie gut ist. Doratrava hat das doch nicht absichtlich getan!" beharrte Merle. "Wenn wirklich etwas mit ihr ist, dann müssen wir ihr helfen, anstatt sie anzuklagen! Es gibt doch Möglichkeiten, wie sie lernen kann, die Kraft in sich zu beherrschen. Bestimmt kann Ihre Hochgeboren Liana sie dabei unterstützen."

“Das weiß ich doch, das hast du falsch verstanden. Ich klage sie nicht an, ich möchte ihr helfen. Das geht aber nur in einem Tempel der Rahja. Nur da können wir die Fessel dieses Wesens von ihr lösen. Doch solange sie besessen ist … ist sie gefährlich für sich selbst und für andere. Ich weiß, dass sie dem Gastgeber der Leidenschaft, Rahjan Bader, vertraut. Er kann es sicherlich schaffen, sie zu befreien.”

"Na ja, wie gesagt wird die ganze Ermittlergruppe sich nach der Hochzeit nach Albenhus in den Travia-Tempel begeben. Und wenn meine Eltern nicht zu helfen vermögen, dann können wir sicher auch dort in den Rosentempel gehen." Merle klang versöhnlicher, wenn auch nicht vollständig überzeugt. "Sei trotzdem nicht so hart zu Doratrava. Sie ist unglaublich lieb und wundervoll und es tut mir leid, dass ich ihr nicht das geben kann, was sie sich wünscht."

Rahjel nickte. “Wir sollten weiter.” Mit einem Blick signalisierte er ihr, dass er ihr folgen würde.

Suchen

Merle horchte noch einmal nach dem rauschenden Wasser, versuchte sich zu orientieren, aus welcher Richtung es kam. Es konnte nur ein kleiner Wasserfall sein. Vorsichtig schlugen die beiden den Weg in die Richtung ein, aus dem das Rauschen kam. Es war nicht leicht, sich einen Weg durch das Unterholz zu bahnen. Der Wald war hier zwar nicht dicht, die Laubbäume mit ihren bunt gefärbten Blättern standen in ausreichendem Abstand. Ein Sturm hatte große Lücken in das Blätterdach gerissen, die herbstlich verfärbten Blätter auf den Waldboden gewirbelt. Doch zwischen den Bäumen wuchsen niedrige Büsche, von denen einige mit langen, spitzen Dornen bewehrt waren. Nur mühsam bahnten sie sich ihren Weg, blieben mit den Kleidern an Stacheln und Ästen hängen, doch so vorsichtig wie sie waren, blieben schlimmere Blessuren aus.

Auch wenn die Angst um Doratrava quälend an ihr nagte und die Dornensträucher überaus lästig waren, übten die Geräusche und der Duft des Waldes eine beruhigende Wirkung auf Merle aus. Für den Moment zählte nur der nächste Schritt, das Finden des besten Pfades durch das Gestrüpp, so dass sie alle anderen Sorgen und Ängste erst einmal in den Hintergrund ihres Bewusstseins drängen konnte. Nach einer Weile des wortlosen Marsches ergriff die junge Frau schließlich doch das Wort: "Rahjel… es tut mir leid, dass ich dich vorhin so angefahren habe, wegen des Rahjabundes. Ich weiß ja, dass du nur das Werk deiner Göttin tust. Und eben hat uns Rahja tatsächlich gerettet, glaube ich…" Sie dachte einen Moment schweigend nach, während sie den Ast eines Strauchs festhielt, damit Rahjel durchgehen konnte. "Dennoch… ich hätte mir gewünscht, dass du vor dem Bundschluss mit mir geredet hättest. Weißt du, ich wollte heute früh ja sogar zu dir kommen, wollte dich und deine Göttin um Rat bitten, wie ich die Dinge mit Gudekar wieder ins Reine bringen und unsere Beziehung verbessern kann… Deshalb war ich so enttäuscht und verärgert. Weil ich das Gefühl hatte, vor vollendete Tatsachen gestellt worden zu sein. Gudekar hat es zwei Jahre lang vermieden, offen mit mir zu reden, nicht nur über seine Affäre, auch über seine Wünsche und Erwartungen an unseren Traviabund… Stattdessen hat er mich die ganze Zeit blind im Nebel stochern lassen. Ich hatte gar keine Chance, etwas zu tun, etwas zu verändern. Das kann nicht im Sinne von Rahjas Harmonie sein, oder? Ich, ähm… hatte irgendwie gehofft, dass du etwas zu Gudekar sagen würdest, wenn nicht als Geweihter, so doch als sein Vetter." Sie schluckte, weil sie das Gefühl hatte, vielleicht zuviel gesagt zu haben, und blickte wieder verlegen auf den herbstlichen Waldboden zu ihren Füßen.

Nun schaute der Geweihte Merle an und blieb stehen. “Dir muss nichts leid tun, du hast nur dein Leid, Kummer und Wut herausgelassen. Und ich verstehe, dass es raus musste." Er blickte kurz über ihre Schulter, dann wieder in ihre schönen Augen. “Der Bund zwischen Gudekar und Meta war allein ihre Herzensangelegenheit und es gab keinen Anlass, mit einer dritten Person darüber zu sprechen. Die Beiden waren schon vorher in einem Bund vor Rahja, doch was der Geweihte mit den Beiden besprochen hat, kann ich nicht sagen. Die Göttin hat ihren Wunsch angenommen. Gudekar hatte mir versichert, dass keinem Leid mit der Erneuerung des Bundes widerfährt. Ich habe aber beide aufgefordert, einen reinen Tisch mit dir zu machen. Dass du zu uns in den Schrein kamst, sehe ich als Fügung der Liebesgöttin, damit alle eine Chance erhielten, ihre Herzen frei zu machen und mit Liebe zu füllen. Doch alle Arbeit übernimmt die Göttin nicht, denn es liegt an den Gläubigen, was sie mit ihren Entscheidungen und Chancen machen. Ich kann dir nur mit Sicherheit sagen, dass Rahja die ehrliche Liebe der beiden erkannt und nur deshalb den Bund geschlossen hat.” Seine Stimme wurde etwas ernster. “Ich kann dich verstehen, Merle, doch ich handele im Sinne Rahjas … nicht im Sinne ihrer göttlichen Schwester Travia. Travias Eide sind heilig und ewig, doch ist es der Liebesgöttin ein Gräuel, Gefühle, Liebe und körperliche Liebe auf Ewigkeit an eine Person zu binden - eine Meinungsverschiedenheit, die zwischen den göttlichen Schwestern und ihren Dienern auf Dere herrscht.” Sanft strich er über Merles Schulter. “Doch Rahja ist auch auf deiner Seite. Liebe gibt es auch für dich. Und falls Gudekar genauso fühlt wie du, könnte auch ein Bund zwischen euch gesprochen werden.”

“Keinem Leid widerfährt”, wiederholte Merle mit leisem Hohn und rollte mit den Augen. “Dass ich nicht lache… Ich meine”, sie seufzte traurig, “...er mag ja seine Geliebte haben; das akzeptiere ich, wenn ich dieselben Freiheiten kriege. Aber darum geht es nicht. Nicht nur.” Sie schaute eindringlich in Rahjels blaue Augen und zwang sich, ruhig zu atmen, um sich nicht schon wieder in Rage zu reden. “Unser Traviabund gilt trotz allem auf ewig. Auch wenn ich Gudekar nicht zwingen kann oder möchte, mich zu lieben - mit diesem Eid ist und bleibt es seine Pflicht, mir zur Seite zu stehen und mit mir ein sicheres, warmes und beständiges Heim im Sinne der Gütigen Mutter zu schaffen. Doch auch das will er nicht mehr! Er will das Ende unseres Bundes.” Sie schlug deprimiert die Lider nieder und fuhr sich nervös durch das lange, zerzauste Haar, dann schnippte sie es gereizt auf den Rücken. “Mein Mann will mich verlassen, weggehen in die Rabenmark und nie wiederkommen, alle Brücken zu mir und seiner Familie abbrechen. Und diese 'Entscheidung', mich fallen zu lassen und unsere Ehe endgültig zu zerstören, die begründet und rechtfertigt er mit eben jenem Rahjabund, den du geschlossen hast, Rahjel. Er sagt, dass Meta jetzt seine Ehefrau wäre… und ich bin nur Ballast aus seiner Vergangenheit.” Merle schluckte schwer, immer noch bemüht, ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten. Trotzdem war der Blick, mit dem sie den Geweihten nun anschaute, voller Bitterkeit und Enttäuschung. “Mit der Erneuerung des Rahjabundes hast du ihm den Eindruck vermittelt, hast ihn darin bestärkt, dass sein Eidbruch - und damit meine ich nicht seine Liebe zu Meta, sondern seinen Plan, unseren Traviabund zu lösen! - dass sein rücksichtsloses Verhalten mir und Lulu gegenüber gut und recht und göttergefällig wäre. Daher sehe ich dich als Diener der Zwölf auch in einer gewissen Verantwortung für das Leid, das Gudekar mir und seiner Familie gerade zufügt."

Der Geweihte atmete tief durch. “Da liegt Gudekar im Irrglauben. Der Travienbund ist geschlossen und kein Diener der anderen göttlichen Geschwister kann diesen aufheben, noch wäre gewillt, dieses zu versuchen. Die Pflicht Heim und Familie zu sein ist nichts rahjaungefälliges. Möchte er ein Ende dieses Bundes, so muss er nach Rommilys reisen und vor dem Hohen Paar der Travia vorsprechen, nur diese könnten diesen Bund aufheben… vielleicht.” Rahjel strich sich durch seinen Bart. “Der Liebesbund Rahjas ist nicht zu vergleichen mit dem Bund Travias. Eine Ehefrau im Sinne Travias ist Meta nicht. Das bist du. Warum er die Worte so gewählt hat, finde ich verwunderlich. Als er bei mir vorgesprochen hatte, gab es keinen Zweifel daran, was dieser Bund vor der Liebholden bedeutet. Was zu seinem Irrglauben führt, ist bedenklich und muss ergründet werden. Ich bin gewillt mit ihm zu sprechen.” Seine Hand wanderte zu seinem Herzen. “Als Lehrer der Leidenschaft, Diener der Göttin Rahja, bin ich meiner Verantwortung nachgekommen, doch das Handeln und die Worte Gudekars liegen in seiner. Er mag mein Vetter sein, doch familiäre Bande zählen hier nicht. Und solltest du mich als Familienmitglied ansprechen, so kann ich dir sagen, dass ich ihn und die Familie Weissenquell kaum kenne. Meine Schwester und ich sind hier das erste Mal auf diese getroffen. Falls dich diese traurige Geschichte interessiert, kann ich sie dir gerne einmal erzählen.”

"Er hat zu mir gesagt", Merle starrte kurz ins Leere, um sich zu erinnern, "Meta wäre jetzt vor Rahja ebenso seine Ehefrau, wie ich es vor Travia bin. Aber sie wäre Teil seiner Zukunft. Und ich nicht. Sie wäre jetzt und für immer die wichtigste Frau in seinem Leben." Ernst schaute sie Rahjel in die Augen; in ihrem Blick lagen Trauer und Müdigkeit, aber auch so etwas wie ein neu erwachtes Selbstbewusstsein. "Ich wäre dir wirklich sehr dankbar, wenn du noch einmal mit ihm reden könntest", fügte sie deutlich sanfter und wärmer hinzu. "Auch wenn Eure Familienbande nicht eng sind... vielleicht ist das, was Gudekar gerade am allermeisten braucht, ein Freund."

Intuitiv nahm er Merle in den Arm. “Liebe ist selten für die Ewigkeit. Seine Worte können nicht stimmen, denn warum wollten sie einen Bund für zwei Götterläufe und nicht für die Ewigkeit? Dir mit Absicht Schmerz zu bereiten, ist nicht im Sinne der Liebesgöttin. Ich werde mit ihm reden.”

"Ich weiß nicht, warum er so kaltherzig und rücksichtslos zu mir ist", schluchzte Merle und klammerte sich für einige Momente eng in die tröstliche, warme Umarmung des Geweihten. "Aber Rahjel, ich danke dir... von Herzen. Jetzt lass' uns", sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch, "lass' uns erstmal zu diesem Wasser gehen, ja?"

Er löste sich aus der Umarmung, doch legte er seinen Arm um ihre Schulter. ”Lass uns gehen.”

Merle und Rahjel folgten weiter dem Rauschen des Wasser, so gut, wie es das Unterholz des Waldes zuließ. Das, was mit viel gutem Willen einen Pfad nennen konnte, schlängelte sich hin und her, und wäre nicht der Wasserfall ihr stets hörbares Ziel gewesen, sie hätten vielleicht die Orientierung verloren. Als sie eine Weile dem Wald folgten, sah Merle etwas Abseits etwas Rosenrotes durch die Äste scheinen.

“He, da ist irgendwas”, sagte Merle und wies in die Richtung. “Könnte das dein Tuch sein?” Vorsichtig ging sie ein paar Schritte auf das rote Schimmern zu.

Als sich Merle vorsichtig dem Schimmer näherte, erkannte sie Rahjels Tuch wieder. Es lag ausgebreitet über einem Busch, deckte ihn zu, wie eine Mutter ihr schlafendes Kind zudeckte.

Die junge Frau wollte schon danach greifen, besann sich dann aber, dies dem Geweihten selbst zu überlassen. Immerhin war es ein heiliger Gegenstand. Sie trat einen Schritt zur Seite, um Rahjel den Vortritt zu dem Busch zu lassen.

Als Merle ihren Arm wegzog, kam ein schwarzer Vogel angeflogen und ließ sich auf dem Tuch nieder. Sogleich fing er an, seine Melodie aus seinem hellgelben Schnabel zu singen, eine fröhliche Melodie. Es war eine Amsel.

Überrascht zuckte Merle zurück, sah Rahjel an und strahlte übers ganze Gesicht, so dass die Grübchen an ihren Wangen hervortraten. Sie merkte, wie viel befreiter, entspannter und wohler sich hier im Wald fühlte als in den Mauern des Gutshofs; als wäre ein großer Teil ihrer verhärteten Gram und Unsicherheit mit dem Liebesspiel zersprungen und von ihr abgefallen. Im Stillen dankte sie Rahja für dieses Geschenk. Auch wenn die Umstände ihrer Rückkehr aus der anderen Welt erschreckend gewesen waren, sie sich gewaltige Sorgen um Doratrava machte und ihre anderen Probleme früher oder später über sie hereinbrechen würden, kam sie sich jetzt in diesem Moment gelassen, selbstsicher und begehrenswert vor wie schon lange nicht mehr. Ja, selbst mit Gudekar und dieser kleinen, großkotzigen Dummbratze von Ritterin würde sie es schon aufnehmen, da war sie sich sicher. Merle lachte mit schalkhaft funkelnden braunen Augen. "Schau nur!" flüsterte sie Rahjel zu, um den hübschen Vogel nicht zu verscheuchen. "Der heilige Schleier der Liebholden scheint den Piepmatz zu inspirieren!"

Auch Rahjel lächelte. “Eine Amsel. Sie steht für Frohsinn, Genuss und Mut. Die Bauern sagen: Wo Amseln brüten, da schlägt kein Blitz ein und Unglück bleibt dem Haus fern”, flüsterte er zurück. Vorsichtig ging er auf sein Tuch zu. “Leider gehört das mir, Amsel.”

Merle lachte und wartete gespannt ab, ob der Geweihte den Vogel von seinem Schleier verscheuchen konnte.

Mit einer förmlichen Schimpftirade versuchte die Amsel zunächst, den Dieb ihres Tuches von seinem Vorhaben abzubringen. Als dieser sich jedoch nicht mit ihrem Gesang überzeugen ließ, entschied der Vogel, dem deutlich größeren Gegner den angenehm weichen und warmen Untergrund zu überlassen, und flog davon. Sie ließ sich auf einem nahegelegenen Ast nieder und kommentierte verärgert Rahjels Handeln.

Finden

Mit dem heiligen Tuch im Gepäck spürte Rahjel die Präsenz der schönen Göttin wieder deutlicher, jene Präsenz, die er in der Anderswelt so sehnsüchtig vermisste. So nahmen die beiden ihren Weg wieder auf, immer noch dem Rauschen des Wasser folgend. Und dann öffnete sich der Wald zu einer Lichtung. In der Mitte der Lichtung lag jener See, in dem Merle und Doratrava am Abend zuvor im Schein der Mada gebadet hatten, in dem sie einen ersten leidenschaftlichen Kuss ausgetauscht hatten.

"Oh!" entwich es Merle überrascht. Erfreut hüpfte sie ein bisschen auf der Stelle und wandte sich mit einem strahlenden Lächeln an den Geweihten: "Die weiße Quelle! Hier ging gestern die Nachtwanderung hin! Jetzt finden wir ganz einfach ins Dorf zurück." Sie blickte an sich herunter, strich über das ruinierte Kleid und seufzte leicht. "Würde aber vorschlagen, dass wir zunächst mal uns und unsere Wunden säubern, oder was meinst du?"

“Eine gute Idee!”, Rahjels Stimme hörte sich deutlich erleichtert an. Mit geschickten Handgriffen streifte er sich die restliche Tunika ab und stand nackt da. “Brauchst du Hilfe?”, fragte er Merle.

Sie schüttelte den Kopf. “Nein, denke nicht. Ich werde meine Schnitte auswaschen, dann heilt das schon wieder.” Sie eilte zu dem See, behielt jedoch zunächst ihr Kleid an.

Als sich Merle dem Wasser näherte, erblickte sie einen Körper, der reglos am Ufer des Sees lag, die Beine halb im Wasser, doch der Körper an Land. Es war eine zierliche Gestalt mit blasser Haut und silbernen Haaren. Zwischen den Haaren lugte ein spitzes Ohr hervor. Doch das Bein der Gestalt war rot. Blut floss langsam in den See und vermischte sich dort mit dem Wasser.

"Doratrava!" schrie Merle laut auf und stürmte schnell an die Seite ihrer Freundin, fiel neben ihr am Ufer des Sees in die Hocke. Entsetzt und mit wie wahnsinnig schlagendem Herzen, aber nach außen um Fassung und Ruhe bemüht überprüfte sie, ob die Tänzerin atmete und einen Puls hatte, dann begutachtete sie besorgt die Verletzung an deren Bein.

Doratrava atmete, flach, aber sie atmete. Ihr Puls war schwach, aber regelmäßig. Ihr nackter Körper war von den Schnitten der Splitter zerschunden. Deutlich schlimmer als die Körper von Merle und Rahjel, die durch ihre Kleidung etwas besser geschützt waren. Doch am schlimmsten war Doratravas linkes Bein zerschunden. Die Haut war aufgerissen, vom Ansatz des Oberschenkels nach unten bis zum Fußknöchel. Es waren viele längs verlaufende, unregelmäßige Risse, in etwa fingerbreitem Abstand zueinander, die sich um das ganze Bein herumzogen. Ihr Blut floss aus den Wunden. Doratrava war bewusstlos.

Merle zog Doratrava an den Schultern aus dem Wasser heraus, dann machte sie sich geschwind daran, lange Stoffstreifen vom Rock ihres Kleides abzureißen und nach einer schnellen Überprüfung, ob sich Fremdkörper in den Wunden befanden, die Risse am Bein der Gauklerin zu verbinden. Trotz der Sorge um ihre Freundin zwang sie sich zur Besonnenheit und versuchte, zusammengerollte Stoffballen mit ausreichend Druck auf die stärker blutenden Risse zu pressen und so fest zu fixieren, dass es die Blutungen stoppte. "Sie hat wirklich viel Blut verloren", erklärte sie mit einem kurzen Blick zu dem Geweihten, ohne ihre Bemühungen zu unterbrechen. Methodisch arbeitete sie sich von Schnitt zu Schnitt vor. An Merles schreckensweiten Augen und fahler Gesichtsfarbe konnte Rahjel erkennen, wie ernst sie Doratravas Zustand einschätzte.

Doratrava begann leise zu stöhnen und bewegte sich schwach, als Merle sich an ihrem Bein zu schaffen machte, wachte aber noch nicht auf.

Merle beobachtete Doratravas Reaktionen genau. Dennoch fuhr sie ruhig damit fort, die Blutungen zu verbinden, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, um einen Versuch zu unternehmen, ihre Freundin aufzuwecken. Der Schmerz am Bein würde sicherlich heftig sein, sobald Doratrava erwachte - daher wollte sie ihr dies so lange wie möglich ersparen und zunächst einmal die Wunden versorgt wissen. Wieder warf sie Rahjel einen besorgten Blick zu.

Es brachte nichts, Merle zu warnen, so ließ er sie sich auf die Verletzte stürzen. Er holte sich das Tuch seiner Göttin und ging dann zu den Beiden. Behutsam legte er das Tuch unter den Kopf der Gauklerin. "Das sieht nicht gut aus”, sagte er, doch bemerkte er auch, wie geschickt Merle mit der Wundversorgung war. Er legte seine Hände auf den Körper Doratravas und konzentrierte sich auf die Worte des Heilsegens. Dann flüsterte er sie in melodischer Stimme.

Als Merle den größten Teil des Beines verbunden hatte, so gut es ging, stöhnte Doratrava lauter, dann warf sie den Kopf hin und her und grub die Hände in die Erde, um dann mit einem lauten, schmerzvollen Aufschrei hochzufahren und gleich wieder ins Gras neben dem See zurückzufallen. Ihre - braunen - Augen waren weit aufgerissen und glasig, ihrem Mund entwich gequältes Wimmern.

Merle rutschte auf den Knien zu Doratravas Oberkörper und fasste sie fest an den Schultern. “Doratrava, hörst du mich?” sprach sie die Tänzerin halblaut an und beugte den Kopf dicht über Doratravas schmerzverzerrtes Gesicht. Sanft legte sie ihr die Hand an die Wange. “Es ist alles gut, Liebes; du bist in Sicherheit!”

Der Schmerz trieb Doratrava Tränen aus den Augen, aber als sie Merles Stimme hörte und ihre Hand spürte, fokussierten sich ihre Augen auf Merles Gesicht, während sie mit einer Hand krampfhaft einen Arm ihrer Freundin umklammerte. "Merle", presste die Gauklerin mühsam hervor. "Wir ... sind zurück ... aber ... mein Bein ..." Sie konnte nicht weitersprechen, als eine neue Welle der Pein über sie hinweg rollte und ihr ein japsendes Keuchen entlockte. Es fühlte sich an, als würde ihr Bein gleichzeitig in Flammen stehen und mit Säure übergossen werden, und sie musste schwer kämpfen, um nicht einfach zu schreien. Dass Rahjel auch anwesend war, nahm sie nur am Rande wahr, auch, dass er sie berührte und ein Gebet sprach. Alles, was sie erkennen konnte, war Merles wundervolles Gesicht, und das gab ihr Halt.

"Es ist alles gut. Versuch, ganz ruhig zu atmen, Süße, kannst du das?" redete Merle mit sanfter Stimme auf Doratrava ein. "Ich weiß, dass es sehr weh tut. Aber es ist wirklich nicht so schlimm, glaub mir. Nur ein paar fiese Kratzer." Während sie mit der Linken Doratravas Hand von ihrem Arm pflückte und tröstend drückte, strich sie mit der Rechten liebevoll über ihr weißes Haar, nebenbei fühlte sie, ob sich die Stirn ihrer Freundin heiß anfühlte. "Hast du Durst?" Die junge Frau bedeutete Rahjel, mit der Hand etwas Wasser aus dem klaren See zu schöpfen, um damit Doratravas Lippen zu benetzen. "Ich werde jetzt noch schnell die Verbände fertig machen und dann schauen wir weiter, ja?" Merle versuchte, beruhigend weiterzusprechen, während sie sich wieder Doratravas verletztem Bein zuwandte, um ihr Werk zu vollenden. Ihr Rock reichte jetzt nur noch knapp übers Knie, weil sie allen Stoff sowie die Ärmel des Kleides für die Druckverbände benötigt hatte.

Es dauerte ein paar Herzschläge, bis die Schmerzwelle soweit abgeebbt war, dass Merles Worte zu Doratrava, deren Stirn zwar schweißnass, aber nicht heiß war, durchdrangen. Die Gauklerin erfasste zwar nur mühsam den Sinn des Gesagten, aber sie biss die Zähne zusammen und reagierte mit einem schwachen Nicken, während sie die Hände wieder in der Erde vergrub, um Merle nicht von der Arbeit abzuhalten, indem sie sie erneut festhielt. Und schon brandete die nächste Welle über sie hinweg, sie schloss die Augen und gab ein gepresstes Stöhnen von sich. Sie versuchte sich in Erinnerung zu rufen, was sie mit Merle unmittelbar vor ihrem Rücksturz hierher erlebt hatte, sich die ekstatischen Wonnen, die sie gemeinsam hatten erleben dürfen, zu vergegenwärtigen, und das half tatsächlich, um die schlimmsten Spitzen des Schmerzes ein wenig abzufedern.

Nachdem Merle Doratravas Schnittwunden so gut verbunden hatte, wie es ihr mit den improvisierten Stoffstreifen ihres Kleides möglich war, kniete sie sich wieder neben den Kopf ihrer Freundin und nahm deren Hand. "Was meinst du, Liebes, willst du mal versuchen, dich aufzusetzen?" schlug sie vor. "Aber langsam. Und sag Bescheid, falls dir schummrig wird."

Doratrava fühlte die wohltuende Wirkung des Heilsegens, und obwohl sie sich dadurch eher allgemein gestärkt fühlte, als dass es unmittelbare Auswirkungen auf ihr zerschundenes Bein hatte, stellte sie sich zumindest vor, dass der Schmerz weniger wurde. Das Wasser dagegen hatte ihrem Empfinden nach einen deutlich wirksameren Effekt, was dies anging. Sie biss erneut die Zähne zusammen und folgte Merles Vorschlag, sich aufzusetzen, wobei sie sich an ihrer Geliebten festhielt. Dann rutschte sie näher an das Ufer des Sees, weil sie eigentlich das Bein am liebsten ins Wasser getaucht hätte, aber das wäre Merles Verbänden nicht gut bekommen, also ließ sie es lieber.

Als Doratrava sich aufzurichten versuchte, bildete sie sich ein, das Schnauben eines Pferdes zu hören. Ein Pferd? Oder waren es zwei Pferde? Oder mehrere?

Doratravas Kopf ruckte hoch, und sie sah sich suchend um. Ihr wurde gewahr, dass sie außer den Verbänden nichts am Leib trug, aber das ließ sich nicht ändern. Immerhin würden hier wohl nur Leute unterwegs sein, die im Dorf wohnten oder zu den Gästen gehörten. Wieviel Zeit wohl vergangen war, seit sie aus dem Kaminzimmer verschwunden waren? Sie hatte bisher noch keine Muße gehabt, um nach dem Sonnenstand zu schauen. Und gerade zuckte sie heftig zusammen, als das Bein sich mit einer neuen Schmerzwelle bemerkbar machte, die zum Glück nicht mehr so mörderisch heftig ausfiel.

Merle stützte Doratrava fürsorglich, strich ihr beruhigend über den Rücken und achtete sorgsam darauf, dass ihre Freundin nach dem Blutverlust nicht doch wieder ohnmächtig wurde. Irritiert folgte sie Doratravas suchendem Blick.

"Pferd", murmelte Doratrava, der langsam zu Bewusstsein kam, wie erschöpft sie eigentlich war, und sank an Merles Schulter. "Ich habe ein Pferd schnauben hören, glaube ich."

Nun, darauf aufmerksam gemacht, konnten auch Merle und Rahjel das Schnauben hören. Es musste von irgendwo hinter den Bäumen im Wald herkommen.

Lauschend drehte Merle den Kopf zu dem Geräusch der Pferde. "Verdammt, da kommt jemand!" raunte sie Rahjel und Doratrava besorgt zu. "Was sollen wir sagen, wie wir hier hergekommen sind? Und was wir hier machen?"

“Pferde sind die heiligen Tiere der Rahja. Auf meine Göttin ist immer Verlass!”, sagte Rahjel mit einem Lächeln.

Doratravas Kopf war leer, sie hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, zumal sie immer noch gegen die Schmerzen ankämpfen musste. Intuitiv war ihr klar, dass ein wahrheitsgemäßer Bericht über das, was ihnen widerfahren war - oder vielmehr über das, was Doratrava instinktiv und ohne Plan verursacht hatte und was dann an jenem anderen Ort geschehen war - sie in des Namenlosen Küche bringen würde; oder schlimmer, auf den Scheiterhaufen der Inquisition. Aber in ihrem jetzigen Zustand fiel ihr keine überzeugende Lüge ein, so konnte sie nur auf den Beistand ihrer Freunde hoffen und die Nähe zu Merle genießen, soweit es ihr gerade möglich war und solange es anhielt.

"Wenn es niemand aus dem Gutshaus ist, könnten wir sagen, dass wir hier gestern bei der Wanderung was verloren haben, vielleicht ein Schmuckstück oder so... und deshalb zurückgekehrt sind", überlegte Merle laut. Sie betrachtete stirnrunzelnd Doratravas Bein und die zahlreichen Schnittwunden, die sie alle drei aufwiesen. “Oder wir behaupten, wir waren hier schwimmen und wurden…”, sie machte eine rudernde Handbewegung, “...wurden, äh… von etwas angegriffen, ähm… einem Großen Schröter, einem Bären… oder Harphyen? Einem Tatzelwurm?” Ihrer unglücklich verzogenen Miene war anzusehen, dass sie nicht zufrieden mit derlei Lügengeschichten war. “Rahjel, was meinst du?”

“Es gibt keine Gründe zu lügen. Und wir brauchen dringend Hilfe”, sein Blick wanderte zu Doratravas Wunden. “Rahja hat sicherlich ihre Pferde zu uns geschickt.”

"Rahjel, wir müssen lügen, fürchte ich", raunte Merle dem Geweihten mit gepresster Stimme zu. "Du weißt, wie viel Angst die Leute hier vor Magie haben! Und wenn die Inquisition erfährt, was Doratrava getan hat..." Sie schluckte hart und sah ihm flehentlich in die Augen. "Bitte, wer immer das ist mit den Pferden... bitte sag ihnen nichts."

“Schauen wir, mit wem wir es zu tun haben”, sagte er.

Doratrava bekam nur am Rande mit, dass Merle mit Rahjel tuschelte, weil das Brennen in ihrem Bein wieder stärker wurde. Sollte ich jetzt eifersüchtig werden?, durchzuckte sie kurz ein Gedanke voll müder Ironie, was aber immerhin einen ihrer Mundwinkel nach oben zucken ließ.

Helfen

Ein erneutes Schnauben ließ Merle in die Richtung blicken, aus der das Geräusch kam. Dort, zwischen dem Pfad linkerhand, auf dem sie gestern bei der Nachtwanderung hierher geführt worden waren, und dem Weg rechterhand, der dem Lützelbach folgend direkt ins Dorf führte, erblickte Merle zwischen den Bäumen einen braunen Warunker und einen schwarzen Elenviner, die friedlich da standen und die Grasbüschel fraßen und zwischendurch erschöpft schnauften. Das Fell glänzte förmlich vom Schweiß, der ihnen wie weißer Schaum die Hinterbeine hinunterlief. Beide Pferde waren gesattelt, doch Reiter waren dort nicht zu sehen.

"Da stimmt was nicht...", murmelte Merle. "Wo sind die Reiter?"

Merles besorgtes Murmeln sickerte zu Doratrava durch, die für einen Moment nur die Augen geschlossen hatte. Sie zwang sich dazu, diese wieder zu öffnen und bemühte sich, Erschöpfung und Schmerzen aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen, denn falls eine Gefahr drohte, brauchte sie ihre Sinne beisammen ... wobei sie sich allerdings mit dem niederhöllisch brennenden, bandagierten Bein kaum würde bewegen können, und Dolche hatte sie auch keine dabei. Sie blickte sich hastig um, im Zweifelsfall tat es auch ein Stein. Als sie daran dachte, womöglich Merle verteidigen zu müssen, schoss plötzlich heißer Zorn durch ihre Eingeweide, fast genau so wie ... vorhin? Vor Stunden? - im Herrenhaus, als Merle so geschrien hatte und sie ihre Geliebte nur noch hatte retten wollen, irgendwie, vor allen, die ihr Leid zufügten. Und ... sie spürte, dass sich etwas in ihr regte, ganz, ganz tief drinnen. Erschrocken über sich selbst versuchte sie, ihre Emotionen unter Kontrolle zu bringen, denn es war ja gar nicht sicher, dass ihnen und vor allem Merle unmittelbare Gefahr drohte, aber es war so schwer, so schwer, gegen die Wut, die in ihr aufstieg, anzukämpfen …

Merle schaute leicht irritiert zu Doratrava, die seltsam abwesend wirkte. "He, wollen wir mal nach diesen Pferden schauen?" fragte sie vorsichtig und streichelte mit dem Handrücken über Doratravas Wange. "Meinst du, du könntest versuchen aufzustehen, wenn wir dich stützen?"

Merles Berührung löste plötzlich einen Schauer ganz anderer Gefühle in Doratrava aus und riss sie für den Moment aus ihrem inneren Kampf. Sie schaute auf und schenkte ihrer Geliebten einen unendlich dankbaren Blick, dann nickte sie knapp. Leider hatte sie hier keinen Stein finden können, aber vielleicht fand sich etwas auf dem Weg, das man als Waffe verwenden konnte.

"Komm' Rahjel, hilf mir mal", forderte Merle den Geweihten auf und umfasste Doratrava unter den Armen, um dieser hochzuhelfen. "Belaste das verletzte Bein erstmal nicht, ja?"

“Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist. Sie ist verletzt.” Als Merle seine Bemerkung ignorierte, half er ihr, nicht ohne dabei besorgt zu schauen.

Schon die Schmerzen hinderten Doratrava daran, das Bein mehr als irgendwie nötig zu bewegen. Das Brennen der teils tiefen Schnitte, die über ihren Körper verteilt waren, fiel dagegen nur wenig ins Gewicht. Aber mit Hilfe Rahjels und Merles kam sie gut hoch, zumal sie wenig wog und gut trainiert war, da sah ihr einbeinig hüpfender Gang zwischen den beiden Gefährten fast schon elegant aus.

"Du machst das großartig!" jubelte Merle, als hätte die Gauklerin ein neues Kunststück präsentiert. Die junge Frau zeigte ihr ein strahlendes, breites Lächeln und achtete vorsichtig darauf, Doratrava gut festzuhalten, damit diese nicht doch stürzte. “Großartig?”, murmelte der Geweihte. Langsam humpelnd überquerten sie die Lichtung und bewegten sich auf die grasenden Pferde zu. Als Merles Blick auf die Feuerstelle fiel, wo sie und Doratrava sich gestern nackt in warme Decken gekuschelt mit Glühbier aufgewärmt hatten, leuchten ihre Augen träumerisch und sie zwinkerte ihrer Freundin neckisch zu, dann blieb sie unvermittelt stehen. "Wartet mal! Doratrava, als wir hier aufgebrochen sind, da haben Bernhelm, Leodegar und Wulfhelm doch die ganzen Decken und das Geschirr in Kisten gepackt und auf den Wagen gestellt. Meinst du, der steht hier noch rum?" Aufmerksam blickte sie sich um. Als sie den Wagen nicht entdeckte, bedeutete sie Doratrava und Rahjel, weiter langsam in Richtung der beiden Pferde zu gehen.

Doratrava zuckte die Schultern. “Keine Ahnung”, gab sie zurück. “Wieso sollten die das Zeug hier im Wald stehen lassen? Sie konnten ja nicht wissen, dass wir es heute brauchen.” Sie zog einen Mundwinkel nach oben bei diesem müden Scherz, dann humpelte sie weiter, wobei sie immer noch nach etwas Wurffähigem Ausschau hielt.

“Doratrava, solltest du dich lieber schonen? Merle und ich sind unverletzt”, fragte Rahjel besorgt, ging zurück und holte sich sein Tuch wieder … und seine Kleidung. Zumindest was davon übrig war. Mit geschickten Händen machte er sich einen kurzen Rock aus der zerfetzten roten Tunika. Nicht mehr nackt kehrte er zu den beiden Frauen zurück.

“Ich kann mich schonen, wenn ich tot bin”, gab die Gauklerin fast schon schroff zurück, das mochte aber auch an den Schmerzen liegen. Doch tatsächlich wusste sie, dass sie wahrscheinlich wahnsinnig werden würde, wenn man sie hier allein und untätig zurücklassen würde. Sie war so schon keine von der geduldigsten Sorte, und jetzt, da sie sie alle drei in diese prekäre Situation gebracht hatte, trieb die Ungewissheit sie erst recht dazu an, ihr Schicksal so weit als möglich in die eigenen Hände zu nehmen.

Die Feuerstelle, über der am letzten Abend das Glühbier erhitzt worden war, war mit einem Kreis von kleineren und größeren Steinen begrenzt. Hier fand Doratrava auch den einen oder anderen handlichen Stein, der zum Werfen durchaus geeignet war.

Doratrava lenkte ihre Gefährten dorthin und nahm sich einen der Steine, den sie prüfend in der Hand wog. Mehr konnte sie nicht mitnehmen, denn sie wollte eine Hand frei haben und hatte ja kein Behältnis.

“Ach so, warum der Wagen noch hier sein könnte?” Merle zuckte mit den Schultern. "Hm, wer weiß? Vielleicht wollten sie nachts nicht mehr mit dem Wagen durch den Wald? Ich hab den jedenfalls nicht zurückfahren sehen gestern. Aber zugegebenermaßen war ich auch ein bisschen abgelenkt." Sie lächelte leicht und zwinkerte Doratrava flüchtig zu.

Ein warmes Gefühl in Doratravas Brust verdrängte den Schmerz und auch diese seltsame Wut, die immer noch unterschwellig in ihr lauerte. Sie würde jetzt nichts lieber tun, als einfach ins Gras sinken und da weitermachen, wo sie vorhin aufgehört hatten. Aber das war wohl leider keine Option, obwohl bestimmt auch Rahjel nichts dagegen gehabt hätte. So gab sie Merle lediglich einen samtigen Kuss auf die Wange, wohl wissend, dass diese nicht fort konnte, da sie sie stützen musste. Dann zwinkerte sie ihrerseits Merle zu, und ihr Lächeln war schon ausdrucksstärker als gerade eben noch.

Merle erwiderte Doratravas Lächeln voller Zuneigung und Wärme. Was in der anderen Welt zwischen ihnen geschehen war, bereute sie nicht - es war ein wunderschönes, befreiendes Erlebnis gewesen, das sie nie vergessen würde. Trotz ihrer Verletzungen und der seltsamen Situation fühlte sie sich wohl wie schon seit langer Zeit nicht mehr und wollte dieses Hochgefühl nicht durch zu viele Gedanken und Grübeleien zerstören. Sie hoffte nur, Doratravas Gefühle und Erwartungen nicht früher oder später enttäuschen zu müssen. Tatsächlich wusste sie selbst nicht richtig, was sie für Doratrava empfand; eine Mischung aus Freundschaft, Liebe und Begehren - und eigentlich hatte Merle noch nie, auch bei Gudekar nicht, das Bedürfnis gehabt, diese Emotionen klar gegeneinander abgrenzen zu wollen; in ihrem Herzen gingen diese schon immer sanft ineinander über. Vielleicht verstand sie deshalb auch nicht, warum Gudekars Liebe zu Meta für ihn bedeutete, sich von seinen Gefühlen für sie lossagen zu müssen. Und auch Doratrava würde wohl eine klare Aussage von ihr wollen, ob sie denn nun Freundinnen oder Geliebte waren - auch wenn Merle diese Frage nicht beantworten konnte und wollte.

Am Waldrand, in der Nähe des Pfades zur Jagdhütte, fiel Merle ein ungewöhnlicher Hügel auf. Sie konnte sich nicht erinnern, diesen schon einmal bemerkt zu haben. Beim Näherkommen zeigte sich, dass hier etwas mit einem großen Wachstuch abgedeckt worden war, das am Boden mit Steinen gegen ein Wegwehen gesichert war. Der Sturm hatte wohl Laub und dünnes Geäst über die Plane geweht, so dass diese von weitem kaum sichtbar war.

“Oh, schaut nur!” rief Merle und wies auf den ‘Hügel’. “Das könnte tatsächlich der Wagen sein!” Unschlüssig blickte sie zwischen den grasenden Rössern und dem Wagen hin und her. “Wollen wir uns erst die Pferde anschauen oder nach ein paar Decken suchen?”

“Bringt mich zu dem Wagen”, entschied Doratrava. “Nach ein paar Decken zu suchen, werde ich wohl allein hinbekommen. Ihr geht solange zu den Pferden und schaut, ob ihr jemanden finden könnt. Und wenn Gefahr droht, schreit. Ich habe immerhin einen Stein, und den kann ich vermutlich effektiver benutzen als die meisten Leute.” Sie lächelte schief, wobei ihr klar war, dass sie den Stein nur einmal werfen konnte, und dann stand sie blank da. Aber sie hoffte, dass hier wirklich nur Leute aus dem Dorf unterwegs waren. Allerdings … sahen die Pferde aus, als hätte es jemand sehr eilig gehabt. Wie auch immer, nichts zu tun war keine Option. Sie blickte Rahjel und Merle fragend an, ob sie einverstanden waren, wobei sie das Gesicht verzog, als wieder mal eine brennende Welle durch ihr Bein lief.

Merle nickte und geleitete die humpelnde Gauklerin zu dem Wagen. Zusammen mit Rahjel entfernte sie die Steine und zog das große Wachstuch herunter.

Und - welch Überraschung für den aufmerksamen Leser - sie legten tatsächlich den Wagen frei, auf denen Bernhelm und die Häslers gestern Abend alle Utensilien des Madascheinlagers verstaut hatten. Der Wagen war größer, als er im Dunkeln gewirkt hatte und war wohl nur von einem Pferd oder Esel zu ziehen. Er war mit mehreren ordentlich ge- aber nicht verschlossenen Kisten und Truhen beladen. Auch ein Fass stand auf der Ladefläche, daneben der Kessel, in dem über einem Lagerfeuer gewürztes Glühbier erhitzt worden war. Dank des gewachsten Tuchs war die Ladung trotz des Starkregens am Vormittag trocken geblieben.

Vorsichtig half Merle Doratrava, auf den Wagen zu klettern. “Schau mal, was du findest”, sie wies lächelnd auf das Fass, “...und ob da noch was drin ist. Wir sind gleich wieder da.” Dann winkte sie Rahjel heran, um die Pferde in Augenschein zu nehmen.

***

Durchsuchen

Das Klettern sandte neue Wellen des Schmerzes durch ihr Bein, aber Doratrava biss wie vorher schon die Zähne zusammen und unterdrückte ein Stöhnen, um Merle nicht zu beunruhigen. Dann nickte sie Merle mit einem angestrengten Lächeln zu und begann mit der Untersuchung des Wagens. Beim Anblick des Fasses meldete sich auch ihr völlig vernachlässigter Magen mal wieder zu Wort, mit einem heftigen Knurren. Sie hatte seit dem Frühstück heute Morgen, als es noch dunkel gewesen war, so gut wie nichts gegessen, immer war etwas dazwischen gekommen, zuletzt ein kleiner Ausflug in die Anderwelt, der sie erschöpft und verletzt zurückgelassen hatte.

Aber zunächst wandte die Gauklerin sich den Kisten zu, um eine Decke zu finden.

Die erste Kiste, die Doratrava öffnete, enthielt die Tonbecher, in denen gestern das Glühbier ausgeschenkt worden war. In der nächsten lagen ein paar letzte Fackeln und nötige Utensilien, um ein Feuer zu entfachen.

Als sie die zweite Kiste wieder schließen wollte, fiel ihr auf, dass diese Kiste mit einem ‘F’ aus weißer Kreide markiert war. Nun schaute sie noch einmal auf die erste Kiste. Auf dieser stand ein ‘B’.

Aha, ‘F’ wie Fackeln, ‘B’ wie Bier … ‘D’ wie Decken? Doratrava schaute, wie die anderen Kisten gekennzeichnet waren.

Eine der größeren Truhen war mit einem ‘D’ markiert, die andere Truhe mit einem ‘K’. Außerdem gab es noch eine Kiste mit ‘W’ und eine mit ‘K&W’. Eine letzte Kiste war unbeschriftet.

Gut, dann erstmal ‘D’ wie ‘Doratrava’, dachte die Gauklerin in einem neuerlichen Anflug von unpassendem Schalk bei sich und machte sich an der entsprechenden Kiste zu schaffen.

Ebenso wie die anderen Kisten war auch die Truhe nicht verschlossen, obwohl sie eine Öse für ein Vorhängeschloss vorhielt. In dieser Kiste waren die Decken aufbewahrt, die Merle und Doratrava, aber auch andere der Wanderer bereits am Vorabend nach dem Bad gewärmt hatten. Die oberste Decke war feucht. Entweder diente sie gestern zum Abtrocknen, oder die Truhe war doch nicht vollständig dicht gegen den Regen gewesen. Die unteren Decken jedoch waren weitgehend trocken.

Doratrava zog eine der unteren, trockenen Decken hervor … und nach kurzem Überlegen noch eine zweite, dann schloss sie die Kiste sorgfältig wieder. Da sie noch keinen Alarmruf vernommen hatte, wollte sie nun schauen, was in den restlichen Kisten war, und nahm sich die mit dem ‘K’ vor. ‘K’ wie ‘Kleider’? Schön wär’s …

… doch stand das ‘K’ wohl eher für ‘Kissen’. In dieser Truhe lagerten die Sitzkissen, die den gestrigen Abend gemütlicher gemacht hatten.

War ja klar, wieso sollte man hier auch Kleidung aufbewahren. Mit Kissen konnte sie gerade nichts anfangen, also schaute sie nun nach der Kiste mit ‘K&W’. Man sollte die Hoffnung nie aufgeben …

Auch diese Kiste enthielt keinerlei Kleidung. Doch dafür fing beim Öffnen der Kiste sofort Doratravas Magen an zu Knurren, denn es roch appetitlich nach Hartwürsten und Käse. In Wachstücher eingeschlagen waren die Laibe, die einladend darauf warteten, gegessen zu werden. Obendrauf lagen drei Brotlaibe, die zwar nicht mehr warm und knusprig, aber immer noch recht frisch waren. Vermutlich erst am Vortag gebacken. War hier für ein Picknick vorbereitet worden?

Bevor wieder etwas dazwischenkam, nahm sich Doratrava eine Wurst und ein Stück Brot und biss auch sogleich hinein. Kauend wandte sie sich dann der vorletzten Kiste, der mit dem ‘W’ zu. Nachdem eben ‘W’ wohl für ‘Wurst’ gestanden hatte, würde es hier wohl etwas anderes bedeuten. Neugierig öffnete sie den Deckel.

Hatte die Kiste zuvor feste Nahrung enthalten, war es nun die flüssige. In Stroh gebettet lagen hier mehrere Flaschen Linnartsteiner, aber auch zwei Flaschen mit einer klaren Flüssigkeit. Auch an einen Korkenzieher hatte man gedacht.

Also Wein, da hätte Doratrava gleich darauf kommen können. Nichts, wonach ihr gerade der Sinn stand.

Und die letzte, ungekennzeichnete Kiste? Alles Kleinzeugs, das keinen eigenen Namen verdiente? Sie öffnete den Deckel und schaute hinein.

Und Doratrava lag vollkommen richtig. Wer ein Picknick veranstalten will, braucht dies und das. Wurst und Käse wollen geschnitten werden, also enthielt diese Kiste drei Holzbretter und ebenfalls drei kleine schärfere Messer, die, so überlegte sich Doratrava, sich zur Not auch werfen ließen. Ein längeres Messer war vermutlich gedacht, um das Brot zu schneiden. Aus einem Säckchen duftete es herrlich nach Kräutern und Gewürzen. Zimt. Anis. Koriander, ... Wurde damit das Glühbier gewürzt? Scheinbar hatte man auch an mögliche Verletzungen der Gäste gedacht. Drei Rollen mit Bandagen und ein Tiegelchen mit einer weißen Salbe entdeckte Doratrava. Ein Seil, eine Rolle dünnerer Schnur, eine Schöpfkelle und viel weiterer Krimskrams komplettierten den Inhalt der Kiste.

Damit ließ sich doch etwas anfangen. Doratrava nahm sich eines der Messer und das Seil und schnitt letzteres zurecht, so dass es dreimal um ihren Körper passte, und so band sie es sich um den Bauch. Dann steckte sie alle Messer in diesen provisorischen Gürtel, so dass sie auf der unteren und oberen Seilwinde auflagen und von der mittleren gehalten wurden. Die Bandagen und die Tiegelchen wollte sie auch mitnehmen, aber dazu brauchte sie einen Beutel, der groß genug war und sich an ihren Seilgürtel binden ließ. Danach suchend wühlte sie weiter in der Kiste.

Weiter unten lag ein großer zusammengeschnürter Stoffbeutel. Dieser war allerdings zu groß, um ihn an den Gürtel zu binden. Über die Schulter konnte man ihn aber gut hängen. Der Beutel war zunächst überraschend schwer. Als Doratrava ihn öffnete, fand sie verschiedene Holzobjekte. Da waren höhere Holzklötze und -stangen, dukatengroße glatt geschliffene Holzscheiben und ein ganzes Knäuel von Lederbändchen mit grob geschnitzten Tieranhängern: Füchse, Eidechsen, Stuten, Gänse, Eisbären, Schlangen, Störche, Delphine, Greife, Löwen und Raben. Eine Form war zunächst schwer zu erkennen, doch sollte dies wohl ein Amboss sein. Nun, Doratrava hatte durchaus schon deutlich besser gefertigte Figuren der Zwölfgöttersymbole gesehen. Diese Ketten waren recht lieblos zu einem Haufen zusammengeknüllt, so dass sich die Lederbänder unglaublich unglücklich verknotet hatten. Wer hier eine bestimmte Figur auswählen wollte, müsste wohl viel Geduld aufbringen.

Da nichts anderes zu finden war, leerte Doratrava den Stoffbeutel kurzerhand aus. Göttersymbole waren ebenfalls nichts, was sie gerade brauchen konnte, zumal dann nicht, wenn es zu einem Geduldsspiel ausartete, diese zu entwirren.

Dann steckte sie die Bandagen und die Salben und dann auch noch die dünnen Schnüre hinein und schlang sich den Beutel über die Schulter, bevor sie die Kiste wieder verschloss. Jetzt wäre sie eigentlich soweit, zu den Gefährten zu stoßen, aber zuerst widmete sie sich, nachdem sie sich provisorisch unter die Decken gekuschelt hatte, noch dem Brot und der Wurst, während sie in Richtung der Pferde schaute, um vielleicht dort etwas erkennen zu können. Ohne die Hilfe ihrer Gefährten würde es sowieso ein mühsames Unterfangen werden, zu den Pferden zu laufen, wenn man das, zu was sie gerade in der Lage war, als “Laufen” bezeichnen konnte.

Die Wurst und das Brot gaben der Gauklerin gefühlt neue Kräfte, freute sich der Bauch doch, endlich etwas zu tun zu bekommen. Es war eine sehr würzige, luftgetrocknete Wurst, wodurch der Geschmack des groben Hackfleisches nicht durch Buchenholzrauch verfälscht wurde. Das Brot war, wie auch die Wurst, mit Kräutern und Gewürzen wie Kümmel und Fenchel verfeinert, die in dem Teig mitgebacken waren. Auch wenn es mit Sicherheit vom Vortag war, schmeckte es noch immer frisch und saftig. Der hiesige Bäcker verstand sein Handwerk.

// SL: Mir ist gerade aufgefallen, dass du nicht geschrieben hast, ob Doratrava sich eine Decke über den Körper geworfen hat. Es steht nur, sie nimmt zwei Decken. Ich vermute, sie hat sich eine Decke über den Körper geworfen und dann mit dem Seil um die Hüfte fest gebunden. Andernfalls, ohne Decke, wäre sie noch nackt. Dann besteht die Gefahr, dass die scharfen Messer bei einer Bewegung noch mehr Verletzungen verursachen. Außerdem wird es nackt auf Dauer doch kühl, wir sind Mitte Oktober.

// Das Kistenkramen hat bestimmt ein wenig gedauert. Ich würde den beiden anderen gerne noch etwas Zeit geben, bei den Pferden was zu tun, falls du zu ihnen humpeln oder sie rufen willst

***

Einfangen

Derweil liefen Merle und Rahjel zu den beiden Pferden, die sich langsam durch die Bäume tiefer in den Wald hinein bewegten, während sie immer wieder anhielten um etwas zu grasen.

Der Umgang mit Pferden war etwas, das die Geweihten der Liebholden in den Nordmarken von Anfang an ihrer Novizenzeit lernten. Vorsichtig näherte er sich den Tieren. “Rahja zum Gruße, ihr Schönen.”

Merle hielt sich hinter Rahjel und wartete ab, wie die Pferde auf den Geweihten reagieren würden. “Schau, wie schweißgebadet sie sind”, raunte sie ihm zu. “Meinst du, sie sind vor etwas geflohen?”

Vorsichtig legte er seinen Zeigefinger auf seine Lippen und flüsterte Merle zu. “Nicht so laut. Pferde sind sehr schreckhaft. Auf jeden Fall haben sie einen anstrengenden Ritt hinter sich.”

Merle nickte verstehend. "Kannst du sie einfangen?" flüsterte sie.

Die Pferde spürten die Aura, die Rahjel umgab. Sie blickten neugierig zu ihm und kamen vorsichtig ein paar Schritt näher. Dass sie vor kurzem schnell gerannt sein mussten, war deutlich zu sehen. Beide Tiere wirkten gesund und gut gepflegt, waren in einem guten Zustand. Die Elenviner-Stute war ein prächtiges Tier, vermutlich das Ross einer oder eines Adeligen. Auch die Warunker-Stute schien ein geübtes Reittier zu sein. Doch wirkte sie kräftig genug, um auch als Arbeitstier eingesetzt werden zu können. Ansonsten war an ihnen nichts Auffälliges zu erkennen.

Mit breitem Lächeln streichelte er die Pferde und schaute nach einem Brandzeichen. “Komm ruhig näher, Merle. Schau mal, ob du ein Zeichen an den Flanken sehen kannst. Vielleicht können wir sehen, zu wem sie gehören oder aus welchem Gestüt sie stammen.”

Merles Augen weiteten sich, als sie die Pferde näher betrachtete und sie zeigte mit zittriger Hand auf die Flanke der Warunker-Stute. “Das ist das Zeichen der Weissenquells! Und diese hier…”, ihre Miene wurde noch bestürzter, “...das ist eindeutig Gwenns Elenviner-Stute! Rahjel, sie hat sich doch von ein paar Leuten zum Spaß entführen lassen. Aber wenn die Pferde hier sind, ohne Reiter… dann ist ihnen etwas Schlimmes zugestoßen!” Unwillkürlich dachte Merle an die tote Braut, von der in dem Brief die Rede gewesen war. Ein bitterer Knoten schnürte ihr die Kehle zu und Tränen sammelten sich in ihren großen braunen Augen. “Ich hatte gedacht, die Brautentführung wäre nur ein netter Spaß… und sie hatte ja Bernhelm und Marno und die Dame von Kranickau dabei… Aber jetzt hab ich Angst, dass…” Kreidebleich im Gesicht brach Merle ab, während sie weiter sichtlich verstört die beiden Pferde anstarrte.

“Gemach, gemach, Merle. Das muss es nicht bedeuten. Vielleicht sind sie ja hier irgendwo und folgen ihrem Spiel. Das Problem aber ist Doratrava. Sie ist schwer verletzt. Wir sollten zum Dorf zurück und sie dort zu… Gudekar oder einen anderen Heiler bringen. Außerdem muss ich unbedingt mit meinen Schwestern und Brüdern im Glauben reden. Falls noch mehr im Argen ist, als mit unserer Gauklerin hier, brauchen wir Verstärkung. Sollten wir drei nicht zurück reiten?” Ernst schaute er die junge Weissenquellerin an.

"Die Pferde sehen erschöpft aus… als wäre etwas passiert", gab Merle zu bedenken. Sie hatte unsagbare Angst um Gwenn, versuchte aber, die Fassung zu behalten. "Vielleicht können wir eines der Pferde vor dem Wagen spannen", schlug sie vor. "Damit könnten wir Doratrava ins Dorf bringen, ohne dass sie mit ihrer Verletzung laufen oder reiten muss." Sie schaute sich um, ob sie in der Umgebung der Tiere menschliche Spuren oder Hinweise auf den Verbleib der Reiter zu entdecken vermochte.

Trotz intensiver Suche konnte Merle in der näheren Umgebung der Stelle im Wald und auf der Lichtung, an der die Pferde grasten, keine Spuren finden, die auf die verschollenen Reiter hindeuteten.

Schließlich ergriffen Rahjel und Merle die Zügel der beiden Tiere. Sie waren zwar noch immer etwas schreckhaft, doch die Aura des Rahjageweihten beruhigte die Pferde, sodass diese sich widerstandslos führen ließen. Rahjel führte auf Merles Vorschlag den Warunker zum Wagen, auf dem Doratrava saß, um die Stute davor zu spannen. Merle hingegen folgte ihm mit Nachtwind, der Stute von Gwenn.

"Die Warunker-Stute müsste den Wagen allein ziehen können, denke ich", meinte Merle, während sie Nachtwind hinten an dem Gefährt festband und beruhigend über den Hals streichelte. "Gwenns Stute würde ich nur mitführen. Sie mag es bestimmt nicht, wenn wir sie einspannen oder versuchen, auf ihr zu reiten." Die junge Frau machte sich daran, das große Wachstuch, das den Wagen abgedeckt hatte, oben zu verstauen, dann knabberte sie ebenfalls schnell an etwas Brot und Käse und wickelte sich mit einem leisen Seufzen in eine der Decken. "Also, wenn ihr bereit seid, können wir losfahren. Lasst uns den breiteren Weg am Lützelbach nehmen; der ist besser befahrbar", schlug sie vor und schaute, ob Doratrava es mit ihrem verletzten Bein auf dem Wagen bequem hatte. “Wir müssen so schnell wie möglich im Dorf Bescheid geben, dass Gwenn etwas zugestoßen ist.”

“Ich bin bereit, soweit man sein kann, wenn man nicht weiß, ob man bei Ankunft in der Luft zerrissen wird”, gab Doratrava etwas säuerlich zurück, während sie Merle bedeutete, dass sie einigermaßen bequem saß. “Aber wegen Gwenn … habt ihr nicht mal geschaut, ob sie hier irgendwo ist? Und der andere Reiter? Gibt es keine Spuren? Es muss ja einen Grund geben, warum sie bis hierher schnell geritten und dann abgestiegen und nun nicht mehr auffindbar sind.”

Merle überlegte kurz. "Ich glaube nicht, dass sie bis hierher geritten sind. Die Pferde scheinen schon eine ganze Weile allein unterwegs zu sein." Mit gerunzelter Stirn schaute sie sich noch einmal auf der Lichtung um. “Wenn hier in der Nähe irgendjemand wäre, hätten wir es inzwischen mitgekriegt."

“Ja, gut, kann sein, dass die Reiter woanders abgestiegen sind”, gab Doratrava zu. Oder zum Absteigen genötigt worden waren. “Aber man müsste doch zumindest die Spuren der Pferde im weichen Waldboden zurückverfolgen können? Ich würde ja selber schauen, aber”, sie wedelte in Richtung ihres bandagierten Beines, “ich bin gerade ein wenig eingeschränkt.” Mal ganz abgesehen davon, dass die Schmerzen sie zwar nicht mehr ständig aufstöhnen ließen, aber ihr Bein trotzdem noch niederhöllisch brannte.

"Aber wir können uns jetzt nicht trennen", wandte Merle mit besorgtem Blick auf Doratravas Bein ein. "Wenn Rahjel und ich erst den Pferdespuren folgen, lassen wir dich hier zu lange zurück. Und keiner von uns dreien könnte sich richtig wehren, falls wir auf bewaffnete Angreifer stoßen. Ich denke, Rahjel hat recht. Wir müssen zusammenbleiben und dich als erstes zu einem Heiler bringen."

Unzufrieden blickte Doratrava sich um, ohne viel Hoffnung, noch irgendetwas zu entdecken, das die Situation änderte. Merle hatte ja recht, sie und Rahjel konnten sich vermutlich nicht wehren, wenn sie den Pferdespuren nachgingen und auf Feinde trafen, wo auch immer die dann auch hergekommen sein mochten. Sie selbst hatte inzwischen immerhin die Messer, aber solange sie sich nicht richtig bewegen konnte, war fraglich, ob sie eine große Hilfe sein würde. Aber es widerstrebte ihr, eine mögliche Bedrohung unaufgeklärt zurückzulassen, außerdem sträubte sie sich innerlich dagegen, mit den anderen zusammentreffen zu müssen, aus deren Mitte sie Merle und Rahjel entführt hatte, zumindest würde man ihr das sicher so auslegen, wenn sie selbst sich mittlerweile auch nicht mehr so ganz sicher war, wie viel davon ihre eigene Idee gewesen war.

"Nach dem Sturm und den Verletzten kann Gudekar mir doch wahrscheinlich sowieso nicht mehr helfen", murmelte Doratrava unglücklich. "Vielleicht Liana?" Ein klein wenig hellte sich ihre Miene wieder auf, als sie an die Elfe dachte.

Erkennen

Als sich Doratrava nun in ihrer tiefen Frustration und Sorge von ihrer erhöhten Position auf dem Karren auf einer Kiste sitzend intensiver umschaute, kam ihr etwas merkwürdig vor. Am Ende der Lichtung, hinter der Stelle, wo sie die Pferde entdeckt hatten, jenseits des seichten Bachlaufs, wo der Lützelbach aus dem Quellsee entsprang, verdeckt von hohem Schilfgras, schien etwas im Gras zu liegen. Etwas großes. Oder jemand.

Doratrava richtete sich halb auf, so gut es ging, um besser sehen zu können, dann deutete sie in die entsprechende Richtung. “He, seht mal, was ist das? Da liegt doch was …”, rief sie dann, aber unwillkürlich mit unterdrückter Stimme, während ihre Rechte nach den Messern tastete.

Merle versuchte etwas in der von Doratrava gewiesenen Richtung zu erkennen. "Ja, stimmt… irgendwas liegt da." Fragend schaute sie Rahjel und Doratrava an. "Fahren wir mit dem Wagen näher ran?"

Doratrava zog eine Grimasse, da sie ohne ihre Verletzung in ein paar Herzschlägen dort gewesen wäre, nickte dann aber schicksalsergeben.

“Gut, wir sollten aber vorsichtig sein.”

Die Gauklerin fragte sich, wie man vorsichtig sein sollte, wenn man mit einem quietschenden und knarrenden Fuhrwerk ankam, dass jeder, der ihnen Übles wollte, aus einer Meile Abstand hören konnte, aber sie sagte nichts, sondern nickte nur. Die Hand hatte sie zunächst wieder von den Messern genommen, da auch sich dort hinten, wo die Person oder der Gegenstand lag, sich nichts rührte und sie vor allem Merle nicht mehr als nötig beunruhigen wollte, aber sie blieb wachsam. “Wenn dich jemand angreifen sollte, muss er damit rechnen, von mir gefressen zu werden”, konnte sie sich eine schalkhafte Bemerkung dann doch nicht verkneifen. “Wenn das nicht reicht, etwaige Unholde abzuschrecken, weiß ich auch nicht.” Sie grinste schief.

Die kleine Gruppe näherte sich mit dem holpernden und klappernden Wagen der Furt über den jungen Lützelbach. Immer deutlicher zeichnete sich ab, dass im hohen Gras regungslos ein menschlicher Körper lag.

Merle hatte Doratravas schiefes Grinsen gerade noch erwidert, doch nun wurde sie kreidebleich und merkte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Wenn das Gwenn war, die da lag… wenn es zu spät war, wenn... Die Worte des Briefes gingen ihr wieder durch den Kopf, 'er hat zugeschlagen und hat getroffen... sie lag tot am Fuß des Bergfried, außerhalb der Burg…' Merle schluchzte laut auf und konnte nicht mehr an sich halten; sie rannte los, so schnell sie konnte, ließ den rumpelnden Wagen hinter sich und stürzte zu dem im Gras liegenden Körper.

“Merle!”, rief Doratrava warnend, war aber zu überrascht und zu verletzt, um sie irgendwie aufzuhalten. So viel zum Thema “Vorsicht” … sie blickte zu Rahjel und nahm nun doch ein Messer zur Hand, dann spähte sie angestrengt in die Büsche, ob sich auf Merles überstürzte Reaktion hin jemand zeigte.

Noch aus dem Rennen heraus ließ sich Merle an der Seite der reglosen Person auf die Knie fallen.

Ein Messer steckte auch im Rücken der Person. Doch es war nicht Gwenn. Zu schlank, zu athletisch war der Körper. Der Körper einer Kriegerin. Der Wappenrock war blutgetränkt, doch nicht nur durch die Wunde am Rücken. Eine weitere blutige Wunde hatte sie an der Seite. Merle kannte die Frau. Seit etwa einem Götterlauf lebte sie auf Gut Lützeltal. War Teil des dortigen Lebens. Diente ihrem Schutz. Nun schien sie tot zu sein. Es war Herlinde von Kranickau, Geleitschützerin aus der Söldnerschule der Plötzbogener.

Ein schluchzender Schrei entwich Merles Kehle, als sie die Dame von Kranickau erkannte. Sie hatte nie viel mit ihr zu tun gehabt, kaum ein paar Worte gewechselt... doch die ruhige Präsenz der Kriegerin hatte ihnen allen stets ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Nachdem Merle kurz die Augen geschlossen hatte, um die hervorquellenden Tränen zurückzuhalten, zwang sie sich, ruhig zu bleiben und den Körper mechanisch zu untersuchen. Sie hielt ihre Wange und ihr Ohr über Mund und Nase der Frau, um nach einem Atemhauch zu spüren, dabei beobachtete sie deren Brustkorb und fühlte am Handgelenk und am Hals nach einem Puls; dann schaute sie sich die Wunden genauer an.

Mit Schrecken stellte Merle fest, dass die Kriegerin weder Puls noch Atem hatte. Eine tiefe Stichwunde im Bauch, direkt neben dem Wappen der Plötzbogener, direkt neben der goldenen Plötze, die sich von ihrem Blut rot gefärbt hatte, war wohl die tödliche Wunde. Das Messer im Rücken schien sie lediglich endgültig zu Fall gebracht haben, als sie in Richtung des Sees eilte.

Verdammt. Doratrava sah zwar nicht, wer da lag, aber an Merles Schrei konnte sie sehr wohl erkennen, dass es vermutlich eine ihr bekannte Person war. “Rahjel, bring’ uns hin, schnell!”, rief sie dem Geweihten zu und verfluchte einmal mehr ihr verletztes Bein, das sie zur Untätigkeit verdammte. Im ersten Impuls hatte sie sich unwillkürlich angespannt, um vom Wagen zu springen, aber schon das hatte genügt, neue brennende Dolche durch ihr Bein zu jagen.

Gleichzeitig hielt sie immer noch Ausschau. Merles Schrei hatte man sicher weithin gehört, wenn irgendjemand in der Nähe war, sollte er oder sie nun auftauchen, mit welchen Absichten auch immer. Prüfend wog sie das Messer in der Hand.

Als Rahjel den Wagen näher an die Furt brachte, konnten Doratrava und Rahjel auch den Weg in Richtung des Dorfes einsehen. Dort sahen sie einen Mann an einen Baumstamm gelehnt auf dem Boden sitzen, sich mit der Hand eine blutende Bauchwunde haltend. Sein Blick traf den der Tänzerin und des Geweihten und er fing an zu lachen. Ein gehässiges Lachen.

Das hörte sich nicht gut an, aber wenn der Mann ein Feind war, sah er zumindest nicht mehr sehr kampffähig aus. “He, wer bist du?”, rief ihn Doratrava vom Wagen herunter an, während sie versuchte, an seiner Kleidung irgendwelche Erkennungsmerkmale auszumachen. Das Messer hielt sie weiter locker in der rechten Hand, um gegebenenfalls jederzeit werfen zu können.

Der Mann, offensichtlich ein einfacher Krieger, oder zumindest ein kampferfahrener Haudegen, lachte noch einmal. “Der Herr wird sich freuen!” Wieder lachte er mit schmerzverzerrtem Gesicht, wobei er die rechte Hand auf seine klaffende Bauchwunde presste. Mit der Linken hielt er eine kleine Truhe fest. “Wir hatten euch gewarnt, Tänzerin!” richtete der Mann seine Worte an Doratrava. Doch trotz seiner Verwundung und schwindender Kräfte sprach er so laut, dass auch Merle die Worte hören konnte.

Doratrava runzelte die Stirn. Der Mann wusste offenbar, wer sie war, obwohl sie ihn nicht kannte, zumindest konnte sie sich nicht erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben. “Wer ist ‘wir’ und vor was habt ihr uns gewarnt? Und wer ist dein Herr?”, stellte sie sich daher erst einmal dumm.

Merle, die noch immer neben dem Leichnam der Kriegerin kniete, erstarrte, als sie den Wortwechsel zwischen Doratrava und diesem Fremden mitbekam. Der gehässige, boshafte Tonfall des Mannes ging ihr durch Mark und Bein; sie hatte entsetzliche Angst und vermochte kaum zu atmen, geschweige denn sich zu rühren. Verloren, wie in Trance starrte sie in die leeren, toten Augen der Dame von Kranickau, bis sie langsam die Hand ausstreckte, um diese zu schließen.

„Ihr wisst, von wem ich rede. Hört auf zu schnüffeln, sonst holen wir den nächsten!“ Seine Stimme machte deutlich, dass er den Schrecken, den seine Worte verbreiten, genoss, dass es ihm Freude und Genugtuung brachte.

Dabei sah Doratrava gar nicht erschreckt aus, sondern erst grimmig, dann wurde ihre Miene kalt. "Rahjel, Merle, helft mir runter, ich möchte mich von Angesicht zu Angesicht mit diesem Mann 'unterhalten'!", forderte sie mit einer wie Eis klirrenden Stimme.

Rahjel hatte eine Ahnung, von wem der Mann sprach. ´Und es wird immer schlimmer´, dachte er bei sich. Der Geweihte schaute sich um, ob noch jemand in der Nähe war.

Merle schreckte zu einem gewissen Grad aus ihrer Katatonie auf, auch wenn sie weiter zusammengekrümmt im Gras neben der Leiche kauerte. Sie starrte zu Doratrava auf dem Wagen und schüttelte entschieden den Kopf. "Nein! Geh' da nicht hin!" beschwor sie ihre Freundin mit halblauter Stimme. Ihr Atem ging schnell und stoßartig vor Angst und Entsetzen. "Bleib auf dem Wagen, Doratrava, bitte..."

“Merle!”, rief Doratrava, zwar immer noch mit harter, aber nicht mit so kalter Stimme, die sie gegenüber dem Verletzten gebraucht hatte. “Der Kerl ist verletzt worden, weil die Tote Gwenn verteidigt hat. Und Gwenn ist weg. Wenn wir eine Chance haben wollen, sie wiederzufinden, dann brauchen wir Antworten, und zwar schnell!” Sie steckte das Messer wieder in den provisorischen Gürtel und machte Anstalten, selbst von Wagen zu klettern, da auch Rahjel nur unschlüssig herumstand.

Wieder erschallte das widerliche Gelächter des Mannes. “Wiederfinden wollt ihr dieses dekadente, selbstgerechte Pummelchen? Die rechte Hand der Vögtin? Vergesst es! Der Herr hat die Schwester dieses unfähigen, hochmütigen, vermessenen Möchtegernmagiers ohne Rückgrat geholt.”

Merle, die weiter zitternd im Gras kniete, bekam zwar mit, dass Doratrava direkt zu ihr sprach und immer noch vom Wagen runter wollte, dazu spürte sie, wie Blut aus der Seitenwunde der Kriegerin langsam über ihr nacktes Knie und ihren Unterschenkel tröpfelte, doch war sie unfähig, sich einen Fingerbreit zu bewegen oder in irgendeiner Form klar zu denken. Wenn dieser Mann ein Scherge des Paktierers war, wenn Gwenn, die kluge, mutige, vor Leben sprühende Gwenn… wenn Gwenn wirklich in der Gewalt dieses wahnsinnigen Mörders war, vielleicht auf grausame Weise gefoltert, verstümmelt oder bereits tot und kalt… Die junge Frau schloss die Augen und schluckte immer wieder, um die entsetzlichen Bilder zu vertreiben, die in ihrem Kopf auftauchten; dies konnte einfach nicht wahr, musste ein Alptraum sein… “Nein”, flüsterte sie nur tonlos. “Nein, bitte nicht…”

Rahjel nickte Doratrava zu und stieg vom Wagen.

„Denkt, er würde den Herrn verstehen. Denkt, er wäre schlauer als er. Was für ein Narr!” Die Stimme des Mannes wurde schwächer, während er erneut lachte.

"Und du sagst uns jetzt sofort, wo dein Herr Gwenn hingebracht hat. Denn sonst sorge ich dafür, dass dein Tod sehr, sehr qualvoll wird!", gab Doratrava, nun wieder eiskalt, zurück, während sie sich mühsam auf den Boden hinabließ. Ihr Gesicht war eine starre Maske, die keinerlei Emotionen mehr zeigte, nur ihre grünen Augen schienen in Flammen zu stehen.

Der Mann lachte nur. „Eure Verzweiflung zu sehen, wird mir als Trost genügen.“

Allerdings hörte sie der Stimme des Mannes an, dass ihre Drohung vermutlich haltlos war, schien er doch so langsam sein Leben sowieso auszuhauchen. Und sie hörte Merles entsetztes Flüstern, wenn sie die Worte auch nicht verstand, aber es gab ihr einen Stich ins Herz, und der Kerl, aus dem sie vermutlich eh nichts mehr herauskriegen würden, verlor schlagartig an Wichtigkeit. Statt zu diesem mühte Doratrava sich nun also, zu Merle zu kommen, um sie in die Arme zu schließen.

Noch einmal raffte der Mann seine Kräfte zusammen. Mit wieder voller Stimme rief er: „Hey, Ihr da, Amselchen! Heilerin! Sagt Eurem geliebten Gatten, es wird ihm nie gelingen!“

Rahjel ging auf den Verletzten zu. “Du scheinst Glück zu haben, denn du wirst dein Leben aushauchen an der Seite eines Geweihten der Zwölfe! Rahja wird dir die Fessel nehmen, die deine Seele an den Rastlosen bindet.” Der Geweihte versuchte, entspannt zu wirken und betrachtete den Sterbenden eindringlich. “Deine Zeit läuft ab, noch hast du die Möglichkeit, deine Seele und Herz zu erleichtern. Sag uns, wo wir die Braut finden und dir wird vergeben werden.”

Doratravas Nähe und Rahjels Worte rissen Merle endlich aus ihrem Schockzustand. Sie begann, sich vorsichtig aus dem Gras aufzurappeln, drückte die Tänzerin für einige Wimpernschläge eng an sich und vergrub ihr tränennasses Gesicht in der Halsbeuge ihrer Freundin. Dann schluckte sie mehrmals, presste die Lippen zusammen und ging langsam, Arm in Arm mit der Gauklerin, auf den höhnenden Schergen zu. Erst allmählich drang in ihren Kopf, dass der Mann sie persönlich angesprochen hatte, er von Gudekar geredet hatte. “Was wird ihm nicht gelingen?” murmelte sie halblaut, mehr an sich selbst gerichtet als an den sterbenden Unhold. In ihrer zittrigen Stimme lagen Angst, Ekel und Wut. Dieser Mann hatte die Frau von Kranickau ermordet, die ihr Leben für Gwenn geopfert hatte; jetzt saß er hier und lachte. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte die junge Frau, seinem Blick zu begegnen.

“Mein Herr hat diese Gwenn, sie ist bei ihm. Er hat die rechte Hand der Vögtin.” Der Mann lachte mit einem keuchenden Lachen, wobei ein Schwall Blut aus seinem Mund lief. “Und meine Seele, die gehört schon lange einem anderen. Er weiß, dass ich ihm stets treu bin. Treue, die Euer Gemahl wohl nicht kennt, Heilerin. Zu niemandem! Er ist so, so… so von sich eingenommen, dass er denkt, genau wie Ihr, Geweihter, er könne die Seele meines Herrn zurück ins Licht führen. Ha! Er hat ja keine Ahnung!”

Merle runzelte verwirrt die Stirn. Konnte es wahr sein, was der Scherge sagte? Versuchte Gudekar, die Seele des Paktierers zu... retten? Ihr Herz schlug heftig in ihrer Brust, so dass sie kaum klar denken konnte. Wenn Gudekar dies wollte, dann musste er dem Feind so nahe kommen, dass er selbst wohl nach und nach in dessen Dunkelheit versank. Angstbebend klammerte sie sich an Doratravas Arm fest. Diese hielt sie stumm und versuchte gleichzeitig, ihr verletztes Bein möglichst wenig zu belasten.

“Du irrst dich, noch gehört deine Seele dir. Solltest du jetzt sterben, erwartet dich ewige Qual. Doch ich kann dir helfen. Erleichtere dein Herz. Wo ist dein Herr?”, sagte Rahjel.

“Ihr Diener Eurer Götzen seid so blasiert. Glaubt, Eure Götter seien besser als die Herren der siebten Sphäre. Glaubt, Ihr wärt etwas besseres, genau wie dieser Anconiter. Der denkt auch, er hätte die Macht, zu widerstehen. Wenn es meinen Herren nicht so erfreuen würde, wie Ihr und seine kleine süße Gespielin ihn zermürbt, in die Rastlosigkeit führt, er hätte vielleicht Euch geholt.” Es war klar zu sehen, wieviel Freude es ihm machte, Merle mit seinen Worten Qualen zu bereiten. So sehr, dass er bereit war, seine Seele dafür in ewige Verdammnis zu schicken.

“Du glaubst, dass du Freude erfährst mit deinen giftigen Worten?” Nun zog Rahjel wieder sein Tuch hervor, der einzige geweihte Gegenstand, den er am Leibe trug. “Nur Rahja schenkt Freude, sonst niemand. Deine Reise ist fast beendet, doch du entscheidest, wo sie hinführt." Langsam führte er das Tuch der Rahja an den Verfluchten heran.

Doch dieser beachtete sein Tun nicht. Seine glasigen Augen waren einzig auf Merle gerichtet.

Rahjel legte ihm das Tuch über die Augen. “Rahja, öffne dem Sünder sein Herz … oder strafe ihn!” Seine Stimme war nun ernst und voller Inbrunst.

Merle trat einen Schritt näher an den Mann heran und begann leise mitzubeten, zu Rahja, zu Travia und den anderen Göttern. Rahjels Zuversicht und Stärke erfüllten auch sie mit neuem Mut; sie fühlte sich behütet und beschützt von den Zwölfgöttern. Doratrava folgte Merle, da sie ihre Geliebte nicht loslassen wollte, presste aber die Lippen zusammen. Sie war sich sicher, dass dem Kerl nicht mehr zu helfen war.

Der Diener des Rastlosen, des Widersachers Travias, begann zu schreien, ein herzzersprengendes Schreien, ein Kreischen, seine Stimme klirrte fast, fast klang es wie das Klirren, als Doratrava, Merle und Rahjel die Grenze zur Anderswelt durchbrachen. Und doch ganz anders. Dann erstarb sein Schreckensschrei.

“Erleichtere dein Herz und das Paradies kann dir gehören. Wo finden wir deinen Herren?”, flüsterte der Geweihte ihm ins Ohr.

“Sag uns, wo Gwenn ist!” schrie ihm dagegen Merle laut ins Gesicht.

Doch der Mann konnte nicht mehr antworten. Das heilige Tuch Rahjels hatte aufgehört, sich im Atem des Mannes auf und ab zu bewegen.

Rahjel schloss kurz seine Augen und seufzte. “Möge Rheton entscheiden.” Dann zog er ihm das Tuch vom Gesicht.

Merle schluchzte auf und presste Doratrava an sich, doch blieben ihre Augen auf den Schergen gerichtet. “Was hat er da?” brachte sie mit tonloser Stimme heraus und wies auf die kleine Truhe, die der Mann in seiner linken Hand hielt.

Doratrava streichelte Merle über die Haare und den Rücken. Ihr kamen selbst wieder die Tränen, aber nicht, weil sie um die Seele des Schergen trauerte, sondern weil dessen Herr es schaffte, so viel Leid unter ihren Freunden zu verbreiten, weil ihr vor allem Merles Leid heiß in der eigenen Seele brannte. Dann schaute sie zu der Truhe hinüber, aber immer noch, ohne Merle loszulassen. Es konnte sich sowieso nur um weiteres Dämonenwerk des Pruch handeln.

Die kleine Truhe von knapp zwei Spann im Raum war aus stabilem, mit hellem Leder überzogenem Holz und hatte am Deckel einen Griff, den der Tote fest umklammert hielt. Die Truhe war mit einem kleinen eisernen Schloss vor dem Öffnen gesichert. Mit roter Tinte waren in krakeliger Schrift die Worte “Für Nivard von Tannenfels” auf eine der Seiten geschrieben.

Doratravas Einschätzung, dass es sich bei der Kiste um Dämonenwerk handelte, verstärkte sich noch weiter, als sie und Merle bei einem genauerem Hinsehen die Farbe der Schrift genauer erkannten. Es war keine rote Tinte, es war getrocknetes Blut, mit dem die Buchstaben auf das Leder gezeichnet worden waren.

Doratrava verzog angewidert das Gesicht, als sie das erkannte und warf Merle einen schnellen Blick zu, ob sie das gleiche sah. Ihre aufgerissenen Augen sagten der Gauklerin, dass das wohl tatsächlich der Fall war.

“Wir … müssen das Ding mitnehmen”, krächzte Doratrava heiser. “Auch, wenn ich nichts Gutes erwarte, wir sind es Nivard wohl schuldig, ihm diese Botschaft zu überbringen. Aber ich will nicht wissen, was darin ist.” Insgeheim fürchtete sie, in der Kiste das Körperteil eines nahen Angehörigen von Nivard zu finden, oder gar von seiner Frau. Aber diesen Gedanken behielt sie lieber für sich.

Angeekelt verzog Merle das Gesicht, als sie das getrocknete Blut erkannte. "Vielleicht ist es besser, wenn wir es nicht direkt anfassen”, murmelte Merle. “Es könnte eine Art… Falle sein, oder? Vielleicht ist Gift daran oder darin… oder ein böser Zauber, der Nivard gilt.”

“Ich … vielleicht, ja”, murmelte Doratrava unsicher. “Wenn es eine Falle ist, dann schnappt sie vielleicht zu, wenn die Kiste aufgemacht wird. Der Kerl trägt - oder trug - sie ja auch einfach so mit sich herum, also wird wohl kein Gift dran sein. Aber es kann wohl nicht schaden, die Finger davon zu lassen und eine Decke außen herum zu wickeln.”

"Ich hole gleich eine Decke vom Wagen", nickte Merle, blieb aber zunächst an Ort und Stelle stehen und schaute Doratrava und Rahjel fragend in die Augen. "Was machen wir jetzt? Was können wir tun? Ich denke immer noch, wir müssen erst einmal zurück ins Dorf", sie warf einen prüfenden Blick auf die kruden Verbände an Doratravas Bein, "...aber die Vorstellung, dass Gwenn in der Gewalt dieses... Mörders ist..." Die junge Frau schluckte mühsam und kämpfte damit, die Fassung zu behalten. "Sollten wir ihn... durchsuchen, ob er etwas bei sich trägt, das uns einen Hinweis gibt?" Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie die Vorstellung, den blutüberströmten Toten zu berühren, nicht verlockend fand.

“Wir können es in meinem Tuch einwickeln, immerhin ist es gesegnet”, schlug Rahjel vor.

Merle nickte Rahjel bestätigend zu. “Und wir müssen wissen, wo Gwenn ist. Vielleicht hat der Scherge ja eine Karte oder sowas bei sich…”

Auch Doratrava blickte erneut angewidert auf den Toten. “Ich … glaube nicht wirklich, dass wir was finden, wenn wir ihn durchsuchen, aber sicher können wir nur sein, wenn wir es tun. Sonst machen wir uns vielleicht später Vorwürfe.” Sie blickte Merle ernst an. “Wenn ihr das nicht wollt, würde ich es tun. Es ist halt mühsam so”, sie deutete auf ihr Bein, “aber ich will euch das nicht aufbürden. Bloß … falls ihr Gwenn suchen wollt, was ich verstehen würde, kommt ihr mit mir nicht weit. Dann müsstet ihr mich hier zurücklassen. Aber ich befürchte, wir sind schon zu spät, um sie noch aus den Fängen des Pruch zu retten, mal abgesehen davon, dass wir, fänden wir sie je wirklich noch, wohl kämpfen müssten. Ich glaube, da sind wir alle drei nicht gut drin.”

Die Alternative, ins Dorf zu gehen, ließ Doratrava allerdings erschauern. Sie müsste sich dann ihren Gefährten stellen, und wer wusste, wie diese ihr Verschwinden erlebt hatten und was diese nun von ihr dachten. Mal abgesehen davon, dass dort auch ein Eoban war, der sowieso jeden kleinsten Anlass benutzen würde, um gegen sie zu hetzen.

Aus Richtung des Weges zum Dorf hörte Merle mit einem Mal Hufgetrappel. Es waren mehrere Pferde, die sich mit hohem Tempo näherten.

"Nein, wir drei können nicht gegen den Pruch kämpfen", begann Merle mit beklommenem Gesichtsausdruck, als sie das Hufgetrappel hörte und erschrocken die Augen aufriss. "Wenn das noch mehr Feinde sind...", keuchte sie und blickte sich hastig um, "...sollen wir uns verstecken?"

Doratrava verfluchte einmal mehr ihr verletztes Bein, mit dem sie ihre übliche Geschwindigkeit nicht ausspielen konnte. Sie nickte mit dem Kopf zu dem Baum, an dem der Tote lehnte, dahinter konnte sich aber nur einer oder eine von ihnen verstecken. “Los, Merle, dort”, zischte sie, denn vor ihrer eigenen Sicherheit wollte sie auf jeden Fall ihre Geliebte in Deckung wissen.

Merle wusste, dass ihnen kaum Zeit blieb, also zerrte und schob sie Doratrava kurzerhand hinter den eben bezeichneten Baum. “Bleib hier”, zischte sie ihr zu, eilte wieder um den Stamm herum und nahm schnell die kleine Kiste mit Hilfe ihres Rocksaums auf, peinlich bemüht, das Ding nur durch den Stoff hindurch zu berühren. Dann ergriff sie Rahjels Oberarm, um den Geweihten mit hinter den nächstgelegenen Busch zu ziehen.

Doratrava wollte sich erst sträuben, aber das hätte sie nur noch mehr verzögert. Also biss sie einmal mehr die Zähne gegen die Schmerzen, welche die hastige Bewegung verursachte, zusammen und ließ sich hinter den Baum schieben. Dann lugte sie vorsichtig dahinter hervor und tastete nach ihren Messern.

Rahjel zögerte nicht und folgte den Frauen hinter die Büsche. Aufmerksam schaute er in die Richtung der Ankömmlinge.

Mit einer Hand klammerte sich Merle hinter den Büschen heftig atmend an Rahjels Arm, mit der anderen hielt sie das Kästchen fest, das sie eilig in ihren Rock geschlungen hatte. Wortlos reichte sie es ihm, damit er es in sein heiliges Tuch wickeln konnte. Kurz presste sie die Lippen zusammen, dann wagte sie es, den Gedanken auszusprechen, der ihr im Kopf herumging. “Meinst du”, flüsterte sie mit fahler Miene, “...meinst du, da ist ein…”, wieder schluckte die junge Frau, “...Körperteil von Nivards Frau drin?”

Doratrava zuckte zusammen, als Merle ihren eigenen Verdacht laut äußerte, aber da sie Rahjel angesprochen hatte, war sie für den Moment erleichtert, nicht antworten zu müssen.

“Die Götter bewahre!”, flüsterte er.

Nach dieser wenig tröstenden Aussage von Rahjel fühlte Doratrava, dass sie doch etwas antworten musste. Sie lehnte sich hinüber zu dem Busch, hinter dem Rahjel und Merle saßen, und flüsterte: “Denk nicht darüber nach, Merle. Was immer es ist, wir können es nicht ändern. Lass nicht zu, dass die Angst dich lähmt.” Sie hätte Merle jetzt gerne in den Arm genommen, aber dazu war sie zu weit weg.

Merle erwiderte Doratravas Blick und rang sich ein leichtes, trauriges Lächeln ab. Auch wenn ihre ganze Welt gerade zusammenbrach, immerhin war sie nicht allein.

Dann kamen die Reiter ins Blickfeld. Es war eine Schar Ritter und weiterer Edelleute, angeführt von Kalman von Weissenquell, dem Schwager von Merle, dem Vetter von Rahjel. Neben ihm ritt Gwenns Bräutigam Rhodan Herrenfels. Weiter hinten folgten unter anderem auch Rahjels Schwester Alana und – wie Merle feststellte – die Geliebte ihres Gatten, Meta Croy.

Kalman zügelte sein Pferd und kam so vor dem Toten zum Stehen.

Die Anspannung wich von Doratrava, da es keine Feinde waren. Sie nahm die Hand von den Messern und sank erschöpft seufzend gegen den Baum.

Auch Merle atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Sie hatte schon fast einen Trupp übler Schergen vor sich gesehen, die jeden Moment über sie herfallen würden. Entschlossen nickte sie Rahjel zu und trat vorsichtig hinter dem Buschwerk hervor. Erst langsam beruhigte sich ihr wild pochendes Herz.

~ * ~

Entdeckung am See

Mit Schrecken hatte die Gruppe der Brautsucher den Ort des Hinterhalts entdeckt und war dann, als offensichtlich wurde, dass dort zur Zeit nichts mehr auszurichten war, weiter geritten. Auf halbem Weg zum Quellsee hatten sie dann den schreckgeplagten Todesschrei des Mannes gehört, der kurz, bevor sich der Weg zur Quelllichtung öffnete, gegen einen Baumstamm gelehnt lag. Der Mann hielt sich noch im Tode seine klaffende Bauchwunde mit der rechten Hand, die Linke lag geöffnet neben ihm. Ein zynisches Lächeln lag auf seinem Gesicht und stand in einem Widerspruch zu den gebrochenen, schreckgeweiteten Augen.

Kalman von Weissenquell zügelte sein Pferd und kam so vor dem Toten zum Stehen.

Neben Kalman ritt Rhodan Herrenfels, der Bräutigam der entführten Gwenn. Ihnen folgten die Ritterin Meta Croy, der Ritter Darian von Sturmfels, der auf seinem Pferd Bérrenn die Ingrageweihte Imelda von Hadingen mit sich reiten ließ, Lucilla und Lûthardt von Galebfurten, Alana von Altenberg, Jartgar von Immergrün sowie Vinja Rankmann. Den Abschluss bildete der Jagdgeselle Wulfhelm Häsler, der einen Einspänner lenkte.

Kalman blickte sich suchend um. “Was ist hier wohl genau geschehen? Wer hat diesen Mann getötet?”

Während Kalman seine Frage äußerte, trat Merle Dreifelder von Weissenquell hinter einem Busch hervor. Sie hatte sich, genauso wie der Rahjageweihte Rahjel von Altenberg und die Tänzerin Doratrava, vor den herannahenden Reitern versteckt, da sie zunächst nicht sicher waren, ob sich Freund oder Feind näherten.

Merle sah auf den ersten Blick überaus mitgenommen aus. Das bäuerlich-einfache graue Kleid hing in Fetzen an ihr herunter; die Ärmel waren abgerissen und der Rock ging ihr nur noch ungefähr bis zum Knie. Ihre schmutzige Haut war am ganzen Körper von kleinen, blutigen Schnitten übersät; das lange, dunkelblonde Haar fiel wirr und zerzaust über ihre Schultern. Insgesamt vermittelte die sonst so zurückhaltend wirkende Frau einen gepeinigten, seltsam wilden Eindruck. Als sie Kalman erkannte, trat sie auf ihren Schwager zu und schaute ihm mit einem angsterfüllten, aber nachdrücklichen Blick in die Augen. "Er hat Gwenn", brachte sie heraus. "Der Paktierer."

Imelda sah aufgeregt zu dem Schauplatz. Sie war erleichtert und erschrocken zugleich, als sie Merle erkannte. “Halt an! Wir sollten absteigen”, raunte sie Darian ins Ohr. Noch bevor sie vom Pferd herunter war, rief sie Merle zu: “Was ist hier geschehen? Wo ist Gwenn?”

Mit fahrigem Blick sah Merle erst zu der Ingra-Geweihten, dann zu dem Toten am Baum. "Er hat gesagt, dass sein Herr sie hat."

“Sein Herr? Meinst du etwa den Pruch?”, fragte Imelda verblüfft.

Merle nickte düster. "Er hat damit geprahlt. Bevor er starb."

Auch Kalman stieg behende aus seinem Sattel und schritt sofort auf Merle zu, um seine Schwägerin beschützend in den Arm zu nehmen. “Merle, ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst furchtbar aus! Was ist passiert?”

Für den Moment blieb Doratrava hinter ihrem Baum sitzen, froh, sich den zu erwartenden Fragen nicht gleich stellen zu müssen, aber ohne sich Mühe zu geben, sich weiter zu verbergen.

Rahjel, der Geweihte der Rahja, nickte zur Bestätigung von Merles Worten. Er selbst hatte nur noch einen Fetzen seiner roten Tunika, der nun als Lendenschurz diente, am Leib. In der Hand trug er einen Gegenstand, den er mit seinem Tuch der Liebholden umwickelt hatte. „Er hat uns ein verfluchtes Kästchen hinterlassen.“ Die Sorge in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Der junge Ritter an der Seite der Erbvögtin stieg vom Pferd und löste den gewachsten Reiseumhang von seinen Schultern. In einer fließenden Bewegung legte er ihn dem Diener der Liebholden um und nickte Rahjel mitfühlend zu.

Lucilla von Galenburten hingegen blieb auf dem Rücken ihres Schimmels sitzen. Ihre Miene verbarg die Bestürzung nicht, die sie empfand. Mehr noch, es war auch Angst, die sie für den Moment lähmte. Der Tod war in ihre Mitte gefahren und hatte reiche Ernte gehalten. Was ein fröhlicher, unvergesslicher Tag im Leben zweier Menschen hatte werden sollen, war zu einem Albtraum geworden, dessen Namen sie nun erfahren hatten.

Was die Erbvögtin sich nicht traute zu fragen, äußerte dann Lûthardt, als er wieder einen Schritt von dem Rahjageweihten abstand genommen hatte. “Was ist in dem Kästchen, wisst ihr es?”

Der Geweihte verneinte. “Sicherlich Verfluchtes.”

Lûthard schlug das Sonnenrund vor seiner Brust, wie als wolle er sich wappnen.

“Wollt Ihr mir das Kästchen geben, Euer Gnaden?”, fragte er den Geweihten mit sanfter Stimme.

“Mein geweihtes Tuch umschließt es. Ich würde es nicht entwickeln. Nicht hier. Doch Merle hat es besser sehen können, bevor ich es entgegengenommen habe.” Rahjel behielt es in seiner Hand.

“Ja, wir sollten es mitnehmen und untersuchen lassen. Vielleicht findet mein Herr Bruder etwas darüber heraus”, schlug Kalman vor.

Merle ließ sich erschöpft in Kalmans Arme fallen und presste einige Wimpernschläge lang ihr Gesicht an seine Schulter, blendete Dere und die Geschehnisse für einen kurzen, tröstlichen Moment aus. Dann hob sie den Kopf, schluckte sichtlich und antwortete mit bemüht fester Stimme auf die Frage des Ritters: “Der… Scherge hatte es in seiner Hand. Eine kleine Truhe, mit hellem Leder überzogen. Mit einem Griff am Deckel und einem eisernen Schloss. Es steht 'Für Nivard von Tannenfels' drauf, geschrieben mit… Blut. Ich, ähm, ich habe solche Angst, dass da…, dass da...", die Stimme der jungen Frau drohte doch wieder zu versagen, sie räusperte sich mühsam und schluckte erneut, "...etwas von Nivards Frau... oder Kind drin... dass er ihnen etwas angetan hat."

Kalman nickte anerkennend zu Rahjel. “Ihr habt gut daran getan, das Tuch über die Kiste zu werfen, mein Vetter! Niemand von uns sollte es unnötig anfassen. Transportieren wir es auf dem Wagen!” Kalman deutete auf die Karre, die Merle und Rahjel hier an diese Stelle geführt hatten.

„Nein, gebt es mir“, forderte Rhodan mit harten Worten ein. „Gebt es mir.“ Als Rahjel nicht reagierte, sah er dem Geweihten direkt in die Augen und dieser konnte dort die Sterne immerfort funkeln sehen. „Gebt es mir“, konstatierte der Händler noch einmal ruhig. „Hier hinein.“ Er hielt dem Mann seine Geldkatze hin, die erstaunlich elastisch Raum für das kleine Kästchen bot. „Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dieses Monstrum zu finden. Ich werde meine Verlobte retten, koste es, was es wolle. Beim Immerlistigen und allen seinen Geschwistern.“

“Nein!”, widersprach Kalman. “Solange niemand genauer weiß, was es mit der Kiste auf sich hat, bleibt sie besser in dem Tuch und nicht in den Händen eines von uns.”

Kurz hielt Rahjel den Blick Rhodans stand. “Ich bin mir sicher, dass du deinen Schwur hältst. Aber keine Sorge, die Liebholde, liebste Schwester des Listigen, hat ihre schützende Hand um das Kästchen. Ich schwöre euch, es wird in Sicherheit gebracht.”

Rhodan ignorierte die Widerworte seines Schwagers geflissentlich, doch Rahjels Überzeugungsarbeit ließ ihn einlenken. „Gut. Passt darauf auf wie auf Euren Augapfel - denn das Schicksal meines Augensterns hängt daran.“ Der Äußerung war eine latente Drohung inne, trotz des unbeirrten Gesichtsausdrucks des Herrenfelsers. „Und womöglich hält es den Schlüssel der Besserung für Herrn Lares. Ja, Besserung.“

“Besserung?”, fragte Rahjel. Dass er eigentlich Lares finden wollte, um seinem Freund in seinem schlimmen Zustand zu helfen, bevor Doratrava ihren Ausbruch hatte, kam ihm wieder heiß in den Sinn.

„Der Herr Junker ruht sich in seinem Gemach aus. Es ist… nicht gut um ihn bestellt. Die Sorge um das Wohl seiner Getreuen hat ihn immer nervöser gemacht. Und heute Nachmittag auf der Jagd muss etwas vorgefallen sein, das seine Sinne vernebelte.“

Imelda trat nun näher an Merle und Rahjel heran. Als angedeutet wurde, dass sich die Stücke eines menschlichen Körpers in dem Kästchen befinden könnten, biss sie sich ängstlich auf die Unterlippe. So etwas wollte sie auf gar keinen Fall sehen und sie hoffte, dass der Diener der Schönen Göttin nicht gleich damit beginnen würde, das Tuch zu entwickeln. Der Umstand, dass neben ihnen der blutüberströmte Leichnam eines Mannes lag, trug ebensowenig zum Wohlbefinden der jungen Geweihten bei. Sie spürte, wie ihr immer schummriger wurde und das Blut aus ihren Wangen entwich. Hilfesuchend tastete sie nach Darian, um bei dem Ritter Halt zu suchen.

Den Anblick des Todes hatte Darian schon oft erblickt. Erstmals seit jenem denkwürdigen Tag, als er seinem Oheim, Odilon von Sturmfels, den Schwur geleistet hatte. Jenen Schwur, der ihn nach Rodaschquell gebracht hatte. Damals. Vor so vielen Jahren, als er noch blutjung gewesen war und das erste Mal in einer Schlacht gekämpft hatte.

Der Anblick von Toten … er würde sich niemals daran gewöhnen. Doch er erschrak nicht.

Als er Imeldas Unbehagen spürte, hielt er ihr seinen Arm hin. Nahm sie dann in beide Arme und fuhr sachte mit seiner Hand über ihren Rücken.

“Sieh nicht hin”, sagte er sanft. “Ich halte dich.”

Dankbar umschlangen Imeldas Arme den Körper des Ritters und sie klammerte sich fest an ihn, legte ihren Kopf an seine Schulter. “Ich sehe den toten Körper, auch wenn ich meine Augen geschlossen habe. Ich glaube, mir ist nicht gut”, gab sie von sich und hoffte, das flaue Gefühl in ihrer Magengegend würde nicht stärker werden. Eilig versuchte sie, an irgendetwas anderes zu denken, doch fiel ihr dies angesichts der Situation schwer. “Es geht bestimmt gleich wieder. Danke, dass du an meiner Seite bist.”

Er hielt Imelda. Doch gleichzeitig wurde er ungeduldig.

Was zuppelten alle nun an dieser Kiste herum? Es war doch deutlich wichtiger, zu erfahren, was überhaupt hier passiert war! Er sagte nichts, warf aber Kalman einen ungeduldigen Blick zu.

Doratrava seufzte und stemmte sich mühsam hoch, um hinter dem Baum hervorzuhumpeln. “Eigentlich müssten wir es Nivard überlassen, die Kiste zu öffnen. Aber ich befürchte Schlimmes”, gab sie ihren Kommentar zu der Kiste ab.

Kalman erschrak zunächst, als Doratrava aus dem Gebüsch erschien und wollte bereits sein Schwert ziehen, als er die Gauklerin erkannte. Schnell blickte er verwundert zu Merle. In seinem Blick lag die Frage: ‘Was macht auch noch sie hier?’

Merle eilte an Doratravas Seite und legte den Arm um sie, um sie notfalls stützen zu können. "Wir haben Nachtwind gefunden. Und… die Frau von Kranickau... sie…, sie ist tot", ergänzte sie Doratravas Worte leise und wies mit zitternder Hand auf die Stelle im Gras auf der Lichtung, wo der Leichnam der Kriegerin lag. In Merles braunen Augen sammelten sich erneut die Tränen. “Sie hat ihr Leben für Gwenn geopfert.”

Dankbar lehnte sich Doratrava an Merle. Sie war so müde, fast verschwammen schon die Gesichter der Ankömmlinge vor ihren Augen.

“Die Dame von Kranickau?” Kalman drehte sich zu der Stelle, auf die Merle deutete und lief zu ihr, um zu sehen, ob Merles Worte wahr waren.

Nun bewegte sich die Ritterin Alana das erste Mal, direkt auf ihren Zwillingsbruder Rahjel zu. Kurz, doch innig, umarmten sich die Zwei und sprachen nur in Blicken miteinander. Dann ging sie auf Merle und Doratrava zu. “Geht es euch soweit gut?”, fragte sie die beiden direkt.

Merle schien leicht aus Gedanken aufzuschrecken, als Gudekars Cousine sie ansprach. Sie hielt Doratrava stützend im Arm und zeigte auf den Unterschenkel der Tänzerin, der offensichtlich mit Stofffetzen von Merles Kleid bandagiert war. “Soweit ja. Doratravas Bein sollte aber so schnell wie möglich behandelt werden.”

Alana ging in die Hocke und schaute kurz über Doratravas Verbände. “Herzchen, das wird wieder.” Die Ritterin schenkte der Gauklerin, ihrer vergangenen Spielgefährtin der Leidenschaft, einen aufmunternden Blick.

Diese gab müde lächelnd einen dankbaren Blick zurück. Unter anderen Umständen wäre es vielleicht mehr gewesen als nur ein Blick, aber die Sinne, die Alana schon einmal angesprochen hatte, waren nun ganz und gar mit Merles Anwesenheit ausgefüllt. Allerdings hatte sie Alana auch niemals geliebt, mit ihr teilte sie lediglich das gemeinsame Interesse an gelegentlichem, unverbindlichem Liebesspiel.

Merle nickte der Ritterin dankbar zu und drückte Doratrava mit einem kurzen, flüchtigen Lächeln fester an sich.

Vinja bot Doratrava an, sich der Verletzung anzunehmen. Die sonst muntere junge Frau war still geworden. Leise Tränen rannen über ihr Gesicht. Sie mochte den dicken, geselligen Händler, seine lockere, freundschaftliche Art. Womit hatte er diese Tragödie verdient? Von diesem Tag würden so viele Wunden übrig bleiben - wenigstens die physischen sollten geschlossen werden.

Die Gauklerin schaute Vinja erschöpft an, dann schlug sie die Decke über ihrem Bein zurück, welche das einzige Stück Stoff war, das sie um ihren Leib gewickelt hatte. Das Bein war von oben bis unten notdürftig mit Fetzen von Merles Kleid umwickelt worden, welche die stärksten Blutungen gestillt hatten. Aber man konnte noch immer sehen, dass das ganze Bein rundherum vom Ansatz des Oberschenkels bis zu den Fußknöcheln aufgerissen worden war, als hätte ein Monster seine Krallen rundherum hineinschlagen, um diese dann nach unten durchzuziehen.

“Meinst du, dafür ist jetzt Zeit?”, fragte Doratrava müde. “Wir müssen doch sicher gleich weiter.”

„Das ist…das…ist nicht so wichtig. Ihr, du…es blutet. Das muss behandelt werden. Die Wunde muss geschlossen werden, sonst entzündet sie sich noch. Wir müssen sie zuerst auswaschen und dann verbinden. Ich…“ Vinja zog ein kleines Schnapsfläschchen hervor, das der Herrenfelser ihr auf dem Ritt von Rosenhain überreicht hatte - als Probe, die sie unter das Volk bringen sollte. Doch zum Namenlosen mit den Proben und dem Geld. „Es wird brennen, beiß die Zähne zusammen.“

Doratrava seufzte. Merle hatte die Wunden doch schon verbunden, und sie war gut darin. Aber ja, sie hatte natürlich keine Hilfsmittel zur Hand gehabt. Trotzdem … “Du kennst dich damit aus?”, fragte die Gauklerin sicherheitshalber. “Also mit dem Behandeln von Wunden?”

Merle beobachtete den Wortwechsel still, ohne etwas dazu zu sagen. Tatsächlich wäre es besser gewesen, die Wunden vor dem Verbinden richtig zu reinigen; es war gut, wenn Vinja dies jetzt nachholte. Sie nickte Doratrava sachte zu und drückte aufmunternd ihre Schulter.

„Ja, ich kann das. Ich habe es schon oft gemacht“, erklärte sie, ohne dass sie dabei Sicherheit ausstrahlte. Dennoch löste sie die Wundverbände und legte die Wunden frei. Dann sah sie der jungen Frau in die Augen und nickte, während sie den scharf brennenden Schnaps auf die Schnitte goss.

Doratrava zog scharf die Luft ein und unterdrückte einen Aufschrei, als die Flüssigkeit über die langen Risse in ihrem Bein floss. Sie schwankte und klammerte sich an Merle fest, damit sie nicht umfiel. Ihr Sichtfeld verschwamm vor Tränen, die der Schmerz in ihre Augen schießen ließ, aber sie hielt sich mühsam aufrecht. Immerhin wollte Vinja ja nur das Beste.

„Das tut weh, aber danach wird es besser und die Wunde entzündet sich nicht. Dann kannst du weiter tanzen und…und…auf den Beinen stehen.“

Doratrava nickte lediglich, zu sehr damit beschäftigt, den Schmerz zu unterdrücken und sich an Merle festzuhalten, als dass sie sprechen könnte.

Merle hielt Doratrava eng im Arm und strich ihr beruhigend über den Rücken. “Halte durch, es ist nur ein kleiner Moment”, raunte sie ihr beruhigend zu. “Gleich hast du’s hinter dir.” Sie drückte ihrer Freundin ein zartes Küsschen auf die Wange. “Du machst das großartig.”

Doratrava drückte ihren Kopf an Merles Schulter und blinzelte gegen die Tränen an. Wenigstens konnte sie ihr so nahe sein, dafür würde sie noch ganz andere Schmerzen in Kauf nehmen. Und ganz langsam ließ das lodernde Feuer in ihrem Bein auch nach. Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus, hielt sich aber trotzdem weiterhin an Merle fest.

Was für eine Sauerei. Tote, Blut, Durcheinander. Und was machten Merle und Doratrava hier? Meta hielt sich im Hintergrund und versuchte vergeblich, sich einen Reim auf alles zu machen. Wenn diese Beschützerin tot war, dann war das Böse in einem Anderen gewesen. Nun scharrte man sich in morbider Neugier um ein Kästchen. Die Ritterin stieg ab und reckte auch den Kopf. Dieser Rahjel war ja auch da. „Wo ist Gwenn, Merle? Können wir sie noch finden?“ Meta dachte daran, wie der Geweihte auf der Schweinsfolder Hochzeit verschwunden war und sprach Merle direkt an.

Merle, die immer noch Doratrava stützte, begegnete Metas Blick mit neutraler, fast dankbarer Miene. Man mochte von Gudekars kleiner Ritterin halten, was man wollte - immerhin lenkte sie die Aufmerksamkeit auf das, was gerade zählte. Gwenn zu retten. Die junge Frau blickte kurz ins Leere, um sich an alles zu erinnern, was von Bedeutung sein könnte. "Wir haben Gwenns Elenviner-Stute gefunden, dort hinten", sie wies auf eine kleine Lichtung in der Nähe. "Und ein weiteres Pferd mit dem Brandzeichen der Weissenquells. Beide erschöpft und ohne Reiter. Dort hinten liegt die Frau von Kranickau; mit einem Messer im Rücken und einer Wunde an der Seite. Der Mann hier lehnte am Baum, das Kästchen in der Hand. Obwohl er tödlich verwundet war, hat er gelacht und uns verhöhnt. Und Gudekar. Er meinte, Gudekar wäre so von sich eingenommen, dass er glaubt, er könne den Pruch retten und zurück ins Licht führen. Und es würde ihm gefallen, wie wir…", ihr Blick machte deutlich, dass sie sich selbst und Meta meinte, "...wie wir Gudekar zermürben und in die Rastlosigkeit treiben.” Merle musterte den Gesichtsausdruck der jungen Ritterin für einen Moment, ob darin eine Reaktion zu erkennen war, dann räusperte sie sich mit einem schnellen Seitenblick zu dem Toten. "Er hat gesagt, sein Herr hätte Gwenn, sie wäre bei ihm. Und wenn die Schnüffelei nicht aufhört, würden sie den nächsten holen." Merle verzog das Gesicht beim Gedanken an das boshafte Grinsen des sterbenden Schergen und schaute Meta ernsthaft in die Augen. "Rahjel wollte ihn dazu bringen, auf den Pfad der Zwölfgötter zurückzukehren, um seine unsterbliche Seele vor der Verdammnis zu retten, doch er hat nur gelacht. Er wollte nicht sagen, wo Gwenn ist. Dann hat Rahjel sein heiliges Tuch über ihn geworfen, er hat entsetzlich laut aufgeschrien und ist gestorben, ohne noch irgendwas zu sagen." Verzweifelt zog Merle die Stirn kraus und hob leicht die Schultern. "Vielleicht gibt es hier Spuren, die zu Gwenn und dem Paktierer führen. Vielleicht trägt der Tote irgendeinen Hinweis bei sich. Wir haben nur das Kästchen genommen, ihn aber nicht durchsucht."

Doratrava musterte Meta ausdruckslos. Wenn sie es recht bedachte, dann war diese der Grund dafür, warum sie jetzt hier waren und warum ihr Bein brannte, als kratzten tausend Dämonen darüber. Hätte Merle nicht so geschrien, als sie erfahren hatte, wie lange das mit Gudekar und Meta schon ging und dass die beiden zusammen abhauen wollten, wäre sie nicht so panisch in das Kaminzimmer gestürzt, und dann hätte sie auch nicht … aber was geschehen war, war geschehen.

“Wir wollten gerade den Toten untersuchen, als wir Hufgetrappel hörten”, sagte sie daher in völlig neutralem Tonfall. “Das sollte man trotzdem noch tun, auch wenn ich nicht viel Hoffnung habe, dass da was Sinnvolles zu finden ist. Und Gwenn ist vermutlich schon lange unerreichbar weg, so wie Vater Winrich damals im Sumpf in Schweinsfold, auch wenn wir nichts gesehen haben, das diesem Loch in der Welt ähnelt, das damals aufgegangen ist. Aber wir sind ja auch viel zu spät dafür hier angekommen. Spuren suchen könnte aber auch nicht schaden, ich könnte mich ja auch irren und Gwenn wurde einfach auf einem Pferd fortgeschafft.”

Kalman wandte sich wieder Merle zu, nachdem er sich versichert hatte, dass die Plötzbognerin nicht mehr lebte und sich ihre tödlichen Wunden flüchtig angesehen hatte. “Merle, du solltest dir das, was dieser… dieser…. – ich habe keine passenden Worte für ihn – zu euch gesagt hat. Er hat sich vermutlich irgendetwas ausgedacht.” Kalman meinte damit auch das, was der Mann über Gudekar gesagt haben sollte. Kalman hoffte, war davon überzeugt, dass dies haltloses Gefasel einer verlorenen Seele war, die noch im Tode Unfrieden verbreiten wollte. “Aber, das heißt, ihr habt Gwenn hier nicht mehr gesehen? Ihr wisst nicht, wohin sie aufgebrochen ist?”

“Wie gesagt, Nachtwind und die Warunker-Stute waren hier. Entweder Gwenn ist zu Fuß geflohen”, Merle schaute sich unwillkürlich um, als würde sie jeden Moment ein Lebenszeichen ihrer Schwägerin zu sehen hoffen, “oder sie wurde wirklich… entführt.” Als sie Doratravas pessimistischen Blick sah, schüttelte Merle abwehrend den Kopf. "Wir dürfen Gwenn nicht aufgeben! Was hier passiert ist, das ist nicht lange her. Bestimmt ist sie noch irgendwo in der Nähe!" Mit aufforderndem, eindringlichen Blick schaute sie erst Meta an, dann die umstehenden Ritter. "Ich habe solche Angst um Gwenn! Bitte beeilt euch und findet sie, bevor dieser Mörder ihr etwas Schlimmes antut!"

„Das werden wir, Merle…“, zögerlich blies Meta sich eine Strähne aus dem Gesicht und kratzte ihren Nacken. „Bleibt bei Doratrava, ich werde mich mit Kalman auf die Suche machen.“ Liebevoll fasste sie an ihre Kette und versteckte die Anhänger wieder unter Gewand. „Wir sollten dem Gefasel von dem Abschaum nicht zu viel Bedeutung schenken. Die machen das mit Absicht, um uns zu verunsichern.“ Sie wandte sich um und sah nach Kalman.

“Bitte findet sie. Schnell”, nickte Merle und versuchte mit ihrem flehentlichen Blick auch die anderen Kämpfer der Gruppe zu bewegen, sich endlich in Bewegung zu setzen, um Gwenn zu retten. "Und, ähm... Meta", sie lehnte sich zu der Ritterin vor und sprach diese etwas leiser an, "...lass' uns gegen den Feind zusammenhalten, ja? Du hast recht; wir dürfen uns nicht verunsichern lassen. Hass und Zwietracht helfen dem Pruch." Merle war an einen Punkt gekommen, wo sie ihren eigenen Selbstwert, ihre innere Stärke und Lebenserfahrung wieder wahrnahm; auch das Gespräch mit Rahjel hatte sie darin bestärkt, dass sie Gudekars Ehefrau war und blieb. Von dieser Warte konnte sie Meta gelassen und ruhig in die Augen sehen. "Ich danke dir von ganzem Herzen, dass du Gwenn suchst. Wirklich."

Merles Sprunghaftigkeit verunsicherte Doratrava ein wenig, sie wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, wenn sie mit Meta jetzt schon wieder fast freundlich redete. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt für fruchtlose Diskussionen, stattdessen verstärkte sie lediglich den Griff um Merles Hüfte. Was die Suche nach Gwenn anging, hatte sie keine wirkliche Hoffnung, aber sie wollte Merle die ihrige auch nicht nehmen.

Kalman blickte sich um und musterte die Anwesenden. Dann traf er eine Entscheidung. “Hohe Dame Croy, Alana, Jartgar, hohe Herren von Sturmfels und von Galebfurten! Ihr sucht die Lichtung nach Spuren ab, ob meine Schwester in den Wald verschleppt wurde. Schaut insbesondere auf den Waldweg dort, der zur Waldhütte führt. Wenn sie da langgelaufen sind, müssten in dem nassen Boden Fußabdrücke zu sehen sein. Rhodan, Ihr sucht mit, vielleicht entdeckt Ihr irgendetwas, das meiner Schwester gehört und das Ihr wiedererkennt. Euer Gnaden von Hadingen, würdet Ihr die Leiche des Feindes untersuchen? Sollte er verflucht sein, so habt Ihr den Schutz der gütigen Zwölfe. Und ihr, Vetter Rahjel, Merle, Doratrava, ihr erklärt mir jetzt erst einmal, wie ihr hierher gekommen seid, ich meine vor allem, warum.”

Zögerlich blickte Merle zwischen Rahjel und Doratrava hin und her. Sie öffnete kurz den Mund, schloss ihn wieder und runzelte nachdenklich die Stirn. “Ich… ich kann es nicht so richtig sagen”, brachte die junge Frau schließlich stockend heraus und strich sich fahrig durch das zerzauste lange Haar. “Wir sind im Wald aufgewacht, ein Stück von hier.” Sie streckte den Arm aus und zeigte in die ungefähre Richtung, aus der sie und Rahjel gekommen waren.

Doratrava presste die Lippen zusammen, unschlüssig, was sie jetzt sagen sollte. Denn alles, was sie vorzubringen hätte, würde wohl gegen sie ausgelegt werden, spätestens dann, wenn sie auf Eoban träfen. Unwillkürlich drückte sie sich fester an Merle, aber unter Kalmans forschenden Augen konnte sie sich ja nicht mit ihrer Geliebten absprechen. Allerdings merkte diese aufgrund des engen Kontakts, dass Doratrava zu zittern begann.

Merle blickte stumm in Doratravas Gesicht und musterte ihre Freundin sehr besorgt.

***

“Manche von uns sollten zurück ins Dorf, wir können hier nicht helfen. Doch einige sollten schnellstmöglich die Braut finden.” Rahjels Blick wanderte zu Kalman. “Können wir kurz sprechen … unter vier Augen?”

Kalman wirkte überrascht über Rahjels Frage. “Ja, selbstverständlich, Euer Gnaden. Sollen wir ein paar Schritte zur Seite gehen?” Es waren noch so viele Fragen in Kalmans Kopf. Was war mit Gwenn passiert? Wie kamen Merle und die anderen hierher? Warum waren sie hier? Vielleicht konnte Rahjel seine Fragen beantworten.

Als Kalman und Rahjel ein wenig zur Seite gegangen waren, zischte Doratrava Merle zu: “Wenn Rahjel … also, wenn er was Falsches sagt, weiß ich nicht, was die mit mir machen … vor allem gewisse meiner lieblichen Mit-Ermittler!” Auch wenn das ironisch klingen sollte, zitterte Doratravas Stimme deutlich.

Merle drückte Doratravas Hand und strich ihr sanft mit dem Daumen über den Handrücken. "Rahjel wird bestimmt nichts sagen, was dich in Schwierigkeiten bringt", murmelte sie leise, klang aber davon selbst nicht richtig überzeugt. Fieberhaft überlegte sie, was sie jetzt tun sollte, tun konnte. Hätten sie sich nur vorher mit Rahjel auf eine Geschichte geeinigt, als sie noch zu dritt gewesen waren! Unsicher schaute sie zwischen Doratrava und den sich entfernenden Männern hin und her.

Doratrava fühlte sich unendlich hilflos, einen Zustand, den sie sonst nicht kannte. Nicht einmal, als sie das erste Mal völlig überraschend einem Dämon gegenüber gestanden hatte, hatte sie sich so ausgeliefert gefühlt. Die Angst lähmte sie, ihr Bein machte es ihr schon rein körperlich unmöglich zu fliehen, obwohl dieselbe Angst ihr das widersinnigerweise befehlen wollte.

Der angeschlagene Geweihte ging ein paar Schritte mit seinem Verwandten. “Die Lage ist ernst, sehr ernst. Verstehen tu ich es nicht, doch passieren hier viele Dinge. Doch ich vermutete, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. Vielleicht.” Dann blieb er stehen und senkte die Stimme. “Du wunderst dich vielleicht, wie wir hierher kommen und in diesem Zustand.” Kalman nickte und beobachtete abwartend seinen Vetter. Rahjel machte eine kurze Pause. “Vor kurzem waren wir noch im Dorf, doch einem Ausbruch Doratravas zufolge wurden wir in eine ´andere Welt´ verschleppt. Es fühlte sich fast an wie eine persönliche Niederhölle der Gauklerin. Ich gehe davon aus, dass sie ´besessen’ ist und uns unwillentlich dorthin zerrte.” Dann ergriff er behutsam Kalmans Hand.

Mit gerunzelter Stirn behielt Merle das Gespräch der beiden Männer im Auge und versuchte anhand der Gestik und Mimik zu erraten, was Rahjel sagte. Der Geweihte wirkte sehr ernst, redete eindringlich auf Kalman ein und nahm jetzt sogar dessen Hand… Eigentlich konnte es dabei nur um Doratrava gehen, da war sich Merle mehr und mehr sicher. “Soll ich versuchen, sie zu unterbrechen?” wisperte sie der Tänzerin leise ins Ohr. “Ich weiß nicht, ob ich mich das traue…”

“Ich … aber was sollen wir dann sagen? Was hat Rahjel jetzt schon gesagt?” Man sah Doratrava deutlich eine wachsende Verzweiflung an.

“Sie ist gefährlich, vor allem für sich selbst. Starke Emotionen schienen das ´Wesen´ in ihr hervorzurufen. In dieser Welt hat mir die Liebholde aber eines gezeigt… ihr Herz ist unschuldig. Doch der ´Dämon’ ist gewalttätig… wie du sehen kannst an unseren Leibern.” Dann atmete Rahjel tief durch. “Sie muss unbedingt in die Obhut der Rahja- oder Tsageweihtenschaft. Besser in einer ihrer Tempel. Ich denke, nur dort können wir sie retten. Ob das allerdings mit der Entführung von Gwenn oder den Umtrieben des Pruchs zu tun hat, kann ich nicht sagen. Allerdings gab es dafür im Kontakt mit diesem Wesen keinen Hinweis.” Besorgt schaute er zurück zu den anderen. “Doch es ist in ihr und damit unter uns. Was sollen wir als nächstes tun?”

Kalman blickte entsetzt. Dies waren schwerwiegende Anschuldigungen.

Der Gesichtsausdruck von Kalman erschreckte Merle zutiefst. Was erzählte der Geweihte ihrem Schwager da alles über Doratrava? Sie straffte sich innerlich und entschied, nicht länger zu zögern. Es war egal, was Kalman über sie dachte; sie musste ihrer Freundin jetzt zur Seite stehen, sonst war vielleicht alles verloren. “Ich geh’ da jetzt hin”, zischte sie Doratrava zu, da ihr klar war, dass die Tänzerin nicht schnell genug zu Kalman und Rahjel hinüber humpeln könnte.

Doratrava drückte Merle nochmal die Hand und ließ sich dann zu Boden gleiten, da sie allein noch nicht richtig stehen konnte. Sie hatte keine Ahnung, wie Merle da irgendetwas erreichen sollte, aber sie hoffte das Beste, mehr blieb ihr ja nicht. Mit brennenden Augen sah sie ihr nach.

Aus dem Augenwinkel sah er, dass Merle gerade auf dem Sprung war, zu ihm und Rahjel zu kommen. Doch Kalman erhob abwehrend die Hand in Richtung Merle, um ihr klar zu machen, sie solle sich jetzt nicht einmischen.

Nachdem Merle einmal den Entschluss gefasst hatte, das private Gespräch der beiden Vetter zu unterbrechen, ließ sie sich von Kalmans abweisender Geste nicht mehr abhalten. Ja, es war überaus unhöflich und normalerweise in keiner Weise ihre Art - doch hier ging es offenbar um Leben und Tod - Doratravas Leben. “Entschuldige bitte, Kalman”, sprach sie ihren Schwager direkt mit klarer Stimme an. “Bitte höre mich an, bevor du über Doratrava urteilst.”

Ein strafender Blick traf Merle fast ins Herz, doch Kalman antwortete nichts auf Merles unverfrorenes Einmischen. Er blickte seine Schwägerin einfach nur an.

“Lass sie ruhig. Sie folgt ihrem Herzen … und sie war dabei.”, sagte Rahjel leise zu Kalman.

Merle versuchte, ruhig und gefasst zu bleiben. "Ihr redet über Doratrava, nicht wahr? Ich, ähm… ich will nicht respektlos sein, wirklich nicht...", ihrem Blick war die Verzweiflung deutlich anzusehen, "...aber ich habe Angst, dass sie in große Schwierigkeiten kommt, wenn man ihr vorwirft, ähm... gezaubert zu haben... ihr wisst schon, die... Inquisition und so..." Merles Rede war immer leiser und stockender geworden. Ihr Blick sprang unstet zwischen Rahjel und Kalman hin und her.

Kalman nahm Merle in den Arm. Er wusste, ihre Sorge war nach dem, was Rahjel geäußert hatte, nicht unbegründet. “Rahjel meint, diese Tänzerin ist von einem gefährlichen Dämonen besessen, der uns jederzeit angreifen könnte, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Ob im Bunde mit Pruch oder nicht, dann muss sie gefesselt und geknebelt werden, damit sie uns nicht gefährlich wird, bis sie in einen Tempel gebracht werden kann. Meint Ihr nicht”, wandte er sich an Rahjel, “sie sollte dann der Praioskirche überantwortet werden?”

Rahjel schüttelte den Kopf. “Ich verstehe deinen Gedanken, doch die Geweihtenschaft des göttlichen Bruder der Liebholden, ist hier nicht die richtige. Das würde Doratrava nicht überleben. Es gibt andere Wege der göttlichen Geschwister Praios, sie zu retten. Doch auch fesseln würde ich abraten. Das würde nur Emotionen auslösen, die diesen Dämon dazu bewegen könnte, wieder einzugreifen. Und vor allem richtet er sich gegen die Tänzerin selbst. Merle scheint eine beruhigende Wirkung auf sie zu haben.” Der Blick traf nun die Erwähnte.

Auch Kalman blickte Merle intensiv an.

“Von was redet ihr denn da? Fesseln und Knebeln?!” entfuhr es Merle entsetzt.

Vor Entsetzen sprach Merle derart laut, dass auch Doratrava ihren Ausruf hören konnte - mal wieder!

Doratrava fuhr zusammen, als sie Merles entsetzten Ruf vernahm. Fesseln und Knebeln? Eine kalte Hand schien sich um ihr Herz zu schließen, und schon vermeinte sie, schon wieder ein leises Rauschen in den Ohren zu vernehmen, das langsam anschwoll. Als ihr bewusst wurde, dass sie sich ähnlich gefühlt hatte, kurz bevor sie … verschwunden war, flutete blindes Entsetzen ihren Geist und sie stemmte sich mit aller Gewalt gegen was auch immer da in ihr hochkommen wollte … und wenn sie sich das bloß einbildete.

Das kostete viel Kraft und überlagerte alle anderen Sinneseindrücke, so dass Doratrava nicht mitbekam, was Merle und die beiden Männer in den nächsten paar Dutzend Herzschlägen sprachen.

Unwillig befreite sich Merle aus Kalmans Umarmung und starrte ihn mit großen, schreckensgeweiteten Augen an. “Doratrava ist weder von einem Dämon besessen noch mit dem Pruch im Bunde! Wenn du sie der Praioskirche überantwortest, dann landet sie im Kerker - oder auf dem Scheiterhaufen!” Heiße Tränen der Verzweiflung schossen in Merles Augen. “Doratrava ist eine treue und rechtschaffene Kämpferin gegen diesen Paktierer. Sie hat mehr als einmal ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um uns alle vor dem Feind und dessen Tun zu beschützen. Und das willst du ihr danken, Kalman, indem du sie der Inquisition zum Fraß vorwirfst?!” Merle hatte sich in Rage geredet, atmete mehrmals tief durch und sprach ruhiger weiter: “Für Doratrava lege ich meine Hand ins Feuer. Bitte lasst uns nicht so viel Zeit verlieren, lasst uns Gwenn finden, bitte! Und wenn wir zurück ins Dorf kommen, dann sollten wir sehr vorsichtig in dem sein, was wir sagen.”

“Wurde denn irgendjemand von ihr angegriffen? Hat sie - oder dieser Dämon in ihr - irgendjemanden verletzt? Sind eure Verletzungen von ihr?” fragte Kalman noch immer besorgt.

“Nicht so laut, Merle. Du bringst Doratrava in Gefahr. Überlege, was das letzte Mal passiert ist, als du emotional und laut wurdest. Der Dämon hat uns in sein Reich gerissen. Und du hast mir nicht zugehört. Ich sagte bereits, dass die Geweihtenschaft des Herrn Praios hier nicht die richtige Wahl ist. Ich habe Kalman angesprochen, damit er uns und Doratrava hilft. Er ist hier die höchste Instanz und ich nehme sie unter meinem persönlichen Schutz. Im Namen der Liebholden Rahja!” Dann richtete er seinen Blick auf Kalman. “Die Verletzungen stammen von diesem Dämon … aus seiner Welt.”

“Gut, ich vertraue Eurem Urteil da natürlich, Vetter, Euer Gnaden. Und ich glaube auch dir, Merle. Morgen, wenn deine Eltern kommen, übergeben wir sie an das Tempelpaar, sie können sie dann mit nach Albenhus in den Tempel nehmen, um ihr den Dämon auszutreiben.” Kalman schaute sich um. “Und Rahjel hat Recht. Wir sollten vorsichtig sein mit dem, was wir äußern. Ich kann nicht bei allen Anwesenden dafür garantieren, dass sie auf Eure Worte, Rahjel, gleichermaßen, ähm, tolerant reagieren würden.”

"Das meine ich doch gerade!" Mühsam versuchte Merle sich zur Ruhe zu zwingen. "Wir sollten aufhören, solche Dinge über Doratrava zu behaupten. Es gibt überhaupt keinen Beweis, dass sie von einem... Dämon... besessen ist", zischte sie eindringlich, nun wieder in gedämpfter Stimmlage. “Ja, irgendwie waren wir in einer anderen... Welt.” Sie zog die Stirn in Falten, als müsste sie ihren Verstand dazu zwingen, sich zu erinnern. “Auf einer flachen, endlosen Wiese… umgeben von Nebel und einem seltsamen Zwielicht. Und ja, da war eine Art... Wesen.” Verlegen schaute Merle in Kalmans Gesicht, sichtlich unsicher, ob er sie aufgrund ihrer Erzählung für verrückt erachten würde. "Aber das heißt nicht, dass diese Kreatur irgendwas mit Doratrava zu tun hat! Wir sind zufällig dorthin geraten, weil Doratrava instinktiv zaubern kann. Das liegt offensichtlich daran, dass sie eine Halbelfe ist. Ich weiß nicht, woraus Rahjel den Schluss zieht, man müsste Doratrava irgendwas... austreiben."

“Gut so, versuch ruhiger zu atmen. Wir werden wieder Harmonie finden … “ Kurz wartete er, dass Merle sich weiter beruhigte. “Ich muss dir leider wiedersprechen. Als Geweihter der Zwölfe, aber auch die Götterläufe, die ich auf Dere wandle, gaben mir mehr Erfahrungen in solchen Dingen. Doratrava ist verbunden mit diesem Wesen. Das habe ich gefühlt und wenn du ehrlich zu dir selbst bist, weißt du das auch. Aber nehmen wir an, du hast recht, gefährlich ist sie noch immer. Für sich selbst und andere. Eine Halbelfe, die intuitiv Unschuldige in eine fremde Welt zaubert, wo es Wesen gibt, die jemanden verletzen. Findest du das nicht gefährlich? Es kann ja ´zufällig´ und ´jederzeit´ wieder geschehen. Das Beste, das wir jetzt tun können, ist, alle in Sicherheit zu bringen. Nur so können wir Gwenn suchen.” Dann richtete er sein Wort an Kalman. “Ich nehme sie unter den Schutz von mir … und ich bin mir sicher, dass der Tsageweihte sich da anschließen wird. Ich bin für Albenhus, aber für den Rahjatempel. Die Geweihten der Travia sind auch nicht die richtigen. Es kann sein, dass nicht jeder meiner Meinung ist, doch wird keiner es wagen, sich gegen einen Geweihten der Zwölfe zu stellen”, sagte Rahjel selbstbewußt.

“Gut”, lenkte Kalman ein, “ich werde der Letzte sein, der sich gegen Euch stellt. Aber wie sollen wir verhindern, dass ein Angriff von ihr erneut geschieht?”

"Das, was wir am dringendsten tun müssen, ist Gwenn zu finden!" wandte Merle verzweifelt ein. "Während wir hier über Doratrava diskutieren, ist Gwenn in der Gewalt dieses Frevlers, der ihr sonstwas antut!" Inzwischen liefen wieder bittere Tränen über Merles schmutzige Wangen, die sie fahrig abwischte. "Natürlich muss Doratrava lernen, die Zauberkraft zu kontrollieren, die in ihr ist. Dabei kann ihr vielleicht Gudekar helfen oder Liana oder andere Elfen... Und sicherlich wird sie sich nicht dagegen verwehren, in einen Tempel zu gehen, um diesen Dingen auf den Grund zu gehen. Gudekars Gefährten haben sich ohnehin darauf geeinigt, dass sich die ganze Gruppe in Albenhus einer Seelenprüfung unterzieht. Aber...”, sie atmete noch einmal mühsam ein und aus, "...das alles hat doch Zeit bis morgen, oder? Diese… Kraft ist sicherlich schon lange Zeit in ihr und bisher ist nichts Schlimmes passiert. Kalman, ich bleibe an Doratravas Seite und passe auf sie auf. Ich vertraue ihr. Und ich verspreche dir, sie wird nicht wieder unkontrolliert zaubern.” Merle schloss kurz die Augen und schluckte. “Doch jetzt müssen wir erst einmal Gwenn finden!"

Kalman blickte noch einmal um Bestätigung heischend zu Rahjel, nickte dabei aber.

Doratravas Sinne klärten sich langsam wieder. Zuerst bemerkte sie, dass sie einen trockenen Mund hatte, dann, dass sie auf allen Vieren auf dem Boden kniete, und dann, dass ihr angewinkeltes, verletztes Bein sich anfühlte, als liege es in einem brennenden Feuer. Das trieb ihr mit einem Mal Tränen in die Augen, aber es half ihr seltsamerweise, wieder zu sich zukommen. Sie blinzelte mühsam und schaute nach Merle, während sie sich zur Seite fallen ließ und das verletzte Bein wieder ausstreckte, da sie dann am wenigsten Schmerzen darin hatte.

Die junge Frau hatte es nicht verstanden und der Geweihte hoffte, dass zumindest Kalman es tat. “Ich vermute, sie wird das nicht schnell genug lernen”, seufzte Rahjel. “Ich würde vorschlagen, dass ich mit der Gauklerin ins Dorf zurückkehre. Ich weiß, dass ich nicht mehr viel beitragen kann. Doch werde ich niemanden zwingen, mit mir zu gehen. Sollte Doratrava sich entscheiden, euch bei der Suche von Gwenn zu begleiten, kann ich ihr meinen Schutz nicht garantieren. Zumindest sollte ein Geweihter der Zwölfe an ihrer Seite bleiben. Kommt sie mit mir mit, werde ich alles dafür tun, dass ihr kein Unrecht widerfährt.” Dann schaute er nochmal Merle an. “Hoffe dann, dass sie nicht wieder intuitiv zaubert und die Suchenden in diese Welt und zu dem Wesen verschleppt. Kannst du dein Herz kontrollieren, wenn du mit Meta zusammen suchst? Geht es dir schlecht, kann es passieren, dass deine Geliebte … zaubert.” Inständig hoffte er, dass sie endlich seine Worte verstanden hatte. “Was sagt ihr?”

“Natürlich müssen wir mit Doratrava zurück ins Dorf; sie ist verletzt und kann kaum gehen mit dem Bein. Und ich traue mir auch nicht zu, bei der Suche nach Gwenn zu helfen. Nicht, wenn hier irgendwo der Feind mit seinen Schergen lauert. Wir drei können nicht viel ausrichten, wenn es zu Kampf kommt. Also werden wir die Suche den Rittern und Kämpfern überlassen - alles andere wäre selbstmörderisch.” Während sie redete, gewann die Stimme der jungen Frau an Selbstbewusstsein und Entschlossenheit. Merle schaute Rahjel eindringlich an. “Ich glaube dir, dass du Doratrava schützen willst. Und dafür bin ich dir sehr, sehr dankbar. Ich bitte dich nur, für sie da zu sein, ohne überall zu verbreiten, sie wäre gefährlich. Glaub mir, Rahjel, ich weiß, wie die Menschen hier sich vor Magie fürchten, diese sogar hassen.” Ein kurzer, stirnrunzelnder Seitenblick ging zu Kalman, dann schaute sie wieder dem Rahjageweihten in die Augen. “Alles, worum ich dich bitte ist, Doratrava so lange zu vertrauen, bis wir uns in Ruhe um die Sache kümmern können. Und nicht gleich das ganze Dorf aufzuschrecken. Vielleicht wäre es ganz gut, die Leute zunächst glauben zu lassen, der Pruch hätte versucht, uns drei zu verschleppen?” Sie blickte Rahjel mit einem zarten, bittenden Lächeln an, in der Hoffnung, damit sein Herz zu erweichen.

Er strich ihr über die Schulter. “Vertrauen tust du mir nicht, aber ich sehe, dass du dich bemühst. Ich bin nicht der Greifenspiegel, der die Probleme anderer öffentlich herumposaunt. Doch ist es wichtig, über die Situation aufzuklären. Dort, wo es wichtig ist. Und hier und jetzt ist das nunmal Kalman. Ich werde als nächstes mit dem Tsageweihten beraten, wenn wir im Dorf sind.” Kurz dachte er über ihre Bitte nach. “Wir wissen nicht, ob ihr Verhalten mit dem Pruch zutun hat oder nicht. Solch eine Lüge sollten wir nicht verbreiten. Zuviel ist schon verschleiert. Auch wissen wir nicht, was die Zurückgebliebenen gesehen haben. Da warten wir ab, was uns erwartet. Ich würde vorschlagen, du redest jetzt mit ihr. Ob sie mit uns ins Dorf geht.”

Kalman schluckte. Es gab noch etwas, was er bisher vermieden hatte, ins Gespräch zu bringen. „Wartet! Diese beiden dort“, Kalman deutete auf die beiden Leichen, „sind nicht die beiden einzigen Toten.” Der Edlensohn senkte seinen Blick. “Gwenns Scharr wurde bereits auf dem Weg hierher mit einem Hinterhalt überfallen. Bernhelm und der Runkler-Sohn, sie, sie, … sie hatten keine Chance.”

Rahjel schüttelte ungläubig den Kopf. “Das Morden muss aufhören”, sagte er kaum hörbar.

"Bernhelm? Und… Brun?" Merle erstarrte einen Moment und blickte Kalman ungläubig an, dann brach sie vollends in Tränen aus und fiel schluchzend in seine Arme. "Diese Bestie wütet in unserer Mitte, schlachtet unsere Leute ab…", murmelte sie leise vor sich hin , "...und was uns am meisten Sorgen macht, ist eine Halbelfe, die einmal versehentlich gezaubert hat? Kalman…", sie hob den Blick und starrte ihn eindringlich mit ihren tränenglänzenden braunen Augen an, "Kalman, versprich mir, dass du Gwenn findest und lebend zurückbringst. Bitte, versprich mir das…" Mit einem erneuten, herzzerreißenden Schluchzen drückte sie ihr Gesicht an die Brust ihres Schwagers.

“Merle, sie hat nicht ´einmal´ aus Versehen gezaubert. Sie kannte die Kreatur. Und du weißt nicht, wann es wieder passieren kann. Das ist in dieser Situation genauso wichtig, wie die ganzen Toten und Gwenn. Jede Gefahr muss eingedämmt werden. Aber ich bin bereit, ins Dorf zu gehen. Und wir werden Doratrava vor sich selbst schützen müssen. Den Anderen müssen wir vertrauen, dass sie sich um Gwenn kümmern.” Nun zuckte er mit den Schultern. “Kalman, ich bin bereit.”

“Rahjel”, es war das erste Mal, dass Kalman eine vertrauliche Anrede gegenüber seinem Vetter verwendete, “ich weiß deinen Einsatz zu schätzen. Doch nach dem, was heute hier vorgefallen ist, kann ich euch nicht unbewacht ziehen lassen. Niemand weiß, ob der Feind sich noch hier in den Wäldern aufhält. Ihr wärt ein zu leichtes Ziel. Wir sollten nun möglichst zusammenbleiben. Und, Merle, nichts würde ich lieber tun, als Gwenn sofort wiederzufinden. Doch sollten die anderen keine Spur finden, müssen wir wohl für heute die Suche abbrechen. Es wird dunkel und dann ist die Gefahr viel zu groß, dass wir mehr Spuren zertrampeln als wir finden könnten. Außerdem müssen wir Vater informieren.” Es fiel Kalman schwer, seine eigene Niederlage, sein Versagen einzugestehen. Auch er hätte sich am liebsten auf den Boden gesetzt und seinen Gefühlen einfach freien Lauf gelassen. Er beneidete Merle darum, dies tun zu können. Doch er musste Stärke zeigen. Er war hier der Ranghöchste, der Vertreter seines Vaters. Er musste der Anführer sein. Er musste Entscheidungen treffen, die nicht allen gefielen, die ihm nicht gefielen. Doch, so groß seine Sorge um Gwenn war, und auch um Marno, so groß sollte auch seine Sorge um das Wohl all der anderen hier im Wald sein. Und niemand wusste, mit welchem Feind man es zu tun hatte. Falsch, das wusste man wohl schon. Doch sie wussten nicht, in welcher Stärke der Feind hier sein Unwesen trieb. Die Gefahr war viel zu groß, weitere Getreue zu verlieren. Die Gefahr war zu groß, auch Merle zu verlieren. Die Schwachen ins Dorf zurückbringen. Dazu zählte er auch Rhodan Herrenfels, den Bräutigam seiner Schwester. Die Leichen der Toten bergen, bevor die Dämonen womöglich diese holen konnten. Seinen Vater unterrichten, was vorgefallen war. Und dann konnte man gemeinsam überlegen, was als nächstes zu tun wäre. Wie man Gwenn wiederfinden konnte. Kalman würde nicht ruhen, bis Gwenn gefunden war. Er würde diesen Pruch finden und stellen und ihm jeden Knochen ins seinem verflüchten Körper brechen, sollte er Gwenn etwas angetan haben.

Merle löste sich aus Kalmans Umarmung, trat einen Schritt zurück und starrte ihren Schwager durch den Tränenschleier ungläubig an. "Nein!" brachte sie schluchzend heraus. "Nein. Du kannst die Suche jetzt nicht abbrechen! Auf gar keinen Fall! Nicht, wenn Gwenn vielleicht noch ganz in der Nähe ist! Bis morgen sind sie doch über alle Berge!" Mit verzweifeltem Blick schaute sie hilfesuchend zu Rahjel. "Mit dem Wagen ist es nicht weit zum Dorf. Gib uns meinetwegen ein oder zwei Bewaffnete mit zum Schutz. Oder nimm uns halt doch mit. Aber ich werde nicht zulassen, dass du jetzt aufhörst, Gwenn zu suchen! Das kann ich einfach nicht! Nicht mit der Begründung, mich beschützen zu müssen! Wir können die Suche nicht abbrechen!!" Ihre Stimme hatte einen schrillen, fast hysterischen Unterton angenommen. "Du musst Gwenn finden, Kalman! Bitte!"

„Ich weiß“, gab Kalman leise von sich. Dann raffte er sich. „Schauen wir, ob die anderen einen Hinweis gefunden haben. Und nutzen wir das letzte Tageslicht, um selbst nach Spuren zu suchen. Doch ich kenne den Feind nicht, ich weiß nicht, wie er vorgeht. Gudekar hat es mir nie gesagt, worauf wir genau gefasst sein müssen. Wenn wir nicht bald eine Spur finden, ist es besser, Gudekar und seine Verbündeten zu befragen, vielleicht wissen sie besser, was zu tun ist, wie der Feind vorgeht. Und natürlich müssen wir Vater warnen. Doch gibt es hier irgendjemanden, der sich mit dem Wirken des Pruch auskennt, der weiß, welche Wege er üblicherweise zu nehmen pflegt?“ Kalman legte seine Hände auf Merles Schulter und blickte ihr in die Augen. „Ich würde alles tun, um Gwenn zurückzubringen, wenn ich wüsste, was ich tun muss. Ich würde mein Leben für ihres geben. Glaube mir das!“

"Das glaube ich dir ja! Aber wenn das so ist, Kalman, dann lass' deine Schwester jetzt nicht im Stich!" flehte Merle. "Dieser Scherge ist noch nicht lange tot; die Frau von Kranickau hat ihr Leben für Gwenn geopfert. Ich bin sicher, sie ist hier noch irgendwo in der Nähe! Doch wenn wir jetzt aufgeben, finden wir sie nie!" Wie beschwörend legte Merle die Hand auf Kalmans Oberarm und blickte ihm fest in die Augen. "Es ist noch eine Weile hell… du bist hier, du hast einen Trupp kampferprobter Ritter und frische Pferde. Und Doratrava weiß mindestens genauso viel über das Tun dieses Pruchs wie Gudekar; sie gehört wie er zum eingeweihten Kreis der Ermittler. Also bitte, Kalman, gib jetzt nicht auf! Wir haben schon viel zu lange über Doratrava diskutiert! Lass' uns Gwenn finden! Bitte!" Wieder brach ein verzweifelter Schluchzer aus ihr heraus, sie schluckte und versuchte sich mit aller Macht zu fassen. Kalman sollte sie auf gar keinen Fall als Ballast sehen, als Grund, die Suche nach Gwenn zu beenden. "Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt mit Doratrava reden und dann beim Suchen nach Spuren helfen", ergänzte sie, deutlich leiser und klarer als zuvor.

Kalman drehte sich zu Doratrava und ging ein paar Schritte auf sie zu. „Ihr seid über das Wirken des Paktierers informiert, Doratrava?“ sprach er sie direkt an. „Was könnt Ihr mir über ihn sagen? Was könnte er mit meiner Schwester vorhaben?“

Doratrava hatte nicht alles von dem in unterschiedlicher Lautstärke geführten Gespräch verstanden, aber sie hatte schon mitbekommen, dass Rahjel sie offensichtlich für gefährlich hielt und Merle sie vehement verteidigt hatte, wo sie es selbst nicht konnte. Sie war ihrer Geliebten unendlich dankbar dafür und würde ihr das auch gerne zeigen, aber leider war das im Moment nicht möglich.

Sie spannte sich unwillkürlich an, als Kalman auf sie zukam, doch es ging offensichtlich noch nicht darum, was mit ihr nun geschehen sollte. Auf seine Frage hin überlegte sie kurz, bevor sie antwortete: “Über den Pruch könnte ich Euch schon einiges sagen, aber vermutlich nur wenig, was uns jetzt hilft. Was er genau mit Eurer Schwester vorhat, weiß ich nicht. Er will sie nicht tot sehen, zumindest nicht jetzt gleich, das hätte er sonst wohl sofort erledigt. Sie ist keine Geweihte wie Vater Winrich, den er in Schweinsfold entführt hat, also wird er Gwenn hoffentlich nicht für ein finsteres Ritual brauchen. Ich kann nur vermuten, dass er sie entführt hat, um Angst zu verbreiten und Unfrieden zu stiften und eine Geisel als Druckmittel zu haben, wenn wir ihm zu nahe kommen.” Doratrava sprach so ruhig und sachlich wie möglich, denn wenig zielführende Aufregung hatten sie hier schon genug, nicht zuletzt um ihre Person.

Kalman nickte während Doratravas Erklärungen. Ähnliche Gedanken hatte er auch. Zumindest war dies seine Hoffnung, denn so gab es vielleicht noch eine Chance, Gwenn früher oder später zu befreien. Nach einer kurzen Überlegung fragte er nach: “Was denkt Ihr, wie könnte er Gwenn entführt haben? Ihr habt scheinbar Erfahrungen mit seinen Missetaten. Zu Pferd sind sie wohl nicht fort, wenn ihr Gwenns und Bruns Pferde gefunden habt. Uns lief das Pferd der Dame von Kranickau entgegen. Wenn sie einen Wagen genommen haben, um Gwenn einzusperren, sollten wir Spuren im Matsch finden. Und sie könnten höchstens den Weg zum Forsthaus genommen haben. Auf dem Weg ins Dorf wären sie uns begegnet. Bliebe noch eine Flucht zu Fuß durch den Wald. Das wäre jedoch sehr beschwerlich, insbesondere, wenn man sich hier nicht auskennt. Und wie könnten sie Gwenn gefügig gemacht haben, damit sie mitgegangen ist?” Er schaute zu Doratrava, aber auch zu Merle und Rahjel.

"Die Angreifer hatten aber doch vielleicht eigene Pferde?” warf Merle ein. “Vielleicht haben sie Gwenn von ihrem eigenen Pferd runter und da rauf gezerrt, um sie zu verschleppen.”

“Das wäre natürlich auch denkbar. Auch dann sollte es Spuren am Weg geben, die darauf hindeuten. Lasst uns nachsehen!” schlug Kalman vor.

“Ähm”, machte Doratrava und warf Merle einen sehr bedauernden Blick zu. “Die Angreifer könnten Gwenn auf eigenen Pferden oder gar zu Fuß entführt haben … aber sie könnten Gwenn auch mit dämonischer Hilfe in den Limbus gerissen haben. Dann werden wir möglicherweise Spuren finden, die irgendwo plötzlich aufhören. Und wie sie Gwenn gefügig gemacht haben … also mit einem Messer an der Kehle wäre ich ziemlich gefügig …”

Kalmans Augen weiteten sich schreckerfüllt. “In den Limbus? Von Dämonen?” fragte er heiser.

Doratrava schaute Kalman halb entschuldigend, halb bedauernd an. “Es gibt da nichts zu beschönigen, fürchte ich. Diese Möglichkeit besteht.” Und ich halte sie für die wahrscheinlichste, fügte sie in Gedanken hinzu, die sie mit Rücksicht auf Merle aber nicht aussprach.

Kalman schluckte. Kalman nickte langsam. Doch er antwortete nichts auf Doratravas Befürchtungen. Es gab nichts dazu zu sagen.  

Wieder warf Doratrava Merle einen Blick zu und streckte halbherzig eine Hand nach ihr aus. Es war so schwer zu ertragen, sie leiden zu sehen, sie würde sie so gerne in die Arme schließen.

Da fiel ihr noch etwas ein. “Wenn Ihr einen Hund hättet, könnte der sicher Gwenns Spuren folgen, wenn sie zu Fuß entführt wurde, und auch nachts. Besser, wir bedenken alle Möglichkeiten.” Sie machte eine kurze Pause. “Hm. Vielleicht kann ein Hund auch zurückverfolgen, woher die Schergen kamen?” Sie machte eine Handbewegung zu dem Toten hin.

“Wir haben keinen Hund dabei, doch im Dorf sind noch die Jagdhunde. Wir dachten ja, wir gehen auf eine Feier und nicht auf die Hetze.” Die Stimme des Ritters klang resigniert. “Wir müssen sie holen”, murmelte er vor sich hin.

Merle nahm instinktiv Doratravas Hand, ohne zu wissen, wem sie damit Halt und Unterstützung geben wollte. Ihrem Gesicht war anzusehen, wie sehr sie die Vorstellung erschreckte, dass Gwenn von einem Dämon aus der Welt gerissen worden sein könnte, sie vielleicht gerade in den Niederhöllen unsagbare Qualen erlitt... ihre wundervolle, fröhliche, lebenslustige Schwägerin und Freundin, die sich heute eine schöne und unbeschwerte Feier gewünscht hatte. Unwillkürlich musste Merle daran denken, wie Gwenn erst vor ein paar Stunden aus schalkhaftem Übermut Brun geküsst hatte - jetzt war der hübsche junge Mann kalt und tot, seine vier kleinen Kinder Halbwaisen und Gwenn schien verloren. Leise schluchzte Merle auf und wischte sich mit einer Hand energisch die Tränen aus dem Gesicht, während sie mit der anderen fast Doratravas zerquetschte. Nein, es konnte nicht wahr sein. Sie mussten Gwenn einfach finden. "Der Scherge", meldete sie sich zögerlich zu Wort, "...er schien besonders zu frohlocken, dass sein Herr die rechte Hand der Vögtin hat. Das hat er mehrmals betont, glaube ich. Vielleicht will der Paktierer mit Gwenns Entführung wirklich die Vögtin oder sogar die Gräfin erpressen... Andererseits hat er diese Tabea auch einfach so getötet..." Ohne das Bild unterdrücken zu können, stellte Merle sich vor, wie Gwenns geschundener, blutiger Leichnam hier irgendwo im Wald lag, auf gebrochenen Gänsefedern... Sie atmete tief durch und nickte entschlossen. "Ich will beim Suchen helfen", kündigte sie an und schaute fragend zu Kalman, ob er sie davon abhalten würde.

Doch Kalman nickte stattdessen nur. Er kannte seine Schwägerin gut genug um zu wissen, dass sie es nicht akzeptieren würde, zur Untätigkeit verdammt zu sein, solange sie noch Hoffnung hatte, Gwenn zu finden. Und Hoffnung war das, was sie alle jetzt brauchten. Natürlich würde auch er nicht ins Dorf zurückkehren, solange nicht das letzte Licht genutzt war, um auszuschließen, irgend eine Spur übersehen zu haben. Sollte dieser Paktierer Gwenn tatsächlich in den Limbus entführt haben, so hätten sie hier bar jeglicher Arkanen Unterstützung wohl keine Möglichkeit, sie zu finden. Doch sollte die Entführung profan durchgeführt worden sein, so wäre er ein Narr, nicht alle Möglichkeiten zu untersuchen.

Doratrava unterdrückte einen Schmerzenslaut, als Merle ihre Hand zu zerquetschen drohte, aber sie nutzte den Griff, um sich hochzuziehen und Merle endlich wieder in die Arme zu schließen. “Er braucht Gwenn noch, für was auch immer”, murmelte sie in deren Haar. “Wenn er sie in den Limbus gerissen hat, dann nur als schnellen Transportweg, nur wohin, kann ich nicht sagen.”

Merle nickte und umarmte Doratrava kurz, aber innig; dann blickte sie sich stirnrunzelnd um. “Soll ich dir zum Wagen helfen, Liebes?” fragte sie sanft und schaute zu dem Karren hinüber, wo Rahjel sich bereits zu schaffen machte. “Solange es hell ist, werd’ ich auch nach Spuren schauen.”

“Ich würde am liebsten mit dir gehen … versprich mir, dass du aufpasst. Versprich mir, ganz laut zu schreien, wenn etwas passiert.” Die Aussicht, Merle loslassen zu müssen, sie allein in den Wald gehen zu lassen, war nahezu unerträglich für Doratrava, doch was sollte sie machen in ihrem Zustand? Es blieb ihr nichts übrig, als sich zum Wagen helfen zu lassen und in einem kurzen, unbeobachteten Moment Merle einen schnellen Kuss auf die Lippen zu drücken.

"Ja, ich verspreche laut zu schreien. Viel mehr werd' ich eh nicht ausrichten können, fürchte ich." Merle erwiderte den Kuss und drückte Doratrava kurz an sich. "Bin gleich wieder da." Mit einem traurigen Lächeln wandte sie sich ab, um die Umgebung zu durchsuchen; ausgehend von der Stelle zwischen den beiden Wegen, wo sie Nachtwind zuerst gesehen hatten.

Kalman, der den Kuss der beiden zwar gesehen, jedoch für einen zarten Kuss unter Freundinnen hielt, bestätigte ebenfalls: “Wir suchen zunächst auf der Lichtung in Eurer Sichtweite, denn den ganzen Wald können wir ohne weitere Hinweise eh nicht absuchen.”

***

Nachdem Merle und Kalman der verletzten Gauklerin auf den Wagen geholfen hatten, den Rahjel näher geholt hatte, machten sich die beiden Weissenqueller an die Spurensuche und ließen Doratrava und den Rahjageweihten zunächst allein.

“Wollen wir los?”, fragte der Geweihte die Gauklerin.

Doratrava zuckte die Schultern. “Hier im Wald übernachten möchte ich jetzt nicht unbedingt.” Man hörte ihr allerdings an, dass sie nicht wirklich zum Scherzen aufgelegt war und noch immer in die Richtung schaute, in der Merle verschwunden war.

“Ja, ich auch nicht”, bestätigte er und schaute ebenfalls in dieselbe Richtung.

“Doratrava, ich möchte, dass du weißt, dass ich dich schützen werde … nach unserem Vorfall. Ich rechne damit, dass Leute dir an den Kragen wollen. Doch die Göttin hat mir dein Herz gezeigt. Sie wird an deiner Seite sein.”

Die Gauklerin richtete ihren Blick auf den Geweihten. “Aber du hältst mich für gefährlich”, stellte sie fest und wartete dann ab, was er dazu sagte.

“Findest du dich nicht gefährlich? Erkläre mir, warum du uns an einen Ort gezaubert hast, der uns fast umgebracht hat”, stellte er ihr die Frage, ohne anklagend zu klingen.

Doratrava schwieg ein paar Herzschläge lang und sah Rahjel forschend an, dann antwortete sie: “Ich wollte nur Merle wegbringen, irgendwohin, wo man sie in Ruhe lässt. Ich … habe nicht ‘gezaubert’, zumindest nicht bewusst. Und wie es aussieht, bin ich wohl diejenige, die am ehesten fast umgebracht worden wäre. Ich … war vorher noch nie an diesem Ort, ich weiß nicht, wo dieser liegt, und wie man da überhaupt hinkommt. Mir … ich … so etwas ist mir noch nie passiert.”

“... zumindest nicht bewusst", wiederholte er ihre Worte ruhig. "Dennoch war dort ein Wesen, das nicht nur dich verletzt hat. Merle und mich auch. Ja, ich halte dich für gefährlich … in erster Linie aber gegen dich selbst. Dass dir das noch nie passiert ist, dieser Zauber, und du nichts weißt über das Wie und Wo ist bedenklich, findest du nicht? Es könnte jederzeit wieder passieren … und was ist dann?” Noch immer sprach er ruhig.

“Woher willst du das wissen? Ich denke, ein Dolch in meiner Hand ist gefährlicher als die Aussicht, dass ich vielleicht wieder irgendjemanden irgendwohin ‘zaubere’. Denn wie ich schon sagte, das ist mir noch nie passiert. Warum sollte es dann jetzt plötzlich dauernd passieren?” Doratravas Stimme bekam einen deutlich ärgerlichen Unterton.

“Wissen kann ich es nicht. Und kannst du mit Gewissheit sagen, dass es nicht wieder passiert? Wundert dich dieser gefährliche Ausbruch nicht ein wenig oder beängstigt dich sogar? Du hast dich, deine Geliebte und mich in Gefahr gebracht.” Rahjel schaute sie besorgt an. “Ich möchte dich nicht verärgern, schöne Gauklerin, aber dir helfen. Kurz bevor wir in diese ´Welt´ entführt worden sind, hast du mit dieser dunklen Stimme gesprochen und deine Augen waren ganz schwarz. Das wirkte sehr bedrohlich … und das in dieser schwierigen Situation, in der wir uns mit diesem Pruch befinden. Ich glaube, dass dein Handeln damit nichts zu tun hatte, doch werden Andere hier vor Ort das sicher nicht glauben. Hilfe wirst du gebrauchen können. Rahja hat mir deine liebliche Natur gezeigt und ich werde an deiner Seite stehen, wenn du das willst. Und das mit vollem Herzen.” Er schenkte ihr ein sanftes Lächeln.

“Doch, ich war auch verwundert, doch, ich hatte auch Angst, da ich eigentlich nur Merle schützen wollte. Wo du plötzlich hergekommen bist, weiß ich gar nicht. Aber meine Augen wechseln ständig die Farbe, wie sie lustig sind, von einer ‘dunklen Stimme’ weiß ich nichts mehr. Und ja, wenn noch andere gesehen oder gehört haben, was du mir erzählst, dann wird es Leute geben, die mir daraus einen Strick drehen wollen. Daher bin ich dir dankbar für die angebotene Hilfe, habe aber die Sorge, dass du mich nicht schützen kannst, wenn du selbst überzeugt bist, dass ich gefährlich bin.” Doratrava machte eine kurze Pause nach diesen angespannt gesprochenen Worten. Dann fügte sie leise hinzu: “Ich denke, solange Merle nicht in Gefahr ist, wird es nicht wieder passieren - was auch immer ‘es’ war …”

Rahjels Hand wanderte zu seinem Herzen. “Ich kann dir mit Bestimmtheit sagen, dass die Kraft der Göttin uns geschützt und uns wieder zurückgebracht hat. Das heißt, dass die Göttin Rahja schützen und helfen kann. Doch dazu würde ich dich bitten, wenn das hier überstanden ist, mit mir in einen Tempel der Liebholden zu kommen. Entweder nach Albenhus, Elenvina oder zu Rahjan Bader nach Eisenstein. Rahja ist nicht nur die Göttin der Liebe, Genuss, Tanz und Gesang, sondern auch Feindin jeglicher Fesseln. Das Wesen, das in deinem Innersten schlummert, hält dich gefesselt, aber Sie kann es lösen.”

Nachdenklich schaute Doratrava den Geweihten an. Sie wusste wirklich nicht, wo sie hingeraten waren bei ihrem kürzlichen Ausbruch, aber sie hatte schon andere Globulen bereist und das ein oder andere diese betreffend aufgeschnappt. So auch, dass nicht gewährleistet war, dass die Götter in jeder Globule präsent waren. Und sie wusste nicht, woher sie das Gefühl nahm, war sich aber irgendwie sicher, dass dort, wo sie gerade waren, dies nicht der Fall war. Also konnte die Kraft Rahjas sie dort weder geschützt noch sie zurückgebracht haben, wie Rahjel meinte. Aber sie gedachte nicht, das jetzt mit ihm zu diskutieren. Oder wann anders. Welchen Sinn sollte das auch haben? Sie konnte nur ihr Gefühl gegen seinen Glauben setzen, und wer hätte dann recht? Und würde das einen Unterschied machen?

Nach einer längeren Pause nickte die Gauklerin schließlich. “Ich habe kein Problem damit, mich zu Rahjan zu begeben, er soll mich von mir aus untersuchen. Einen anderen, fremden Tempel will ich lieber nicht aufsuchen. Wir werden ja dann sehen, ob er etwas findet, das mich fesselt.” Und ob er etwas dagegen tun kann, sollte es wirklich so sein.

Rahjel schaute beruhigt. “Dann Rahjan Bader. Doch bis dahin sei vorsichtig. Im Dorf werde ich mit dem Tsageweihten sprechen, ich bin mir sicher, auch er wird an deiner Seite stehen. Frieden und Harmonie sind den göttlichen Schwestern Rahja und Tsa eine Tugend, Zwang ein Gräuel." Der Geweihte ahnte, dass es schwer würde, sich gegen die Geweihtenschaft Travias und Praios zu stellen, abgesehen von dem anwesenden Adel. Doch vertraute er seiner Göttin.

Doratrava nickte erneut. Rionn hatte sich bisher als vertrauenswürdig erwiesen, auch wenn seine Neigung, für Harmonie sorgen zu wollen, Eoban in Schneidgrasweiler damit hatte davonkommen lassen, nichts über den von ihm angeblich gefundenen ersten Ritualort zu erzählen, trotz eindringlicher Aufforderungen nicht nur von ihr selbst, sondern auch von den anderen Ermittlern. Aber das änderte nichts daran, dass sie dem Tsageweihten grundsätzlich Vertrauen schenkte. “Ich … werde vorsichtig sein”, meinte sie schließlich zögerlich. Sie wusste allerdings nicht genau, wie sie das anstellen sollte, wenn jemand wie Eoban ihr inquisitorische Fragen stellen sollte, um aus ihren Antworten dann nur das herauszuhören, was er heraushören wollte. Ihr blieb nichts übrig, als in so einem Fall auf die Unterstützung ihrer Freunde zu hoffen. Nun, da würde sich dann zeigen, wer wirklich ihre Freunde waren.

Rahjel stieg auf den Karren. “Warten wir auf die Anderen.”

***

Derweil machten sich die anderen Helden der Gruppe daran, die Lichtung nach Spuren auf Gwenns Verbleib zu untersuchen.

Rhodan war in eine determinierte Betriebsamkeit verfallen. Mit den bloßen Augen suchte er den schlecht beleuchteten Waldboden ab, doch schien ihm das wenige Licht keine Schwierigkeiten zu bereiten. Während seiner einsamen Suche rief er immer wieder lose Fragen in die Reihen der Anwesenden: „Und Ihr seid Euch sicher, dass der Paktierer unter den Entführern war? War das Scheusal selbst anwesend?“

“Dieser Marno ist der Einzige, der noch fehlt. Der muss von dem Kerl besessen gewesen sein …oder… er ist es gewesen. Keine Ahnung, wie der Paktierer vorgeht.” Meta reimte sich selbst zusammen, was nun geblieben war und suchte den Boden angestrengt nach Spuren ab.

Schnell bemerkte Meta, dass Rhodan in seiner determinierten Betriebsamkeit auf bestem Wege dabei war, auf dem aufgeweichten Waldboden auch die letzten vielleicht noch vorhandenen Fährten zu zertrampeln.

“Bei der Hochzeit in Schweinsfold hatte der Schurke die Gestalt eines Travianovizen angenommen und meinen Verwandten Vater Winrich entführt. Also denkbar wäre es schon. Hat Euch der Herr Lares davon nicht berichtet?”, sagte die Ritterin Alana. Der Herrenfelser verneinte. „Herr Lares hält Verschwiegenheit über derlei Dinge: Es sei eine Angelegenheit des Herzogs.“

Der Ritter Jartgar schüttelte ungläubig den Kopf. “Ich kann hier nichts mehr sehen, wir brauchen mehr Licht”, sagte er besorgt.

“Es wird in der Tat dunkler und dunkler”, sagte der Sturmfelser und führte sein Pferd zu einem jungen Baum, um es dort festzubinden. “Ohne Licht werden wir hier vermutlich nicht mehr viel erkennen”, sagte er. Seine Stimme klang dunkel und ungeduldig.

“Gleichsam missfällt mir der Gedanke, die Braut die Nacht über in den Händen der Häscher zu belassen.” Er seufzte schwer. Das Gefühl von Ohnmacht war eines, das er abgrundtief verabscheute.

“Gibt es eindeutige Spuren?”

Als Rhodan seinen Blick über die Lichtung schweifen ließ, fiel ihm etwas Weißes auf, das in der Mitte des kleinen Sees schwamm. War es ein Pergament? Oder ein Stück Tuch? Oder etwas ganz anderes? Ein großes Blütenblatt konnte es wohl nicht sein, dazu war es die falsche Jahreszeit.

„Da seht: Hier ist etwas auf dem Wasser! Man kann es ganz deutlich erkennen, es leuchtet im aufgehenden Madaschein.“

Nun, darauf hingewiesen, konnten auch andere das weiße Etwas in der Mitte des Sees schwimmen sehen.

Der ältere Ritter schaute die jüngeren Ritterinnen Meta und Alana an, wobei er den dicken Bräutigam mit Absicht übersah. “Eine tugendhafte Aufgabe für die junge Generation. Wer holt es aus dem See?”, sagte er befehlsgewohnt.

“Wollen wir beide oder schaffst du das, Meta?” fragte Alana.

Das Wasser war sicher seicht genug, um darin zu stehen. „Es reicht, wenn ich das mache.“ Gedankenverloren beobachtete Meta das weiße Ding auf dem See und knöpfte Hemd und Hose auf. „Hier, pass drauf auf, damit nix wegkommt.“ Sie gab Alana das Bündel Kleidung und watete ins Wasser.

Meta watete auf das weiße Etwas zu. Dort, wo die Frauen am Vorabend gebadet hatten, war der See tiefer, doch hier, wo das Tuch schwamm, blieb das Wasser flach, so dass Meta lediglich bis zu den Waden im Wasser stand, selbst als sie schon mehrere Schritt weit hinaus gewatet war. Das kühle Nass spritzte jedoch bei jedem Schritt hoch, so dass Meta dennoch bald durchnässt war. Schließlich erreichte sie die Stelle, wo das Tuch schwamm.

Wie ritterlich. Aber gespannt war Meta nun doch, was sie da finden würde. Eine Spur? Ein kleiner Hinweis? Oder einfach nichts? Vorsichtig fischte sie das weiße Gebilde heraus.

Dieses Gebilde war nicht weiter als ein weißes Seidentaschentuch mit kunstvollen Stickereien. Es war mit grünen Rosenranken und roten Blüten verziert. In einer Ecke waren mit schwarzem Garn die Initialen ‚GvW‘ eingestickt.

Etwas enttäuscht betrachtete Meta den bestickten Lappen. Das würde sie nicht weiter bringen. Auf ihrem Weg zum Ufer zurück hatte sie sich zusammengereimt, dass das Tuch wohl Gwenn gehört haben musste. Sie wedelte damit vor den Anderen und zeigte es ihnen. “Das ist anscheinend ein Tuch von Gwenn.”

„Das ist…“ Rhodan deutete mit offenem Mund auf das seidene Tuch in Metas Hand. „Das ist ihr Tuch! Wie kommt es dort auf den See? Ist sie etwa vor dem Scheusal in den See geflüchtet? Ist sie ertrunken? Gwenn? GWENN?!“, brüllte der große Mann.

Doch er erhielt keine Antwort.

***

Während ein Teil der Gruppe diskutierte und der andere nach Spuren suchte, war der jungen Ingra-Geweihten von Kalman aufgetragen worden, den Leichnam zu untersuchen. Ausgerechnet derjenigen, welcher beim Anblick der Leiche schummrig geworden war… “Bis gleich…”, murmelte sie Darian kaum hörbar zu, stellte sich spontan auf die Zehenspitzen und drückte ihn noch einmal kurz etwas fester. Dann wandte sie sich vorsichtig in Richtung des Leichnams und schritt langsam auf diesen zu.

Es stand ihm nicht zu, sie aufzuhalten. Doch gleichsam hielt Darian es nicht für eine gute Idee, Imelda damit zu betrauen. Er würde sie zumindest begleiten - und so auch selbst einen Blick auf die Lage werfen.

Noch immer lag die Leiche an den Baum gelehnt, eine Hand auf eine klaffende Bauchwunde gepresst, die andere (die, die zuvor die Kiste hielt) geöffnet neben sich liegend. Nachdem Rahjel das Tuch von seinem Kopf entfernt hatte, blickten seine schwarzen Augen in eine götterlose Leere. Der Schrecken stand ihm noch im Tod ins Gesicht geschrieben, der Mund war zu einem tonlosen Schrei verzerrt. Der Mann musste einst ein stolzer Krieger gewesen sein, doch davon war nun nicht mehr viel zu erkennen.

Imelda schluckte, nahm all ihren Mut zusammen und näherte sich mit sichtlich angewiderter Miene dem leblosen Körper. Sie nahm ihre kleine Laterne vom Gürtel und leuchtete dem Toten ins Gesicht. War dort abgesehen von der gruselig anmutenden Fratze etwas Ungewöhnliches zu erkennen?

Als sich Imelda dem Körper langsam näherte, wurde das Licht in ihrer Laterne fast unmerklich schwächer. Quer über die rechte Gesichtshälfte des Mannes zog sich eine alte, längst verheilte Narbe von der Augenbraue über die Wange bis zum Kinn. Die rechte Augenhöhle war leer. Sein schlohweißes, einst ordentlich geschnittenes Haar und der ursprünglich gestutzte Bart waren inzwischen etwas verwachsen. Ansonsten war der Mann weitestgehend gepflegt. Er schien Wert auf Reinlichkeit zu legen und sein Körper strömte einen Geruch nach verschiedenen Duftwässern aus.

Hatte der Mann das Auge verloren, als man ihm die Narbe zugefügt hatte? War er einen Pakt eingegangen, der ihn das Auge gekostet hatte? Doch weshalb trug er keine Augenklappe? Wollte er furchterregend wirken oder legte er keinen Wert auf seine äußere Erscheinung? Aber ansonsten machte er ja einen nicht unansehnlichen Eindruck und mit den Duftwässern schien er es eher übertrieben zu haben. Imelda atmete einmal tief durch und beleuchtete flüchtig mit der Laterne das Innere des Auges, versuchte aber doch lieber nicht zu genau hinzusehen.

Als sie sich dem Gesicht näherte, bemerkte sie, dass Vinsalter und Puniner Duftwässer wohl einen anderen, deutlich unangenehmeren Geruch, den sein Körper verströmte, übertünchen sollten.

Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Körper des Toten. Da sie sich mit Waffen auskannte, versuchte sie zu erkennen, was für eine Art von Verletzung hier genau zu erkennen war.

Vorsichtig hob Imelda die rechte Hand des Mannes von seiner Bauchwunde. Ein typischer tiefer Schnitt, wie er von einem scharfen Schwert geschlagen wird, hatte nicht nur seinen Lederharnisch, sondern auch die schützende Haut seines Bauches aufgeschlitzt und die Eingeweide des Mannes getroffen. Ein einzelner Hieb, kraftvoll und zielsicher platziert, hatte seinem Leben ein Ende bereitet, wenn auch nicht sofort. Sein Blut hatte seine Kleidung rot verfärbt.

Imelda ließ die Hand des Toten wieder los und schaute, ob dieser irgendwelche Taschen oder Beutel bei sich trug. Derweil fragte sie nachdenklich den Ritter neben sich: "Riechst du das auch, Darian? Also, ich meine nicht das intensive Duftwässerchen, da ist noch etwas… anderes an ihm, oder?” Sichtlich angeekelt verzog sie das Gesicht, rang sich aber dazu durch, den Leichnam nach Habseligkeiten zu durchsuchen, die dieser am Körper tragen mochte.

“Geronnenes Blut? Die Ausdünstungen seines Inneren? Allerdings ist der Geruch nach Duftwasser extrem stark.”

Darian warf ebenfalls einen Blick auf den Toten.

“Vermutlich von einem Rapier oder Degen, denke ich”, sagte er und deutete auf die Narbe.

“Die Wunde, die ihm sein Ende bereitet hat, kommt aber eher von einem Schwert oder einer Axt, möchte ich meinen.”

Der Tote trug an der linken Seite eine kleine Ledertasche, die mit einem dünnen Lederriemen über die linke Schulter hing und sich so verschoben hatte, dass sie nun unter dem Rücken des Mannes hing. An seinem Gürtel hing neben der Schwertscheide und einem Halfter für Wurfmesser eine kleine Geldkatze. Aus einer Tasche seines Wams, den er über der Rüstung trug, hing ein inzwischen blutgetränktes Taschentuch, in einer anderen Tasche war ein zusammengefaltetes Pergament, das ebenfalls inzwischen Blutflecken aufwies.

“Sieh einer an. Vielleicht verrät uns das hier etwas.” Der Ritter beugte sich vor und zog das Pergament hervor und faltete es auseinander, um zu lesen, was dort stand.

Das Pergament des Toten zeigte folgende Aufzeichnungen:

Imelda drängte sich etwas näher an den Ritter heran, um zu erkennen, was auf dem Zettel zu lesen war. “Ein Plan für den heutigen Tag…”, kommentierte sie zunächst erstaunt. “Schau’, der Baum wurde absichtlich gefällt! Meinst du, der Sturm war auch… geplant?” Sie runzelte nachdenklich die Stirn. “Und was ist mit dem ‘Tor’ gemeint?”

Wieder zeigten sie sich, die Zornesfalten in der Stirn. Und für einen Augenblick schien es, als wollte der Kämpe den Zettel in seiner Hand zerknüllen.

Seine Antwort klang bitter, düster, und voll von mühsam unterdrücktem Zorn. “Ob der Sturm geplant war, weiß ich nicht. Wer weiß, wozu die fähig sind oder nicht. Aber offenkundig waren sie sehr gut informiert, wenn sie wussten, für wie viele Reiter sie einen Hinterhalt legen mussten.”

Einmal mehr hielt er das Pergament hoch und betrachtete es.

“Was für ein Tor gemeint ist, weiß ich ebenfalls nicht. Aber diese Glyphe dort - ich glaube, so nennen Magier es - sieht mir nach faulem Zauber aus!”

Er blickte sich nach den anderen Gefährten um.

“Das sollten wir den anderen zeigen.”

”Natürlich sollten wir das!”, rief Imelda zustimmend. “Vielleicht weiß ja einer der anderen, was das alles zu bedeuten hat.”

***

Kalman führte Merle den Waldrand entlang, so dass sie sich in Richtung des östlichen Weges bewegten.

„Merle, ich möchte schauen, ob ich im Boden irgendwelche Spuren entdecke. Hufspuren, Fußabdrücke, Furchen von Wagenrädern, irgendetwas. Dazu musst du mir jedoch sagen, wo ihr lang gelaufen seid und von wo der Wagen kam.“ Kalman blickte immer wieder zum Boden, dann wieder in das Dickicht.

Merle nickte. "Der Karren stand hier am Waldrand, mit Wachstuch abgedeckt. Bernhelm wollte ihn wohl gestern nach der Wanderung nicht mehr ins Dorf mitnehmen und gleich für Gwenns Brautentführung nutzen", kurz schloss sie die Augen, als sie daran dachte, wie das schöne Fest sich in kurzer Zeit in einen Alptraum verwandelt hatte. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Bernhelm, der immer da gewesen war, jetzt tot sein sollte. Mit einem schweren Schlucken fasste sie sich und wies mit der Hand in Richtung Osten. "Rahjel und ich kamen da hinten aus dem Wald. Doratrava haben wir am Ufer gefunden, ungefähr dort. Und die beiden Pferde haben hier gegrast." Merle bezeichnete mit einer Handbewegung einen Bereich des Waldes zwischen den beiden Wegen. "Wir hatten da nur kurz geschaut, weil wir Doratrava nicht lange allein lassen und schnell ins Dorf bringen wollen. Deshalb haben wir die Pferde zum Karren geführt und die Warunker-Stute angespannt. Und als wir gerade über die Bachfurt wollen, haben wir die Dame von Kranickau entdeckt." Aufmerksam beobachtete Merle, wie ihr Schwager den Waldboden absuchte. "Wenn wir Nachtwinds Spuren folgen, dann finden wir vielleicht die Stelle, wo Gwenn vom Pferd abgestiegen ist."

“Ja, das können wir versuchen.” Kalman untersuchte mit hoher Aufmerksamkeit den Boden und betrachtete jede einzelne Spur, jeden Fußabdruck. Ihm fiel es schwer, seine Gefühle, seine Trauer und Angst zu unterdrücken. Doch er wusste, er musste einen klaren Kopf behalten, er musste stark sein, sonst hatten sie gar keine Chance, Gwenn zu finden. “Doch zuerst will ich schauen, ob ich frische Spuren am Waldweg entdecke. Weißt du Merle, wenn sie mit Pferden geflohen sind, haben sie vielleicht jenen Weg genommen, um ins Dorf zurückzukommen. Dann wurden sie von diesem Baum aufgehalten, der quer über dem Weg liegt, und wir finden sie bestimmt noch an Vaters Jagdschloss.”

"Aber du hast doch schon den anderen aufgetragen, dort am Weg zu suchen", wandte Merle ein. "Wenn wir die Stelle finden, an der Nachtwind ohne Gwenn weitergegangen ist, können wir nachvollziehen, in welche Richtung sie verschleppt wurde." In ihrer Stimme lag ein Anklang von Enttäuschung darüber, dass Kalman ihrem Vorschlag nicht folgte, sowie von Sorge, im zunehmend dämmrigen Licht selbst wichtige Spuren zu übersehen. "Ich werde jetzt gleich nach den Pferdespuren schauen."

“Ja, Merle, mach das”, war Kalman einverstanden. “Nur, von den anderen hat ja noch niemand den Weg untersucht. Aber sollte ich dort nichts finden, dann könnte uns deine Idee weiterbringen.” Mit diesen Worten richtete sich Kalman nach Osten dem schmaleren Waldweg zu.

Merle jedoch begann an der Stelle, an der sie und Rahjel die Pferde entdeckt hatten, deren Spur zurückzuverfolgen.

Allerdings fiel es ihr schwer, bei den vielen Huf- und Trittabdrücken an dieser Stelle etwas zu erkennen. Sie ignorierte alle Spuren, die zur Lichtung hinführten und bewegte sich stattdessen langsam in den Wald hinein, in die Richtung, aus der die beiden Pferde ihrer Meinung nach gekommen waren. Etwas verloren schaute sie sich um, ob jemand zu sehen war, den sie um Hilfe bitten könnte. “Wulfhelm”, rief sie den Sohn des Forstmeisters herbei, der ebenfalls in der Nähe suchte. “Kannst du mal kurz herkommen?”

Wulfhelm folgte Merles Ruf und ließ sich von ihr erklären, wonach sie suchte. Er kniete sich nieder, um die Pferdespuren an dieser Stelle zu untersuchen. Bald schon erkannte er etwas. Geduldig erklärte er Merle, dass die Hufspur eines der Pferde einen eindeutigen Makel aufwies. Hier war wohl ein Hufnagel nicht mehr vollständig in den Huf eingeschlagen und hinterließ markante Abdrücke im aufgeweichten Boden. Das Pferd müsse unbedingt ganz dringend dem Hufschmied zugeführt werden, bevor es zu lahmen anfing. Das andere Pferd war wohl ordentlich beschlagen. Hier hinterließen die Abdrücke jedoch auch ein Zeichen, eine Besonderheit, die das Hufeisen einem bestimmten Stall zuordnete. Wulfhelm erklärte, dass dies an manchen Höfen so üblich sei.

Bewundernd blickte Merle den jungen Mann an, sichtlich beeindruckt, was dieser aus den zertrampelten Hufabdrücken alles herauslesen konnte. “Die Pferde hier bei uns haben andere Hufeisen, oder?” murmelte sie mit gerunzelter Stirn. “Dann muss das ein besonderes Eisen vom gräflichen Hof sein… Kannst du erkennen, von wo Gwenns Stute gekommen ist?”

Wulfhelm blickte sich um und versuchte den Spuren zu folgen. Es schien, als hätten die Pferde sich am Waldrand ein wenig hin- und herbewegt, mal etwas weiter in den Wald hinein, dann wieder an den Waldrand. Schließlich deutete Wulfhelm an eine Stelle zwischen Bachlauf und Fundort der Pferde, wo die Spuren von der Lichtung her in den Wald wiesen. Hier schienen sie hergekommen zu sein.  

Wortlos bedeutete ihm Merle, den Spuren weiter in den Wald hinein zu folgen. "Irgendwo muss die Stelle kommen, wo Gwenn abgestiegen ist." 'Oder brutal vom Pferd gerissen wurde', kam ihr unweigerlich in den Sinn, doch verzichtete sie darauf, ihre düsteren Gedanken laut auszusprechen.

“Ich bin mir sicher, die Pferde kamen ohne Reiter von der Lichtung in den Wald”, wies Wulfhelm in die entgegengesetzte Richtung als Merle.

Verwirrt kniff Merle die Augen zusammen. "Hm, wirklich? Die Pferde waren auf der Lichtung?" Als Rahjel und sie die Lichtung betreten hatten, hätten sie die Tiere nicht gesehen haben müssen? Aber vielleicht waren die Rösser ja bereits vorher im Wald verschwunden. Sie seufzte leise. "Na gut, lass' uns versuchen, Nachtwinds Spur über die Lichtung zu folgen."

Dies gestaltete sich recht schwierig, da die inzwischen doch recht große Zahl an Menschen und Pferden auf der Lichtung das Gras weitflächig niedergetrampelt hatte. Dennoch glaubte Wulfhelm, eine Stelle in der Nähe des Seeufers gefunden zu haben, von wo aus die Pferde losgaloppiert waren. Der vermeintlichen Spur folgend noch ein Stück weiter zurück, unweit der Stelle, an der die tote Plötzbognerin lag, entdeckte er am Ufer eine Stelle, an der neben den Hufspuren auch Fußabdrücke in den Boden gedrückt waren, tiefer, als wenn man lediglich auf dem Boden läuft.

“Glaubst du, hier wurde Gwenn vom Pferd geholt?” fragte Merle leise, während sie die Fußspuren betrachtete. “Aber wo sind sie dann mit ihr hin?”

“Abgestiegen oder heruntergezerrt. Schwer zu sagen. Zwei Spuren weisen zum See, eine zum Weg”, gab Wulfhelm seine Gedanken preis.

“Zum See?” murmelte Merle mehr zu sich selbst. Nachdenklich starrte sie auf das sich ruhig kräuselnde Wasser. “Warum sollten sie Gwenn zum See gebracht haben?” Sie schluckte, als sie sich vorstellte, wie ein Scherge ihre arme Schwägerin gewaltsam unter Wasser drückte, um sie in den Fluten zu ertränken. Schmerzvoll verzog sie das Gesicht, sagte aber nichts mehr.

***

Kalman hatte derweil am Übergang der Lichtung zum anderen Waldweg nach frischen Spuren gesucht. Zwar war am Vorabend hier die Gesellschaft der Nachtwanderung langgegangen, doch da war der Boden noch trocken und hart gewesen. Inzwischen hatte der Regen ihn aufgeweicht und alte Spuren weggespült. Neue, frische Spuren hätte man leicht entdeckt, insbesondere, wenn jemand zu Pferd hier entlang geritten wäre. Doch davon war nichts vorhanden. So gab Kalman schließlich enttäuscht auf und ging zu den anderen zurück. Vielleicht hatten ja wenigstens diese brauchbare Spuren gefunden.

***

Zurück bei der übrigen Brautsuchern pfiff Kalman laut mit zwei Fingern, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken.

“Hat irgendjemand einen brauchbaren Hinweis auf den Verbleib meiner Schwester gefunden? Gibt es einen Hinweis, wo die Schergen sie hinverschleppt haben könnten?” fragte Kalman laut in die Runde, als er sich der Aufmerksamkeit aller sicher war.

Merle trat zögerlich vor und räusperte sich. Sie mochte es nicht, vor Menschengruppen zu sprechen, doch brannte es ihr unter den Nägeln, Kalman von den Spuren zu berichten. "Ähm... wir... also Wulfhelm und ich, wir sind den Spuren von Gwenns Pferd gefolgt. Ihre Stute trägt besondere Hufeisen. Dort drüben", sie zeigte schüchtern auf eine Stelle nahe des Seeufers, "...da scheint sie vom Pferd gezerrt worden zu sein. Und dann gehen zwei Fußspuren zum See hin." Sie schluckte, brach ab und blickte zu Wulfhelm, ob der Sohn des Forstmeisters etwas hinzuzufügen hatte.

Doratrava schreckte auf, als Kalmans Pfiff ertönte. Sie hatte es sich, so gut es ging, zwischen den Kisten auf dem Wagen bequem gemacht und war fast schon am Eindösen gewesen, da sie nichts tun konnte und der Schmerz in ihrem Bein zu einem dumpfen Pochen abgeklungen war, solange sie es nicht belastete. Die plötzliche Bewegung sandte neuerliche Dolche durch ihr Inneres und ließ sie aufstöhnen.

Dann hörte sie die Worte Kalmans und Merles zögerlichen Bericht. Sie folgte deren Geste zu der Stelle, wo Gwenn vielleicht abgestiegen war. Wenn sie durch ein Limbustor entführt worden war, konnte das überall geschehen sein, also auch dort. Aber sie blieb stumm, da sie außer Vermutungen nichts beitragen konnte.

Der Ritter der Dame Morgenrot trat vor.

“Das hier trug der Tote bei sich”, sagte er grollend und hielt das Pergament hoch, das er entdeckt hatte. Seine Miene war finster.

“Es ist ein Zeichen darauf, das wie eine Magierglyphe aussieht. Zauberwerk übler Dämonenknechte! Und das Pergament zeigt, dass die Angreifer bestens im Bilde waren …”

Kalman nahm das Pergament an sich und studierte es, wobei er zuließ, dass auch andere daraufschauen konnten. „Hm, was könnte mit diesem Tor gemeint sein? Hier gibt es doch kein Tor! Und kennt irgendjemand dieses Zeichen?“

Doratrava richtete sich ein wenig auf und sagte: “Limbustor. Vermutlich ist ein Tor in den Limbus gemeint, wie ich vorhin schon erklärt habe. Um Gwenn schnell irgendwohin, weit weg, zu bringen.”

“Stimmt”, erinnerte sich nun Kalman. “Ihr erwähntet vorhin bereits die Möglichkeit, Gwenn könnte durch den Limbus entführt worden sein. Ihr kennt Euch damit aus? Könnt Ihr das erklären, Doratrava?”

“Hm, naja …”, antwortete die Gauklerin zögerlich, “für eine richtige Erklärung müsstet Ihr wohl Gudekar fragen. Aber so, wie mir das mal gesagt wurde, stelle ich mir das so vor: Wir leben hier in einem großen Haus, genannt Dere, und das hat ganz viele Türen, die sind aber normalerweise alle abgeschlossen. Diese Türen führen hinaus in einen riesigen Garten oder Park. Da gibt es noch andere Häuser, weiter weg, die nennt man dann Globulen, aber um die geht es jetzt nicht. Sondern man kann, wenn man den richtigen Schlüssel hat, eine der Türen in den Garten öffnen, dann ein Stück durch den Garten laufen und dann, wieder mit dem richtigen Schlüssel, in das Haus Dere zurückkehren und ist dann ganz woanders. Und der Garten hat auch noch zwei andere Eigenschaften: da scheint keine Sonne, da ist es also stockfinster, außer man weiß, wie man da Licht macht. Und man kann sich in dem Garten viel schneller bewegen als im Haus, so dass man innerhalb von ein paar Augenblicken hunderte Meilen entfernt ankommen kann. Ach ja, es soll in dem Garten aber auch wilde Tiere geben, sprich Dämonen, die einen fressen, wenn man nicht aufpasst. Ähm … war das soweit verständlich?” Doratrava schaute ein wenig verlegen, weil sie natürlich nicht so tolle Begriffe verwenden konnte wie die Magier und sich das alles irgendwie für ihre Vorstellungswelt zurechtgebogen hatte.

Kalman gefiel der Vergleich nicht, doch er hatte zu wenig Kenntnisse von diesen madaverfluchten Magierdingen, als dass er sich vorstellen konnte, was das bedeutete. Er wollte gerade nachfragen, ob dies bedeutete, dass sie keine Chance mehr hatten, Gwenn zu finden, als seine junge Schwägerin genau diesen Gedanken aussprach.

"Aber...", murmelte Merle mit ungläubig geweiteten Augen und schwacher Stimme, "...das würde ja heißen, dass Gwenn hunderte von Meilen weit verschleppt wurde? Dann finden wir sie niemals wieder..." Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie schluckte und begann wieder zu schluchzen. "Ich hätte sofort zu ihr gehen müssen, als ich den verdammten Brief gelesen habe... Wenn ich sie gewarnt hätte, dann hätte sie diese blöde Brautentführung abgesagt…" Das tränennasse Gesicht der jungen Frau war von Schmerz und Schuldbewusstsein verzerrt. "Warum bin ich nicht gleich zu Gwenn gerannt?! Dann wäre sie noch in Sicherheit! Jetzt tun ihr diese Schweine sonst was an und es ist alles meine Schuld!"

Irritiert blickte Kalman zu Merle. Er war sich nicht sicher, ob er verstanden hatte, was sie meinte und wollte gerade Luft holen, um nachzufragen, als sich eine andere junge Frau zu Wort meldete.

Meta hatte keine enge Bindung zu Gwenn und irgendwie war ihr nach dem heutigen Tag der Geweihte, der vor zwei Götterläufen spurlos verschwand, sympathischer, als Gudekars Schwester. Sie fand sich recht schnell mit ihrem Schicksal ab. “Hier, das hab ich im See gefunden. Es gehörte wohl Gwenn.” Sie streckte den Fetzen Tuch empor. Die Suche nach der Braut war beendet.

Kalman hatte seine Hand erhoben, Meta deutlich zu machen, dass sie einen Moment abwarten sollte, denn zunächst wollte er Merle trösten und gleichzeitig fragen, welchen Brief sie meinte, als die junge Tänzerin sich bereits um Merles Trost zu kümmern begann.

Doratrava schwang sich über den Rand des Wagens und humpelte mühsam zu Merle, um sie in die Arme zu schließen. Es war ihr egal, was die anderen dachten. "Hör auf, Merle", murmelte sie. "Du bist an gar nichts schuld. Auch wenn Gwenn Bescheid gewusst hätte, auch wenn es keine Brautentführung gegeben hätte, hätte der Pruch einen anderen Weg gefunden, uns zu schaden. Hör auf, dich dafür verantwortlich zu machen. Der Pruch ist schuld, sonst niemand!"

Kalman, der ähnlich dachte, wollte gerade Doratravas Worte bestätigen und dann nach jenem ominösen Brief fragen, als seine Schwägerin weiter auf ihre Schuld beharrte.

Merle drückte Doratrava wie eine Ertrinkende an sich, schüttelte bei ihren tröstenden Worten aber mit noch immer erschütterter, reumütiger Miene den Kopf. Ihr Gesicht war kreidebleich und sie zitterte leicht. "Es ist meine Schuld! Das war ein geplanter Hinterhalt.” Verzweifelt wies die junge Frau auf das blutige Pergament. "Hätte ich Gwenn gewarnt, wäre sie im Gutshaus geblieben - dann wäre das alles nicht passiert! Dann wäre sie jetzt nicht verloren!"

Als Kalman nun endlich das Wort ergreifen wollte, wurde ihm bewusst, dass seine Frage nach dem Brief die Wunde auf Merles Seele weiter aufreißen würde. Deshalb ließ er zunächst schweigend zu, dass die Gauklerin Merle weiter zu beruhigen versuchte.

Doratrava streichelte sanft Merles Rücken. "Schhh ... du machst dich verrückt, Merle, bitte nicht. Nur der Pruch ist schuld. Und ja, wir werden Gwenn jetzt nicht mehr finden, da wir keinerlei Anhaltspunkt haben, wo die 'Tür’ ist, die der Pruch genommen hat. Ich habe keine Ahnung, ob ein Magier in diesem 'Garten' Spuren lesen kann, um im Bild zu bleiben, so dass wir vielleicht doch die richtige 'Tür' finden könnten. Das müssten wir vielleicht auch Gudekar fragen, aber soviel ich mitbekommen habe, ist der auch kein Limbus-Spezialist. Vielleicht können wir aber auch herausfinden, ob der Pruch hier noch jemanden hat, der ihm Informationen übermittelt. Irgendwoher musste er solche ja haben, sonst hätte er doch gar nicht so genau planen können. Und der oder die weiß dann ja vielleicht auch mehr." Doratrava machte diese Vorschläge hauptsächlich, um Merles Geist abzulenken, nicht, weil sie viel Hoffnung hatte, wirklich etwas herauszufinden.

Kalman spann Doratravas Gedanken weiter. Er musste an den gefundenen Plan der Paktierer denken und an den dort erwähnten Knecht M.B. – Marno Bächerle. Konnte es sein, dass Wiltruds Sohn, der Stallbursche der Weissenquells, die Familie verraten hatte? Kalman wollte diesen Gedanken gerade aussprechen, als Gwenns Verlobter sich zu Wort meldete.

„Und was ist, wenn sie dieses Tor in den Limbus nicht durchschritt?“, fuhr Rhodan plötzlich dazwischen. Der Händler war, nachdem er das Tuch in den Händen der jungen Ritterin gesehen hatte, eine Weile auf und ab getigert und hatte gegrübelt. Seine Hand am Kinn hatte er alle Möglichkeiten wieder und wieder durchforstet. Wie konnte das alles nur geschehen? Warum seine Liebste? „Sie…sie…könnte in den See geschleift worden und ertrunken sein. Wir müssen das Wasser und den Grund des Sees nach ihr absuchen.“ Doch Vinja protestierte: „Meinst du…nicht… Rhodan…dass du falsch liegst? Dass sie wirklich verschwunden ist?“

Kalman hoffte, dass Vinja richtig lag und nicht Rhodan. Dann gab es noch eine Chance, dass Gwenn lebte, dass sie Pruch aufspüren und seine Gefangene befreien konnten, wenn auch nicht jetzt und hier. Kalman holte tief Luft, um seine Entscheidungen kund zu tun und allen Anwesenden Anweisungen zu geben, Aufgaben zu verteilen, als erneut die Gauklerin das Wort ergriff.

“Aber Meta ist doch schon im See herumgewatet, meint Ihr nicht, sie hätte Gwenn schon gefunden, wenn sie ertrunken wäre? Und ist verschwunden nicht besser als tot?”, versuchte Doratrava den Bräutigam irgendwie zu beruhigen. Warum nahmen hier alle immer nur das Schlimmste an? Wirkte hier noch ein Einfluss des Frevlers? Ausschließen konnte sie das nicht, aber sie zog es vor, das für den Moment zu ignorieren. “Der Paktierer hat Gwenn nicht entführt, um sie umzubringen. Aber natürlich kann es trotzdem nichts schaden, hier alles abzusuchen.” Sie machte eine resignierte Geste um sich herum.

Erleichtert nahm Kalman Doratravas Einschätzung zur Kenntnis. Sie schien das zu vermuten, worin seine eigene Hoffnung lag. Sie war doch schon länger mit den Machenschaften des Paktierers konfrontiert, hatte bereits Erfahrungen mit seinem Handeln gesammelt. Sie MUSSTE einfach Recht haben. Kalman sammelte sich und wollte zu reden anfangen, als er in der Erwartung stockte, erneut unterbrochen zu werden.

Doch er registrierte, dass dies nicht der Fall war. Anscheinend wartete man nun auf seine Entscheidung. “Merle, Rhodan, ich bin sicher, die Gauklerin hat Recht in ihren Worten. Dann werden wir den Frevler aufspüren und Gwenn befreien. Und dieser Pruch wird meine Rache zu spüren bekommen. Er wird darum betteln, den reinigenden Flammen der Inquisition übergeben zu werden. Doch fürchte ich, können wir hier und heute wenig unternehmen. Es wird gleich endgültig dunkel, und es sind noch die toten Lützeltaler zu bergen. Dennoch, und sei es nur, um uns zu beruhigen, sollten wir noch einmal auch die tieferen Stellen im See durchwaten, um nicht Gwenn zu übersehen, sollten sich Rhodans Befürchtungen bewahrheiten. Aber Merle, eine Frage habe ich noch an dich: Es ist eine Tatsache, dass du keinerlei Schuld an dem hast, was heute vorgefallen ist. Der Feind hatte einen Plan, den er verwirklicht hat. Und selbst, wenn du irgendjemanden vorher gewarnt hättest, ein Feind wie dieser hat stets einen Alternativplan parat. Dann hätte jener geklappt, und du hättest dir die gleichen Vorwürfe gemacht, dein Handeln hätte jenen Plan begünstigt. Du trägst keine Schuld! Und dennoch, sage mir, von was für einem Brief hast du geredet? Welchen Brief hast du Gwenn nicht gezeigt?”

Merle schluckte. “Da kam dieser Brief, der eigentlich an Gudekar adressiert war… Gwenn und ich wollten ihn öffnen; deshalb waren wir vorhin bei dir in der Schreibstube…” Sie errötete sichtlich, schaffte es nicht mehr, Kalmans Blick standzuhalten und senkte verlegen das Haupt.

„Alles gut, mein Liebes!“ versuchte Kalman Merle zu beruhigen.

“Aber du hattest ja noch was mit Gwenn zu besprechen und da hab ich den Brief allein geöffnet. Da drin stand, dass die Braut vom Radulf von Grundelsee brutal ermordet wurde. Der Radulf ist ein Gefährte von Gudekar und er wollte jetzt auch heiraten… Ich bin dann damit zu Tsalinde und Doratrava und dann nach der Rückkehr der Jagdgesellschaft auch zu Vater Friedewald und deshalb hat er ja auch die große Versammlung im Gutshaus einberufen…”, nach den vielen Worten, die sie aufgeregt und hastig herausgebracht hatte, schnappte Merle nun schnell nach Luft, “...aber ich hätte als allererstes Gwenn warnen müssen! Wenn sie gewusst hätte, was dieser Tabea zugestoßen ist, dann wäre sie unter dem Schutz der Rittersleute geblieben. Dann wäre ihr bestimmt nichts zugestoßen!" Weinend starrte sie auf den Boden und wagte es nicht mehr, nach oben zu schauen.

Kalman ging auf Merle zu und nahm sie tröstend in den Arm. Dabei schaute er Doratrava kurz an, um ihr deutlich zu machen, dass es jetzt an ihm war, Merle Halt zu geben. Ihm, als zukünftiges Familienoberhaupt. Diese ließ Merle widerstrebend los und humpelte einen Schritt nach hinten, die Hände in einer schicksalsergebenen Geste hebend. Tröstend sprach er mit sanfter Stimme: „Es ist schon gut, Liebes. Du hättest nichts tun können. Gwenn hat unser Gespräch sehr schnell unterbrochen und ist dann weggegangen. Sie wollte selbst mir nicht sagen, was sie vorhatte. Vermutlich ging es ihr um die Brautentführung. Du hättest Gwenn nicht mehr gefunden.“ ‚Insbesondere‘, dachte Kalman weiter, ‚wenn Marno sie verraten hat.‘ „Und du hast Vater unterrichtet. Das war richtig. Alles andere hätte er übernehmen müssen.“

„So ist es“, bestätigte der Verlobte ohne Gram. „Ich hätte die Hochzeit unter den Vorzeichen absagen und auf Herrn Lares hören sollen. Dieser Brief allein war doch keinesfalls ausschlaggebend. Ich bin ehrlich: Hätte ich gehört, dass die Braut des Herrn von Grundelsee ermordet wurde - ich hätte mich in dumpfer Sicherheit gewogen, dass der Übeltäter fern der hiesigen Lande weilte.“

"Ich hab den Brief gleich geöffnet, nachdem ich bei dir aus der Schreibstube raus war", murmelte Merle bekümmert, während sie sich an Kalman klammerte. "Wenn ich da sofort losgerannt wäre, hätte ich Gwenn bestimmt noch erwischt, zumindest am Stall…" Durch einen Tränenschleier starrte sie auf das sanft ans Ufer schwappende Wasser des Sees, dann wandte sie sich sichtlich aufgewühlt an Rhodan: "Bei dem Brief hab ich sofort an Gwenn gedacht und Angst um sie bekommen. Aber irgendwie hab ich dann doch nicht geglaubt, dass so etwas wirklich passieren könnte. Ich kann es immer noch nicht richtig fassen… und ein Teil von mir denkt, Gwenn müsste jeden Moment zurückkommen und alles wäre nur ein schlechter Scherz…" Sie schluchzte erneut laut auf. "Oh, Rhodan, es tut mir so leid!"

„Mir auch“, bestätigte der seiner Braut beraubte Bräutigam. „Ja, mir auch. Jetzt müssen wir sie wiederfinden.“  

„Nun gut, Merle“, versuchte Kalman ein letztes Mal, Merle von ihren Schuldgefühlen abzubringen. „Es ist müßig, darüber zu sinnieren, was unter welchen Umständen hätte sein können. Letztlich war es Gwenns Entscheidung nicht nach dir zu sehen, um den Brief zu öffnen und trotz des aufziehenden Sturms die Brautentführung durchzuführen. Du kennst Gwenn, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, können keine zehn Pferde sie von ihrem Vorhaben abbringen. Mich wundert es“, versuchte Kalman mit einem missglückten Versuch eines Scherzes die Stimmung zu heben, „dass Gwenn den Paktierer nicht am Ende überredet hat, mit ihr und uns zu feiern statt sie zu verschleppen.“ Doch lachen konnte er selbst über diesen Scherz nicht.

Merle verzog den Mund zu einem bemühten Lächeln, mehr einer verkrampften Grimasse, sagte aber nichts mehr. Sie merkte selbst, wie sehr sie gerade neben sich stand und wusste, sie würde erst wieder richtig lächeln können, wenn sie Gwenn lebend und wohlbehalten in die Arme schließen konnte.

Zaghaft trat Doratrava wieder nach vorne und nahm Merles Hand in die ihre, um sie sanft zu drücken und ihr mit dem Daumen über den Handrücken zu streicheln. Sie versuchte nicht nochmal, auf ihre Geliebte einzureden, das hatte vermutlich keinen Sinn, obwohl Merles Schuldgefühle widersinnig waren. Mit dem gleichen Recht hätte man Rhodan bezichtigen können, schuld zu sein. Hätte er Gwenn nicht heute heiraten wollen, hätte es kein Fest gegeben und sie wäre mit ziemlicher Sicherheit nicht entführt worden. Und so konnte man das immer weiter spinnen. Aber Merle wollte das im Moment zumindest nicht verstehen, sie wollte schuld sein, warum auch immer, also blieb ihr nichts, als dieser ihren Trost anzubieten.

Der Händler schüttelte den Kopf. „Das wäre nicht einmal mir gelungen. Wer nur für den Schmerz lebt, dem bedeuten Worte nichts. Lassen wir ihn den Schmerz spüren, den er über uns gebracht hat.“

Lange schwieg die sonst so gesprächige Ingrageweihte. Sie wunderte sich, warum ihre Freundin Meta den Sturm von vornherein als verdächtig angesehen hatte. Schon seitdem die ersten Wolken zu erkennen gewesen waren, hatte Meta die gesamte Zeit sehr unruhig gewirkt. Hatte die Ritterin bereits einen weiteren Hinweis erhalten oder war sie schon so erfahren mit den Machenschaften des Pruchs, dass sie dessen Pläne treffsicher vorhersagen konnte?

Imelda schüttelte diese Gedanken ab und hob ihre kleine heilige Laterne vor ihr Gesicht, während die Flammen im Inneren wie auf Befehl hell zu prasseln begannen. “In der Tat wird es dunkel!”, rief sie laut heraus. “Wer auch immer nach dem Tor in der Dunkelheit sucht, benötigt Licht! Das heilige Feuer Ingras wird euch helfen, genug zu erkennen. Wenn es ein Tor da draußen gibt, dann werden wir es jetzt finden.”

Meta hatte sich leise zurückgezogen. Sie ging zu dem Wagen, fand dort eine Decke, in die sie sich wickelte und betrachtete die Gefährten. Sie begann, zu grübeln.

Kalman blickte zu Imelda. “Ihr meint, Ihr könntet erkennen, wenn der Feind meine Schwester in den Limbus gezogen hat? Dann tut, was Ihr könnt!”

Merle, die immer noch sehr bleich war und Doratravas Hand krampfhaft umklammert hielt, hatte sich soweit gefangen, dass sie Imeldas Tun interessiert beobachtete. Die hell auflodernde Laterne der Geweihten schien auch ihr wieder einen Funken Hoffnung zu geben. "Ach, Kalman", meldete sie sich zaghaft. "Hattest du nicht gesagt, dass wir noch einmal durch den See waten sollten? Ich… ähm, biete an, das zu übernehmen. Von gestern weiß ich noch ungefähr, wo die tieferen Stellen sind."

“Sehr recht, mein Liebes! Das könnte in der Zeit gemacht werden. Traust du dir das zu, Merle? Ich meine, nur im Falle, …” Kalman brach den Satz ab.  

Merle nickte entschlossen, wenn auch mit schmal zusammengepressten Lippen, und machte sich daran, ihren Rock, der ihr ohnehin nur noch in Fetzen bis zum Knie ging, an den Oberschenkeln hochzuknoten. Sie zog schnell ihr Schuhwerk aus und stapfte kurzentschlossen ins Wasser hinein. Eigentlich wollte sie nicht darüber nachdenken, was sie hier tat, um sich selbst erst gar keinen Beweggrund zum Zögern zu erlauben.

Obwohl Doratrava sich ziemlich sicher war, dass es im See nichts mehr zu finden gab, schaute sie Merle besorgt nach. Wäre sie nicht verletzt, hätte sie sich selbst angeboten oder wäre zumindest bei Merle geblieben, aber so blieb ihr nur, wieder zum Wagen zu humpeln und sich herauszuziehen und von dort den See im Auge zu behalten.

“Nun, dann begleite ich dich ins Wasser, Merle”, verkündete die Hadinger Geweihte und hob ernst ihre Laterne in Richtung der jungen Dame. “Beeilen wir uns, bevor es noch dunkler wird.” Erst jetzt begann Imelda darüber zu sinnieren, dass sie in recht kaltes Wasser musste und dabei vermutlich auch ihre enge braune Lederhose ausziehen. Ob der Spanner sie wieder beobachten würde? “WULFHELM!”, rief sie dem Sohn des Forstmeisters in voller Lautstärke entgegen. “KOMM’ GAR NICHT AUF FALSCHE GEDANKEN, UNS ZU BEOBACHTEN, WIE WIR HALB NACKT INS WASSER STEIGEN!!!”

Wulfhelm winkte nur ab und begann, sich kurz mit Kalman zu besprechen.

Merle blickte die Geweihte leicht verwirrt an und trat dann vorsichtig an diese heran. “Ähm, soll ich Euch kurz die Laterne halten?”

“Wie? Achso, ähm... Ja, vielleicht…” Unsicher sah Imelda zu Darian, welcher bei den anderen stand, dann wieder zu Merle. “Eigentlich wäre jemand, der ein Tuch hält, vielleicht wichtiger”, erklärte sie und trat verschwörerisch an die junge Dame heran. “Siehst du den Wulfhelm da hinten?”, flüsterte sie gut hörbar und deutete auf den Jungen. “Der hat letzte Nacht alle heimlich beobachtet, hinter einem Baum, als sich einige Leute unbekleidet ins Wasser begeben haben.”

Mit gerunzelter Stirn musterte Merle die junge Ingra-Geweihte. “Euer Gnaden, wie ich Euch gestern schon versichert habe, ist Wulfhelm größtenteils harmlos.” Sie rang sich ein zartes, schiefes Lächeln ab. “Nein, im Ernst, er ist ein absolut ehrenhafter und anständiger Mann, seid Euch das versichert.” Auch wenn sie Imeldas Prüderie etwas irritierend fand, gerade angesichts der Notlage, in der sich Gwenn befand, rannte sie ohne Zögern wieder aus dem Wasser heraus, holte geschwind eine Decke vom Karren und breitete diese zwischen beiden Armen aus, so dass die Hadingerin dahinter von allen Blicken geschützt ihre Hose ablegen und in den See steigen konnte. Sie hatten nun wirklich keine Zeit für die wunderlichen Marotten dieser Geweihten. “Wasser ist nicht Euer Element, was?” bemerkte sie angesichts von Imeldas skeptischem Blick.

Imelda verdrehte ein wenig die Augen. “Kaltes Wasser ist nicht mein Element!”, erklärte sie ernst, als sie mit den Füßen in den See hinein stapfte. “Das ist ja eisig!”, rief sie noch lauter aus. Nur der Umstand, dass sie Gwenn retten wollte und dass der Ritter Darian sie so sehen könnte, ließ sie schnell tiefer in den See huschen. Unter ständigen Klageschreien bewegte sie sich weiter hinein, bis sie zur Hüfte im Wasser war und mit ihrer heiligen Laterne die Wasseroberfläche ableuchtete. Durch das eisige Nass watend hoffte sie, im Wasser etwas Ungewöhnliches zu erkennen und beobachtete dabei ganz genau, ob sich das heilige Feuer in seiner Intensität veränderte. Leise murmelnd betete sie zu ihrem Gott. Wenn hier irgendetwas Unheiliges war, würde die Laterne flackern oder dunkler werden.

Merle legte die Decke, die sie für Imelda ausgebreitet hatte, am Ufer neben ihren Schuhen ab und watete ebenfalls wieder hinein. Konzentriert ging sie die Stellen ab, wo der See etwas tiefer war, versuchte im schwindenden Abendlicht etwas unter der Oberfläche zu erkennen und durchsiebte gleichzeitig mit gespreizten Händen das kühle, weiche Wasser, in der Hoffnung, darin etwas zu ertasten. Oder vielmehr in der Hoffnung, nichts zu finden. Immer wieder spielten ihre Sinne ihr einen Streich und sie glaubte, mit Händen und Füßen etwas im Wasser zu fühlen, doch stets waren dies nur Wasserpflanzen oder Algenschlieren. Konnte es wirklich sein, dass Gwenns lebloser Körper hier irgendwo in den dunklen Fluten trieb? Nein, eigentlich glaubte sie dies nicht. Der Scherge hatte gesagt, dass sie bei seinem Herrn war. Und Merle glaubte zu fühlen, dass Gwenn am Leben war, dass ihr Herz noch schlug, angstvoll zwar und verloren, doch noch immer auf Rettung harrend und hoffend. Unwillkürlich hatte sich die junge Frau wieder in Richtung der Ingra-Geweihten bewegt, die ihre kleine Laterne dicht über die Wasseroberfläche führte. "Seht Ihr etwas, Euer Gnaden?"

Zu Merles Beruhigung konnte sie im See nichts erspüren, was dort nicht hingehörte. Und schon gar keinen toten, kalten, leblosen Körper. Als Imelda sich der Stelle näherte, an der Meta das Taschentuch herausgefischt hatte, begann ihre Laterne auf einmal unglaublich hastig zu flackern.

“Schaut!” flüsterte Merle und starrte argwöhnisch auf das flackernde, zitternde Licht. “Was bedeutet das?”

Die Geweihte schüttelte den Kopf. “Ich kann nichts Ungewöhnliches erken…”, fing sie an, als plötzlich das Licht ihrer Laterne schwächer wurde und zu flackern begann. “Oh! Ich glaube, hier war es wohl.” Imelda biss sich ängstlich auf die Unterlippe. Sie versuchte, irgendetwas zu erkennen, doch das einzige, was sie ausmachen konnte, war das heilige Licht, welches an dieser Stelle immer schwächer wurde. “An der Stelle ist irgendwas Unheiliges… gewesen. Ich vermute, hier hat sich dieses Portal geöffnet.” Sie schaute Merle fragend an. “Mir ist das nicht geheuer… und mir ist eiskalt. Ich spüre meine Beine kaum noch.”

Merle beobachtete für einige Herzschläge das seltsam flackernde Licht, dann watete sie noch einmal um Imelda herum, um sicherzugehen, dass unter der Wasseroberfläche nicht doch Gwenns Leichnam trieb. “Hier ist nichts”, sagte sie schließlich. “Jedenfalls nichts… stoffliches.”

Aber dennoch verspürte Merle an jener Stelle eine ungewöhnliche Kälte. Ein Frösteln durchzog sie, als ob sie an einem Sommertag plötzlich in einem Eiskeller stand.

“Dann gehen wir zurück zum Ufer und berichten den anderen?”

Merle nickte und wollte sich schon zur Landseite wenden, als sie plötzlich innehielt. “Ähm… Euer Gnaden…”, sie starrte mit unbehaglichem Blick in das Wasser hinein, “...hier ist es viel kälter als drumherum. Unnatürlich kalt…” Sie ging vorsichtig um die kühlere Stelle herum, tastete mit Händen und Füßen durch das Wasser und versuchte unter der Oberfläche irgendetwas auszumachen. “Könntet Ihr an dieser Stelle noch einmal mit Eurer Laterne leuchten?”

“Ähm, wenn es sein muss”, seufzte Imelda ein wenig unmotiviert. Sie trat einen Schritt zu der besonders eisigen Stelle und hielt ihre kleine Laterne darüber. Die Flamme des Feuergottes wurde umgehend schwächer. Die Geweihte achtete mehr darauf, dass das heilige Feuer nicht erlöschen würde, als dass sie wirklich nach etwas Seltsamem unter der Wasseroberfläche Ausschau hielt. Würde die Flamme noch dunkler werden, müsste sie die Laterne schnell wegziehen. “Erkennst du was?”, fragte sie angestrengt nach.

Merle starrte mit zusammengekniffenen Augen in das Wasser.

Doch konnte Merle unter Wasser nichts Ungewöhnliches erkennen. Doch Imeldas Laterne erlosch, als Imelda sie an die Stelle hielt, an der Merle diese unheilige Kälte gespürt hatte, so, als sei dies ein von den Göttern verlassener Ort.

Die Geweihte hielt den Atem an und starrte ungläubig auf den schwarzen Docht der erloschenen Laterne. “Nein!” rief sie heiser mit leiser Stimme. “Das darf nicht sein! Das darf nicht passieren!” Panisch zog sie die kleine Laterne näher an sich heran und blickte fassungslos hinein. “Das darf niemals passieren…”, brachte sie heraus. Ihr Körper fühlte sich kalt und leer an; eisige Kälte stieg immer weiter in ihr auf. Sie spürte ihren Gott nicht mehr, hatte das Gefühl, dass es ihr den Atem abschnürte und sie in der gefrierenden Luft erstickte. Dann verlor sie das Bewusstsein.

“Imelda!” rief Merle entsetzt und stürzte durch das aufspritzende Wasser zu der taumelnden Geweihten, um diese aufzufangen und daran zu hindern, im See unterzugehen. “Euer Gnaden! Was ist mit Euch?!” Angestrengt versuchte sie, Imelda festzuhalten, mit dem Oberkörper voran aus dem See zu ziehen und dabei auch deren heilige Laterne über der Wasseroberfläche zu halten.

Und als Merle die Geweihte weg von der unheiligen Stelle im See zog, begann der Docht von Imeldas Laterne zuerst wieder zu flimmern, dann zu glühen und schließlich, als sie das Seeufer erreichten, leuchtete die Laterne wieder in gewohnter Pracht.

Am Seeufer legte Merle die bewusstlose junge Frau vorsichtig ab und stellte die Laterne neben ihr auf den Boden. Energisch rüttelte sie an den Schultern der Geweihten. “Imelda, wacht auf!”

Besorgt schaute Doratrava vom Wagen herüber. Was war denn da passiert? Sie war zu weit weg, um alles genau erkennen zu können, und es juckte sie in den Fingern, sich zu Merle zu begeben, um diese gegebenenfalls zu beschützen, und auch, um Imelda zu helfen, aber in ihrem Zustand hatte das keinen Sinn. Sie seufzte ärgerlich und beobachtete weiter.

Imelda kam erst am Ufer wieder zu Bewusstsein. Sie öffnete ihre Augen und sah auf dem Rücken liegend vor dem dunklen Abendhimmel das Antlitz Merles über sich. “Was ist geschehen?”, fragte sie. “Oh, nein!” Sofort sammelten sich dicke Tränen in Imeldas Augen; schluchzend schlug sie sich die Hand vors Gesicht. “Bei Ingra, nein! Nicht das heilige Feuer! Ich spüre nichts mehr! Bitte, nein!”

“Euer Gnaden, seht doch!” rief Merle beruhigend und wies auf die nunmehr wieder leuchtende Laterne. “Sie brennt wieder! Es ist alles in Ordnung!” Vorsichtig half sie der Geweihten, sich langsam aufzusetzen. “Geht’s wieder? Seid Ihr soweit wohlauf? Einen Becher Wasser vielleicht?”

“Wasser? Nein, davon hatte ich genug”, erklärte sie und schaute zu ihrer Laterne, welche nun wieder aufleuchtete. Tränen schossen Imelda in die Augen, während sie eilig den Henkel ihrer Laterne ergriff. Nun fing die junge Geweihte, welche wieder die Kraft ihres Gottes spüren konnte, bitterlich an zu weinen.

Tröstend nahm Merle die Geweihte in den Arm und strich ihr sanft über den Rücken, während sie neben ihr auf dem Boden kauerte. “Es ist ja alles wieder gut, Imelda”, murmelte sie ihr leise ins Ohr. “Alles gut…”

Als sie sich nach einer Weile ein wenig beruhigt hatte, versuchte Imelda mit schluchzender Stimme zu erklären: “Da ist noch eine Flasche Met in meiner Umhängetasche.”

***

Kalman hatte eigentlich beobachten wollen, ob Merle etwas Ungewöhnliches findet. Doch dann hatte er sich von den anderen Umstehenden ablenken lassen, Insbesondere um seinen Schwager machte er sich Sorgen. Er blickte zu Rhodan und sein Gesicht erfüllte sich mit Mitgefühl. Doch er fand nicht die richtigen Worte. “Euer Ehren Rankmann”, sprach er deshalb die Begleitung des Herrenfelsers diskret an, “würdet Ihr meinen Schwager vielleicht auf sein Gemach bringen und sich um sein Wohlsein kümmern, wenn wir zurück im Dorf sind? Ich vermute, er braucht erst einmal etwas Ruhe, um sich zu sammeln.”

„Ja, ich…", setzte Vinja an, doch Rhodan fuhr ihr ins Wort. „Nein, ich helfe selbstverständlich beim Aufräumen. Die tapferen Mannen hier lasse ich nicht allein.“

“Rhodan”, Kalman legte seinem Schwager in spe die Hand auf die Schulter, “natürlich wirst du uns hier helfen. Doch wenn wir zurück im Dorf sind, solltest du ein wenig zur Ruhe finden. Vater wird sehr aufgeregt sein. Es wird sicher viel Aufsehen geben. Das musst du dir wirklich nicht antun.”

"Schwager, soll ich dich also mit dem Aufsehen allein lassen? Willst du das Unglück deines Vaters allein auf deine Schultern laden? Wenn ich Teil dieser Familie sein soll, dann werde ich auch das Leid, nicht nur die schönen Stunden mit euch teilen. Und wir werden Gwenn wiederfinden und damit deinem Vater die Tränen trocknen. Das schwöre ich! Wenn wir hier für Ordnung gesorgt haben, dann reite ich nach Elenvina, Schwager. Ich höre mich ein wenig um - wenn dieser Bastard Schläger angeheuert hat, dann finde ich das heraus. Ich finde heraus, wer den Kontakt hergestellt hat. Ich finde heraus, wer das Gold kassiert hat. Und dem werden die Sterne nie wieder scheinen!"

Kalman verzog das Gesicht zu einem gequälten Gesicht. Er glaubte nicht, dass sein Schwager, sein zukünftiger Schwager, in Elenvina etwas herausfinden würde. Aber wenn es dem Mann Mut machte, dann wollte er ihm die Hoffnung nicht nehmen. Mut und Hoffnung waren es, die sie nun alle brauchten. “Gut, wir werden Gwenn gemeinsam suchen, sobald ich mich mit Vater besprochen habe und wir Ausrüstung zusammen haben. Doch du musst wirklich nicht zu Vater kommen. Ruh dich etwas aus, sammle dich. Denn wenn wir Gwenn suchen wollen, brauchen wir alle Kräfte.” Der Händler nickte und legte seinem Schwager eine Hand auf die Schulter.

***

Als Merle Imelda bei ihrer Ohnmacht aus dem Wasser zog, wurde sich Kalman unsanft wieder gewahr, dass er sich hatte ablenken lassen und Merle nicht, wie geplant, beobachtet hatte.

Schnell löste sich Kalman, lief zu dem Wagen, schnappte sich wortlos zwei Decken und eilte mit großen Schritten zu den beiden nassen Frauen. “Euer Gnaden, geht es Euch gut?”, fragte er, während er der schluchzenden und zitternden Geweihten eine Decke um die Schultern legte. Danach reichte er Merle die zweite Decke.

Merle nickte ihm dankbar zu und stand schnell auf, um Imeldas Umhängetasche, Lederhose und Stiefel zu holen, die diese ein paar Schritt weiter am Ufer abgelegt hatte. Sie kauerte sich wieder neben Imelda, zog die gewünschte Flasche Met aus deren Tasche und gab sie der Geweihten mit einem sanften, aufmunternden Lächeln. “Nehmt einen Schluck, der wird Euch wärmen.”

“Verdammt”, ärgerte sich Kalman über seine Unachtsamkeit, “ich war einen Moment abgelenkt, und gleich passiert etwas. Was war denn da im See? Habt ihr etwas gefunden?”

Doratrava blieb auf dem Wagen, aber sie wollte auch wissen, was passiert war, also spitzte sie die Ohren, was Imelda und Merle sagten.

Merle behielt die junge Geweihte aufmerksam im Auge, während sie ihrem Schwager antwortete. "Da ist eine Stelle im See, die besonders kalt ist. Unnatürlich kalt. Dort hat das heilige Licht Ihrer Gnaden zu flackern begonnen und ist erloschen - als ob das ein unheiliger, götterverlassener Ort wäre." Fragend blickte sie zu Imelda, ob diese inzwischen imstande wäre, mehr dazu zu sagen.

Auch Meta eilte nun zu Imelda und hatte eine Decke dabei. „Mann, Imelda! Was machst du denn? Erst gestern hast du mich da rausgeholt und jetzt erwischt es dich auch.“ Sie legte auch ihre Decke noch über sie und wurde dann ernst. „Moment, das liegt nicht am Wasser. Grad da war ich doch auch eben. Es ist deine Laterne. Die heilige. Du hast immer gesagt, dass es unheilvoll wäre, wenn die ausgeht. Deshalb hast du Angst. Meinst du, da ist das… das Tor gewesen?“

Imelda nickte. “Ja, ich konnte es geradezu spüren, wie eine unheilige Macht sich dort ausbreitet. Es könnte das Tor sein.” Sie wischte sich eine Träne von der Wange und sah erleichtert zu ihrer Laterne. “Das Feuer Ingras darf niemals erlöschen. Ich trage es seit meinem achten Lebensjahr bei mir. Durch diese Flamme spüre ich, egal wo ich bin, immer die Anwesenheit und Macht meines Gottes.” Glückselig betrachtete sie die Metflasche. “Das ist besonders guter Met aus meiner Heimat. Mit extra viel Honig. Ihr dürft gerne auch probieren; ich brauche nur schnell mein Methorn von meinem…” Erst jetzt merkte Imelda, dass sie unten herum noch immer nackt war. “Ähm, Herr Kalman. Wärt Ihr bitte ein Ehrenmann und würdet Euch umdrehen?” Wortlos und beiläufig, als hätte er die Aufforderung nicht vernommen, kam Kalman der Bitte umgehend nach und drehte sich weg. Imelda sah zu Meta und Merle. “Würde eine von euch beiden mein Handtuch halten, während ich mir die Unterkleidung anziehe?”

„Klar, Imelda, ich bedecke deine Schönheit.“ Meta hielt die Decke und versuchte Imelda etwas aufzumuntern. Deren Tränen hatten auf Metas Herz gebrannt, das sollte nicht sein. „Wir bleiben immer Freunde, was auch passiert. Mir tut unsere Streiterei von heute Nachmittag leid. Wirst du damit klarkommen, wenn ich bei Gudekar bleibe? Das wäre mir so wichtig, grad nach diesen schrecklichen Ereignissen.“ Bei ihren letzten Worten beugte sie sich etwas zu Imelda, damit nicht jeder das Gespräch hören konnte.

“Meine Schönheit?”, fragte Imelda verlegen. Dann beugte sie sich verschwörerisch zu Meta, während sie mühsam in ihre Hose hüpfte. “Ich müsste mich erstmal rasieren, fürchte ich.” Sie wurde wieder ein wenig lauter. “Vergeben und vergessen!”

Nachdem Merle sich vergewissert hatte, dass es der Ingra-Geweihten wieder besser ging, stand sie peinlich berührt auf und zog sich mit Kalman in Richtung des Karrens zurück. Sie glaubte, im Getuschel der beiden Frauen Gudekars Namen herausgehört zu haben; ohnehin konnte sie sich denken, worum es da ging. Doch wollte sie sich nichts anmerken oder sich von Metas Geplapper aus der Fassung bringen lassen. Mit Gudekars kleiner Dirne würde sie sich auseinandersetzen, wenn nicht mehr die Welt um sie herum zusammenbrach. Nicht, solange Gwenn fort war. Die junge Frau warf Doraratrava ein mattes Lächeln zu, als sie sich an den Wagen lehnte, dann schloss sie für einen Moment die Augen und atmete erschöpft die kühle Herbstluft ein.

“Doratrava!” Kalman blickte indes auffordernd zur Gauklerin. “Könnte dort auf dem See das Limbustor dieses Paktierers liegen? Ihr kennt Euch von uns allen scheinbar am besten damit aus. Und wenn ja, gibt es irgendeine Möglichkeit für uns, das Tor zu öffnen und ihm hinterherzugehen?” Der Ritter war sich selbst nicht sicher, welche Antwort er zu hören hoffte. Natürlich wollte er Pruch sofort folgen, um seine Schwester zu retten. Doch die Aussicht, durch diesen ominösen Limbus reisen zu müssen, ängstigte ihn.

Doratrava blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und dachte nach. Eigentlich hielt sie es für recht unpraktisch, so ein Tor über einem See zu öffnen. Andererseits waren sie drei auch hier erschienen, nachdem sie von “drüben” geflohen waren. Vielleicht war hier einfach eine Stelle, an der sich Limbustore sehr leicht öffnen ließen?

“Jaaa…”, antwortete sie schließlich langgezogen und zögerlich. “Das ist durchaus denkbar, dass hier das Tor war. Ich vermute, hier lässt sich so ein Tor leichter öffnen als anderswo”, sprach sie ihre Überlegungen von gerade laut aus. “Wenn man entsprechende magische Fertigkeiten hat, kann man bestimmt auch ein Tor von hier aus öffnen. Aber dann wäre immer noch die Frage, wohin man sich wenden müsste. Ob es im Limbus so etwas wie Spuren gibt, die man verfolgen könnte, kann ich nicht sagen, da kenne ich mich nicht gut genug aus.” Sie machte eine Pause und furchte die Stirn. Sollte sie nochmals versuchen, durch die Grenze zu brechen, wie sie es intuitiv im Herrenhaus getan hatte? Aber da war sie ja nicht im Limbus gelandet, sondern vermutlich in irgendeiner fremden Globule, und wenn das wieder passierte, würde ihnen das nicht weiterhelfen. Außerdem müsste sie sich dann womöglich wieder mit Thu auseinandersetzen, und ob sie gegen diese ohne Merle oder Rahjel bestehen konnte, wusste sie nicht.

Man sah Doratrava an, dass sie sich nicht wohl in ihrer Haut fühlte, als sie den Kopf schüttelte. “Ich fürchte, mehr kann ich dazu nicht sagen.”

Kalman schluckte. “Gut”, fasste er sich dann schweren Herzens ob der Endgültigkeit, Gwenn hier wohl nicht zu finden. “Ich glaube, es wurde genug gesagt. So, wie ich es sehe, können wir hier vorerst nichts mehr ausrichten. Wir sollten zurück ins Dorf, bevor es endgültig dunkel wird. Es gibt zwei Dinge zu tun. Zunächst sollte Vater Bescheid gegeben werden, um Schutzmaßnahmen für das Dorf zu initiieren. Anschließend können wir das weitere Vorgehen planen, wie wir Gwenn wiederfinden können. Da brauchen wir alle Hilfe, die wir bekommen können. Das andere, und da benötige ich Eure Hilfe, Eure Gnaden”, der Ritter schaute Imelda und seinen Vetter Rahjel an, “müssen die Familien von Bernhelm und Brun benachrichtigt werden. Euer Gnaden von Hadingen, Licht ist es, das auch die Familien jetzt brauchen werden. Ich bitte Euch, beide, den Familien die traurige Kunde zu überbringen und ihnen geistigen Beistand zu geben. Jartgar, mein alter Freund, Alana von Altenberg und Meta Croy, Eure Aufgabe wird es sein, die beiden Geweihten dabei zu beschützen, falls ein weiterer Hinterhalt irgendwo auf uns wartet. Alle anderen kehren mit mir und Merle ins Gutshaus zurück. Dort kann ich Vater unterrichten und Gudekar kann die Wunden der Gauklerin versorgen. Dafür ist mein Bruder ja wohl gut genug. Merle, kannst du den Wagen führen? Und du, Wulfhelm, du lenkst den Einspänner zurück, darauf werden wir die Toten transportieren. Diese wollen wir ja nicht dem wilden Getier zum Fraß zurücklassen. Hoher Herr von Sturmfels, Hoher Herr von Galebfurten, würdet Ihr dabei mit anpacken? Haben alle ihre Aufgabe verstanden?” Es war keine Frage, ob es andere Ansichten gab. Kalman hatte eine Entscheidung getroffen. An dieser Stelle war er der Sohn des Edlen und damit der Vertreter des Herren dieses Landstrichs. Er hatte entschieden, was zu tun war. Und so sollte es geschehen. Es war das richtige. Er musste entscheiden. Seine Entscheidung musste richtig sein. Seine Entscheidung war richtig.

Hoffte er.

Merle nickte bestätigend. "Ja, ich kann den Karren führen." Mit kraftlosem, resignierten Blick schaute sie in die Gesichter der Umstehenden. "Beeilen wir uns, ja?"

Aus ihren grüblerischen Gedanken gerissen nickte Meta artig. „Na gut. Packen wir es.“

“Sehr richtig, Ritterin Meta!”, rief Imelda. Noch immer war es für sie ungewohnt, dass ihre gute Freundin nun den Ritterschlag erhalten hatte. Recht leise fragte sie besorgt nach: “Geht es dir ansonsten gut?”

Die Ritterin legte Imelda eine Hand auf die Schulter und bemühte sich, zu lächeln. „Körperlich ja, den Rest erzähl ich dir, wenn ich zur Ruhe gekommen bin.“ Sie deutete vage mit dem Kinn in die Runde. „Das alles… das muss ich erstmal sortieren.“ Ihre Augen waren unendlich müde, Meta seufzte und betrachtete Imeldas Laterne. „Was ist mit dir? Das vorhin bei dem Toten war ja nicht ohne.“

“Dieser Geruch war… seltsam und der Anblick der Gedärme… ich hätte mich fast hinter dem nächsten Baum…”, Imelda wog mit einem sarkastischen Schmunzeln den Kopf hin und her, “...naja, du kennst das ja. Also, wie damals in Herzogenfurt. Aber ich habe mich einfach auf meine Aufgabe konzentriert. Ich wollte mich vor dem Ritter Darian auch nicht gleich von meiner unansehnlichen Seite zeigen.” Sie biss sich nachdenklich auf die Unterlippe und raunte ihrer Freundin zu: “Mensch Meta, du schläfst ja fast im Stehen ein. Nicht, dass wir dich auf deinem Pferd festbinden müssen.”

„Tapfer. Der Darian ist aber auch ein ansprechender Ritter, oder?“ Meta lächelte müde. „Bringen wir es hinter uns. Dann ist dieser Tag endlich vorbei. Ich freue mich auf ein bequemes Bett.“ Sie zuckte entschuldigend mit der Schulter. „Wo auch immer das auch sein wird.“

“Der Herr Darian ist ein schmucker Mann, nicht wahr?”, erklärte Imelda verlegen. “Sehr zuvorkommend, ganz so, wie man sich einen Rittersmann vorstellt. Ich denke, ich werde bei ihm auf dem Pferd auch wieder ins Dorf reiten… müssen.” Die Hadingerin seufzte und sah Meta mitfühlend an. “Also ich werde ganz sicher die halbe Nacht wach liegen. Das, was hier geschehen ist, wird mir bestimmt keine Ruhe geben.”

„Was meinst du, wie es weitergehen wird? Ich meine… erstmal herrschen Trauer, Angst und Wut. Eine Hochzeit gibt es nicht.“ Hilflos wedelte Meta mit ihren Händen in der Luft. Damals, vor zwei Götterläufen, hatte die Feier zumindest ihren Lauf genommen. „Werden sie mit uns den Paktierer suchen? Nichts machen? Wirst du noch etwas hier bleiben, wenn du Trost gespendet hast?“ Unausgesprochen ließ sie die Frage, was Gudekar machen würde. Sie gehörte weder zum Kreis der Gefährten noch zur Familie.

“Ähm, darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht”, erklärte Imelda sichtlich ratlos. “Wir wissen doch noch nicht wirklich sicher, was mit Gwenn geschehen ist. Vielleicht wird sie ja gerettet? Ich meine, anscheinend wurde sie als Geisel entführt und der Paktierer wollte sie lebend.” Sie biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. “Bestimmt wird es dann bald eine Forderung geben, und das genau ist der Moment, wo wir sie retten werden.”

Meta betrachtete die anderen Gefährten, die recht zögerlich wirkten. „Imelda, denk doch an die Hochzeit damals. Als der Geweihte verschwunden ist. Die kommt nicht wieder.“ Unbehaglich trat sie auf der Stelle. „Ich hab kein Geld mehr. Ach, wie dumm war ich, alles für diese Waisen zu spenden. Ich dachte, dass sich das mit Gudekar klären würde und wir dann, von allen verachtet, aber endlich frei, abhauen könnten. Das macht der jetzt garantiert nicht. Seine Schwester ist weg, Merle ist ein Wrack. Ich überlege grad, wie es weitergehen soll.“

“Ritterin Meta Croy!”, wurde Imelda nun ernsthaft laut. “Eine Ritterin sollte zunächst an die Armen und Schwachen denken. Die Waisen können es sicher gut gebrauchen und mit der Gunst der Herrin Travia solltest du es dir in deiner Situation auch nicht verspielen.” Die Geweihte schritt auf ihre Freundin zu, sah sie eindringlich an und fuhr mit ruhiger und leiser Stimme fort: “Glaube an die Götter. Sie werden uns helfen, den wahren Weg zu erkennen. Und habe Geduld. Ich weiß doch, wie schwer das für dich momentan alles ist. Morgen Abend wirst du sicher schon mehr Gewissheit haben.” Sie legte ihre Hand auf die Schulter Metas. “Dein ‘Gudi’ braucht dich in den nächsten Stunden mehr denn je. Sei für ihn da!” Ermutigend nickte sie ihr zu. “Und keine Sorge wegen des Geldes; ich spendiere dir nachher auch ein Bierchen.”

Meta musste lachen. Das war ihre Freundin. „Ach Imelda. Genau, so machen wir es. Ich komme zwar nicht heim, aber ein Bier, das hilft immer.“ Dann wurde sie wieder ernst und richtete ihren Blick auf die anderen, unschlüssigen Gefährten. Sie sah Imelda nicht direkt an, sondern sprach mehr unbestimmt vor sich hin. „Die Zukunft ist ungewiss. Ich wollte die Tage einfach mit Gudekar genießen und seine Frau endlich in die Wahrheit einweihen. Ich weiß, dass du gegen unsere Beziehung bist. Ich weiß selber nicht, was ich jetzt machen soll, Gudekar hat sich mir gegenüber zwar zu mir bekannt, aber er hängt sehr an Merle. Sie lehnt mich ab und wird mich weiter ablehnen. So ein Leben will ich nicht. Rahja ist frei, wir beide werden auch andere Partner haben, ich brauche ihn aber als feste Stütze. Das kann ich nicht, wenn er mich quasi als zweite Frau hält. Das fühlt sich falsch an. Seit der Hochzeit in Schweinsfold war ich immer die Frau seines Herzens. Ich hab Angst, dass er nun anders denkt. Das alles überfordert mich.“ Sie rang nach Worten. „Ich will ihn, er ist mein Partner. Nicht nur sexuell, da können wir offen sein, aber ich kann das nicht. Als seine zweite Frau, die sich gegenüber Merle einen Platz suchen muss. Er ist wohl zu schwach … ach, was soll ich denn tun.“ Verzweifelt verflocht Meta ihre Hände ineinander und seufzte.

“Also, wenn das so ist, dann folge mit reinem und gutmütigen Herzen dem Weg, der vor dir liegt. Wenn wir zu verbissen an etwas festhalten, dann wissen wir am Ende gar nicht, ob es wirklich das war, was wir ursprünglich gesucht haben.” Imelda sah ihre Freundin intensiv an. “Meinst du, Gudekar ist der Richtige an deiner Seite? Glaubst du, er liebt nur dich, mehr als alle anderen auf dieser Welt? Du weißt genau, welche Antwort du darauf hören möchtest. Doch herausfinden kannst du es nur, wenn du dir selbst treu bleibst. In welche Meta hat sich Gudekar noch einmal verliebt? In jene, die ihm vorschreibt, was er zu tun und zu denken hat oder diejenige, die einfach ein absolut großartiger und liebenswerter Mensch ist? Niemand verliebt sich in garstige Menschen. Lass’ Rahjas Herrlichkeit in dein Herz und trage die Schönheit und Freundlichkeit der Göttin nach außen.” Imelda schmunzelte. “Das ist das Charisma, mit dem du die Leute verzauberst.”

Meta schwieg lange und sah auf ihre Hände. „Das hast du sehr schön gesagt, Imelda. Ich schreibe ihm nichts vor, ich gebe sogar immer mehr nach. Aber jetzt will ich eigentlich nur zu ihm. Ich will bei ihm sein, wenn er erfährt, was passiert ist, um für ihn da zu sein.“ Sie seufzte resigniert. „Bei ihm zu sein fühlt sich richtig an. Aber daraus wird wohl nichts. Lass uns unsere Pflicht tun, dann muss ich ihn suchen.“ Meta sah etwas in sich gekehrt in die Ferne, dann sprach sie Imelda nochmals an. „Weißt, ich muss das alles erst richtig verarbeiten. Heute ist so viel geschehen, seit wir in der Früh aufgestanden sind. Wir zum Beispiel waren schon getrennt und ich habe an deiner Freundschaft gezweifelt. So alleine hab ich mich ewig nicht gefühlt. Es ist so viel schief gegangen, es gab so viele Wendungen.“

“Es stimmt, heute ist viel passiert und ich weiß, dass du mit der Situation überfordert bist. Gute Freundschaften halten sowas aus, denke ich.” Sie runzelte die Stirn. “Ich meine, wahre Freunde sollten ehrlich sein und frei heraus ihre Meinung sagen; ich tue das, obwohl das vielleicht nicht immer gut ankommt.” Imelda sah die Ritterin eindringlich an. “Ich kann nur immer wieder sagen, dass ich für dich da bin, auch wenn wir mal anderer Ansicht sind!” Schnell zog sie ihre Freundin in eine innige, enge Umarmung. “Ich habe dich sehr lieb, Meta!”

Erst war Meta in Imeldas Umarmung etwas steif, sie lockerte sich in deren festem Griff und umarmte sie dann auch voller Freundschaft. „Ähm, ach Imelda, ich bin da so ungeschickt. Das kann ich nicht gut ausdrücken. Ich hatte noch nie eine Freundin wie dich. Du machst mich glücklich.“

“Sehr schön! Und jetzt lasse die Sonne in dein Herz und sammle Kraft für die kommenden Stunden.” Sie boxte Meta kräftig in den Oberarm. "Vergiss nicht, du bist niemals allein!”

„Danke. Auch für dein Verständnis.“ Meta lächelte wieder neckisch und drückte Imelda nochmal.

Und so brach die Gruppe der Sucher schließlich den Rückweg an, wobei die Toten nicht zurückgelassen wurden.

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