LH6-Für Phex

6. Akt: Für Phex – Nach dem Sturm

(13. Travia 1045 BF, nachmittags)

  • Die Jagdgesellschaft kehrt heim, man sammelt sich.
  • Nach den schlimmen Nachrichten aus Flusswacht gibt es eine Besprechung im Herrenhaus.
  • Liana lauscht dem Windgeflüster.
  • Doratrava verschwindet mit Merle und Rahjel in Doratravas Welt.

Ein Kapitel der Lützeltaler Hochzeit


Der Sturm flaut ab

Zu Beginn der Traviastunde fing der Sturm an, abzuklingen. Es war, als wolle Travia ihre schützende Hand über das Dorf und seine Gäste halten und ihren aufbrausenden Bruder besänftigen. Doch noch blieb der Wind und der Regen. Erst zur Mitte der Traviastunde hörte es auf zu regnen und erste kleine Lücken in der Wolkendecke ließen erahnen, dass der Herr Praios noch immer sein wachsames Auge und seine wärmenden Strahlen über das Dererund aussandte.

Die Jagdgesellschaft kehrt zurück

Dies war in etwa auch die Zeit, in der die Jagdgesellschaft, oder besser gesagt: der klägliche Rest dieser, die Ausläufer des Dorfes erreichten. Angeführt wurde die Gruppe vom Jagdgesellen Wulfhelm Häsler, der die Landschaft am besten kannte. Neben ihm lief der Edle Friedewald von Weissenquell, in trübe Gedanken versunken, denn die Jagd verlief nicht so, wie er es sich erhofft hatte. Zwar hatten sie einige Wildsäue und Keiler erlegen können, doch nicht nur seine Tochter, die Firunnovizin Mika, hatte sich verletzt. Nein, noch viel schlimmer, einer der Gäste, der Jagdgeselle Yendan Zerf, wurde von einer Sau am Bein verletzt und verstarb, bevor ihm Hilfe zuteil werden konnte, da seine Beinschlagader aufgeschlitzt worden war. Sein Leichnam wurde auf einer provisorischen Trage von Darian von Sturmfels und Nivard von Tannenfels mitgenommen, um sie Yendans Dienstherren, dem Ritter Rondrard von Storchenflug, zu übergeben. Begleitet wurden sie von Celio, Yendans treuem und nun trauernden Spürhund, und der Bluthündin Tharga, die den Drang verspürte, zu ihrer Vertrauten Ardare von Kaldenberg zurückzukehren.  Beide wichen nicht von der Seite des Verstorbenen.

Borix groscho Barax hingegen begleitete den psychisch angeschlagenen Ritter Lares von Mersingen, dem Yendans Tod schwer zu schaffen machte, fühlte er sich dafür schließlich mitverantwortlich. Sie bildeten die Nachhut der Gruppe.

Ebenfalls Opfer der Jagd war die Hündin Rika aus dem Jagdrudel des Edlen. Sie war schwer von einer Sau getroffen worden und der Jagdmeister Leodegar hatte sie von den Qualen erlöst. Sein Sohn Wulfhelm sollte die Hündin ins Dorf bringen, zu seiner Mutter, die Rika geliebt hatte. Doch schon nach einem kurzen Stück des Weges merkte Friedewald, wie schwer Wulfhelm es fiel, die tote Hündin an sich zu haben. So nahm er seinem treuen Gefolgsmann die Last ab, auf dass er sich besser auf den Weg konzentrieren konnte. Und Friedhelm tat es gut, die Last des Todes, der die Jagdgruppe ereilt hatte, auf seine Schultern zu nehmen. Es war seine Art der Reue.

Als der Trupp an der Streuobstwiese ankam, die am Morgen noch als Zeltlager diente, waren alle verwundert, dass diese inzwischen geräumt war. Die Spuren des Sturms erklärten dies jedoch: Bevor es zu stärkeren Schäden kommen konnte, hatte man die Zelte hastig abgebaut und zusammen mit der Ausrüstung in umstehende Scheunen in Sicherheit gebracht.  Hier trafen sie auf Ardare, die den Ruf Ihrer Hündin vernommen hatte und ihr entgegen eilte.

Die Baroness eilte der Gruppe entgegen, als sie ihrer ansichtig wurde. Ihre Hündin löste sich von der Gruppe und hastete in großen Sätzen ihrer Herrin entgegen, um dann um diese herumtanzen und sie zu begrüßen. Arda fuhr ihr über den Kopf, sprach ein paar beruhigende Worte.

Dann hatte die Jagdgesellschaft zu ihr aufgeschlossen. Ohne Worte zu verlieren, ging sie zur Trage und schlug die Decke auf, die über den Leichnam gebettet wurde, denn weder hatte sie die Übersicht über die Teilnehmer an der Jagd, noch die Muße, jetzt in der Gruppe das fehlende Gesicht zu suchen.

Als sie das blasse Gesicht des Jagdgesellen sah, nickte sie kurz und schlug pflichtschuldig das Boronsrad. Dass sie erleichtert war, dieses Gesicht und nicht irgendein anderes zu sehen, ließ sie sich nicht anmerken. Ebenso wenig, dass sie vielleicht lieber ein anderes Gesicht unter der Decke gefunden hätte, doch einen kurzen Blick zu jenem unverschämten Ritter von Sturmfels, jenem Jagdgefährten ohne Benimm, gestattete sie sich doch.

Dann wanderten ihre Augen weiter zum Mersinger Ritter, und ihr Blick wurde weicher. Sie sah sofort, dass es ihm nicht gut ging. Was auch immer in der Reichskanzlei vorgefallen war, musste zurückgestellt werden. Arda schloss zu Lares auf und legte ihm die Hand auf die Schulter.  

Friedewald hätte sich gerne zurückfallen lassen, um die Baroness nach dem Befinden seiner Tochter zu fragen. Doch sein Anstand verbat ihm dies. Zum einen musste er als Herr dieses Ländchens den Zug mit anführen, zum anderen wollte er nicht stören, wenn die junge Frau versuchte, den Herrn von Mersingen zu beruhigen.

Der Mersinger hatte sich buchstäblich die Seele aus dem Leib geschrien. Als sein Hals wund und seine Stimme brüchig wurde, hatte er von einem Moment auf den anderen einfach zu schreien aufgehört. Seitdem starrte der junge Mann trüb und reglos in die Leere. Zwar folgte er einfachen Bitten und reagierte auf Berührung, doch hatte er seitdem keinen Ton mehr von sich gegeben. Er wirkte wie vollkommen weggetreten.

Borix hatte während des Rückwegs immer wieder darauf geachtet, dass der Mersinger nicht einfach stehen blieb und ihn dann sanft am Arm weitergeschoben.

Den Verdruss, den sie empfand, ließ sich die Baroness nicht anmerken. Sie brauchte einen Verbündeten, falls ER hier zuschlagen sollte, und so, wie es gerade um Lares stand, konnte sie weder auf ihn zählen, noch ihn später zur Rechenschaft ziehen, sollte er wegen der Sache mit der Reichskanzlei gelogen haben. Sie stimmte sich darauf ein, die Ängste des Mersingers mittels Magie zu bekämpfen - zum wiederholten Male, erst gestern hatte sie denselben Zauber anwenden müssen, um Lares aus seiner Paranoia zu holen. Ein wenig Schadenfreude empfand sie aber doch, dass sie, die Hexe, ihm, dem eifrigen Anhänger Praios’, ausgerechnet mit arkanen Kräften zur Seite stand. Arda legte ihrem Gegenüber auch die andere Hand auf die Schulter, blickte ihm tief in seine unfokussierten Augen und ließ ihre Kräfte fließen.

Einen Moment lang meinte sie, in einen bodenlosen Abgrund gähnender Schwärze zu sehen, ein Abgrund, der sie langsam zu sich zog und sie zu verschlingen drohte. Sie erschreckte sehr, erschauderte. Beinahe hätte sie die Verbindung zu Lares verloren - oder von sich aus beendet, sie hätte es nicht sagen können. Es kostete die junge Frau viel Mut und noch mehr Anstrengung, sich diesem Abgrund zu entziehen und doch den Zauber aufrechtzuerhalten.

“Lares!”, murmelte sie eindringlich. “Ich brauche Euch hier. Was auch immer passiert ist, kommt zu Euch!”

Doch Lares’ Ängste lagen so schwer auf seiner Seele, dass dieser seiner Apathie nicht entwich. Dass der Zauber überhaupt Wirkung entfaltete, konnte Ardare nur an einem Zucken seines linken Auges erkennen. Ansonsten blieb der Ritter reglos und stumm.

Noch unter dem Eindruck des Abgrundes, in welchen sie geblickt hatte - oder hatte sie sich das nur eingebildet? - schmolz Ardas Frust zu einer hilflosen Resignation zusammen. Dass der Mersinger schon gestern am Rande seiner nervlichen Belastbarkeit gestanden hatte, daran hatte sie keinen Zweifel. Doch was hatte Lares jenen Schubs gegeben, der ihn über den Rand und in diesen metaphorischen Abgrund befördert hatte? War der Tote wirklich nur einem Jagdunfall zum Opfer gefallen? Einem ausgesprochen blutigen Jagdunfall, wenn sie die Blässe des Verstorbenen und Lares’ Erscheinungsbild richtig deutete?

Seufzend nickte Arda dem Zwergen zu, der neben Lares stand, und nahm sich auf die gegenüberliegende Seite Position, um den Mersinger zu stützen, sollte er straucheln.

***

Die Gruppe zog weiter zum Dorfplatz, um sich zu sammeln. Auch hier bot sich ein Bild der Verwüstung. Der Markt, der für heute vorgesehen war, war ebenfalls abgebaut. Einige Stände waren von Trümmern zerschlagen, die von der provisorischen Bühne, auf der gestern noch musiziert worden war, weggeweht worden. Ein Stand vor der Metzgerei war besonders arg zerstört. Ein dicker Ast war von einem Baum abgebrochen und hatte sein Werk verrichtet. Die kleine Blutlache unter dem Ast war inzwischen vom Regenwasser fortgespült.

Die Tische und Bänke, die auf dem Platz aufgestellt worden waren, waren teilweise abgebaut. Es schien, als wollte das Dorf die Feierlichkeiten nicht fortführen, zumindest nicht auf dem Dorfplatz.

Auf dem Marktplatz angekommen, ergriff Wulfhelm das Jagdhorn und blies hinein, um die Rückkehr der Jagdgesellschaft anzukündigen. Die Melodie, die er ertönen ließ, war keine fröhliche, die vom Jagdglück berichtete, von Ifirns Gnade einer erfolgreichen Jagd. Es war eine düstere Tonfolge, die von Schmerz kündete, von Firuns Härte und Unerbittlichkeit. Von Tod.

Beim Ertönen des Horns eilte Praiogrimm Waldgrun aus der Zehntscheuer. Auch viele weitere Dorfbewohner, die beim Umräumen der Zehntscheuer für das abendliche Fest halfen, versammelten sich nun um die Gruppe.

Wulfhelm Häsler stand etwas verloren auf dem Marktplatz, das Jagdhorn noch immer mit der Linken umklammert. Seine Kleidung war mit Schlamm und Matsch besudelt, seine schweren Stiefel unter dem an ihnen klebenden Morast nur zu erahnen. Für gewöhnlich wusste er genau was zu tun war, nun da das Hornsignal die Jagd beendet hatte. Heute brachten sie aber nicht Rot- oder Schwarzwild, sondern einen toten Jäger. So verweilte er unsicher und behielt den Herrn von Lützeltal im Auge.

Nach dem die Trage mit dem toten Yendan auf einen der verbliebenen Tische auf dem Marktplatz abgelegt worden war, legte Friedewald die Hündin Rika daneben. Er kniete kurz vor den beiden nieder und schlug da zerbrochene Rad, das Zeichen des Herrn des Todes.

Nun ging er zu Wulfhelm. Wortlos legte er ihm die Hand auf die Schulter und drückte die anerkennend mit einem kräftigen Griff. Schließlich stellte er sich zwischen Wulfhelm und Praiogrimm und wartete bis sich alle gesammelt hatten, auch die Bewohner und Gäste des Ortes, die langsam neugierig auf den Dorfplatz strömten. Der Edle wusste, es war nun gleich an ihm, das Wort zu ergreifen.

Borix, der schweigend neben dem Herrn von Mersingen hergegangen war, kam am Ende des Zuges ins Dorf zurück. Auch seine Kleidung war von den Unbilden des Wetters gezeichnet und sein Gemüt war durch den Toten stark getrübt. Als dann sich die Jagdgemeinschaft um die Trage des toten Jagdhelfers gesammelt hatte, erwies auch er dem Toten seine Ehrerbietung und stand schweigend mit gesenktem Kopf an der Bahre.

Worte schienen ihm hier unnötig, ja, fehl am Platz. Und Darian war ohnehin nie ein großer Redner gewesen. Schweigend betrachtete der Ritter aus Rodaschquell den Toten auf der Bahre, ehe sein Blick abwechselnd zu jenen schweifte, die Yendan eine erste Form der Ehrung erweisen wollten.

Nivard, der den Toten bereits mit Darian hierher zurück getragen hatte, erwies ihm ein weiteres Mal die Ehre, in dem er schweigend vor ihm stand und zum großen Jäger betete, Yendans Schicksal zu vollenden und ihn - genau wie sie seinen Leib von der Jagd heimgebracht hatten - sicher in die Obhut jener Gottheit zu führen, dem die Seele des Verstorbenen gehörte. Als er sein Gebet abgeschlossen hatte, hob er seinen Blick und sah sich unter den Umstehenden um. Es drängte ihn, zu hören, ob Doratrava und die Novizin unbeschadet zurückgekommen waren. Und, wie es Merle ergangen war.

Winkte da drüben nicht jemand?

***

Lys von Kargenstein war unverrichteter Dinge von seinem Ritt zur Jagdhütte umgekehrt und erreichte gerade die Brücke über den Lützelbach, als vor ihm das Jagdhorn erschallte. Er trieb sein Pferd noch mehr an. Vielleicht würde er dort den gesuchten Edlen finden.

Als er die Jagdgesellschaft erreichte, sprang er vom Pferd und sprach einen der Jäger an. “Bitte entschuldigt, ich bin auf der Suche nach Friedewald von Weissenquell. Ich muss ihn in einer dringenden Angelegenheit sprechen.”

Als Friedewald seinen Namen vernahm, drehte er sich um und sah den Reiter, der sein Pferd am Zügel hielt. War es ein Bote? Friedewald ging auf den Mann zu. “Ich bin Friedewald von Weissenquell, Lehnsherr dieses Landes”, gab der Edle mit belegter Stimme von sich. “Und mit wem habe ich es zu tun?” Friedewald musterte den Mann eindringlich. Es musste ein wichtiges Anliegen sein, wenn dieser den Edlen ansprach, während sein Jagdgeselle das Horn zu Ehren des gefallenen Kameraden blies.

Lys beugte sein Haupt kurz zum Gruße und sagte: “Mein Name ist Lys von Kargenstein. Meine Gemahlin, Tsalinde von Kalterbaum, die Frau Eures Sohnes Gudekar, Merle Dreifelder und die Tänzerin Doratrava bitten Euch in einer dringenden Angelegenheit zu ihnen auf Gut Wohlgedei zu kommen.”

Friedewald nickte kurz und zwang sich dann zu einem freundlichen Lächeln. Dies war also der Mann, der seinen Enkelsohn als Vater aufgenommen hatte. “Seid willkommen, Lys von Kargenstein, auf meinem bescheidenen Gut. Es freut mich, Euch kennenzulernen. Was gibt es so Dringendes zu bereden, dass die Damen nach mir schicken?”

“Ich fürchte, Euer Wohlgeboren, darüber kann ich Euch nichts sagen. Mein Auftrag ist es lediglich, Euch zu ihnen zu bitten. Tsalinde war deutlich aus der Ruhe und das ist kein gutes Zeichen, daher bin ich fest überzeugt, dass es wichtig ist.”

“Einverstanden”, willigte der Edle ein. “Wenn es so wichtig zu sein scheint, dann werde ich so schnell wie möglich zu ihnen gehen. Doch zunächst erfordern es Ehre und Anstand, des toten Gefährten zu gedenken und ihn seinem Herren zu übergeben. Das sind wir dem Gedenken an den Herrn Zerf schuldig. Alles andere hat geringere Priorität.”

“Diese Entscheidung ehrt Euch, euer Wohlgeboren, und ich werde sie den Damen ausrichten. Werdet Ihr euch zu Gut Wohlgedei bemühen, oder soll ich die edlen Damen zu euch gleiten?”

“Ich kann sehr wohl nachher dorthin gehen. Dann brauchen die drei bei diesem Wetter nicht aus der warmen Stube.” Friedewald schaute an sich hinab. Sein durchnässter Mantel war von oben bis unten mit Matsch bespritzt. “Ich bin eh schon nass.” Friedewald überlegte, später sein Pferd zu holen und mit Bernhelm dorthin zu reiten, dann könnten sie anschließend noch eine Runde zu den entlegenen Höfen drehen, um zu sehen, ob dort alles im Rechten ist, oder ob der Sturm arge Schäden angerichtet hatte. Vielleicht würde er bei einem Ritt und dem Gespräch mit Bernhelm auf bessere Gedanken kommen. Es tat stets gut, mit seinem Verwalter über die eigenen Sorgen zu reden. Seit Rotrude nicht mehr an seiner Seite war, blieb Bernhelm sein engster Vertrauter.

“Ich danke Euch, Euer Wohlgeboren, und möchte auf diesem Wege auch die Chance nutzen, Euch für die Einladung zu dieser Feier zu danken. Es ist mir eine Ehre hier zu sein.” Er deutete auf den Jäger, der in das Horn blies. “Auch wenn der Herr Firun, wie es scheint, seinen Tribut gefordert habe, hoffe ich auf ein schönes Fest. Ebenso möchte ich diesen Weg nutzen, Euch und den Angehörigen des Verstorbenen mein herzliches Beileid auszusprechen.”

Friedewald schluckte. Nicht nur die jüngsten Ereignisse machten es ihm unangenehm, dem Mann gegenüberzustehen. Nein, vor allem die Tatsache, dass dieser nette, höfliche junge Mann die Verantwortung für die Vaterschaft des Kindes übernommen hatte, das aus Gudekars Ausrutscher, seinem Frevel mit der Edlen von Kalterbaum, entstanden war. Es tat ihm leid, was Gudekar dieser Frau und letztlich auch ihrem Gatten angetan hatte. Umso mehr bewunderte er jenen dafür, so entspannt mit der Situation umzugehen. Friedewald hoffte auf ein gutes Verhältnis zu dieser Familie, auch damit er in Kontakt zu seinem Enkelsohn bleiben konnte, selbst, wenn dies niemals öffentlich erfolgen durfte. “Ich danke Euch!”, fiel die Antwort des Edlen äußerst knapp aus.

Damit zog sich Lys von dem Edlen zurück. Kurz überlegte er, wieder auf sein Pferd zu steigen, entschied jedoch, dass dies kein gebührliches Verhalten im Angesicht des Toten und der Trauernden war. Er schaute sich um, ob jemand Hilfe bräuchte.

Doch dies schien nicht der Fall zu sein. Der Sturm flaute immer mehr ab, er war inzwischen kaum mehr als ein kräftiger Wind, und es strömten immer mehr Bewohner hierher zum Dorfplatz, um zu sehen, was vorgefallen war.

(weiter hier: Begegnungen auf dem Dorfplatz)

~ * ~

Im Edlengut

Vier Ritter standen im Stall des Edlenguts. Kalman von Weissenquell war Sohn und Erbe des Edlen von Lützeltal. Rondrard von Storchenflug war mit seinem Gefolge, darunter auch Kalmans Sohn Lukardis vor dem Sturm aus dem Zeltlager geflohen. Eigentlich wollte man als nächstes nach einem alternativen Schlafplatz für die Nacht suchen. Doch nun schienen zwei Knechte des Gutes mit fünf Pferden vermisst zu werden, und man versuchte, etwas über deren Verbleib herauszufinden. Auch die Haushälterin Wiltrud Bächerle wusste keinen Rat, obwohl ihr Sohn Marno, der Stallbursche, einer der Vermissten war. Der andere war Bernhelm Lützelfisch, Vertrauter und rechte Hand des Edlen. Dies machte die Jungritterin Meta Croy stutzig und neugierig. Meta war eigentlich, zumindest soweit Kalman es wusste, als Geleitschützerin von Kalmans Bruder Gudekar vorort. Insofern freute es Kalman, dass sie sich der Suche nach den Vermissten annehmen wollte.

Der vierte Ritter im Bunde war Kalmans Schwertvater Jartgar von Immergrün. Er stand neben seinem Zögling und lauschte der Diskussion.

Kalman glaubte, durch die offene Stalltür von weitem gesehen zu haben, dass ein Tross Wanderer in Richtung Dorfplatz abbog, als kurze Zeit das Jagdhorn zu vernehmen war.  Die Melodie, die sie nun hörten, war keine fröhliche, die vom Jagdglück berichtete, von Ifirns Gnade einer erfolgreichen Jagd. Es war eine düstere Tonfolge, die von Schmerz kündete, von Firuns Härte und Unerbittlichkeit. Von Tod.

Meta beobachtete unauffällig die Reaktion des erfahrenen Ritters Jartgar und atmete den vertrauten Geruch von Heu, Stroh und Pferd ein. Mehr zu sich selbst überlegte sie laut. “Fünf Pferde fehlen und zwei Reiter…. Wer wäre so ähm, unvernünftig, mitten im Sturm irgendwohin aufzubrechen, Gwenn wohl. Marno und Bernhelm fehlen und noch zwei unbekannte Personen... Die, die auf der Jagd waren, können wir wohl ausschließen. Der Großteil des Dorfes hat sich im Lazarett versammelt. Meiner Meinung nach sollten wir so oder so nachprüfen, ob Eure Gemeinschaft vollzählig ist. Dann wissen wir mehr. Hoher Herr Jartgar, was meint Ihr dazu?” Sie vernahm das Horn. Nun würden sich die Bewohner sowieso auf dem Markt sammeln. “Oder wir sehen am Markt nach, jetzt werden sie alle dorthin eilen.”

„Ja“, stimmte Kalman zu. „Vielleicht sind Bernhelm und Marno ja dort, und das ganze klärt sich als Missverständnis auf. Lasst uns nachsehen, was auf der Jagd geschehen ist. Ich habe kein gutes Gefühl.“

Meta nickte nur. Sie ließ Jartgar neben Kalman gehen und sinnierte. Gwenn, zwei Stallburschen und noch zwei Personen. „Vielleicht ist Rhodan mit ihr weg. Oder man wollte einen Streich spielen und die Braut ‚entführen‘, alles was gegessen und getrunken wird, bis sie gefunden wird, muss der Bräutigam zahlen oder so ähnlich. Das Wetter ist ihnen dann dazwischen gekommen.“

“Dann haben Gwenn und Bernhelm den Plan aber gut vor mir verheimlicht”, warf Kalman ein. “Zuzutrauen wäre ihr das aber.”

Meta glaubte nicht daran und wollte unbedingt Gudekar davon erzählen. Es gab diese Gefahr, von der er ihr heute berichtet hatte, aber sie wusste zu wenig. Fast nichts darüber. Den düsteren Ton des Jagdhorns nahm sie eher ungerührt hin. Irgendwen hatte es erwischt. Er oder sie hatte um die Gefahr gewusst und auch das Wild liebte sein Leben. Firun wäre seiner Seele hoffentlich gnädig. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Opfer kannte, war gering.

Kalman führte die kleine Gesellschaft über den Hof auf den Weg, der ins Dorf führte. Er betete still zu Travia, dass es nicht seinen Vater erwischt hatte. Wäre er bereit gewesen, die Verantwortung zu übernehmen? Nein, das war er nicht, aber irgendwann würde der Tag kommen, an dem ihn die Nachricht erreichen würde, vor der er sich derart fürchtete…

“Hohe Dame Croy, Ihr scheint eine Vermutung zu haben, wo sich Bernhelm und Marno aufhalten könnten. Würdet Ihr später nach ihnen suchen, falls sie auf dem Marktplatz nicht auftauchen?”

Meta hatte zwar keine Ahnung, wo sich die Kerle rumtrieben, aber sie wollte sich der Sache annehmen. „Hoher Herr, ich kümmere mich darum. Beim Marktplatz werde ich euch verlassen, um etwas nachzuprüfen. Sobald ich mehr weiß, werde ich euch finden.“

“Vielen Dank, Dame Croy!” Kalman nickte ihr aufmunternd zu. “Ich wünsche Euch viel Erfolg!”

Anerkennend nickte Jartgar. “Wo wollen wir suchen?”, fragte er Kalman.

“Ich weiß es nicht genau”, antwortete Kalman. “Doch schauen wir erst einmal, was im Dorf los ist!”

***

Selbst im Haus war das Horn zu hören. Sowohl der Bräutigam Rhodan Herrenfels als auch die Baroness Caltesa von Immergrün schreckten voll Entsetzen auf, ebenso das Gefolge des Ritters Lares von Mersingen.

Der großgewachsene Händler ergriff Mirandas Schulter. “Was ist? Wer ist? Geht es meinem Bruder gut?”, kreischte sie aus vollem Hals. Mit bitterer Miene versuchte der Bräutigam, die junge Dame davon abzuhalten, etwas Unschickliches zu tun. Erbosch dementgegen schüttelte nur den Kopf. Er unterdrückte ein “Ich hab es ja gesagt”, sondern brummte nur etwas in seinen dichten Bart.

“Sagt nicht, dass das eine Hochzeitsüberraschung ist, Herr Herrenfels. Wer euch immer beraten hat, wollte sicherlich nichts Gutes. Einen grausigen Ton hat dieses Horn. Hmm, lasst mich raten, war es ein Weissenqueller?” Caltesa schaute entrüstet auf und ignorierte das Geschrei der Mersingerin. Langsam setzte sie ihre Teetasse ab. “Oder kommt jetzt etwa die Vögtin?” Besorgt schaute sie aus dem Fenster.

„Das war eindeutig das Jagdhorn. Für eine Überraschung haben wir nichts vorbereitet. Hoffentlich nichts, in das ich nicht eingeweiht wurde“, spekulierte Rhodan - und auf das ich nicht selbst gekommen bin, dachte er im Stillen. „Das Jagdhorn blasen sie im Ort doch nur, wenn etwas schiefgeht! Was ist denn, bei den Göttern, passiert?! Wir sind doch hier in Lützeltal!“, echauffierte sich Miranda lautstark.

“Wenn das so ist, sollten wir nachschauen”, sagte die Alte. “Gehen wir?” Dann stand sie auf.

~ * ~

Im Lazarett

Das Gasthaus, das der Anconiter Gudekar von Weissenquell zum Lazarett umgebaut hatte, war noch immer recht voll. Einige Dorfbewohner hatten im Sturm leichte Blessuren abbekommen. Peraine sei Dank, gab es nur wenige schwerere Verletzungen. Am schlimmsten hatte es Traviahold Eichholz, die Frau des Metzgers Dankhuld, erwischt. Sie wurde beinahe von einem heruntergefallenen Ast erschlagen. Die schwere Kopfverletzung hatte der Anconiter lebensrettend magisch versorgt. Der gebrochene Arm wurde profan gerichtet. Noch immer lag die Frau bewusstlos auf einem der Tische, die als Lager hergerichtet worden waren. Murla kümmerte sich um sie. Traviaholds Kinder Henna und Rabanne waren von der Baronin Liana Morgenrot schlafen gebracht worden. Nun blickte Liana aus dem Fenster, um den Sturm zu beobachten. Da sah sie den Tross auf dem Marktplatz eintreffen, Ihr Dienstritter Darian von Sturmfels trug eine Bahre, auf der ein bleicher Leichnam lag. Kurze Zeit später ertönte das Jagdhorn. Die Melodie, die es spielte, war keine fröhliche, die vom Jagdglück berichtete, von Ifirns Gnade einer erfolgreichen Jagd. Es war eine düstere Tonfolge, die von Schmerz kündete, von Firuns Härte und Unerbittlichkeit. Von Tod.

Auch Alana von Altenberg erschauderte bei dem Klang. Für einen Augenblick wich auch in ihr die Fröhlichkeit und Lebensfreude, die ihr sonst so sehr zu eigen war.

Mika von Weissenquell schaute verstört zu ihrem Bruder Gudekar. Hatte ihr Missgeschick während der Jagd letztlich vielleicht ein Menschenleben gefordert? Weil sie nicht unterstützend zur Stelle war? Weil Arda und Doratrava sie begleiten mussten und nicht helfend vorort waren?

Als Murla den traurigen Klang des Jagdhorns hörte, zuckte sie erschreckt zusammen. Irgendetwas war bei der Jagd schief gegangen, dass war deutlich zu hören. Aber noch war der Arm der Metzgersfrau nicht vollständig geschient und verbunden.

Ihre Hände, durch die vielen Jahre der Hebammen- und Heilkunst geübt, arbeiten mechanisch und präzise an dem Verband, dabei war sie mit den Gedanken bei ihrem Borix, sollte ihm etwas passiert sein …

Die Freude, ihren Ritter wohlbehalten wiederkehren zu sehen, wich schnell der Bestürzung, dass diese Jagd offenbar einen sehr hohen Preis gefordert hatte.

“Es ist Herr Yendan”, sagte die Herrin von Rodaschquell.

“Sie bringen ihn auf einer Bahre zurück.”

Sie schloss ihre Augen.

“Verletzt oder tot?”, fragte Alana trocken.

“Sie sind zurück, Gudekar!” Mika sprang von ihrem Stuhl auf, zog sich ihren Umhang über die Schultern und machte sich bereit, hinaus zu gehen, um nach Firumar und dem Rest der Jagdgesellschaft zu schauen. “Der Grimmige hat seinen Tribut verlangt. Ich muss hinaus, um zu schauen, ob seine Gnaden einen Auftrag für mich hat.”

Gudekar schaute seine Schwester an. Machte sie sich keine Sorgen, dass es ihren Vater erwischt haben konnte, so wie er? Oder hatte sie es nur bereits gelernt, ihre Angst derart geschickt zu verbergen, wurde sie äußerlich schon so kalt, wie Firumar? Er wäre am liebsten sofort hinaus gerannt, um nach dem Edlen zu sehen, doch riss er sich zusammen. Wenn sie seine Hilfe brauchten, konnte Mika nach ihm schicken. “Gut Mika, ich kann dir jetzt eh nicht weiter helfen. Schau nach, was dort los ist. Und wenn es Verletzte gibt, hol mich sofort. Ich mache mich derweil bereit, kümmere mich aber sonst weiter hier um das Volk.”

Murla war indessen fertig geworden und rief: “Warte, Kind, ich komme mit!”

Auch Liana schritt zur Tür, um den Zurückgekehrten entgegenzugehen.

Sie warf Gudekar einen betretenen und zugleich seltsamen Blick zu, ehe sie das Haus verließ.

Gudekar dachte einen Moment nach. Ja, wenn Yendan – wer war Yendan? –, wie Liana sagte, tot war, könnte er nicht mehr helfen. Doch, wenn es einen Toten gab, war es nicht unwahrscheinlich, dass es auch weitere Verletzte gab. Und dann zählte vielleicht jeder Augenblick. „Bei Peraine, ich komme mit!“, entschied der Anconiter. „Hier drinnen sind soweit alle versorgt. Der Rest kann warten.“ So warf sich der Magier seinen Mantel über, ergriff den Stab und seine Tasche und folgte den drei Frauen hinaus.

Die Ritterin machte die Nachhut und folgte als letzte.

~ * ~

In der Schmiede

Limrog Kupferblatt hatte mit Hilfe der Ingrageweihten Imelda von Hadingen zwei Gäste vor dem Sturm gerettet, die viel zu lange an einem längst verlassenen Weinstand verharrt hatten: Ativana von Schwanenfels, die Gattin von Adelmann XI von Adelmannsfelden, und Rahjel von Altenberg, seines Zeichens Rahjageweihter und gleichzeitig Vetter der Braut. Gemeinsam versuchten sie, die Schrecken des Sturms mit Bier und Wein zu vergessen. Das Beste, das man bei solch einem Wetter tun konnte, dachte Limrog. Er hatte zuvor nur Imelda zu liebe die Schmiede verlassen.

So saßen sie zu viert vor dem Schmiedefeuer der Esse, als das Jagdhorn fast vor der Tür einsetzte. Aber es war kein Lied, das Rahja zu gefallen vermochte.  Die Melodie war keine fröhliche, die vom Jagdglück berichtete, von Ifirns Gnade einer erfolgreichen Jagd. Es war eine düstere Tonfolge, die von Schmerz kündete, von Firuns Härte und Unerbittlichkeit. Von Tod.

Die Hadingerin erschrak bei dem plötzlichen Klang des Horns und sah mit weit aufgerissenen Augen die Gruppe um sich herum an. “Was ist denn da los?”, fragte sie ohne groß nachzudenken, sprang auf und lief zur Pforte der Schmiede und riss diese auf, um etwas zu erkennen.

Draußen sah Imelda die Gruppe der Jäger, zumindest den kläglichen Rest der Gruppe. In der Mitte des Platzes lag auf einem Tisch ein Leichnam in seiner Blut getränkten Kleidung aufgebahrt. Der Rest der Gruppe stand im Halbkreis um ihn herum. Wulfhelm, der junge Jagdgeselle, den Imelda am Abend zuvor auf der Wanderung bereits kennengelernt hatte, blies ausdauernd aber freudlos ins Horn.

“BEI INGRA!”, rief Imelda sehr laut und panisch in die Schmiede hinein. “Kommt schnell!” Dann rannte die Hadingerin, ohne auf die anderen zu warten, hinaus zu der Menge. Ihr Herz raste vor Angst und sie hoffte, dass der Anblick der verstorbenen Person sie nicht zu sehr schockieren würde.

Limrog schaute der jungen Geweihten hinterher. Dann schwang er sein Bein über die Bank, auf der er sich niedergelassen hatte. Gemächlich ging er nach draußen. Er kannte die Bedeutung des Horns. Und er hatte schon genügend unangenehme Überraschungen in seinem Leben erlebt, genügend schlechte Nachrichten vernommen, als dass ihm Imeldas Panik die Ruhe nehmen konnte. Wen mag es erwischt haben? Hoffentlich keinen der Lützeltaler. Er hatte dieses Völkchen ins Herz geschlossen, es wäre bedauerlich, wenn es vielleicht gar die junge Tochter des Edlen getroffen hätte. Und hoffentlich war die Zahl der erlegten Wildsäue höher als die der Jäger. Diese Viecher wurden langsam lästig. Aber vielleicht brauchte die Hadingerin einen Arm, um sich festzuhalten. Sie schien solch einen Verlauf des Lebens nicht gewohnt zu sein.

Ativana hob bei dem Klang des Hornes die Augenbrauen, machte aber keine Anstalten, nach draußen zu gehen. Sie schlug das Boronsrad und hob den Kelch. “Möge Boron der Seele gnädig sein.” Ändern konnte sie nichts mehr, ihr Gatte war es sicher nicht und was hatte der oder die arme Seele davon, dass eine Fremde nass wurde? Auch in Udenau gab es das, Tsa und Boron. Ohne den Tod gab es kein Leben.

Ein ungutes Gefühl überkam Rahjel. Merkwürdigerweise kam ihm sein guter Freund Lares in den Sinn. Hatte das etwas mit dem Mersinger zu tun? Einer Intuition folgend ging auch er hinaus. "Liebe Ativana, ich glaube, ich sollte mir das anschauen… Ihr könnt natürlich mitkommen.” Ohne abzuwarten folgte er der Ingrageweihten.

Diese lehnte sich gelassen zurück. „Macht das, Diener der Götter sollten ihrem Gefühl folgen. Ich werde hier bleiben.“ Ativana hielt den Kelch zum Abschied hoch und lächelte süffisant. „Solltet Ihr meinen Gatten treffen, dann weiß er, wo ich bin.“

~ * ~

Auf Hof Wohlgedei

Die Edle Tsalinde von Kalterbaum, die Anconitergattin Merle Dreifelder von Weissenquell und die Gauklerin Doratrava saßen auf Hof Wohlgedei in Tsalindes Kammer am Kaminfeuer und wärmten sich. Gefühlsgeladen diskutierten sie nicht nur über den Brief aus Flusswacht, den Merle abgefangen und ihrem Gatten vorenthalten hatte. Nein, auch das Ausmaß des Frevels, den Gudekar anscheinend begangen haben sollte, stand hier zur Debatte, während sie auf die Rückkehr von Tsalindes Gemahl Lys warteten.

Um für etwas frische Luft zu sorgen, hatte Tsalinde das Fenster einen Spalt breit geöffnet, nachdem der Sturm etwas abgeflaut war. So hörte die kleine Runde auch das Jagdhorn, das plötzlich aus dem Dorfkern aufspielte. Doch der Wind trug keine fröhliche Melodie an sie heran, die vom Jagdglück berichtete, von Ifirns Gnade einer erfolgreichen Jagd. Es war eine düstere Tonfolge, die von Schmerz kündete, von Firuns Härte und Unerbittlichkeit. Von Tod.

Doratrava griff nach ihrem immer noch nassen Mantel. "Ich will wissen, was da los ist. Da stimmt was nicht", erklärte sie und sah Tsalinde und Merle fragend an. "Dort werden wir bestimmt auch diejenigen treffen, auf die wir warten, die kommmen jetzt sicher nicht zu uns, denke ich." Und schon war die Gauklerin bei der Tür, ohne sich die Mühe zu machen, in ihre durchweichten Stiefel zu schlüpfen.

Merle hingegen nahm sich zunächst ihr Schuhwerk und schaute Tsalinde besorgt an. "Das klingt, als wär´etwas schlimmes passiert." Unwillkürlich musste sie an die Begegnung mit dem weißen Reh gestern denken, an dieses drohende Omen, derjenige der es jagte, würde kurz darauf ein Familienmitglied verlieren. Friedewald. Er hatte das Tier unbedingt jagen wollen. Ihr Herz schlug bis zum Halse; dennoch zog sie schnell ihre Stiefel an, ging zu der Waschschüssel und spritzte sich kaltes Wasser in das vom Weinen verquollene Gesicht. “Schauen wir nach, ja?”

Doratrava nickte bestimmt und verließ den Raum und das Gebäude, sich darauf verlassend, dass die anderen beiden ihr folgten. Sie unterdrückte den Instinkt, schnell zu laufen, sie wollte Merle und Tsalinde trotz allem nicht abhängen.

Tsalinde nickte. Schnell packte sie das Bild wieder ein, hängte sich die Tasche um, zog ihre Stiefel und den Mantel. Wie gewohnt warf sie beim Verlassen des Zimmers kurz noch einen Blick zurück, entdeckte Doratravas Stiefel und nahm sie kurzerhand mit. Den unseligen Brief verstaute Merle wieder in ihrer kleinen Ledertasche.

Es drängte Doratrava danach, zu schauen, wie es Nivard ergangen war, aber vor allem Merle wollte sie auch nicht allein lassen, Sie verharrte daher vor dem EIngang des Bauernhauses, bis Merle herauskam, dann fasste sie diese kurzerhand bei der Hand und zog sie mit, während sie Tsalinde, die kurz danach herankam, eilig winkte. Merle ließ sich widerstandslos von Doratrava mitziehen.

Doratravas Eile wurde ein wenig dadurch gebremst, dass sie barfuß ein wenig aufpassen musste, wo sie hintrat, zumal vom Regen alles schlammig war und daher im Boden verborgene Steine oder spitze Äste schlecht zu sehen waren. Vielleicht hätte sie doch ihre Stiefel anziehen sollen, aber dazu war es jetzt zu spät.

(weiter hier: Begegnungen auf dem Dorfplatz)

~ * ~

Im Jagdschlösschen

Viel zu lange dauerte es bereits, dass die Jagdgesellschaft auf sich warten ließ. Zur Praiosstunde sollte sie zurückkehren, ihre Beute hier abladen. Dann ein warmes Mahl einnehmen. Doch niemand erschien an der Jagdhütte, auch nicht, als der Sturm immer heftiger wurde. Praitrud und Luzia Häsler wurden immer unruhiger, hatte doch auch Dankhuld Eichholz bereits über einen umgestürzten Baum auf dem Weg ins Dorf berichtet. Die Frauen des Jagdmeisters und seines Sohnes hatten Sorge, es könne jemand etwas zugetoßen sein. Auch die Besonnenheit, die Lucilla von Galebfurten auszustrahlen versuchte, half nicht.

Irgendwann, die Efferd- Stunde war fast um, blickte die Erbvögtin, die es sich inzwischen in einer bequemen Tunika am Kamin gemütlich gemacht hatte, zu Dankhuld.

“Welche Optionen haben wir?”, fragte sie ihn gerade heraus, ohne ihre Frage weiter zu präzisieren. Er würde wissen, was sie meinte.

Lûthardt, der Rittermann, der die Adlige begleitete und kaum von ihrer Seite wich, sah zwischen dem Mann und seiner Dientsherrin hin und her. Seine Miene wirkte skeptisch, wie als würde er Unheil auf sich zukommen sehen.

Dankhuld überlegte. Er war es nicht gewohnt, dass höhergestellte Herrschaften ihn nach strategischen Überlegungen fragten. Verzweifelt blickte er zu Praitrud, die ihn jedoch nur aufmunternd anlächelte.

„Also“, begann er schließlich, „entweder wir warten hier, bis die Jagdgesellschaft zurückkehrt. Oder jemand versucht, sich ins Dorf durchzuschlagen, ob sie wegen des Wetters die Abkürzung genommen haben und nicht hierherkommen. Der oder diejenigen könnte dann hier Bescheid geben. Allerdings ist der Weg für einen Reiter versperrt, der Baum, der fast erwischt hat, liegt ziemlich ungünstig.“

Kurz huschte der Blick der Erbvögtin zu ihrem Ritter. Luthardt nickte nur schicksalsergeben, als er ihrer auf sich ruhenden Augen gewahr wurde. Offenbar konnte er die Gedanken seiner Dienstherren lesen.

“Was ist, wenn wir drei gehen würden?”, fragte Lucilla wiederum an Dankhuld gerichtet.

Dankhuld nickte “Sehr wohl Euer Wohlgeboren. Wenn Ihr es wünscht, werde ich Euch selbstverständlich begleiten. Der Metzger wandte sich an die Frau des Jagdmeisters. “Praitrud, wenn Leodegar und die anderen zurückkommen, dann sag Ihnen bitte, dass ich die hohen Herrschaften ins Dorf zurück begleite. Ich vermute aber eh, dass ich sie dort treffe. Ansonsten komme ich später noch einmal hierher nach Euch schauen, in Ordnung?”

“Ja, danke Dankhuld! Wir kommen schon zurecht”, versuchte Praiotrud sich selbst und ihre Tochter Luzi zu beruhigen. “Ich wünsche Euch einen guten Weg.”

Lucilla nickte nur einmal knapp und schritt dann ohne ein weiteres Wort in Richtung ihrer Kammer, um sich für den Weg entsprechend zu wappnen. Der Rittersmann, der bis dazu ruhig dagesessen und seine Waffen gepflegt hatte, erhob sich mit einem seufzen. Dann folgte er seiner Dienstherrin.

Lucilla brach zusammen mit ihrem Dienstritter Luthardt und der Wegführung des Metzgers Dankhuld von der Jagdhütte in Richtung Dorf auf. Nach ein paar Minuten erreichten sie den umgefallenen Baum, der zwar für Berittene oder gar einen Wagen ein arges Hindernis darstellte, zu Fuß jedoch leicht durch hinaufklettern oder unten durch krauchem umgangen werden konnte. Mit dem Abflauen des Sturm kamen sie dem Dorf immer näher, als Sie dann jedoch aus weiter Ferne ein Horn hörten. Es war ein Jagdhorn, doch es berichtete nicht vom Jagdglück, von Ifirns Gnade einer erfolgreichen Jagd. Es war eine düstere Tonfolge, die von Schmerz kündete, von Firuns Härte und Unerbittlichkeit. Von Tod.

Dankhuld blieb stehen und schaute einen Moment schweigend nach vorne. Schließlich kommentierte er: “Zumindest wissen wir jetzt, dass die Jäger tatsächlich ins Dorf zurückgekehrt sind!” In seiner Stimme lag ein Hauch von verzweifeltem Sarkasmus.

“Was bedeutet das?”, fragte Lucilla und blickte zu ihrem Führer. Dicke Regentropfen fielen von der gewachsten Kapuze ihres Mantels herab und durchtränkten eine nasse Strähne ihres Haares. Luthardt hingegen schien zumindest zu erahnen, was der Ruf des Horns andeutete, zumindest sprach seine Miene davon.

“Dies”, erklärte Dankhuld, “ist Wulfhelms Jagdhorn.” Dankhuld hatte es schon nach so mancher beendeten Jagd gehört, doch war die Melodie, die es spielte, meist fröhlich und voller Stolz über die erlegte Beute. “Aber dieser Ruf ist das Zeichen, dass Firun grausamen Tribut gefordert hat. Wenn dieses Signal ertönt, so ist mindestens ein Jäger nicht zurückgekehrt.”

Lucillas Augen weiteten sich. “Dann sollten wir uns eilen, zu ihnen zu stoßen”, stieß sie erregt hervor. Lûthardt hingegen fragte nüchtern: “Wie weit ist es noch bis zum Dorf? Dort werden wir ohnehin auf sie stoßen.”

“Es sind nur noch ein paar Minuten. Seht ihr? Dort vorn sind schon die Forellenteiche der Lützelfischs zu sehen. Dahinter fließt der Bach und das heißt, wir kommen bald an die Brücke.

~ * ~

Bei der lustigen Witwe

Adelmann XI von Adelmannsfelden hatte die Bäuerin Gratfriede Wolfshag vor den Unbillen des Wetters gerettet und sie auf ihren Hof begleitet, wo sie sich nun dankbar zeigte und den langsam alternden Edlen liebevoll umsorgte. Auch hier hörte man das Jagdhorn, doch Gratfriede machte Adelmann ziemlich eindrucksvoll deutlich, dass ihn das im Moment doch weniger interessieren sollte.

“Ah geh. Des is noch a weng gefährlich, oder?” Er machte es sich bequem und zeigte ebenfalls deutlich, dass es ihm nicht so wichtig war, was da gerade los war.

~ * ~

Friedewalds Ansprache

Der Leichnam von Yendan Zerf war auf dem Dorfplatz aufgebahrt. Auch die tote Hündin Rika hatte man neben ihm abgelegt. Yendans Rüde Celio saß wachsam neben seinem toten Herrn und hielt Wache.

Die meisten Teilnehmer der Jagd standen linkerhand neben dem Tisch, auf dem Yendan lag: Darian von Sturmfels und Nivard von Tannenfels hatten zuvor die Trage abgestellt. Ardare von Kaldenberg und Borix groscho Barax stützen den völlig aufgelösten und psychisch angeschlagenen Ritter Lares von Mersingen.  

Der Edle von Lützeltal, Friedewald von Weissenquell, hatte sich zwischen den Dorfschulzen Praiogrimm Waldgrun und seinen Jagdgesellen Wulfhelm Häsler gestellt, und wartete nun, bis auf dem Dorfplatz Ruhe eingekehrt war. Dies dauerte recht lange, denn immer mehr Lützeltaler und Hochzeitsgäste trafen neugierig auf dem Platz ein und tuschelten oder diskutierten. An jeder Ecke wurde spekuliert, was genau vorgefallen war, auch warum  der Firungeweihte den Zug nicht begleitete. Gerüchte machten schnell den Umlauf.

P=Praiogrimm, F=Friedewald, W=Wulfhelm, Y=Yendan, N=Nivard, D=Darian, A=Ardare, L=Lares, B=Borix, Li=Liana, Mu=Murla, Mi= Mika, G=Gudekar, Do=Doratrava, Me= Merle, Ts=Tsalinde, K=Kalman, R=Rondrard+Gefolge, J=Jartgar, Ly=Lys, Lu=Licilla, Lh= Lûthardt, Dh=Dankhuld, Meta=Meta, Im=Imelda, Lr=Limrog

Begegnungen auf dem Dorfplatz

Hastig rannte Imelda von Hadingen zu den um den Leichnam herum stehenden Personen. Mutig hielt sie die Luft an und wagte einen Blick auf den Toten. Sie hatte den Mann zwar gestern schon einmal kurz aus der Ferne gesehen, jedoch war sie nicht mit ihm bekannt. “Oh, weh!”, rief sie mehr zu sich selbst aus und blickte sich in der Gesellschaft um. Mika war nicht da und von den Anwesenden kannte sie tatsächlich den Ritter von Mersingen am Besten. “Herr Lares,...”, trat sie an diesen heran. In ihren Augen war sichtlich eine nervöse Angespanntheit zu erkennen. “...was ist denn passiert?”

Fast gleichzeitig mit Imelda kam auch Murla bei der Gruppe an. Sie war hinter Mika auf den Platz geeilt und nachdem sie Borix zwar verdreckt, aber wohl gesund erspäht hatte, wollte sie ebenfalls wissen, was passiert war.

Lares, der immer noch nicht Herr seiner Sinne war, antwortete auf die Frage Imeldas nicht, so ergriff Borix das Wort: “Es gab einen Jagdunfall bei dem Meister Zerf sein Leben verloren hat.

Und da Herr von Mersingen dieses mit ansehen musste, ist er ein wenig … benommen.”

Verstehend nickte Imelda den beiden Angroschim zu. "Meister Borix, Murla, wie schön, euch beide wohlauf zu sehen”, rief sie und schloss beide flüchtig in die Arme.

Die Umarmung wurde von den beiden Angroschim erwidert.

Dann wandte sie sich mit ernster Miene zu dem Mersinger. Sie kannte von vorherigen gemeinsamen Reisen verschiedene Varianten seines Geisteszustandes, nachdem etwas Schlimmes passiert war, daher trat sie kurzentschlossen an ihn heran, platzierte ihre kleine heilige Laterne direkt zwischen sich und Lares und ergriff sanft die Hände des Ritters. “Ingra, ewiger Herr des Feuers und der Glut, erhöre mein Bitten! Zeig uns im Licht Deiner heiligen Flammen und Deiner Hitze Weisheit und Erkenntnis. Gibt uns den Mut und die Stärke, die wir Sterblichen brauchen, um ohne Angst und Zaudern unseren Weg beschreiten zu können.” Vom Boden war das laute Knistern der Laterne zu hören, die nun lichterloh brannte. Das helle Licht des Feuers spiegelte sich in den blauen Augen der jungen Geweihten wider, mit denen sie Lares intensiv ansah. Langsam begann sich eine angenehme, wohlige Wärme des Glücks und der Harmonie durch ihre beiden Körper auszubreiten. “Deine Glut ist ewig. Nichts kann sie löschen. Herr über Erz und Feuer, erhöre mein Gebet. Schenke diesen Mann neue Zuversicht und Kraft! Es sei!” Imelda nickte zu sich selbst und schlug mit der Hand das Zeichen Ingras. Ein seliges, warmes Lächeln umspielte das Gesicht der Geweihten, als sie die Hände des Ritters noch einmal fest drückte. "Lares, hört Ihr mich?" sprach sie ihn sanft an. "Wie geht es Euch?"

Doch der junge Mann reagierte nicht. Mit hohlem Blick starrte er durch Imelda hindurch.

Das selige Lächeln auf Imeldas Antlitz erstarrte, als Lares noch immer einen benommenen, abwesenden Eindruck machte. “Ähhh, Herr Lares!”, rief sie ihm recht laut ins Gesicht und rüttelte an seinen Schultern. “Lares!” Ratlos blickte sie zu Murla. “Ich hatte gehofft, der göttliche Segen würde ihm helfen.”

“Das ist lieb von Dir, mein Kind”, meinte Murla zu Imelda, “er kann jede Hilfe brauchen. Es muss ein ziemlicher Schock für ihn gewesen sein.”

Borix nickte bestätigend. “Ich war nicht in seiner Gruppe und habe den Unfall nicht gesehen, aber der Herr von Mersingen war deutlich zu hören.”

Die Baroness von Kaldenberg wandte sich an den Zwergen: “Hat eigentlich IRGENDJEMAND den Unfall gesehen?” fragte sie.

“Na ja, offensichtlich der Herr Lares”, meinte Imelda und hob unschlüssig die Schultern. Sie zog ihr gefülltes Methorn vom Gürtel und nahm einen beruhigenden Schluck daraus. Kurz überlegte sie, ob sie Lares etwas Met einflößen sollte, doch wenn das Wirken des Herrn Ingra ihm nicht half, wäre das wohl auch sinnlos. Fragend blickte sie in die Gesichter der Umstehenden.

“Wir haben uns aufgeteilt, um die Rotte besser einkreisen zu können”, versuchte Borix zu erklären. “Und da hier die Wälder auch voller Bäume stehen, konnte man natürlich nicht sehen, was die anderen machen.”

Die Baroness presste ihre Lippen zusammen. Sie hatte bislang nicht sehr viele Erfahrungen mit dem Kleinen Volk gemacht, um sich ein sicheres Urteil darüber zu erlauben, ob dieser Borix sich gerade über sie lustig gemacht hatte. Also nickte sie ihm lediglich stumm zu.

Nach einer kurzen zeitlichen Pause, um ihre Verunsicherung zu überspielen und eine gewisse Gravitas zu demonstrieren, stellte sie fest: “Also hat es niemand gesehen. Dann ist auch nicht mal mit Gewissheit zu sagen, dass es ein Unfall war?”

“Wenn ihr den Herrn von Mersingen dazu bringt, wieder klar zu werden, dann wird er sicherlich den Hergang schildern können”, meint Borix nüchtern.

Nun reagierte Arda doch gereizt und schnaubte: “Nun, darin liegt ja gerade das Problem, nicht wahr? Wenn der Herr von Mersingen klar wäre, müsste ich mich nicht darüber wundern, was ihm zugestoßen sein könnte.”

“Wobei es wohl nicht ‘das’, sondern eher ‘Euer’ Problem zu sein scheint", brummte Borix zurück.

“Mein Problem ist es sicher nicht. Es ist der Herr von Mersingen, der nicht ansprechbar ist. Und offensichtlich hat … gutes Zureden allein bisher nicht geholfen.” Arda war wieder in Fahrt geraten. Im letzten Moment konnte sie eine Bemerkung, die grob despektierlich auf den Zwergen und dessen Bemühungen um den traumatisierten Ritter eingegangen wäre, unterdrücken. “Wenn Ihr also eine bessere Idee habt, um dem Herrn von Mersingen zu helfen, als herauszufinden, was genau ihm passiert sein könnte …” die Baroness hob die Arme seitlich, in gespielter Hilflosigkeit “... dann bitte, haltet Euch nicht zurück, lasst mich an Euren Gedanken teilhaben!” Der Spott in ihrer Stimme war unverkennbar.

Die Hadingerin war ebenso ratlos wie die anderen, die sich um den Mersinger Ritter bemühten. “Vielleicht braucht er noch ein bisschen Zeit, um sich wieder zu erholen?”, gab sie zu bedenken und blickte sich in der Menge um. “Seine Schwester müsste hier irgendwo sein, vielleicht weiß sie am ehesten Rat?”

“Dann sollten wir sie suchen gehen und ihr den Herrn von Mersingen mitbringen.”

***

Plötzlich entdeckte Imelda zu ihrer Linken ihre Freundin und sprang ihr freudig entgegen. “MIKA!!!”, schrie sie aus voller Kehle, rannte zu der jungen Weissenquellerin und riss diese stürmisch in ihre Arme. “Oh, Mika! Geht es dir gut?”

“Imelda! Psst! Nicht so stürmisch! Wo bleibt dein Anstand dem Toten gegenüber?” Die Firunnovizin strahlte jedoch zunächst auch, als Imelda auf sie zukam. Doch dann wurde sie gleich wieder ernst. “Hast du schon gesehen, wen es getroffen hat?”

Als die Hadingerin ihre Freundin aus der innigen Umarmung entließ, schniefte sie und konnte die Tränen nur schwerlich zurückhalten. Sie wischte sich die feuchten Augen und sah die Firunnovizin mit einem melancholischen Lächeln an. “Ja, diesen ähm…” sie überlegte, wie noch mal der Name des Herren war. “Meister Zorf? Aber wieso weißt du denn nicht, um wen es sich handelt? Warst du nicht dabei, als er starb?”

Mika senkte den Blick und schüttelte den Kopf. “Ich habe versagt! Ich habe nicht einmal die einfachste Aufgabe erfüllen können.” Die Lützeltalerin blickte mit Tränen in die Augen der Freundin. “Imelda, du darfst mir niemals deine Laterne anvertrauen! Ich habe mich ein wenig verletzt und wurde wie ein kleines Mädchen nach Hause geschickt. Ich konnte nicht helfen bei der Jagd. Ich war nicht da. Und Arda und Doratrava waren meinetwegen auch nicht da. Und jetzt ist einer der Männer tot!” Mika verzog das Gesicht und fing bitterlich an zu weinen.

Imelda zerbrach es das Herz. Ebenso laut schluchzend riss sie Mika erneut in die Arme und drückte die Firunnovizin ganz fest an sich. Es dauerte einige Herzschläge, bis sich die Hadingerin soweit beruhigt hatte, dass sie in der Lage war, etwas zu Mika sagen. “Du wurdest verletzt?!” fragte sie alarmiert nach. "Was genau ist denn geschehen?"

Langsam versuchte sich Mika wieder zu fangen und wischte die Tränen mit dem Ärmel weg. Durch wiederholtes Schniefen unterbrochen, berichtete Mika, was vorgefallen war. “Es war alles so nass und rutschig und da bin ich auf dem Weg gestolpert und auf die Laterne gefallen, die mir Seine Gnaden Firumar gegeben hatte, falls wir Licht brauchen. Sie ist zerbrochen und ich habe mich ganz blöd geschnitten. Dann wollten alle, dass ich nach Hause gehe. Und hier hat mir Tante Caltesa einen Heiltrank gegeben. Jetzt ist die Wunde verheilt.” Das war zumindest die Fassung, die Mika hier zu erzählen bereit war.

Aufmerksam und mitfühlend nickte Imelda bei jedem Wort ihrer Freundin und hielt sanft deren Hände. Ihr Antlitz war von den Tränen gezeichnet. “So etwas kann doch passieren! Mach' dir bitte keine Vorwürfe, Süße!" Sie lächelte Mika aufmunternd an. "Immerhin ist es nicht so schlimm, den Göttern sei Dank. Wo hattest du dich denn verletzt?”

Als Imelda Mikas Hände hielt, fiel ihr auf, dass zwei Finger von Mikas Hand keinen Gegendruck ausübten.

Schnell zog Mika die Hand weg. “Ach, das war wirklich nur ein Kratzer!”, wiegelte die Novizin ab.

Dass die Weissenquellerin so schnell die Hand wegzog, fand Imelda merkwürdig und gab ihr zu denken. Sie kniff die Augen zusammen und sah ihre Freundin musternd an. “Wir sind beste Freundinnen, Mika. Du kannst mir vertrauen und alles erzählen. Würdest du mir bitte deine Hand zeigen… wenn du magst?”

Doch nur kurz hob Mika die linke Hand mit ausgestreckten Fingern hoch. „Hier, siehst du? Ist alles verheilt und nicht einmal eine Narbe ist übrig geblieben.“ Mika setzte ein gequältes Lächeln auf. „Also alles in Ordnung. Ganz bestimmt. Das wird schon wieder! Glaub mir doch! Da ist nichts.“ Während Mikas Worte anfangs noch trotzig klangen, kam der letzte Satz fast schon kreischend aus ihrem Mund.

***

Gudekar von Weissenquell suchte sich einen Platz zwischen Gasthaus und dem aufgebahrten Toten. Dort konnte er nichts mehr tun, das war eindeutig. Der Anstand verbat es, hier in aller Öffentlichkeit den Toten genauer anzusehen. So blickte sich Gudekar um, doch schien es keine anderen Verletzungen in der Jagdgesellschaft zu geben. Wenn dem doch so wäre, stand der Anconiter deutlich sichtbar für alle da. Man konnte ihn ansprechen. Später würde er seinen Vater fragen was passiert war. Jetzt war nicht die Zeit dafür.

Der Platz war schon sehr voll, als Meta hinter den hohen Herren eintraf. “Bin gleich wieder da.” Ihre derzeitigen Gefährten würde sie schnell wieder finden. Schnell sah sie sich um, entdeckte bekannte und unbekannte Gesichter, dann huschte sie wie ein graues Kätzchen zwischen den Personen umher, die vom Anblick des Toten sowieso abgelenkt waren. Endlich sah sie Gudekar und stellte sich ruhig neben ihn. “Ah, da bist du ja.” Wie beiläufig sprach sie ihn an. “Ich muss dir was erzählen, dringend. Und du wirst mir mehr sagen müssen.” Die letzten Sätze nuschelte sie vor sich hin, nur er konnte sie verstehen. Mika hatte sie zwar gesehen, aber nicht weiter beachtet.

Gudekar blickte zu Meta. Warum hatte sie ihn gesucht? Was gab es so Wichtiges zu erzählen? Er versuchte, sich von Metas Ankündigung nicht beunruhigen zu lassen. Die unerfreuliche Rückkehr der Jagdgesellschaft war beunruhigend genug. „Was gibt es so Dringendes, mein Schatz?“ Auch Gudekar flüsterte, so dass nur Meta ihn hören konnte.

“Das ist heikel, das kann ich nicht so hier…” Sie sog die Luft ein und sah sich beiläufig um. “Also, das soll nicht jeder hören. Mal angenommen, es würden fünf Pferde und ebensoviele Personen fehlen. Jetzt, mitten im Sturm sind sie wohl aufgebrochen. Das wäre doch bedenklich?”

“Fünf Personen fehlen? Mitsamt ihrer Pferde?” Gudekar schien nicht besonders besorgt zu sein. Oder er ließ sich nichts anmerken. “Hm, um wen handelt es sich? Kann es sein, dass sie aufgebrochen sind, um irgendwo Hilfe zu leisten? Viele Dörfler haben wohl dem fahrenden Volk geholfen, das Lager abzubrechen und in den Gehöften Unterschlupf zu finden. Vielleicht waren die Gesuchten dort dabei?”

Aus Richtung der Brücke traf nun auch Lucilla von Galebfurten ein und stellte sich zu dem Magier und der Ritterin.

„Marno, Bernhelm und drei Unbekannte. Die Knechte werden bereits vermisst und die anderen drei Tiere waren auch gezäumt und gesattelt.“ Sie nahm eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Mist. „Da kommt jemand für dich. Wir müssen herausfinden, wer noch vermisst wird.“ Dann schwieg Meta, als Lucilla sich ihnen näherte.

„Hm, Bernhelm und Marno haben noch drei gesattelte Pferde mitgenommen? Das klingt so, als wollten sie mit jemandem einen Ausritt machen. Aber mit wem? Und bei dem Wetter?“ Gudekar wirkte nachdenklich und ignorierte Lucillas Ankunft.

„Gwenns Elenviner fehlt und das Pferd ihrer Beschützerin, weisst schon, die Professionelle.“

„Hm, Gwenn und und ihre Plötzbognerin?“ Gudekar dachte nach. „Aber wer ist die fünfte Person? Und wo wollten die hin?“ Plötzlich fiel Gudekar etwas ein. „Verdammt! Gwenn! Wir sollten uns doch vor einer Stunde mit Gwenn und Merle treffen wegen…, na, du weißt schon. Das habe ich ja ganz vergessen wegen des Sturms.“

“Wo wollten wir uns gleich treffen? Das ist doch erstmal hinfällig geworden und deine Frau steht da hinten.” Meta wies mit dem Kinn in die entsprechende Richtung. “Was soll ich nun tun? Kalman hat mich auf die Suche nach den Verschwundenen geschickt.” Etwas unschlüssig rubbelte sie ihr nasses Haar. Wenn sie nicht mehr alleine mit Gudekar sprechen konnte, wollte sie nicht mehr viel sagen. “Ich will dich in dem Haufen nicht aus den Augen verlieren. Soll ich bei dir bleiben oder… wir sind sowieso gleich nicht mehr alleine, ich kann mich auch erstmal in die Menge mischen.”

„Ich weiß nicht. Was denkst du?“ fragte Gudekar. „Ich glaube, mein Vater will etwas sagen. Sollen wir erstmal warten, was er sagt, oder sollte ich kurz zu Merle gehen und mich entschuldigen, dass wir nicht gekommen sind?“

“Lass erst deinen Vater reden. Er braucht das und Merle hat sicher nicht an das Treffen gedacht. Ich war doch vorhin bei ihr, da war sie sehr kalt. Es sieht in allen Richtungen düster aus.” Die Suche ging vor und half Meta, das zu verdrängen, weswegen sie eigentlich hier war. Am liebsten hätte sie Gudekar gefragt, wie er sich verhalten würde, wenn Merle ihm mit der Anzeige bei der Kirche drohen würde. Für sie war das die einzige Reaktion, die sie sich bei Merle gerade vorstellen konnte.

"Einverstanden, mein Schatz.” Gudekar legte kurz seine Hand auf Metas Rücken, zog sie aber schnell wieder weg. “Ich gehe hinterher zu ihr und frage, wann wir dann reden können. Und du kannst derweil versuchen, herauszufinden, wo die Vermissten sind. Denn mich wundert schon, dass Gwenn und Bernhelm hier nicht aufgetaucht sind. Selbst, wenn sie irgendwo im Dorf geholfen haben.” Der Magier schaute sich noch einmal unter den Leuten um, ob er sie vielleicht doch irgendwo erblickte.

“Ich schau mich um. Aber du musst mir mehr erzählen… ich weiss fast nichts. Später dann, wenn wir kurz alleine reden können.” Sie ging wie beiläufig etwas weiter, gestattete sich aber, als sie Gudekar nochmal ansah, ihre Angst und Schwäche nicht zu verbergen.

Der Anconiter schenkte ihr ein liebevolles, aufmunterndes Lächeln. Er fragte sich, über was er ihr etwas erzählen sollte. Welche Fragen hatte sie?

“Was ist geschehen?”, fragte die Erbvögtin, die das Gespräch zuvor bereits eine Weile verfolgt hatte und auch Gudekars kleinen ‘Ausrutscher’ bemerkt haben musste mit neutraler, aber energischer Stimme. “Werden noch Jäger vermisst, gab es Verletzte? Können ich und Lûthardt helfen?”

Der angesprochene, hochgewachsene Rittersmann, der schräg versetzt hinter seiner Dienstherrin stand und dabei das Treiben um sie herum im Blick behielt, nickte dem Magus knapp zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen auf dem Dorfplatz schenkte.

Gudekar schaute etwas fraglos zu Lucilla. „Euer Wohlgeboren! Welch eine Freude, Euch…“ Gudekar räusperte sich. „In Anbetracht der unangenehmen Nachricht von der Jagd“, der Anconiter blickte zu Yendans Leichnam, „wäre es wohl unangebracht, von ‚Freude’ zu reden. Die Hohe Dame Croy hat mir gerade mitgeteilt, dass zwei Knechte meines Vaters nicht auffindbar sind.“ Seine Stimme klang ernst und besorgt. „Sie hatten drei weitere Pferde dabei, darunter wohl das meiner Schwester und jenes ihrer Wache. Alle vier habe ich hier noch nicht gesehen. Aber vermutlich gibt es für ihr Fehlen eine einfache Erklärung.“ Der Magier zuckte mit den Schultern.

“Möglich”, kommentierte die Adlige. “Möchtet Ihr, dass wir uns im Dorf umhören und sie suchen? Einen berittenen Suchtrupp wird man ja wohl erst losschicken, wenn sich der Sturm vollends gelegt hat, oder wie sind die Pläne?”

„Oh, ich habe selbst gerade erst davon erfahren.“ Gudekar seufzte. „Scheinbar weiß noch niemand, wo die Gruppe hin ist. Ich denke also nicht, dass es bereits Pläne gibt.“ Der Magier deutete auf seine Ritterin. „Meine Fr… ähm,“ - nach den Ereignissen des Vormittags fiel es Gudekar schwer, die Distanz zu Meta wiederherzustellen, die in der Öffentlichkeit geboten war - „meine Beschützerin wird nach der Ansprache meines Vaters ebenfalls auf die Suche gehen. Vielleicht wollt Ihr Euch mit ihr zusammentun?“

“Wollen wir”, bestätigte die Adlige knapp, bevor sie einen flüchtigen Blick nach hinten zu ihrer Bedeckung warf. Lûthardt nickte seiner Dienstherrin zu und streifte dabei seine verdrießliche Miene ab. Die Aussicht darauf, wirklich etwas Sinnvolles tun zu können, schien sein Pflichtbewusstsein zu befördern.

***

“Da ist nichts!”, vernahm Meta die kreischende Stimme von Mika, die eigentlich direkt neben ihr stand. Mika unterhielt sich mit Imelda, doch das hatte Meta irgendwie noch gar nicht registriert, so sehr hing sie ihren Gedanken wegen der verschwundenen Personen nach.

“Imelda!” Freudig huschte Meta zu der Geweihten. “Ich wollte im Sturm nach dir schauen, ich war draußen und ritterlich. Zum Glück ist dir nix passiert.” Ebenso überschwänglich lachte sie Mika an. “Und du warst ja dann bei Gudekar. Wie geht es euch?” Bei Mika war sich Meta noch recht unsicher, sie konnte sie noch nicht so recht einschätzen und hatte ihr zuviel anvertraut. Leider war ihr, auch wenn die Vermissten sie ablenkten und sie endlich eine Aufgabe hatte, bewusst, dass beide Frauen als Geweihte nie völlig zu ihr und Gudekar stehen würden. Aber gerade darüber wollte sie mit Imelda unter anderem sprechen.

“Du hast nach mir gesucht und wolltest mich retten, Meta? Und das ganz ohne Ritterrüstung?” Imelda lachte amüsiert und klopfte stolz auf den Tellerhelm, den sie noch immer trug. “Schau’ mal, mein Helm! Den hat mir Meister Limrog geliehen. Schick, was?” Imelda begann kokett zu posieren und strich keck über den Rand des Helms, bevor sie laut loslachen musste. “Schön, dass es dir gut geht, Ritterin Meta. Da wären wir uns ja fast im Sturm begegnet. Ich war ja auch draußen und habe Leute in Sicherheit gebracht."

Limrog drehte sich kurz zu den drei Frauen. “Wenn er Euch gefällt, könnt Ihr den Helm behalten. Ich brauche ihn nicht mehr.” Dann schaute er wieder nach vorne in der Erwartung auf die Rede seines Lehnsherren.

Mika war ganz froh, dass Imelda durch Meta, die auch eine Freundin Imeldas war, und den Zwergenschmied abgelenkt war. So würde sie sich vielleicht unangenehme Nachfragen ersparen. Vorsichtig versuchte sie, ein paar Schritt Raum zwischen sich und die anderen zu bringen. Hoffentlich würde wenigstens Gudekar nicht weiter nachhaken. Sie drehte den Kopf zu ihm und bedeutete ihm mit ausgestrecktem Zeigefinger vor den Lippen, einfach still zu bleiben.

Gudekar lächelte seine Schwester beruhigend an, denn er hatte verstanden.

“Oh, wirklich!?" rief Imelda dem Angroscho lauthals entgegen. "Seid Ihr Euch sicher, Meister Limrog? Nicht, dass Ihr ihn nochmal benötigt und dann ist er nicht mehr da?” Die Hadingerin fuhr noch einmal über den Rand des Helms. “Schon praktisch, so ein Tellerhelm und... ” Imelda hob den Helm einmal kurz hoch und präsentierte Meta ihre lockigen Haare, die jedoch wild in alle Richtungen abstanden. “Tadaaa! Meine Haare sind trotz Sturm trocken.” Sie strahlte Limrog übers ganze Gesicht an. "Vielen, vielen Dank!"

Limrog winkte ab. “Ach, was soll ich denn noch mit dieser alten Suppenschüssel? Für meinen Dickschädel ist der Helm eh viel zu klein.” Er schaute zu Imelda hoch. Seine Mundwinkel zogen sich ein ganz klein wenig nach oben. “Und Euch scheint er ja…, naja zumindest hält er Eure Haare trocken.” Diese wunderschönen feuerroten Haare, wie lodernde Flammen in der Esse. “Das ist ja schon mal was!”

„Oh ja, deine wunderschönen Haare.“ Meta grinste verschmitzt und zupfte an einer der roten Strähnen, die unter Imeldas Helm hervorlugten. „Jammerschade, wenn die nass werden würden. Und wie praktisch der Helm ist. Zur Not ein Teller, wenn’s mal wieder Gulasch gibt…“ Sie kniff die Lippen zusammen, da sie nicht in der allgemein gedrückten Stimmung durch Gelächter auffallen wollte. „Aber hast recht, auf Dauer brauche ich auch bessere Rüstung. Zuerst muss ich aber Geld verdienen. Das ist das erste Mal, dass ich alleine als Ritterin unterwegs bin.“ Sie freute sich, mit Imelda über alltägliche Dinge reden zu können und rollte mit den Augen. „Ich Depp. Mein ganzes Geld von Thymon hab ich für die Waisen gespendet. Es kam mir spontan. Travia mag so falsch ausgelegt werden, aber für die Kinder ist es ein Segen. Und wenn ich später reich geworden bin, dann besuche ich dich in der heißen Gluthöhle, wo auch immer du grad bist und wir machen uns eine schöne, heldenhaft-göttergefällige Zeit ohne Männer.“ Sie knuffte Imelda am Oberarm und lächelte fröhlich mit den Augen.

Limrog lachte kurz spöttisch auf. „Als Geleitschützerin eines so bedeutenden Magus verdient Ihr vermutlich eine gute Münze, hohe Dame. Wenn Ihr Euren Lohn sinnvoll ausgeben wollt, könnte ich Euch eine Rüstung anfertigen.“

Überrascht lugte Meta zu dem Angroscho mit schrägem Kopf hinab und antwortete mokant: “Aber gerne, wenn ich bei der nächsten Flut oder im Sumpf ersaufen will, dann komme ich zu Euch. Ich gehe davon aus, dass Ihr mir als Freundin des Magus einen Vorzugspreis geben werdet.”

„Oh, seid gewiss, meine Arbeit ist jeden Heller wert, den ich verlange“, erwiderte Limrog. Er wirkte nicht so, als wäre er bereit, hier bereits auf einen Freundschaftspreis einzugehen. „Auf die Qualität könnt Ihr Euch verlassen. Ich will ja nicht, dass Ihr nach Eurem ersten Lanzengang mit einem Loch durch die Brust durch die Gegend rennt und allen Leuten zuruft: ‚Seht, was mir dieser Zwerg angetan hat! Mit einer ordentlichen Rüstung wäre das nicht passiert!‘ Das wäre schlecht für das Geschäft.“

Meta antwortete in fließendem Rogolan. “Damit scheint Ihr Euch auszukennen. Schlimm genug, von unfähigen Rittern als ‘Zwerg’ bezeichnet zu werden, das Geschäft läuft so natürlich nicht. Sicher könnt Ihr mir mittlerweile etwas bieten, das Eurem Ruf gerecht wird, Meister."

Limrog war beeindruckt. Nicht oft begegneten ihm hier in Lützeltal Gigrim, die das Rogolan derart beherrschten. So antwortete er ebenfalls in der Sprache seines Volkes. “Ich hoffe nicht, dass Ihr zu diesen unfähigen Rittern gehört. Es wäre bedauerlich, wenn Eure Brust von einer Lanze durchstoßen würde. An meiner Arbeit soll das gewiss nicht liegen. Schaut später bei mir vorbei. Wenn Ihr etwas braucht, werden wir uns über einen angemessenen Preis für gute Arbeit schon einig werden.” Der Schmied wollte einfach mal darüber hinwegsehen, dass diese Ritterin sich mit dem Magier eingelassen hatte. Er hoffte, dass sie ansonsten eine vernünftige Frau war, die es wert war, für sie seine Zeit mit einer passenden Schmiedearbeit zu vergeuden.

„Wenn es an der Zeit ist, komme ich darauf zurück, Meister Limrog. Wir werden sicher ins Geschäft kommen.“ Anergennend nickte sie ihm zu.

Aufmerksam lauschte Imelda dem Gespräch zwischen Meta und dem Angroscho. “Ihr versteht etwas von Gestechrüstungen, Meister Limrog?” fragte sie neugierig nach und versuchte ihre Überraschung zu überspielen. Da ihr Bruder sich dem Lanzengang als seiner größten Leidenschaft verschrieben hatte, kannte sie sich mit den Reparaturarbeiten an dessen Rüstungen aus. Wollte der Angroscho ihr etwa imponieren? Letztes Jahr zum Tsatag hatte sie sich an einem besonderen Schild für Hardomar versucht. Doch eine gute Gestechrüstung herzustellen erachtete sie als eine sehr hohe Kunst, die sie bisher noch nicht erlernt hatte. Nicht umsonst hatte Hardomar vor zwei Götterläufen einen beachtlichen Teil des Etats seines Lehens für drei Gestechrüstungen ausgegeben, was zu einem großen Disput innerhalb der Familie geführt hatte. Wie er sich die guten Stücke am Ende hatte leisten können, war ihr bis heute ein Rätsel. Und wie Meta eine solche Rüstung bezahlen wollte, erst recht. “Vielleicht wäre für den Anfang ein schönes langes Kettenhemd doch pragmatischer… und bezahlbarer?” schlug Imelda eher zaghaft vor. “Oder du fängst erstmal mit einzelnen Rüstungsteilen an, wie einer Brust- und Rückenplatte?” Aufmunternd knuffte sie Meta in den Oberarm. “Das macht auch schon was her.”

Limrog räusperte sich etwas verlegen. “Nun ja, es mag vielleicht Schmiede geben, die ihr Leben lang nichts anderes anfertigen als kunstvolle Rüstungen. Sie mögen durchaus noch etwas mehr Erfahrung auf diesem Gebiet haben. Aber ich kümmere mich seit Jahren um die Waffen und Rüstungen von Friedewalds Familie. Und bisher gab es noch keine Beschwerden über meine Arbeit! Oder haltet ihr den Helm für nicht gelungen? Ein paar einfache Platten oder Armschienen für die hohe Dame traue ich mir ganz gewiss zu. An etwas anderes hatte ich auch nicht gedacht.”

“Mit Eurer Erfahrung ganz gewiss, Meister Limrog!”, bekräftigte Imelda. Sie schmunzelte dem Angroscho flüchtig zu und wandte sich erneut an die Ritterin: “Siehst du, Meta? So eine Brustplatte wäre schon ein guter Anfang! Vielleicht kommt ihr ja später noch ins Geschäft.” Imelda knuffte ihrer Freundin auf den Oberarm. “Ist Linny denn noch nicht auf die Idee gekommen, dir eine gute Rüstung zu spendieren? Hast du zu deiner Schwertleite irgendwas besonderes von ihm geschenkt bekommen?”

“Ja, Imelda, das Schwert. Die Familie, Thymon und Linny sind sehr großzügig und behandeln mich, als wäre ich eine von ihnen. Aber ich sollte auch selbst etwas verdienen.” Imelda runzelte die Stirn. “Wie? Nur das Schwert? Bekommt das nicht jeder Knappe von seinem Schwertvater geschenkt?” Der Hadingerin fiel auf, dass sie wohl gerade nicht sehr taktvoll war. “Äh, also… das ist natürlich ein ganz prachtvolles Schwert! Du hattest es mir ja gezeigt.” Imelda rang sich ein begeistertes Lächeln ab. “Es ist noch viel schöner als das, was Hardomar von dem Herrn von Paggenfeld nach seiner Schwertleite bekommen hatte”, behauptete sie.

„He, das ist ein ganz besonderes Schwert.“ Sie knuffte Imelda scherzhaft  mit ihrem Ellbogen. „Na ja, und ich bin ja auch nicht die fleißigste Knappin gewesen. Dafür hat er mich, also das klingt seltsam, aber es scheint, als hätten die mich in ihre Familie aufgenommen.“

Die Hadingerin schmunzelte, ließ sich dann Metas Worte durch den Kopf gehen und fragte schließlich neugierig nach: “Wie meinst du das? Wurdest du von Thymon offiziell adoptiert?” Imeldas Augen wurden groß. “Oder… War Thymon etwa in jungen Jahren mal in Almada? Bei den Göttern!? Meta!!!”, rief sie sichtlich erschrocken laut aus. Als sie sich dessen gewahr wurde, trat sie an ihre Freundin heran und raunte ernsthaft in ihr Ohr: “Er ist doch nicht etwa dein leiblicher Vater, oder?”

“Garantiert nicht." Meta musste herzhaft lachen und hielt sich an Imeldas Schulter fest. “Das hat sich so im Laufe der Zeit entwickelt. Ich habe so viele Geschwister, da hätten sich die Älteren sicher erinnert. Obwohl, sicher wissen es nur die Götter. Meine Mutter hätte mich dann sicher gleich in die Nordmarken geschickt.” Sie sah kurz etwas nachdenklich aus, wer weiss, warum sie jetzt dort war? “Ach, die sind einfach nur lebensfroh und lieb.”

“Ja, das stimmt. Da hattest du Glück, dass du einen so gütigen Schwertvater bekommen hattest wie den Herrn Thymon. Der ist schon richtig nett!” Flüchtig überlegte Imelda, ob Thymon manchmal vielleicht zu nett zu Meta gewesen war und ihr zuviel hatte durchgehen lassen. “Ich glaube, die Bindung zwischen dem Meister und seinem Schüler ist immer sehr eng.” Die Hadingerin schmunzelte. “Und manchmal wohl auch zu dessen Sohn und Erben.”

Meta nickte, aber sie war nachdenklich geworden. In seinem typischen Geschwafel hatte, das fiel ihr jetzt erst auf, Danilo sogar erwähnt, dass irgendein Thymon ein guter Freund von ihm sei. Sie hatte damals wie so oft stoisch darauf gewartet, dass ihr Schwertvater endlich aufhören würde, zu parlieren.

Zu Limrog führte Meta ihren Wunsch noch etwas genauer aus. “Ein gutes Kettenhemd mit Platten. Es wäre eine Ehre, wenn ich das von Euch eines Tages erwerben könnte.”

“Angarusch-orom-drosch!” Limrog verneigte sich vor der Ritterin. “Ich freue mich, wenn wir uns sehen und Ihr mir einen Auftrag erteilt.”

***

Es dauerte nicht lange, bis die drei Frauen den Dorfplatz erreichten, wo sich trotz des Wetters schon eine Menge Leute versammelt hatten. Suchend sah sich Doratrava um, wobei sie immer noch Merles Hand festhielt.

Auf dem Marktplatz angekommen, blickte Merle ausdruckslos ins Leere, beobachtete mit starrem Blick das Menschengewimmel, ohne die Leute wirklich zu sehen. Das durch die Offenbarung von Gudekars Frevel und diesen beängstigenden Brief immer stärker gewordene, beklemmende Gefühl, dass alles, was sie kannte und liebte, gerade vor ihren Augen zerbrach, drohte sie jetzt völlig zu überwältigen. Merle merkte, wie sie zitterte. Den ganzen Tag schon wurde alles immer schlimmer und schlimmer. Es war einfach zu viel. Nur mühsam widerstand sie dem Drang, sich loszureißen und ins Gutshaus zu ihrer Tochter zu rennen, diese fest an sich zu pressen und nie wieder loszulassen; ihr Gesicht in Lulus feines, weiches Haar zu drücken, die Augen zu schließen und dort endlich Ruhe und Frieden zu finden… Mühsam presste sie die Lippen zusammen und umklammerte weiterhin krampfhaft Doratravas Hand.

Doratrava bemerkte Merles Zittern und dass diese die Kontrolle über sich zu verlieren drohte. Sanft machte sie ihre Hand los, welche Merle gerade zu zerquetschen drohte, dann zog sie diese in eine tröstende Umarmung. Gleichzeitig wurde sie des Toten gewahr, dessen Identität sie aber von hier aus nicht ausmachen konnte. “Ich bin da”, flüsterte sie Merle zu, “halt dich fest.” Gleichzeitig versuchte sie sicherzugehen, dass es wenigstens nicht Nivard war, der da tot auf dem Dorfplatz lag.

Merle erwiderte die Umarmung wortlos und drückte die Gauklerin an sich, presste ihr Gesicht an Doratravas Schulter. Nein, sie wollte nicht sehen, wer der Tote war. Sie wollte nicht noch mehr schlechte Nachrichten, noch mehr Schmerz. Für einen Moment schloss sie die Augen und versuchte, langsam und ruhig zu atmen. “Danke”, hauchte sie schließlich mit schwacher, kaum hörbarer Stimme in Doratravas Ohr, welche wortlos nickte und den Druck erwiderte, während ihr Blick über die Leute schweifte. Da entdeckte sie Nivard in der Menge auf der anderen Seite des Platzes. Erleichterung durchströmte sie, und sie winkte ihm zu und gleichzeitig zu sich, da sie Merle jetzt nicht loslassen wollte.

Außer Atem erreichte Tsalinde die beiden Damen. Sie war kurz zurückgegangen, um Isavena zu informieren und sie zu bitten, mit Siegmund auf keinen Fall den Hof zu verlassen. Dort, so hoffte Tsalinde, war ihr Sohn in Sicherheit. Wortlos reichte sie Doratrava die Stiefel und schaute sich um.

Mit einer Mischung aus Verwirrung und Dankbarkeit sah Doratrava die Edle an. Ihre Füße und auch die geliehenen Hosen waren bis zum Knie hoch mit Schlamm bespritzt, so wollte sie ihre Stiefel eigentlich nicht anziehen. Unschlüssig behielt sie diese daher erst einmal in der Hand, während sie schaute, ob Nivard ihr Winken bemerkt hatte.

Tsalinde entdeckte Lys bei der Jagdgesellschaft. Offensichtlich hatte er Friedewald gefunden und mit ihm gesprochen.

Lys entdeckte sie in der Menge und winkte ihr kurz zu. Er deutete ihr, zu bleiben wo sie ist und machte sich auf den Weg zu ihr.

“Lys ist auf dem Weg zu uns. Wie es scheint, hat er Friedewald gefunden und bereits mit ihm gesprochen.”

Merle, durch Tsalindes Worte etwas aus ihrer Lethargie gerissen, nickte. “Aber ich fürchte, Friedewald wird jetzt keine Zeit für uns haben…”

Jetzt hatte auch Nivards suchendes Auge Doratravas Winken endlich registriert. Sofort hielt er zielstrebig auf die Gruppe zu, völlig durchnässt, verschlammt und mit ernstem Gesichtsausdruck. "Doratrava! Merle! Ich bin so froh, Euch beide wiederzusehen!" In seinen Augen schwang aufrichtige Erleichterung, zugleich aber auch eine unterschwellige Anspannung. Bevor er nachfragte, was ihm auf dem Herzen lag, grüßte er zunächst auch Tsalinde freundlich. "Euer Wohlgeboren!" Dann wandte er sich wieder Doratrava und Merle zu: “Ich hoffe, hier hat sich alles zum Guten gewendet!” sprach er offensichtlich das Los der Firunsnovizin an, meinte damit aber auch die Geschicke Merles, um die er sich gleichfalls große Sorgen machte.

Ein strahlendes Lächeln erschien auf Merles Gesicht, als sie Nivard wohlbehalten auf sich zukommen sah. Ohne groß nachzudenken, drückte sie ihn in eine stürmische Umarmung, aus der sie sich jedoch ebenso schnell wieder mit einem verlegenen Blick löste. Auf seine Frage senkte sie das Haupt und schüttelte nur stumm den Kopf, wusste sie doch nicht, was sie sagen, wo sie anfangen sollte.

In seiner ersten, von Herzen kommenden Reaktion erwiderte Nivard die Umarmung, um sich ebenfalls etwas unsicher wieder aus dieser zu lösen - sowohl, weil er sich fürchtete, Merle vollkommen zu verdrecken, nochmehr aber, weil er sorgte, dass er es gewesen war, der sie in Verlegenheit gebracht hatte.

Ihre Reaktion auf seine Frage schmerzte ihn - wie sehr hatte er darauf gehofft, dass der Himmel über ihr bereits wieder etwas aufgerissen wäre. Was hätte Nivard darum gegeben, jetzt gleich unter vier Augen und in Ruhe mit ihr sprechen zu können - hier konnte er leider nicht weiterfragen - nicht vor den Ohren Tsalindes, und selbst wenn Doratrava einiges mehr wusste, wäre es auch seltsam, zu dritt darüber zu reden, was Merle beschäftigte. Stattdessen nickte er, etwas verzögert, und schenkte ihr ein mitfühlendes, ernstes Lächeln.

"Ihr müsst mir auf dem Weg ins Trockene unbedingt erzählen, was hier geschehen ist." sprach er wieder vage alle an, darauf hoffend, Merle würde heraushören, dass er weiterhin vor allem sie meinte.

“Doch vorher..." Nivard schluckte... "wir sind leider mit schlechten Nachrichten von der Jagd zurückgekehrt."

Die junge Frau schluckte schmerzhaft bei der Vorstellung, Nivard irgendwie erklären zu müssen, was heute zwischen ihr und Gudekar geschehen war, wie ihr mit einem Schlag der Boden unter den Füßen weggerissen worden war. Sie dachte an die Ereignisse im Rahjaschrein und spürte, dass ihr vor Scham über die erlittene Demütigung die Röte ins Gesicht stieg. Dennoch, eigentlich war das alles unwichtig und sie mussten sich am dringendsten mit dem Brief und der Gefahr auseinandersetzen, in der Gwenn und die ganze Familie schwebten. Verunsichert biss sich Merle auf die Unterlippe, bis sie vorsichtig den Blick hob und versuchte, sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. "Was ist passiert?" fragte sie schließlich mit leiser, belegter Stimme und schaute Nivard eindringlich an.

Doratrava war ein wenig verblüfft, dass Merle Nivard so stürmisch begrüßt hatte, so dass sie erst gar nichts hatte sagen können. Merle hatte die wichtigste Frage aber schon gestellt, doch ganz konnte sie sich nicht zurückhalten. “Schön, dass wenigstens dir nichts passiert ist, obwohl ich gar nicht auf dich aufpassen konnte”, begrüßte sie Nivard also trotz der ernsten Situation mit einer gedämpften Mischung aus spielerischem und wehmütigem Ton. “Mika geht es übrigens soweit gut, wenn das auch ein wenig komplizierter war als gedacht.”

"Das ist gut, dass die Novizin Mika wieder wohlauf oder wenigstens auf dem Weg der Besserung ist!” zeigte Nivard sich erleichtert. “Der Jagdknecht Yendan hatte leider weniger Glück: Eine Wildsau hat sich in den armen verbissen..." er überlegte, ob er die ganze schreckliche Wahrheit ausbreiten sollte, entschied sich dann aber, es kurz und schmerzlos zu halten: "...und ihm im eigenen Todeskampf die Beinschlagader zerfetzt. Es war wohl nichts zu machen." Nivards Gesichtsausdruck zeigte, wie sehr ihn dieses Unglück noch immer betroffen machte. "Ich selbst war nicht zugegen, als es geschah." schloss er seinen Bericht, mit einem Seufzer.

“Schön wenigstens Euch wohlauf zu sehen, Nivard.” Begrüßte Tsalinde ihn, dann trat sie kurz einen Schritt zur Seite um ihren Gatten zu umarmen und ihm einen schnellen Kuss zu geben. “Darf ich Euch meinen Mann, Lys von Kargenstein vorstellen? Lys, dies ist Nivard von Tannenfels, einer meiner Mitstreiter.”

“Grüß’ Dich, Lys! Ich freue mich, Dich wiederzusehen, noch dazu als Gemahl einer Mitstreiterin!” Wo sonst ein Grinsen auf Nivards Gesicht gestanden hätte, war - den Umständen geschuldet - nur ein ernstes Lächeln zu sehen.

“Es ist schön, dich hier zu treffen”, grüßte Lys. Dann wandte er sich an den Rest der kleinen Gruppe. “Ich konnte mit Friedewald von Weissenquell sprechen und er sicherte mir zu, auf Gut Wohlgedei zu euch zu stoßen. Er wolle ohnehin auf den Höfen nach dem Rechten sehen.”

"Danke. Ich hoffe, es macht Vater Friedewald nicht zu große Umstände." Merle nickte Lys warm und dankbar zu, inzwischen wieder deutlich gefasster. Ein leises Lächeln erschien auf ihren Lippen; es tat unendlich gut, von Freunden umgeben zu sein. Wie erstaunlich, dass sie diese wundervollen Menschen erst gestern und unter eigentlich bedrückenden Umständen kennengelernt hatte und dass sie ihr dennoch - oder vielleicht gerade deswegen - so schnell und so sehr ans Herz gewachsen waren. Sie schaute Doratrava und Tsalinde fragend an, dann blickte sie zögernd zu Nivard. "Wenn ihr nichts dagegen einzuwenden habt, würde ich den Herrn von Tannenfels gern hinzuziehen, glaube ich."

Lys nickte. “Gern geschehen.”

Tsalinde, die sichtbar die Nähe ihres Mannes suchte, schmiegte sich an Lys und sprach: “Das ist eine gute Idee. Nivard, wärt ihr so gut und begleitet uns zum Hof Wohlgedei. Wir haben wichtige Informationen und Neuigkeiten, die auch unsere Queste betreffen.”

Dem hatte Doratrava nichts hinzuzufügen, sie nickte lediglich erfreut dazu. Sonst hätte sie diesen Vorschlag selbst gemacht.

Alarmiert hatte Nivard die Augen aufgerissen und sah reihum Merle, Tsalinde, Lys und Doratrava an. "Selbstverständlich komme ich mit! Könnt ihr vielleicht bereits hier und jetzt wenigstens eine leise Andeutung machen, was geschehen ist?" Ein flaues Gefühl begann sich in seiner Magengegend breitzumachen. Obwohl er die Antwort zu kennen fürchtete, wollte er es dennoch wissen: "Sind es gute oder noch mehr schlechte Nachrichten?"

Doratrava presste die Lippen zusammen, es war nicht an ihr, von dem Brief zu berichten, das musste wohl Merle tun. Sie warf dieser einen Blick von der Seite zu und fasste unwillkürlich tröstend nach ihrer Hand, wie schon oft heute.

"Schlechte Nachrichten", sagte Merle leise und drückte Doratravas Hand. "Sehr schlechte." Unwillkürlich legte sie die andere Hand auf die Tasche, in der sie den Brief verwahrte, wollte diesen aber auf keinen Fall in der Öffentlichkeit herausholen.

Nivard schluckte und sah die anderen entsetzt an. ‘Bei den Göttern!’ Lares’ und auch seine Sorgen waren also begründet. Wie gerne hätte er sich komplett geirrt. Es hörte einfach nicht auf. Solange dieser Frevler noch am Leben war…’

Jetzt wollte - nein, von ‘wollen’ konnte keine Rede mehr sein… jetzt musste er wissen, was geschehen war. Hier war aber tatsächlich ein schlechter Platz dafür. “Brechen wir gleich auf? Oder warten wir noch einen kleinen Moment?” interpretierte Nivard mit Blick in Friedewalds Richtung die Position und Haltung, die dieser gerade eingenommen hatte. “Ich glaube, der Edle will gerade noch einige Worte sprechen…”

Auch Doratrava warf einen Blick zum Zentrum des Platzes. “Wir können uns jetzt nicht einfach verdrücken, das wäre wohl ein Affront gegenüber unserem Gastgeber. Er wird ja hoffentlich nicht so lange sprechen wollen.” Zufrieden sah sie dabei nicht aus, aber sie meinte, was sie sagte.

“Nicht nur gegen ihn, fürchte ich.” warf Nivard ein. “Noch mehr wider Firun, vor allem aber gegen Yendans Andenken. Alleine ihm sind wir schuldig, noch kurz zu verweilen.” In einer Ansprache Friedewalds konnte es in dieser Situation ja um nichts anderes gehen.

Merle nickte ernst. "Und Vater Friedewald sollte über die... Nachrichten ohnehin informiert werden." Sie wirkte unschlüssig, ob sie noch etwas sagen sollte. "Wir glauben, dass die Sicherheit der Hochzeit in Gefahr sein könnte... aber wir wollen verhindern, dass es unter den Gästen zu… Panik kommt.”

“Oh nein!” entfuhr es Nivard nur, bevor er sich auf die Lippen biss. “Weiß Friedewald bereits, dass da etwas auf ihn zukommt?” schob er kurz darauf hinterher.

Die junge Frau biss sich auf die Unterlippe und schüttelte schnell den Kopf. "Ich hab vorhin einen Brief geöffnet, der eigentlich an Gudekar gerichtet war", gestand sie mit tonloser Stimme, schluckte und schaute schuldbewusst auf ihre Stiefelspitzen. Wieder drückte Doratrava tröstend ihre Hand.

Nivard schien vorliegend keinen Anstoß am verletzten Briefgeheimnis zu nehmen, eher im Gegenteil. "Hauptsache, dass der Brief geöffnet ist. Kennt Gudekar den Inhalt inzwischen auch?"

Für Merle schüttelte nun Doratrava wortlos den Kopf. “Keine Zeit, er war beschäftigt mit Verletzten wegen des Sturmes, und außerdem … .” Sie verstummte, das war auch etwas, das Merle vielleicht besser selbst erklärte.

"... und außerdem?" fragte Nivard im Flüsterton nach, bereits auf die nächste Unglücksbotschaft gefasst.

Merle wirkte nun noch verlegener und errötete sichtlich. Sie wusste, dass eine Erklärung von ihr erwartet wurde. "Ich, ähm... also, ich... ich vertraue ihm nicht mehr. Also, nicht in dieser Sache. Nicht richtig." Sie presste sichtlich verunsichert die Lippen zusammen.

"Verstehe." erwiderte Nivard nur äußerst knapp, doch signalisierte der mitfühlende Tonfall, dass damit ein an Merle gerichtetes ‘Ich verstehe Dich’ gemeint war.

“Ich glaube, das müssen wir alles nachher besprechen”, raunte Doratrava. “Der Friedewald wartet nur noch auf uns, wenn ich seinen Blick richtig deute.”

“Ohja, Du hast natürlich Recht!” Nivard straffte sich äußerlich wie innerlich, legte die Hände zusammen und drehte sich Friedewald zu.

Merle nickte und strengte sich an, aufmerksam und mit neutralem Ausdruck in Richtung des Edlen zu blicken. Innerlich drehten ihre Gedanken wilde Kreise. Was sollte es bringen, Friedewald, auf dem gerade so viel Last lag, über die unbestimmte Gefahr durch den Pruch zu informieren? Wenn dieser übermächtige Feind es wirklich auf diese, ihre Familie abgesehen hatte, dann konnten sie alle nur abwarten, bis er zuschlug und sein blutiges Handwerk in ihrer Mitte verrichtete. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, tun konnte, während in ihrem Herzen doch vor allem Leere und Hoffnungslosigkeit herrschten. Dennoch gab es ihr Halt und Kraft, die Zuneigung und den Beistand ihrer Freunde zu spüren - etwas, das sie in den letzten Jahren in dieser Form nicht gekannt hatte. Mit einem Gefühl von Wärme in ihrem Inneren atmete sie tief durch und versuchte, sich voll und ganz auf die Ansprache ihres Schwiegervaters zu konzentrieren.

Beruhigt hatte Tsalinde zur Kenntnis genommen, dass Merle nur das nötigste erzählt hat. Hier war definitiv nicht der richtige Ort um derartiges zu besprechen. Sie tastete nach der Hand ihres Mannes und verschränkte ihre Finger mit seinen. Es fühlte sich gut an, jemanden an ihrer Seite zu wissen, der zu ihr stand.

Gemeinsam mit ihren Freunden lauschte sie den Worten des Edlen.

~ * ~

Die Ansprache

Als der Zustrom Schaulustiger nachließ und das Getuschel abebbte, ergriff Friedewald schließlich das Wort.

“Liebe Freunde, liebe Verwandte, werte Gäste! Volk von Lützel…” Friedewalds Stimme brach und er schien leicht zu schwanken.

Wulfhelm hatte fast erschrocken aufgemerkt, als der Herr von Lützeltal anhob zu sprechen, obwohl seine Worte wohl kaum überraschend kamen. Mit einem kurzen Kopfschütteln riss er sich zusammen und trat dann etwas versetzt hinter den Edlen, die Arme hinter dem Rücken verschränkt und die Brust durchgedrückt, seine Miene versteinert.

Praiogrimm, der schon seit vielen Jahren dem Edlen diente, erkannte Friedewalds Schwächeanfall sofort und ergriff sofort seinen Arm, um ihn zu stützen. „Schnell“, rief er. „Hat jemand etwas zu trinken für seine Wohlgeboren?“

Der Ritter der Baronin von Rodaschquell griff sofort nach seinem kleinen Wasserschlauch und reichte ihn wortlos weiter.

Praiogrimm nahm den Schlauch mit einem anerkennenden Kopfnicken von Darian entgegen und reichte ihn dem Edlen.

Friedewald nahm das Getränk und trank einen kräftigen Schluck. „Danke Praiogrimm! Es geht schon wieder.“ Der ältere Edle atmete noch ein paarmal tief durch, bevor er erneut zu reden ansetzte.

Tsalinde sah mit Entsetzen die Schwäche des Edlen. Auch wenn sie mit ihm nicht immer einer Meinung war, respektierte sie seine Art, das Haus zu führen.

‘Der Arme, das alles ist ein wenig zu viel für ihn’, dachte Murla und rechnete nach, dass Friedewald jetzt schon weit über sechzig Sommer alt war und dass das bei den Menschen schon ein hohes Alter war.

“Bei der gütigen Mutter Travia! Wir hatten geladen, um hier ein Freudenfest zu Ehren meiner Tochter Gwenn und meines baldigen Sohnes Rhodan zu feiern. Wir wollten Euch alle hier im Schoß unserer Familie, an unserem Herdfeuer willkommen heißen. Es sollte ein Freudenfest für alle werden. Gleichzeitig wollten wir die Gelegenheit nutzen, die sich durch die Anwesenheit so vieler jagderprobter Recken bot, um dem Volk von Lützeltal eine Last durch eine zu groß in der Anzahl gewordene Rotte von Wildsauen zu nehmen. Auch dies sollte ein Teil der Festlichkeiten werden, wenn wir die Beute mit den Bauern und Handwerkern des Dorfes teilen, die in den letzten Monden unter den Verwüstungen der Rotte leiden mussten. Zumindest in dieser Hinsicht war die Jagd nicht ganz erfolglos. Es wurde die von seiner Gnaden Firumar von Albenholz geforderte Anzahl an Tieren erlegt. Seine Gnaden und mein getreuer Gefolgsmann Leodegar Häsler sind noch im Wald bei der Beute, um diese aufzubrechen, bevor sie abtransportiert werden kann.” Friedewald schluckte und machte eine Pause. Noch einmal trank er einen Schluck. Wer nah genug an ihm stand, sah ein leichtes Zittern an dem Edlen und die Tränen, die sich in seinen Augen bildeten. Mit zittriger Stimme sprach er weiter, wobei seine Worte nun deutlich leiser waren als zuvor.

“Leider hat jedoch auch Firun, der Alte vom Berg, seinen Tribut verlangt und in seiner gnadenlosen Härte zugeschlagen. Einen Freund, einen Wegbegleiter, einen treuen Gefolgsmann hat er uns heute genommen. Im tapferen Zweikampf mit einer der Säue wurde Yendan Zerf aus dem Gefolge eines treuen Freundes meines Sohnes, dem hohen Herren Rondrard von Storchenflug, schwer verletzt und ließ sein Leben, bevor ihm Hilfe zuteil werden konnte. Rondrard, tretet vor, guter Freund!”

Langsam trat der Ritter vor und betrachtete das bleiche Gesicht seines Spurenlesers, der gerade mal neun Jahre älter war als er selbst. Traurig nickte er einem Hünen zu, der im Kreis der Umstehenden stand und nun näher kam. Mit schmerzverzerrtem Gesicht fiel er auf die Knie und nahm die Hand des Toten in seine. Diejenigen, die beide Gesichter sehen konnten, stellten eine gewisse Ähnlichkeit fest. Rondrard legte dem Hünen eine Hand auf die Schulter.

Kalman trat hervor und stellte sich neben seinen Freund.

“Yendan war immer da”, begann Rondrard mit zittriger Stimme, “schon bevor ich Page wurde, waren die Gebrüder Zerf immer in meiner Nähe. Auch, wenn sie mich gelegentlich ärgerten, sie waren ja auch noch Kinder, und ich der hochnäsige Spross des Edlen, so waren sie immer für mich da. Loyal, tapfer und gerecht. Sein Flötenspiel am abendlichen Lagerfeuer fing immer die aktuelle Stimmung ein und vermochte sie sogar zu ändern, wenn sie gar zu düster war. Heu… heute Abend wird niemand die Stimmung einfangen, niemand wird die Düsternis vertreiben. Niemals wieder werden wir sein Flötenspiel hören.”

“Auch ich erinnere mich an die gemeinsamen Abende, die durch sein Flötenspiel erst zu dem wurden, was sie waren”, stimmte Kalman ein.

Rondrard griff in die Fellweste des Toten, holte eine Flöte hervor und zerbrach sie auf seinem Knie. “Schweigen umfängt die sterbliche Hülle, harrend in der Vergänglichkeit!” Die Flötenstücke legte er Yendan an die Seite. “Wohlgeboren, meine Lanze und ich möchten uns zurückziehen, um zu trauern. Habt Ihr einen Raum für uns?”

Als Rondrard die Flöte zerbrach, zuckte Liana sichtbar zusammen und wandte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ab.

Friedewald schritt vor und trat an Hesindiard Zerf, den Bruder des Toten heran. Der Edle kniete vor dem Hünen nieder, senkte ehrerbietend den Kopf und reichte ihm einen Tannenzweig. “Dies ist die Trophäe, die Eurem Bruder nach der Jagd zugestanden hätte. Die Sau soll, sobald sie hierher gebracht wurde, Euch zustehen.” Der Weissenqueller stand wieder auf und wandte sich an seinen Sohn. “Geleite den hohen Herren von Storchenflug und sein Gefolge in unser Haus in den Salon. Bernhelm soll alles herrichten und sich dann den Trauernden zur Verfügung bereit halten. Bringt anschließend den Leichnam zur Aufbahrung auf das Gut.”

Kalman ging zu seinem Vater und flüsterte ihm etwas ins Ohr, doch die Worte waren für die Umstehenden nicht zu verstehen. Schließlich sagte er laut: “Ich werde persönlich für Rondrard und Hesindiard da sein und mich kümmern.”

“Seit der Mittagszeit!” rief der Herr des Lehens aus. “Bernhelm und Marno?” Friedewald blickte sich suchend in der Menge um. “Und niemand weiß wo sie sind?”

Kalman schüttelte den Kopf.

“Gut”, stimmte Friedewald schließlich zu. “Kümmere du dich! Die Vermissten können wir später suchen.”

Still und in sich gekehrt stand Liana unweit der Bahre. Doch war es weniger der Anblick des Verstorbenen, der sie so ergriff. Schon immer hatte sie besonderes Gespür für die Stimmung gehabt, die sie umgab. Und die Bedrückung, die hier herrschte, war geradezu greifbar.

Es fröstelte sie.

Langsam zog sie ihren fein gewirkten Umhang etwas enger um sich und schloss ihre Augen. Kummer, Trauer, Bedrücktheit, ein Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit: All das nahm sie wahr. Und in sich auf.

Während der Ansprache des Edlen starrte Doratrava mehr oder weniger ins Leere. Die gedrückte Stimmung der Umstehenden ging nicht spurlos an ihr vorbei, auch wenn sie weder den Edlen und schon gar nicht den Toten gut kannte beziehungsweise überhaupt gekannt hatte. Dennoch ging ihr der Tod dieses Jagdgehilfen nicht wirklich nahe, anders als wenn zum Beispiel Merle etwas passiert wäre, obwohl sie diese erst seit gestern kannte. Unwillkürlich warf sie der jungen Frau, der sie die Seelenqualen deutlich ansah, einen mitfühlenden Blick von der Seite zu.

Aber da war ein unterschwelliges Gefühl von diffuser Bedrohung, welches sich auf Doratravas Gemüt gelegt hatte, seit der Inhalt des Briefes an Gudekar zu ihrer Kenntnis gelangt war. Und nun hörte sie, dass offenbar Leute verschwunden waren. Sie rückte wieder ganz nahe an Merle heran und raunte ihr zu: "Weißt du was von diesen Vermissten?"

Mit düsterer, gedankenverlorener Miene hörte Merle Friedewalds Ansprache zu. Es war, als ob der Sturm die fröhliche, unbeschwerte Feststimmung aus dem Lützeltal geweht hätte, ebenso wie die bunten Girlanden und Wimpel, die heute früh noch den Dorfplatz geschmückt hatten. Die sichtbaren Verwüstungen des Sturms, der aufgebahrte Tote, seine trauernden Gefährten, der völlig gebrochen wirkende Herr Lares... Merle hatte das Gefühl, nicht mehr weinen zu können nach den vielen Tränen, die sie heute schon vergossen hatte, doch als sie beobachtete, wie dieser arme, unschuldige Hund neben seinem Herrn und der toten Hündin treu Wache hielt, rannen ihr doch wieder stumme Tränen über die Wangen. Bei Doratravas Frage schreckte sie ein bisschen zusammen und überlegte ein paar Momente, während sie ihren Blick über die versammelte Menge schweifen ließ. “Vermisste, nein”, sie schüttelte ratlos den Kopf. “Es sind ja einige Leute nicht hier… Wahrscheinlich sind viele lieber drinnen im Warmen geblieben…” Plötzlich weiteten sich Merles Augen. “Warte mal, vorhin, als ihr Mika ins Gutshaus gebracht habt, da hatte Wiltrud kurz erwähnt, dass Marno nicht da wäre. Das ist ihr Sohn, der Pferdeknecht. Und ein paar Pferde hätten auch gefehlt.” Sie blickte fragend zu Lys, der angeboten hatte, bei der Suche zu helfen. “Er ist bisher nicht wieder aufgetaucht, oder?”

In sich gekehrt hatte Nivard der Ansprache Friedewalds zugehört - so ruhig der Ausdruck auf seinem Gesicht wirkte, so wild stürmten die Gedanken in ihm - das unbarmherzige Los Yendans auf der einen Seite, die furchtbaren Neuigkeiten, die er gleich noch erfahren würde, auf der anderen. Und auch die Ungewissheit, was nun aus Merle und Gudekar geworden war, ließ ihm keinen Frieden. Als die Rede auf die beiden Verschwundenen kam, wich jedoch schlagartig alle Starre aus ihm. Alarmiert fragte er Merle und Lys: "Hat denn überhaupt schon jemand nach den beiden gesucht?"

"Ich weiß nicht", antwortete Merle und biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe. "Oje, ich hätte mich gleich darum kümmern sollen, als Wiltrud das gesagt hat... Aber es gab so viel Durcheinander, da hab ich das ganz aus den Augen verloren!"

“Ich helfe beim Suchen, wenn es nötig sein sollte”, bot sich Doratrava kurzerhand an, schon allein aus dem Grund, dass sie Merle wenigstens diese Sorge nehmen konnte, denn sogar das war wohl etwas, für das sie sich verantwortlich fühlte. Dann schaute sie Lys an, ob dieser Entwarnung geben konnte.

“Ich auch.” zeigte sich auch Nivard sofort hilfsbereit. “Wenn sie hier nirgends stecken, borgen wir uns einen Jagdhund, dann müssten wir ihre Fährte eigentlich rasch finden können.” Er hoffte, dass ihn das regnerische Wetter nachher nicht noch Lügen strafte. Davon unbenommen wollte er vor allem wenigstens diese Last für den Augenblick von Merles Schultern nehmen.

Merle nickte nur schweigend, überwältigt von den vielen Problemen und Fragen, die sich immer mehr auftürmten und kein Ende zu nehmen schienen.

Lys und Tsalinde wollten gerade etwas dazu sagen, da vernahmen sie die Stimme Mikas, die zu einem Gebet ansetzte.

~ * ~

Mikas Gebet

Bevor Kalman aufbrechen konnte, die Trauernden ins Herrenhaus zu führen, trat Mika von Weissenquell von der anderen Seite an den Verstorbenen heran. In der Rechten hielt sie einen Pfeil. Ohne Aufforderung begann sie zu rezitieren. “Ifirn, Tochter des weißen Jägers, erhöre uns! Des Vaters Wille hat genommen, was uns das Liebste, geleite es sanft auf seinem Weg ins Paradies! Alter vom Berg, eiskalter Herr, geleite diese Seele, die du uns genommen, in deine Jagdgründe, führe seine Hand auf der ewigen Jagd und lade ihn an deine Tafel. Deine Lehre, mein Leben. Mein Leben, Dein Zorn. Dein Zorn, meine Prüfung. Meine Prüfung, Deine Lehre.” Die Firunnovizin hob den Pfeil, führte die linke Hand ebenfalls an den Pfeil und versuchte, ihn durchzubrechen. Doch sie hatte deutlich Mühe, konnte die linke Hand den Pfeil schließlich nicht kraftvoll umgreifen. Ein, zwei, drei Versuche gingen fehl, und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Doch dann hatte sie es geschafft, den Pfeilschaft so in die Handfläche zu legen und mit Zeigefinger und Daumen zu fixieren, dass sie den nötigen Druck ausüben konnte und der Pfeil brach entzwei.

Während Mika mit dem Pfeil beschäftigt war, verlor der Sturm endgültig an Kraft. Auch riss die Wolkendecke an einer Stelle auf und einige Strahlen des herbstlichen Praiosmals fanden ihren Weg durch den nur noch seicht hinunterfallenden Herbstregen. Über dem Haderholz erschien am Himmel ein leuchtender Regenbogen.

Sie legte beide Hälften auf die Brust des Verstorbenen und schritt dann rückwärts, bis sie rücklings mit Meta und einer Person zusammenstieß, die sich unbemerkt unter die Menschenmenge gemischt hatte. Es war Rionn, der Tsageweihte. Er hatte sich während Mikas Gebet unter die Umstehenden gemischt. Gudekar, der erst noch neben Meta stand, grüßte den Geweihten, den er seit Elenvina kannte, lautlos und machte ihm Platz, so dass Rionn vortreten und sich neben Meta stellen konnte.

“Huch”, entfuhr es dem Tsa-Geweihten, der offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, dass die Firun-Novizin rückwärts schritt. Sein Gewand glich den Farben des am Himmel aufstrahlenden Bogens, jedoch gerade deutlich matter, da es durchnässt vom Wetter war. Rionn war froh gewesen, dass er den Gefahren des Sturmes bis hierher entkommen konnte und nun endlich in einer Siedlung angelangt war. Es stimmte ihn traurig, dass dies gleichsam in einer Situation geschah, wo die Dorfgemeinschaft den Verlust eines geliebten Menschen betrauern musste. Andächtig hatte er sich dazu gestellt, als die Novizin ihre Gebete sprach.

Er blickte kurz verstört die Novizin an, mit der er gerade zusammen gestoßen war, dann aber lächelte er. Auch eine Art, neue Menschen kennenzulernen, dachte er. “Kann ich Dir helfen, Schwester im Glauben an die Zwölfe?”

Mika drehte sich um, um zu sehen, wen sie da fast umgerannt hatte, und erblickte einen Geweihten der Schwester Tsa, wie unschwer zu erkennen war, und die Geliebte ihres Bruders. Sie lächelte Meta entschuldigend an. Dann wandte sie sich Rionn zu. „Euer Gnaden, verzeiht mein Missgeschick. Ich wusste nicht, dass Ihr da steht.“ ‚Ich wusste nicht einmal, dass Ihr im Dorf weilt‘, dachte sie. Mika lächelte Rionn an. „Es freut mich, Euch hier in Lützeltal zu begrüßen, Bruder…?“

“He... ach Mika.” Sie lächelte neckisch. “Bin ich für dich jetzt also auch unsichtbar?” Dann wandte sie sich an den ihr unbekannten Geweihten. “Die Götter zum Gruße, Hochwürden. Meta Croÿ, Ritterin und Beschützerin Gudekar von Weissenquells.”

„Entschuldige bitte, Meta. Ich bin so ungeschickt!“ Wieder war Mika kurz davor, dass sich Tränen in ihren Augen sammelten.

Meta legte ihr sanft die Hand auf die Schulter und flüsterte ihr zu: “Das war nicht so ernst gemeint, du wirst mich in besseren Zeiten schon noch richtig kennenlernen. Boron möge seiner Seele gnädig sein.”

“Mein Name ist Rionn”, sagte der Tsa-Geweihte mit sanftem Ton und einem freundlichen Lächeln. “Und: weder `Euer Gnaden´ noch `Hochwürden´ oder sowas. Einfach nur Rionn.” Dabei nickte er. “Es freut mich, dass ich euch beide kennenlernen darf. Bestimmt hätte es schönere Umstände geben können, vermute ich. War der Verstorbene ein Freund von euch?”

“Nein, ehrlich gesagt kannte ich ihn bis heute überhaupt nicht”, gab Mika zu. “Er stammte aus dem Gefolge des Schwertvaters meines Neffen. Als Jagdgeselle gehörte er zu der Gemeinschaft, die heute unter der Führung meines Lehrers, Seiner Gnaden Firumar, eine Rotte Wildsäue in die Schranken verweisen wollte.” Mika musterte Rionn intensiv. Sie überlegte, ob sie je einem Bruder der Ewig Jungen Göttin begegnet war.

“Du hast für ihn gebetet”, stellte Rionn fest, was er zuvor mit ansehen durfte. “Ist gewünscht, dass ich ebenfalls noch einen Segen spreche?”

“Ich denke, das sind wir seiner Seele schuldig, wenn wir sein Schicksal schon nicht verhindern konnten.” Mikas Schuldgefühle waren für Rionn offensichtlich. “Wenn Ihr auch einen Segen für Yendan sprechen wollt, wird sicher niemand etwas dagegen haben.”

„Rionn, ich kannte ihn gar nicht. Wahrscheinlich habe ich ihn nicht einmal bewusst wahrgenommen.“ Ungewöhnlich ernst mit leicht schief gelegtem Kopf - Geweihte waren für sie immer noch ein Mysterium, und Rionn war ungewohnt nett - sprach sie weiter. „Vor den Göttern ist seine Seele wie die meine. Er hat gelebt, geliebt und wurde geliebt. Die Zeit ist für ihn. Und das ist gut so. Gedenken wir auch dem nächsten, der ihm folgen wird. Wann, das wissen nur die Götter.“

“Gut”, antwortete Rionn den beiden jungen Frauen. “Dann werde ich die Ewigjunge bitten.” Der Tsa-Geweihte trat nach vorne an den aufgebahrten Leichnam heran. Er breitete die Arme aus, die Handflächen nach oben zeigend, und blickte in den regnerischen Himmel dem Regenbogen entgegen. Dann sprach er mit einem seligen Lächeln im Gesicht:

“Bruder Boron,

mit deiner ewigjungen Schwester Tsa

gibst du unserem Leben einen Rahmen:

Anbeginn und Vollendung -

dazwischen spannt sich das Leben,

auf welches uns das Zeichen der jungen Göttin weist.

Lebendigkeit, Liebe und Geliebt-Werden,

Erleben und Erfahrungen, Freude und Leid.

Wir bitten für unseren verstorbenen Bruder Yendan

lasse ihn ein durch die Pforten deines Dieners Uthar.

Wir vertrauen ihn deiner Güte an.”

Dann senkte er seinen Kopf und seine Arme, legte die flachen Hände auf seine Brust auf seine regenbogenfarbenden Gewandung. Seine Finger umfassten ein Amulett aus Porzellan in Bronze eingefasst, dass die Form eines Eies hatte, eine Eidechse auf dem Porzellan aufgemalt. Rionn schwieg einen Moment, dann hob er seinen Kopf und begann zu singen:

“Nehmt Abschied, Geschwister, ungewiss ist alle Wiederkehr.

Die Zukunft liegt in Finsternis und macht das Herz uns schwer.

Der Himmel wölbt sich übers Land, der Regenbogen strahlt.

Wir ruhen in der Götter Hand. Leb wohl, auf Wiedersehn.

So ist in jedem Anbeginn das Ende nicht mehr weit.

Wir kommen her und gehen hin und mit uns geht die Zeit.

Nehmt Abschied, Geschwister, schließt den Kreis, das Leben ist ein Spiel.

Nur wer es recht zu leben weiß, gelangt ans große Ziel.”

Als er seinen liturgischen Gesang vollendet hatte, verneigte er sich vor Yendans Leichnam, schlug das Zeichen der Tsa über ihn und trat dann vorsichtig wieder zurück zu den anderen, darauf achtend, dass er niemandem anrempelte.

“Danke, Bruder!” Mika lächelte Rionn an. “Ich hatte so etwas noch nie gemacht.”

“Dafür hast du das, was ich vorhin mitbekommen habe, sehr gut gemacht, Mika”, lobte der ältere Geweihte die Novizin. Er hob beide Augenbrauen und lächelte Mika an.

Plötzlich spürte Mika einen recht kräftigen Knuff in den Oberarm. “Da ist also nichts mit deiner Hand, wie?” fuhr Imelda die Firunnovizin von der Seite an. “Toll, wie du das eben mit dem Pfeil gemacht hast! Hältst mich wohl für dumm, Süße? Meinst du, ich merke nicht, dass was nicht stimmt?!” Erst jetzt sah die aufgebrachte Hadingerin den großgewachsenen Tsageweihten. Ihre Miene wechselte schlagartig von sehr streng zu einem flüchtigen, höflichen Lächeln. “Euer Gnaden, verzeiht bitte. Imelda von Hadingen, Geweihte vom Tempel des Herrn Ingra zum lohenden Feuerquell.” Imelda verneigte sich ehrerbietig und nahm den Tellerhelm ab, wodurch ihre rotblond gelockten Haare zum Vorschein kamen. Dann wanderte ihr strenger Blick wieder zu ihrer Freundin. Sie hielt ihre kleine heilige Laterne vor das Gesicht Mikas. Die Hadingerin musste erneut gegen die Tränen ankämpfen. “Mensch, Mika... Was ist denn los?” fragte sie deutlich sanfter und leiser.

Mika schämte sich, ihrer Freundin ausgewichen zu sein und schaute etwas zerknirscht zu Boden. “Ja, ähm, weißt du, Imelda.” Mika musste noch einmal schlucken. “Ich kann zwei meiner Finger nicht mehr bewegen”, sagte sie leise und schüchtern. “Sie gehorchen mir nicht mehr.”

“Wie?”, fragte Imelda fassungslos. “Aber… Mika! Nein, das kann doch nicht sein…”, flüsterte sie leise. Für einen Moment wollte sie sich einreden, dass das alles nicht wahr sei und der Hadingerin stockte sichtlich der Atem. “Das tut mir so leid!” Dann riss sie Mika fest in ihre Arme und Imelda begann selbst bitterlich zu weinen. "Konnte Gudekar denn nichts machen?" schluchzte sie undeutlich mit dem Gesicht an Mikas Schulter.

“Wie bitte? Hat sich Gudekar nicht gekümmert oder hat er es nicht geschafft?” So viel hatte Meta von dem Gespräch der beiden Freundinnen mitbekommen. “Diese Magier, typisch. Aber große Sprüche machen sie und ich hab dich extra von diesen kalten Weibsbildern weggeholt.” Grantig grummelte Meta vor sich hin. Das hatte man davon, wenn man nett sein wollte. Mit düsterem Blick sah sie sich um, ob sie Gudekar irgendwo ausmachen konnte.

“Nun macht mal halblang, ihr zwei”, wiegelte Mika ab. “Es ist ja nicht so, dass die Hand ab ist.” Nun versuchte die Novizin wieder Stärke zu demonstrieren. “Es sind zwei unnütze Finger, die ich nicht mehr beugen kann. Gudekar meint, wenn mir Tante Caltesa nicht den Trank gegeben hätte, hätte er vielleicht noch was machen können. Stimmt’s nicht, Brüderlein?” Mika schaute zu dem Anconiter, der hinter Rionn stand. “Aber, wenn es Firuns Wille ist, mir diese Prüfung aufzuerlegen, dann werde ich mich ihr stellen.“

Gudekar presste die Lippen zusammen und nickte bestätigend.

Ah, da stand er ja und Mika war doch zu ihm gegangen, beide hatten es versucht. „Ich war zu langsam… wir hätten schneller bei ihm sein müssen.“ Meta murmelte den Satz für sich und an niemanden speziell gerichtet vor sich hin, drehte sich aber zu Gudekar und hob leicht Schultern und Hände. Entschuldigend.

“Rionn”, sagte der Tsa-Geweihte kurz zu Imelda, “einfach nur Rionn. Die Götter seien mit dir, Imelda.”

“Sehr erfreut, Rionn… ”, nickte die Hadingerin dem Tsageweihten mit einem leichten Lächeln zu, während sie sich ihr tränenüberströmtes Gesicht mit dem Ärmel abwischte. "Und mit dir."

Dann schaute Rionn zur Novizin und fragte: “Möchtest du mir deine Hand zeigen,  Mika, vielleicht kann ich etwas machen. Was ist denn die Ursache dafür, dass deine Finger taub sind?”

"Hoffentlich kannst du Mika helfen”, presste Imelda mit angespannter Stimme heraus.

“Taub sind sie nicht.” Mika stupste mit dem Zeigefinger der Rechten gegen den Mittleren und den Ringfinger der linken Hand. “Ich spüre das sehr gut. Nur bewegen kann ich sie nicht. Ich habe mir auf der Jagd die Hand aufgeschnitten. Seitdem kann ich die Finger nicht mehr beugen. Aber wenn Ihr Euch daran probieren wollt, müsst Ihr Euch hinten anstellen, Meister Rionn. Ihr wärt nicht der Erste, der sich erfolglos dem Willen des grimmigen Jägers entgegenzustellen versucht.”

"Woher willst du wissen, dass es der Wille Firuns ist, dir nicht helfen zu lassen?" widersprach Imelda.

“Ich möchte mich nicht wider Firuns Willen stellen”, erklärte Rionn auf Mikas Aussage hin, “wenn du dir sicher bist, in dieser Verletzung diesen zu erkennen. Tsas Wille ist es sicher nicht, dass deine Gliedmaßen gelähmt bleiben. Ehrlich gesagt habe ich auch meine Schwierigkeiten damit, mir vorzustellen, dass der Weiße Jäger es wünschen könnte, dass du deine Hand nicht mehr nutzen kannst. Immerhin kannst du dann nicht mehr so effektiv jagen. Auch wenn ich dies deiner Beute gönnen würde.” Der Tsageweihte legte seinen Kopf schief und musterte die Novizin.

Zaghaft streckte Mika dem Tsageweihten die Hand entgegen. “Seht Ihr, es ist alles gut verheilt. Aber warum sollte Firun zulassen, dass mir ausgerechnet auf der ersten Jagd, auf die ich seine Gnaden begleiten durfte, auf DIESER Jagd, ein solches Missgeschick widerfährt, wenn nicht, um mich zu prüfen?” Rionn spürte, dass Mika diese Herausforderung für sich bereits angenommen hatte, auch, wenn sie Angst vor den möglichen Konsequenzen hatte. Sie WOLLTE es aber allen zeigen, dass sie es dennoch bis zur Weihe schaffen würde, auch, wenn die Jagd so deutlich schwerer werden würde.

Gudekar blickte derweil tröstend und entschuldigend zugleich zu Meta. „Das ist doch nicht deine Schuld.“ Dann blickte der Magier zu Rionn. „Die Götter zum Gruße, Rionn. Welch eine freudige Überraschung, Euch hier zu sehen. Es ist lange her. Ihr müsst wissen, wenn der Heiltrank nicht vorher gewesen wäre, wäre es vielleicht noch gegangen. Doch hat die Wunde erst einmal zu heilen begonnen, kann Madas Kraft nicht mehr vollends fließen.“

“Gudekar!” Freude erstrahlte im Gesicht des Tsa-Geweihten. “Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen, hier im Lützeltal, von dem ich schon soviel gehört habe, endlich darf ich es kennenlernen. Schön, dich zu sehen, Gudekar.” Dann schaute er wieder zu Mika und zwischen den Anwesenden hin und her. “Du hast also bereits versucht, Mika zu heilen, Gudekar? Na, wenn es dem Meister nicht gelingt, was will ich dann noch.” Er sprach zu Gudekar, musterte aber dabei die Firunnovizin. Rionn spürte bei ihr einen inneren Widerstand. “Nun, vielleicht hast du recht, Mika”, sagte er einfühlsam. “Wer kennt schon den Willen der Götter, wir müssen uns mühen, ihn zu erforschen. Vielleicht meditieren wir erst einmal darüber, bevor wir zu vorschnellen Urteilen gelangen.” Er nickte Mika zu und schwieg.  

Mikas Lippen formten lautlos die Worte “Danke, Bruder Rionn!”.

Gudekar verlor kein weiteres Wort über Mikas Hand, war es ihm doch unangenehm, dass er ihr nicht helfen konnte. Mika tat ihm leid. Er wünschte fast, er wäre mit auf die Jagd gegangen. Dann wäre er rechtzeitig bei Mika gewesen. Und vielleicht hätte er auch noch dem Zerf helfen können, wäre er zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Aber andererseits, so hatte er Traviahold retten können, Mutter zweier liebreizender Zwillinge. Welches Leben wog mehr? Er konnte schließlich nicht immer überall sein. Leider. “Ihr habt gehofft, mich hier zu treffen, Rionn? Gibt es einen Grund, dass Ihr hier seid, außer natürlich das Leben und die Freude zu feiern, die die Hochzeit meiner Schwester in die Welt bringen wird?”

“Jaha”, lachte Rionn, “natürlich bin ich wegen der Hochzeit hier!” Der Geweihte kniff kurz ein Auge zu und fügte leise nach: “Du weißt doch, Gudekar, dass ich mir schon bei unserer ersten Begegnung auf der Eilenwïd Sorgen um Lützeltal gemacht habe… Aber darüber sollten wir vielleicht in einem privateren Rahmen reden.”

Trübe Erinnerungen hatte Gudekar an die damalige Begegnung auf der Eilenwid, auch wenn dies inzwischen lange her war. Das lag nicht nur an dem Streit, den Tsalinde damals dort heraufbeschworen hatte, nein, vielmehr an der düsteren Befürchtung, der Lolgramoth-Paktierer Pruch könnte den Weg ins Lützeltal eingeschlagen und sich hier versteckt haben. Daraufhin wurden als Bewachung des Ortes und der Familie seines Vaters zwei Plötzbogner angeheuert, von denen eine, die Dame Herlinde von Kranickau noch immer hier war, nun um seine Schwester Gwenn vor der Hochzeit zu beschützen. Den zweiten Geleitschützer hatte man aus Kostengründen bereits wieder abgezogen, da sich Gudekars Befürchtungen, das Tal könnte in Gefahr sein, nicht bewahrheitet hatten. Was hatte Rionn darüber nun zu bereden? “Ja, Rionn, wir können gerne miteinander sprechen. Vielleicht im Gasthaus? Dort gibt es einen kleinen Besprechungsraum, wo wir ungestört sein können. Gibt es denn konkreten Anlass für ein solches Gespräch?”

“Bedauerlicherweise gibt es beständig Anlass”, sagte Rionn fröhlich, als ob es um etwas Schönes gehen würde, doch offensichtlich wollte er sich davon nicht erschüttern lassen. “Aber ich möchte dir nicht die Feierlaune trüben, Gudekar.”

“Sei unbesorgt, Rionn”, antwortete Gudekar mit einem sarkastischen Unterton, “da ist nicht mehr viel zu trüben.”

“Wieso?”, fragte der Tsa-Geweihte neugierig. Er schaute in die Runde zu Gudekar, Meta, Mika und Imelda. “Was ist denn geschehen? Und überhaupt: Möchtet ihr mir erzählen, wie es zu all dem hier gekommen ist?”

“Ach das ist eine komplizierte Sache.” Gudekar blickte verzweifelt und entschuldigend zu Meta. “Es ist wohl nichts, was man mitten auf dem Dorfplatz erläutern sollte. Kommt, lasst uns ins Gasthaus gehen”, lud Gudekar den Tsageweihten ein. “Ihr habt bestimmt Hunger nach Eurer Reise. Seid mein Gast!” Schließlich wandte sich Gudekar an seine Begleitung. “Meta, kommst du mit?”

Nach dem, was Gudekar ihr vor einigen Stunden offenbart hatte, wollte Meta sich die Chance nicht entgehen lassen. Ein Gefühl tief in ihr riet ihr auch, sollte sie lange genug leben, sich der Tsakirche zu nähern. Und der Geweihte schien ein sympathischer, vertrauensvoller Zeitgenosse zu sein. "Natürlich, Gudi. Wenn du mich schon fragst."

“Gudi?!” Rionn lachte herzlich.

Auch Mika musste lachen. “Das ist wirklich ein niedlicher Kosename! Aber entschuldigt mich bitte, ich muss einmal zu Wulfhelm hinüber, um mich nach seiner Gnaden Firumar zu erkundigen.” Ohne eine Antwort abzuwarten verließ die Novizin die Gruppe.

Gudekar zuckte nur mit den Schultern.

“Gerne komme ich mit, Gudi”, willigte Rionn ein, immer noch mit einem Lächeln im Gesicht. “Ich muss wohl noch einen Novizen einsammeln, den ich im Schlepptau habe und der hier irgendwo herumirren muss.”

Gudekar runzelte kurz leicht verärgert die Augenbrauen. Er akzeptierte zwar, dass Meta diese Koseform seines Namens verwendete, es passte einfach zu ihr, so unstet, wie sie war. Aber er mochte es nicht, wenn auch andere ihn so nannten. Aber wirklich böse konnte er dem Geweihten nicht sein. Also setzte er ein Lächeln auf. “Gut, bringt Euren Novizen mit.”

Imelda hatte der Unterhaltung interessiert zugehört, doch offensichtlich war sie zu diesem ‘geheimen’ Gespräch im Gasthaus unerwünscht. Mit leicht enttäuschtem Blick stand sie im Regen, dann rang sie sich ein Lächeln ab und nickte Meta zu. “Na dann, bis später, was?” Betrübt schaute sie in Richtung der Jagdgesellschaft und schickte sich an, Mika dorthin zu folgen.

Als Gudekar Imeldas enttäuschten Blick sah, bekam er ein schlechtes Gewissen. „Ähm, Imelda! Warte kurz! Willst du uns begleiten? Fünf sind besser als vier!“

Die Hadingerin wollte vor Scham im Boden versinken. “Ich… ach was. Amüsiert euch nur…”, verzweifelt sah Imelda sich in der Menge um und schien in den Reihen der Jagdgesellschaft jemanden zu erkennen, “...ach, da hinten ist der Ritter Darian. Den habe ich noch gar nicht begrüßt. Also, dann bis später!”, winkte Imelda schnell ab.

“Schade!” meinte Gudekar nur kurz und zuckte mit den Schultern.

"Ach, Imelda", wandte der Tsageweihte ein, "soooo geheim ist das alles nicht. Es wäre doch schön, wenn du uns begleiten möchtest." Rionn schaute sie mit einem herzlichen Lächeln an.

“Imelda, das wird wahrscheinlich nicht so amüsant, aber es ist gerade sehr wichtig. Wenn du nicht mitkommen willst, wo finde ich dich?”

Peinlich berührt lief die Hadingerin noch röter an. Sie hatte sich nicht aufdrängen wollen. Da die leicht schwerhörige Ingrageweihte die genuschelten Worte ihrer Freundin nicht richtig verstanden hatte, wandte sie sich direkt an den Tsageweihten. “Ach, das ist schon in Ordnung. Wirklich!” Imelda schmunzelte und blickte flüchtig zu der Gruppe der Jagdgesellschaft. “Ich bin mir sicher, ihr habt euch aus alten Zeiten viel zu erzählen und die Feierlichkeiten gehen ja gerade erst los. Den Ritter Darian habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen. Amüsiert euch und wir sehen uns später!” Imelda war im Begriff, sich umzudrehen und loszueilen, als sie sich noch einmal der Gruppe zuwandte. “Äh, Herr Rionn, tanzt du gerne?”, fragte sie mit lauter Stimme nach.

Etwas erstaunt, aber mit erfreutem Lächeln blickte Rionn die Igrageweihte an. “Ja, sehr gerne”, antwortete er. “Auch wenn ich nur ein mittelmäßig guter Tänzer bin.” Ein wenig entschuldigend hob er die Augenbrauen, zog einen Mundwinkel schmunzelnd hoch und legte den Kopf leicht schräg. “Schade, dass du uns nicht begleitest.” Dann schaute er Imelda neugierig fragend an. “Warum fragst du nach dem Tanz?”

“Na, auf einer Hochzeit wird doch sicherlich viel getanzt!”, sagte sie schmunzelnd. Imelda ging auf ihre Zehenspitzen, vollführte eine kurze Pirouette und kicherte, während sie sich eine ihrer rotblonden Haarsträhnen hinter das Ohr klemmte. “Und ich will ja nicht, dass mir die Tanzpartner ausgehen. Außerdem ist das eine gute Gelegenheit, sich später besser kennenzulernen, meinst du nicht?”

“Na, gut”, erwiderte Rionn und lachte. “Dann freue ich mich schon auf unseren Tanz, Imelda. Bis später.” Der Tsageweihte winkte der Ingrageweihten hinterher. Dann machte er sich auf, seinen Novizen zu suchen.

Mit den Worten: “Dann gehen wir mal los.” drehte sich Gudekar um.

Dabei fielen ihm die Baroness Lucilla von Galebfurten und ihr Begleiter auf, die noch immer neben der Gruppe standen und warteten, dass Meta mit der Suche nach den Vermissten loslegte.

“Ach, Euer Wohlgeboren, wie es aussieht, muss die Suche nach den Vermissten noch warten. Wir wollen uns zunächst mit seiner Gnaden Rionn besprechen. Aber wenn ihr mögt, könnt Ihr uns ins Gasthaus begleiten.”

Ernst sah Meta die Galebfurterin an. “Es ist für die Suche wichtig, dass ich ein kurzes Gespräch mit Gudekar führe. Mehr kann ich dazu noch nicht sagen.”

“Natürlich ist es das”, kommentierte Lucilla Metas ‘Hinweis’ mit betont nüchterner Stimme. Ein süffisantes Lächeln jedoch verkniff sie sich nicht. Dann wandte sie sich an den Magus: “Wir gehen vor, damit ihr ungestört… sprechen könnt.”

Gudekar schaute fragend zu Meta. Er wunderte sich, was sie mit ihm besprechen wollte. “Eigentlich wollten Rionn und ich nur ein wenig reden.” Aber abwartend ließ er den anderen den Vortritt, um abzuwarten, was seine Gefährtin ihm zu sagen hatte.

“Ich beeile mich. Vorhin, seit du mir von dem Paktierer erzählt hast, also seitdem arbeitet es in mir. Wahrscheinlich geht es allen so, die davon wissen. Aber mir fallen jetzt immer mehr Dinge auf, die seltsam sind. Und ich weiss so wenig.” Sie hielt ihre Hand an seine Brust, um Gudekar daran zu hindern, sie zu unterbrechen. “Sturm und Gewitter wären wohl auch so gekommen, aber mir hat es Angst gemacht. Dieser Kerl, er hat eine Liste, auf der stehen so viele aus der Gruppe drauf, die jetzt hier sind. Es ist eine Hochzeit, die Braut fehlt, ihr wisst nicht, wie er aussieht und das ist doch die ideale Gelegenheit, wieder ähm, sich zu rächen, gegen Travia vorzugehen oder was auch immer. Warum sind so viele von euch hier? Habt ihr einen Hinweis bekommen? Sich als Gruppe gerade auf einer Hochzeit zu treffen ist doch eine offene Tür für ihn. Oder wollt ihr ihm eine Falle stellen? Schon seit ich hier bin, gibt es keinen Frieden und keine Harmonie mehr. Schau dich um.” Sie wies mit der Hand um sich. ”Das ist alles chaotisch. Und es fehlen zufällig Personen, die mit dir in Verbindung stehen. Ich will mich auf die Suche nach Gwenn und den anderen machen, auch wenn sie ein Miststück ist. Ich will euch helfen, jetzt bin ich Ritterin. So… mir fällt grad nichts mehr ein. Sag mir bitte, was ihr noch wisst oder zumindest etwas mehr.” Verzweifelt sah sie Gudekar an und flüsterte tonlos: “Vielleicht solltest du doch bei Merle bleiben, wenn alles so schlimm ist. Wenn wir zusammen sind, dann hat er doch wieder ein Ziel erreicht. Und auf mich hat er es sicher nicht abgesehen. Ich stifte doch den Unfrieden. Wenn das irgendwann vorbei ist, dann treffen wir uns durch Rahja wieder.”

“Psst, Meta!” Gudekar hatte den Zeigefinger vor die Lippen gehalten. Nun schaute er Meta erschrocken an. Wollte sie ihn verlassen, damit er nur um Travia zu gefallen zu Merle zurückging? Das war hoffentlich nicht ihr Ernst! “Das kannst du mir nicht antun, du willst doch jetzt nicht fort von mir? Ich liebe dich und ich brauche dich!” Bevor Meta darauf antworten konnte, sprach er aber weiter. “Und was den Pruch angeht, wir sollten nicht in aller Öffentlichkeit auf dem Dorfplatz über die Sache reden. Bisher ist der Paktierer ja noch nicht gegen einen von uns persönlich vorgegangen, soweit ich weiß. Außer ganz am Anfang, als er Reto entführt hatte, aber da waren wir noch unvorsichtig und Reto war nachts allein unterwegs und einer Spur gefolgt. Also gut, die Gefahr besteht natürlich. Aber ich denke, seine Rachepläne wird der Pruch sicherlich eher im Geheimen durchführen, wenn wir alleine sind und nicht auf einem großen Fest. Die beiden Male, ja gut, das war schon bei großen Festen, wo er seine Dämonen auf uns gehetzt hat, aber das war beides Mal nur weil er etwas, oder jemanden in seine Gewalt bringen wollte, Vater Winrich und die Bundringe in Schweinsfold damals und diesen vierten Fries letztes Jahr in Albenhus beim Flussfest.” Gudekar schaute auf den Delfinanhänger, der um Metas Hals hing und lächelte. Diesen Anhänger hatte er ihr vor einem Mond beim diesjährigen Flussfest gekauft und gerade erst geschenkt. “Also, eigentlich ist Pruch bisher immer nur dann aus seinem Versteck gekrochen, wenn er konkret etwas haben wollte. Das war ja auch so, als er seinen eigenen Vater gemeuchelt hatte. Da hatte er dieses Drachenei aus dem Besitz des Edlen von Trackental gestohlen und ihn wohl nur getötet, weil der es ihm geben sollte. Aber das sind wirklich nicht Dinge, über die wir hier im Freien reden sollten. Du siehst, so groß ist die Gefahr nicht, wenn so viele Leute hier sind. Im Gegenteil. Pruch wird sich hüten, die Feierlichkeiten anzugreifen. Die Gefahr, dass wir ihn überwältigen können, wenn wir alle hier sind, ist doch viel zu groß. Er wird eher zuschlagen, wenn alle wieder weg sind. Auch deshalb habe ich Vater gut zugeredet, sie alle einzuladen, auch die, die dem Haus nicht sowieso nahe stehen und aus diesen Gründen auf der Gästeliste standen, so wie Eoban und so.” Gudekar holte tief Luft und lächelte Meta an. “Aber wenn es dich beruhigt, ja, dann helfe bei der Suche nach Gwenn. Doch vielleicht sollten wir erst einmal anhören, was Rionn zu berichten hat. Rionn hat uns auch bei unserer Mission gegen die Pläne des Paktierers unterstützt. Kommst du mit ins Gasthaus?”

„Ich will, dass wir zusammen bleiben. Ich bin doch deshalb hier.“ Nervös kaute Meta auf ihrer Unterlippe, Gudekar würde schon wissen, ob sie in Gefahr wäre, oder nicht. „Ich gehe kurz rein und mache mich dann auf die Suche. Du Depp, ich wollte dich doch nicht unter allen Leuten, sondern alleine sprechen. Aber jetzt ist es halt so.“ Sie vertraute Gudekar, dass er die Lage richtig einschätzen würde.

“Pass auf, Meta, falls wirklich der Pruch dahinter steckt: Erinnerst du dich an Schweinsfold? Er kann Tore in den Limbus öffnen und da durch reisen, einfach so auftauchen und wieder verschwinden. So hatte er Vater Winrich und die Bundringe entführt. Und er kann die Gestalt von anderen annehmen. Jeder von uns hier”, Gudekar machte eine weit ausholende Geste, um auf das ganze Dorf zu zeigen, “könnte in Wahrheit der Pruch sein. Wirklich jeder. Aber das muss nicht jeder wissen.”  

„Hältst du mich für bescheuert? Wenn er jeder sein kann, dann würde er es doch von mir erfahren, dass ihr Bescheid wisst, wenn ich alles rumerzähle.“ Ungewohnt ernst sah sie ihren Geliebten an. „Außerdem würde noch mehr Chaos ausbrechen. Deshalb wollte ich ja mit dir alleine reden. Mir wird wohl nichts passieren, ich bin für ihn ja sowas wie ein Werkzeug gegen Travia, auch, wenn wir es besser wissen.“ Unsicher kratzte sie sich am Kopf. „Das stimmt doch, oder? Ich vertraue nur noch dir und suche nach deiner Schwester.“

Gudekar lachte. “So gefällst du mir endlich besser! Voller Tatendrang! Ich glaube auch nicht, dass du in Gefahr bist. Er wird dir nichts tun. Wie sollte er auf dich aufmerksam geworden sein?” Gudekar bewegte seinen Mund an ihr Ohr und flüsterte: “Ich hab dich lieb, mein Schatz!” Dann nahm er wieder Haltung an und sprach deutlich vernehmbar. “So, hohe Dame, dann schauen wir mal, was der Geweihte so zu berichten hat. Würdet Ihr mich bitte begleiten?” Gudekar zwinkerte Meta zu.

Kurz zuckte ihr Mundwinkel und sie sah ihm glücklich in die Augen. „Aber nur kurz. Und mir wird nichts passieren, selbst, wenn ich alleine unterwegs bin.“

~ * ~

Ein Verschwörer offenbart sich

Nun wandte sich der Edle wieder an die Menschenmenge. “Wir wollen alle gemeinsam dem Toten gedenken. Dazu soll ein jeder und eine jede während des ersten Viertels der Boronsstunde das Tagewerk ruhen lassen und im stillen Gedenken den Toten ehren, der zum Wohle des Tales sein Leben gelassen hat! So sei es!” Wieder blickte sich Friedewald sich um. “Wo sind Gwenn und Rhodan? Schickt jemand nach den beiden! Der Herr Herrenfels soll sich um seinen Herrn Lares von Mersingen kümmern, er muss in sein Gemach gebracht werden. Und ich muss mit Rhodan und Gwenn reden, wie wir nun mit der abendlichen Feier verfahren wollen.”

Mit einem sanften Kopfschütteln riss sich Wulfhelm aus den trauerschweren Gedanken, denen er nachgehangen hatte. Erst langsam drangen die Fragen und Informationen der letzten Minuten an den sonst so Aufmerksamen Geist des Jagdgesellen. Als er anhob zu sprechen, war seine Stimme belegt, welches er durch ein Räuspern besserte. “Vergebung Herr, sagtet ihr Bernhelm und Marno werden, ebenso wie eure Tochter vermisst?” Er schluckte kurz, versuchte es mit einem Lächeln, welches nur teilweise glückte. “Ich denke hierbei handelt es sich um ein Problem, welchem sich - der Tradition gemäß - der Bräutigam annehmen sollte…” Wulfhelm strich sich über den Ärmel, eine Geste die seine schmutzige Kleidung kein bisschen säuberte. “Wenn Ihr es wünscht, kann ich ihm zur Hand gehen.” Obwohl ihm gerade überhaupt nicht nach leichtherzigen Spielen war, fühlte er sich doch verpflichtet seine Dienste anzubieten.

Es war Kalman, der auf Wulfhelms Frage antwortete. Um Mikas Gebet nicht zu stören, stand er noch immer neben seinem Vater, anstatt Rondrard und sein Gefolge zum Gutshaus zu geleiten. So sprach er auf Wulfhelms Frage: „Ja, Bernhelm und Marno wurden seit der Mittagszeit nicht mehr gesehen. Aber mit Gwenn hatte ich noch gesprochen. Wir haben uns erst getrennt, als der Sturm am stärksten wütete. Wir wollten im Dorf nach dem Rechten sehen. Allerdings haben Bernhelm und Marno anscheinend ein paar Pferde mitgenommen, darunter auch die von Gwenn und das der Frau von Kranickau. Mich wundert nun, dass sie nicht hier sind.“

„Moment“, schaltete sich nun Friedewald ein. „Was sagtet ihr, Wulfhelm? Wisst Ihr etwas?“ ‚Der Tradition gemäß?‘ Fast hätte Friedewald einen Moment innerlich lachen müssen, wäre er wegen des Ausgangs der Jagd nicht in solch schlechter Stimmung gewesen.

Wulfhelm senkte kurz den Blick, sah dann kurz den Edlen und seinen Erben an, ehe er antwortete. “Wir - also Marno und Bernhelm und ich - hatten überlegt Gwenn zu entführen. Ihr wisst schon - als harmlosen Spaß vor dem Traviabund. Ich habe dann aber abgesagt, mit der Jagd fehlte mir die Zeit dazu. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass die beiden ihre Pläne ohne mich in die Tat umgesetzt haben.” Er zuckte mit den Schultern.

Nun musste Friedewald doch schmunzeln. Das sah seiner Tochter ähnlich! Nun gut, es war ihre Feier, ihr Ehrenfest. Einmalig in ihrem Leben. Lehrten die Götter nicht auch, das Leben selbst nach einem Schicksalsschlag zu genießen? Wer war er, seiner Tochter und ihrem Gemahl die Freude über ihren Traviabund zu verwehren, nur weil ein Mann, den die beiden nicht einmal kannten, bei der ehrenvollen Aufgabe sein Leben gelassen hatte, das Tal von einer Plage zu befreien?

„Also dann, Kalman“, sprach Friedewald schließlich. „Geleite den hohen Herrn von Storchenflug und seine Lanze in das Herrenhaus, auf dass sie angemessen trauern können. Und dann schicke den Herrn Rhodenfels hier her, falls nicht auch er auf mysteriöse Weise verschwunden sein sollte. Sag ihm, wenn er den Bund mit meiner Tochter eingehen möchte, muss er sich zunächst beweisen und sie heroisch aus den Fängen der üblen Schurken befreien.“ Etwas leiser flüsterte Friedewald noch seinem Sohn zu: „Und vielleicht ist es besser, er vergisst seine Geldkatze nicht, so er sie denn auszulösen gedenkt?“

Kalman nickte stumm. Dann legte er Rondrard die Hand auf die Schulter. „Kommt, gehen wir auf den Gutshof. Dort habt Ihr Ruhe.“

Der Ritter begab sich ans Fußende der Bahre und griff nach den Stangen, Hesindiard übernahm das Kopfende. So konnte er seinen Bruder im Blick behalten und so folgten sie Kalman.

Als sie gerade losgehen wollten, fiel Kalmans Blick noch einmal auf den Ritter Lares von Mersingen, der noch immer regungslos dastand. „Hat sich noch niemand um Herrn Lares gekümmert?“ Der Edlensohn ging auf die Baroness Ardare zu. „Euer Wohlgeboren von Kaldenberg, verzeiht mir. Ich geleite nun den hohen Herren von Storchenflug ins Herrenhaus. Wollt Ihr Euch nicht anschließen, auf dass wir den Herrn von Mersingen zu seiner Schwester bringen?“

Huldvoll neigte die Baroness den Kopf zur Seite, als handele es sich bei dem Gesagten um einen Vorschlag, den sie nun erwägte. “Das ist eine gute Idee.” kommentierte sie schließlich.

Sie hatte fürs Erste keineswegs vor, Lares aus ihrer Obhut - oder, besser, Verantwortung - zu entlassen. Ihn ins Herrenhaus zu bringen, war tatsächlich eine vernünftige Maßnahme. Arda hatte Lares’ Schwester noch nicht kennengelernt, weswegen auch ein Gutteil Neugier mitschwang, als sie eine Hand auf Lares Rücken legte und mit der anderen Hand und mit ihrer Mimik eine knappe, einladende Geste in Richtung Kalman vollführte, die Führung des Grüppchens zu übernehmen (obwohl Arda den Weg zweifelsohne alleine gefunden hätte).

Wie zur Demonstration dieses Umstands begann die große schwarzbraune Wehrheimer Hündin sich von Ardas Seite zu lösen und in Richtung des Herrenhauses loszulaufen.

Celio trottete hinterher. Irgendetwas stimmte nicht, doch er wusste nicht was und keiner sagte es ihm. Warum schwebte sein Rudelführer? Warum sprach er nicht mit ihm, kraulte ihn, oder gab Leckerlies? Hatte Celio was falsch gemacht? Und warum roch er so komisch?

Lares reagierte nur zögerlich auf den leichten Druck im Rücken. Sein Kopf schwiff planlos von der einen Seite zur anderen, ohne dass man den Eindruck hatte, er würde irgendetwas wahrnehmen.

Behutsam hielt die Baroness den Druck ihrer Handfläche im Rücken des Ritters aufrecht, bis er sich in Bewegung setzte. Aus einer Intuition heraus begann sie, leise ein Wiegenlied zu summen. Es war eine einfache Weise, die aus dem Herzogtum Weiden stammte, und eine der wenigen Erinnerungen, die sie an ihre Mutter hatte. Die Melodie beruhigte sie, und durch den Klang, aber auch durch die Vibration, die über ihre Hand an Lares Rücken weitergeleitet wurde, hoffte sie, die beruhigende Wirkung auch auf diesen auszuweiten.

Ihr Blick fiel auf den Jagdhund, der mit hängenden Ohren neben der Gruppe herlief. Mit einer schnippenden Fingerbewegung ihrer freien Hand lockte sie den Vierbeiner zu sich. Sie konnte sich nicht erinnern, zu wem der Hund gehörte, doch offensichtlich hatte er sich ihrer Gruppe angeschlossen und niemand hatte ihn dafür zur Ordnung gerufen. Gut möglich, argwöhnte Arda, dass er der Hund des Verstorbenen war?

“Na, Hübscher? Was lässt Du den Kopf so hängen?” Ihre Hand strich über das Fell im Nacken, kraulte die Stelle am hinteren Schädelansatz. Sie hatte noch keinen Hund erlebt, dem das nicht gefallen hatte. Wie kam es, dachte sie sich, dass es ihr immer so leicht gefallen war, mit Tieren umzugehen, während sie für Menschen kein glückliches Händchen zu haben schien…?

Der Mersinger folgte ihr ruhig. Seit sie das Lied angestimmt hatte, ließ er den Kopf hängen und trottete gemächlich vor der Adligen her. Ardare bemerkte die Abwesenheit des Ritters. Sie kannte ihn, auch in Ausnahmezuständen, aber diese völlige Apathie war abnorm. Widernatürlich.

Arda, die sich noch immer nicht damit zufrieden gab, dass Lares “nur” ein Jagdunfall zugestoßen sein sollte, versuchte in einem unbeobachteten Moment ihr astrales Gespür auf den Ritter zu wirken. Als die Aufmerksamkeit ihrer kleinen Prozession durch ein Geländehindernis gebunden wurde, öffnete sie die Pforten ihrer arkanen Kräfte.

Der Kopf des Ritters zeigte Spuren astraler Kräfte, doch schienen sie nicht etwa frisch gewirkt worden zu sein, sondern waren nur noch vage erkennbar.

Arda schalt sich eine Närrin. Sie selbst war die Urheberin einiger dieser Signaturen! Doch - da war noch mehr, einige Spuren waren älter, andere jünger als die Interventionen, für die sich die Kaldenbergerin verantwortlich zeigte. Was war ihm nur zugestoßen?

So führte Kalman die Gruppe vom Dorfplatz zum Gutshof. Nach einem Gespräch war ihm zur Zeit nicht zumute.

***

„So, so, Wulfhelm“, sprach der Edle dann seinen Jagdgesellen gespielt tadelnd an. „Ihr wolltet also meine Tochter entführen?“ Der ältere lächelte den jüngeren Mann väterlich an. „Ihr wisst, was die traditionelle Strafe dafür ist?“

Wulfhelm brauchte erneut einen Moment, um die Worte Friedewalds zu verarbeiten. Ein Schmunzeln trat dann auf seine Lippen und er hob abwehrend die Hände. “Oh nein-nein-nein-nein. Herr von Weissenquell, ihr seid ein gerechter Mann - ihr würdet mich doch nicht für die Schurkenstücke dieser unverbesserlichen Unruhestifter strafen?”

Friedewald lachte. „Oh, aber zumindest der Mitwisserschaft habt Ihr Euch schuldig gemacht! Überlegt Euch schon einmal, was eine gerechte Strafe für Euren Verrat an dem Bräutigam wäre. Wir werden Euren Fall später verhandeln.“ Der Edle klopfte seinem Untergebenen aufmunternd auf die Schulter. Er freute sich, solch aufrechte Männer in seinem Volk zu haben.

Wulfhelm musste nun ebenfalls leise lachen und ein wenig verzogen sich die finsteren Wolken, die sich auf sein Gemüt gelegt hatten. “Lieber ziehe ich den Unmut des Bräutigams auf mich, als den seiner Zukünftigen!” Er grinste breit. ”Ich bin zuversichtlich, dass mir Gerechtigkeit widerfahren wird.”

“Wunderbar!” Friedewald war zufrieden. “Wartet hier auf Rhodan, dann könnt Ihr ihm bei der Suche nach seiner Braut helfen. Ich muss jetzt einmal nach Merle schauen, sie wollte mir wohl etwas mitteilen.”

“Sehr wohl.” Wulfhelm verabschiedete den Edlen mit einer angedeuteten Verbeugung.

~ * ~

Mit dem Edlen zu sprechen…

Unter dem Baum, an den Lys von Kargenstein sein Pferd angebunden hatte, hatten sich auch Merle von Weissenquell, Nivard von Tannenfels, Tsalinde von Kalterbaum und die Gauklerin Doratrava versammelt, die mit schlechter Nachricht den Edlen sprechen wollten.

Als Friedewald von Weissenquell die Gruppe von Weitem erblickte, zog er kurz die Augenbrauen hoch und erhob seinen Zeigefinger, um seiner Schwiegertochter anzudeuten, dass er gleich bei ihr wäre.

Lys wandte sich an die kleine Gruppe, in der er stand. “Der Edle teilte mir mit, er wolle sich mit euch auf dem Hof treffen, damit ihr nicht noch einmal hinaus in den Regen müsst. Da wir nun schon einmal alle hier sind, sollten wir versuchen, ihn abzupassen. Euer Anliegen scheint doch recht dringend zu sein.”

"Das ist es", nickte Merle ernst. Sie winkte in Friedewalds Richtung, um ihm zu signalisieren, dass sie sein Zeichen gesehen hatte. “Aber er scheint noch kurz mit Wulfhelm zu reden.”

"Je rascher wir ihn sprechen, umso besser, gerne auch gleich hier", pflichtete Nivard Merle bei. Er wollte den Blick in die Abgründe der Wahrheit so schnell wie möglich hinter sich bringen - schlimmer als das Entsetzen war die Ungewissheit. "Hier unter dem Baum stehen wir auch gar nicht schlecht - davon abgesehen, dass ich für meinen Teil viel nässer auch gar nicht mehr werden kann."

"Nein, lieber nicht." Merle schüttelte abwehrend den Kopf. "Hier gibt es zu viele neugierige Augen und Ohren.” Nervös blickte sie sich um, dann schaute sie Nivard eindringlich an. “Ich will den Brief nicht hier draußen rausholen”, raunte sie ihm zu.

"Verstehe", signalisierte Nivard. Natürlich waren hier zu viele Leute. Selbst wenn diese den Brief selbst nicht lesen konnten, hätten sie mutmaßlich aus ihrer Reaktion ersehen können, dass etwas nicht stimmte... “Sollen wir dann aber schon vorgehen?" Schließlich brauchte sich unter diesen Umständen niemand unnötig erkälten. Außerdem würde er so früher erfahren, was in dem Brief stand.

"Ja, gehen wir vor", stimmte Merle zu, hielt aber inne. "Ah, da kommt Friedewald."

Kurze Zeit später kam der Edle von Lützeltal auf die Gruppe zu, nachdem er das Gespräch mit seinem Jagdgesellen beendet hatte.

“Den Göttern zum Gruße, meine Damen, meine Herren!” grüßte Friedewald in die Runde. “Ah, Doratrava, ich möchte mich noch einmal bei Euch bedanken, dass Ihr Euch vorhin meiner Tochter angenommen habt und sie schließlich nach Hause geleitet habt.”

"Gerne", gab Doratrava mit einem schiefen Lächeln zurück. "Auch wenn es nicht ganz einfach war. Eure Tochter ist schon ein ganz schön vorlauter Dickkopf, wenn ich das so offen sagen darf. Aber immerhin konnte ich so noch etwas Sinnvolles beitragen, nachdem seine Gnaden mir die Teilnahme an der eigentlichen Jagd ja mehr oder weniger verwehrt hat." Ihr nun säuerlicher Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass die Gauklerin das dem Firungeweihten noch immer nachtrug.

Die Anspannungen der Jagd, der Schock über den Tod des Jagdgesellen, all dies schien inzwischen von Friedewald abgefallen zu sein. Die Kunde, dass seine Tochter Gwenn alles dafür tat, sich ihr Hochzeitsfest nicht vermiesen zu lassen, – gut, sie wusste noch nichts von jenem Jagdunglück, – das ließ die Freude in das Herz des alten Edlen zurückkehren. So lachte er über Doratravas Antwort. “Ja, Firun und Mika, beides ziemliche Sturköpfe. Da haben sich wohl zwei gefunden, was? Umso mehr bin ich Euch zu Dank verpflichtet. Nicht nur, dass Ihr auf die Jagd verzichten musstet”, nun wurde er kurz ernst, “seid vielleicht froh darüber, es hätte auch Euch treffen können, nein, Ihr musstest auch noch Mikas Stolz und Sturheit ertragen. Wie kann ich das je wieder gut machen?”

Die schnell wieder gut gewordene Laune des Edlen war ansteckend, so dass sich auch Doratrava ein Grinsen nicht verbeißen konnte. “Fürs Erste würde mir schon besseres Wetter reichen, aber ich fürchte, der Herr Efferd ist zwar nicht so stur wie Firun, aber dafür launischer, und Ihr habt nicht zufällig einen Gefallen offen, den er Euch schuldet. Ansonsten überlasse ich es Eurer Phantasie, wie Ihr das gut machen könnt, aber seid versichert, dass es mir nicht um eine Belohnung ging und geht. Wenn ich helfen konnte und damit Euch und Mika eine Freude gemacht oder zumindest Erleichterung verschafft habe, ist mir das Lohn genug. Aber einen Rat habe ich schon noch: Mikas Stolz steht ihr im Weg. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, zu ihr durchzudringen und sie davon zu überzeugen, dass sie nicht so hart sich selbst gegenüber sein soll und nicht alles Schlimme, was ihr widerfährt, vom Herrn Firun so gewollt ist, dann würde ihr das sicher ein besseres Leben ermöglichen.”

Die letzten Worte hatte die Gauklerin durchaus ernst gemeint und daher ihr Lächeln fallenlassen. Jetzt fiel ihr auch noch etwas ein: “Ach ja, ich habe gehört, es werden Leute vermisst? Muss man sich da Sorgen machen? Braucht Ihr Hilfe, sie zu finden?”

Der Edle hörte sich Doratravas Ermahnungen an und wollte gerade etwas entgegnen, sein Leid mit seiner Tochter beklagen, als Doratrava noch einmal das Thema wechselte, woraufhin Friedewald wieder lachen musste. “Oh, wie es scheint, will Gwenn ihrem zukünftigen Gemahl einen Streich spielen und hat eine traditionelle Brautentführung geplant. Zumindest hat Wulfhelm gerade sowas angedeutet. Das sieht Bernhelm ähnlich, dass er da natürlich dabei ist. Aber ich könnte mir vorstellen, dass Rhodan, also der Herr Herrenfels bald tatkräftige Unterstützung benötigt, seine Liebste wiederzubekommen.“ Friedewald zwinkerte zu Doratrava.

“Was? Trotz des Wetters?”, entfuhr es Doratrava überrascht. “Fehlt Gwenn denn auch? Also haben sie sie tatsächlich entführt?”

„Tja, das ist typisch Gwenn.“ Friedewald schmunzelte. „Wenn sie einen Plan hat, zieht sie ihn durch, ohne Rücksicht auf Verluste. Aber mich wundert, dass die Dame von Kranickau sie nicht davon abgehalten hat. Jedenfalls habe ich sie beide noch nicht gesehen.“

"Gwenn hatte vorhin tatsächlich angedeutet, dass sie was vorhat...", mischte sich Merle ein. Sie runzelte die Stirn; das war doch eigentlich abends gewesen? "Ach, zum Brun meinte sie auch irgendwas von einer Verabredung."

“Brun?” hakte Friedewald nach. “Das ist doch der Sohn von Bäcker Runkler, oder? Ach ja, die haben schon als Kinder viel Zeit zusammen verbracht.”

Merle zuckte mit den Schultern. "Ich denke, es ist gut, dass die Frau von Kranickau dabei ist. Sonst versucht Gwenn die ja immer abzuschütteln." Sie verzog den Mund zu einem flüchtigen, schiefen Lächeln. "Aber so dürfte sie in fähiger Begleitung sein. Vielleicht sind sie bloß zum Forsthaus und haben da Schutz vor dem Unwetter gesucht." Ihr Lächeln wurde etwas breiter. "Bestimmt macht sie es sich gerade mit Rodenbachs Albenbluth vor dem Kamin gemütlich."

“Na, hoffen wir mal”, gab sich Doratrava milde skeptisch, aber sie wollte jetzt auch keine unnötige Panik verbreiten. “Wie gesagt, falls Ihr meine Hilfe braucht, müsst Ihr es bloß sagen”, bot sie sich dem Edlen nochmals an.

Merle nickte Doratrava dankbar zu, auch wenn sie insgeheim hoffte, die Tänzerin würde an ihrer Seite bleiben.

“Du hast sicher recht, Merle, sie sitzen bestimmt irgendwo zusammen im Warmen, Trockenen, denken bei einem guten Schluck an alte Geschichten zurück”, Friedewald schmunzelte, als er an einige der Kinderstreiche zurück dachte, die Gwenn mit der Dorfjugend verursacht hatte, “und warten geduldig darauf, dass Rhodan sie auslöst, wie es sich gehört. Na, Kalman wird ihn schon auf die Suche schicken.”  

Dann wandte er sich noch einmal an seine Schwiegertochter. “Merle, der Herr von Kargenstein”, Friedewald nickte dem Mann zu, “hat mir gesagt, du wolltest mich dringend sprechen. Ist alles in Ordnung?”

Merle schaute ihren Schwiegervater ernst, aber gefasst an. "Ich… wir… müssen dir etwas zeigen", sagte sie leise und eindringlich. "Begleitest du uns schnell zum Hof Wohlgedei? Es, ähm… ist eine… vertrauliche Angelegenheit."

Friedewald musterte Merle eindringlich, um zu prüfen, wie ernst es ihr war. Doch schnell erkannte er die Dringlichkeit, die hinter Merles Anliegen stand. “Gut, wenn es so wichtig ist, sollten wir es vielleicht lieber bei den Waldgruns in der Stube besprechen und nicht bei den Bauern, wo die Wände Ohren und die Bewohner eine schnelle Zunge haben.”

"Hm, vielleicht…", entgegnete Merle und schaute fragend in die Gesichter der Umstehenden, ob die etwas einzuwenden hätten, dann schaute sie mit zusammengekniffenen Augen zum Haus des Dorfschulzen. “Wobei… dann müssten wir jetzt alle direkt über den Dorfplatz und werden bestimmt wieder von irgendwem angesprochen.” Merle ließ sichtlich nervös ihren Blick über die sich langsam zerstreuende Menschenmenge schweifen, dann hob sie die Brauen, als ihr noch etwas einfiel. “Außerdem hat Perainhulda doch die ganzen Bötchen und das Baumaterial da reingeschafft. Da kommt jetzt ständig jemand rein. Nein, lasst uns zu Wohlgedeis gehen”, flüsterte sie schließlich energisch. “Dort wissen Tsalinde und Lys auch, dass ihr Sohn wohlauf ist.”

Friedewald seufzte und zuckte resigniert mit den Schultern. “Na gut, Merle, wenn du meinst. Ich dachte ja nur, so ginge es schneller.” Friedwald wollte nur ungern das Gesicht seines baldigen Schwiegersohns verpassen, wenn er von der Entführung seiner Braut erfuhr.

"Ja, schnell", drängelte Merle mit einem intensiven Blick in Friedewalds Augen. "Bitte. Es ist wirklich wichtig, glaub mir." Sie legte vorsichtig ihre Hand auf seinen Rücken, um ihn um den Baumstamm herum in Richtung des Hofs Wohlgedei zu schieben und signalisierte den anderen mit den Augen, sich endlich in Bewegung zu setzen.

"Geht nur voraus - ich folge Euch, wohin auch immer Ihr geht! Ihr wisst am besten, wo wir vertraulich sprechen können”, bekundete Nivard eilig, der das Geplänkel zwischen Doratrava und Friedewald bereits in wachsender Unruhe verfolgt und nur aus Höflichkeit nicht unterbrochen hatte. "Hauptsache schnell."

Doratrava warf Nivard einen spielerisch-entschuldigenden Blick zu und zuckte die Schultern, nickte dann aber. Sie sah ein paar Augenblicke, die sie vielleicht länger brauchten, jetzt nicht als entscheidend an, daher kam ihre im Grunde unbekümmerte Ader wieder ein wenig nach oben, was in letzter Zeit durchaus weniger oft der Fall war als früher.

“Also gut, wenn es dermaßen drängt, lasst uns zur Familie Wohlgedei aufbrechen.” Friedewald lief in Richtung des Bauernhofs los, zu dem ihn seine Schwiegertochter und ihre Freunde führen wollten.

Merle atmete erleichtert durch und versuchte sich in Gedanken schon einmal die richtigen Worte zurechtzulegen, wie sie ihrem Schwiegervater beichten würde, den Brief an Gudekar geöffnet zu haben. Sie spürte, wie sich ihre Kehle wieder zusammenschnürte, stapfte aber tapfer schnellen Schrittes dem Hof entgegen.

Doratrava spürte Merles Seelenqual und schloss zu ihr auf, um wieder ihre Hand zu nehmen und zu drücken. “Alles gut”, murmelte sie ihr beruhigend zu.

Merle stieß ein undeutliches Seufzen aus, das ausdrücken mochte, dass aus ihrer Sicht nichts gut war, dennoch hielt sie dankbar Doratravas Hand. Wenn sie sich insgeheim auch Sorgen um Gwenn machte, war sie unendlich froh, dass Doratrava weiter bei ihr blieb.

Nivard folgte ihnen auf dem Fuß. Auch ihm waren die Nöte Merles, aber auch die tröstenden Bemühungen Doratravas nicht entgangen, so dass er - nicht zuletzt auch der Anwesenheit der anderen geschuldet - seinen Beistand zunächst dabei bewenden ließ, einfach nur bei den beiden zu sein.

Als Doratrava Merle so abgrundtief seufzen hörte, konnte sie nicht anders, als ihre Hand loszulassen und sie um die Hüfte zu fassen und an sich zu drücken. “Ich bin da, ich bin bei dir, du musst nicht die Last der Welt allein tragen”, raunte sie ihr zu.

Für einen Moment lehnte sich Merle an Doratrava, presste aber weiterhin schweigend die Lippen zusammen. Sie wollte nicht die Last der Welt tragen, auf gar keinen Fall - sie wollte das kleine, ruhige Leben zurück, das sie vorher gelebt hatte, wo sie ihren Platz kannte und stets wusste, was zu tun war, wo sie ihren Mann nur kurz ansehen musste und blind verstand, was er gerade dachte und fühlte. Jetzt war alles anders, zersprang ihre Welt in Scherben wie vorhin die Suppenschale auf dem Küchenboden. Nein, sie wollte das alles nicht. Sie wollte nicht stark sein. Eigentlich sehnte sie sich nur danach, sich irgendwo im Dunklen zu verkriechen und bitterlich zu weinen um alles, was sie verloren hatte.

Und wieder schien Doratrava zu spüren, was in Merle vorging. Wortlos verstärkte sie ihren Druck um Merles Hüfte und hauchte ihr einen Kuss von der Seite auf die Haare.

Friedewald hatte gemischte Gefühle. Einerseits spürte er, dass eine schwere Last auf Merle lag und es um eine für sie ernste Angelegenheit zu gehen schien. Sonst hätte sie nicht derart dringend um ein Gespräch gebeten. Auch ihre Nervosität war deutlich spürbar. Andererseits freute er sich, dass seine Schwiegertochter in den letzten Tagen so gut Anschluss an die Gesellschaft gefunden hatte. Das war nicht von vornherein zu erwarten, war sie doch stets eher schüchtern und ob ihrer Herkunft eher unsicher gewesen, wenn es um den Kontakt zu höher gestellten Adeligen ging. Doch scheinbar hatte sie gerade in der Gauklerin eine gute Freundin gefunden, die ihr offensichtlich geholfen hatte, ihre Zurückhaltung zu überwinden. Friedewald hatte also in mehreren Beziehungen Grund, Doratrava dankbar zu sein.

Merle hob den Kopf und lächelte Doratrava liebevoll an. Ihre neue Freundin war wirklich wie ein heller Lichtschein in der totalen Finsternis, vor der sie sich seit heute früh umfangen fühlte. Kurz huschte so etwas wie Erstaunen, Verwunderung über Merles Miene, dann wurde ihr Ausdruck nach einem Seitenblick zu Friedewald wieder ernst und starr.

Lys und Tsalinde folgten dem Rest der Gruppe.

~ * ~

Ungewisses Warten

Zurück auf dem Guthof

(Kalman, Rondrard & Lanze, Ardare, Rhodan, Lares & Anhang)

Kalman von Weissenquell führte die Lanze des Ritters Rondrard von Storchenflug, die den Leichnam ihres Gefährten Yendan Zerf mit sich trugen, zurück zum Edlengut. Die Baroness Ardare von Kaldenberg folgte dem Zug. Sie geleitete den noch immer völlig verstörten Lares von Mersingen, um ihn auf sein Zimmer zu führen.

Am Gutshof angekommen, nahmen die Mägde Wiltrud und Harka Bächerle den Trauerzug in Empfang und führten die Gäste in einen unbeheizten Nebenraum, in dem der Tote aufgebahrt werden konnte. Dann fragte sie das Gefolge, ob sie bei dem Toten Wache halten oder sich lieber in den gemütlichen Salon zurückziehen wollten. “Kann ich Euch vielleicht etwas zu trinken bringen? Oder eine Mahlzeit?”

***

Derweil geleitete Ardare den Ritter Lares in sein Gemach, wo seine Schwester Miranda und die weitere Gefolgschaft des Ritters bereits auf ihn warteten.

Miranda war auf und abgetigert. Wahrscheinlich hatte sie schon hundertmal das Zimmer durchmessen, während Erbosch sie Pfeife rauchend beobachtet hatte. Auch die kleine Lissa war ersichtlich nervös, doch mit der Situation so überfordert, dass sie sich nur noch mit einer Haarlocke abzulenken wusste. Wie oft hatte ihr Schwertvater gesagt, sie solle die Strähne ihres blonden Haares in Ruhe lassen? Quasi dem zuwider drehte und drehte das Mädchen die lockigen Haare, bis es schmerzhaft an ihrer Kopfhaut zog. Nur die Akulothin der Herrin Rahja schien noch alle Sinne beieinander zu haben und mühte sich, die junge Edle zu beruhigen. Wie konnte nur dieses schöne Fest so radikal schief laufen? War die Herrin der Freuden nicht mit dem Paar?

Es klopfte an der Tür, dann öffnete sich diese auch prompt und der Ritter von Mersingen wurde durch die Öffnung geschoben. Hinter ihm betrat eine junge Frau den Raum, ganz in hochwertige Jagdkleidung aus Rauhleder gekleidet. War das Leder vor allem an den Schultern auch bereits durchgeweicht und die Flechtfrisur des brünetten Haars mancherorts bereits in leichte Unordnung geraten, war die Frau doch in deutlich besserem Zustand als der Mann mit der blutverkrusteten Jagdkleidung, den sie mit sanfter Gewalt nach vorne bugsierte, und der stumpf vor sich hinblickte. Hinter der Frau stapften zwei große Hunde - ein Winhaller, eine Wehrheimerin - mit hängenden Köpfen in den Raum.

“Ardare von Kaldenberg.” stellte sich die Brünette in der knappsten Form, die möglich war, vor. “Ich bringe Euch Euren Bruder körperlich unversehrt, doch im Geiste zerrüttet zurück.” Sie hatte sich diese Worte auf dem Weg zum Zimmer zurechtgelegt. Es war wohl das Beste, mit der Tür ins Haus zu fallen. “Er war Zeuge eines blutigen Jagdunfalls, das einem Jagdgesellen das Leben gekostet hat. Das Blut - es stammt von dem Toten."

Erwartungsvoll und mit einem Versuch, ihre Neugier zu verstecken, blickte Arda den Anwesenden entgegen. Ihre flinken grauen Augen huschten von einer Person zur nächsten.

An ihr flog ein hellbrauner Haarschopf vorbei. Die junge Frau, der er gehörte, warf sich an den Hals ihres Bruders und vergrub ihr tränennasses Gesicht an seinem Hals. Sie war etwas größer als der kleingewachsene Ritter, schlank, von hübschem Wuchs, doch schien sie Schwierigkeiten beim Gehen zu haben, was sie aber nicht davon abhielt, die Baroness zunächst völlig zu übergehen. Diese wurde stattdessen von der blonden Pagin des Mersingers in Empfang genommen, welche sie bereits kannte. „Habt Dank, Euer Wohlgeboren von Kaldenberg. Es ist…danke“, versuchte die junge Eisensteinerin die Form zu wahren. Die junge Dame, zu der Basilissa langsam heranwuchs, wollte gerade jetzt, dass ihr Schwertvater auf sie stolz war. Beim Anblick seiner stumpfen Augen versagte jedoch auch ihr die Stimme. Die großgewachsene Vinja schlug nur die Hände von den Mund und schüttelte den Kopf. Sie hatte noch nie so viel Blut gesehen, geschweige denn an einem Menschen. Der Zwerg, den schmucklosen schwarzen Loden nach ein Angehöriger des Volkes der Erzzwerge, paffte an seiner Pfeife. „Hm. Jagdunfall“, brummte er. Nach einer langen Pause, die gefüllt war von Schluchzen der jungen Mersingerin, ergänzte er mit seiner steinrauhen Stimme: „Sicher?“

“So wurde mir versichert.” entgegnete Arda. “Doch es hat keiner den Unfall beobachtet - außer Lares, der nicht spricht, und der Tote, der nicht mehr sprechen wird.”

"Das ist ja grauenhaft", presste Vinja zwischen den Fingern hervor. Der Zwerg musterte seinen Dienstherrn von oben bis unten. "Drachenwerk", konstatierte er aus dem Brustton der Überzeugung. "Nichts zu machen." Miranda wimmerte laut. "Euer Wohlgeboren, es ist sehr gütig von Euch, dass Ihr den Herrn Lares hergebracht habt. Könnt Ihr erahnen, was ihn wirklich ereilt hat?" Die Rahjaakolutin hatte sich gefasst, die Hände von ihrem Mund genommen und griff so nach dem erstbesten Strohhalm für weitere Informationen.

Die Kaldenbergerin presste die Lippen zusammen, als der Zwerg so hellsichtig von “Drachenwerk” sprach - was beim Kleinen Volk durchaus ein Synonym für Magie sein mochte. Sie konnte zwar ihre Erkenntnisse in ihrer Gesamtheit nicht präsentieren, sehr wohl aber ihren Verdacht äußern, den sie bereits seit der Rückkehr der Jagdgesellschaft hegte.

“Ich glaube nicht, dass es der Jagdunfall war, der ihn so zerrüttet hat.”, gestand sie ein. “Bereits gestern hatte ich ein Gespräch mit Lares.” Sie wählte bewusst die vertrauliche Anrede, um das Vertrauen der Anwesenden zu gewinnen. “Er wirkte schon damals… aufgewühlt, er war ganz außer sich. Was auch immer mit ihm ist, ist - meiner Meinung nach - nicht erst bei der Jagd passiert.”

Die Baroness räusperte sich in gespielter Verlegenheit. “Lares - der Herr von Mersingen - und ich haben in der Vergangenheit dem Bösen gemeinsam die Stirn geboten. Unweit von hier, übrigens. Ich - ich fühle mich ihm verpflichtet”, log sie. “Jedenfalls möchte ich ihm, eingedenk dieser freundschaftlichen Verbundenheit, helfen.”

Sie zog den Kopf ein wenig ein, beugte sich verschwörerisch nach vorne und senkte die Stimme: “Sagt mir bitte, sofern Ihr darüber im Bilde seid: Was hat Lares in den vergangenen Monden getrieben? Was hat ihn so aufgewühlt?” fragte sie.

„Oh je, oh je, oh je, Herr Praios!“, jammerte Miranda bei jedem Wort, während Erbosch die Stirn in Falten warf. „Herr Lares war viel unterwegs in letzter Zeit“, grummelte der Zwerg. „Hat erhebliche Ausgaben für Proviant und zusätzliches Futter gehabt. Ja. Sehr erhebliche“, betonte er. Vinja betrachtete derweil die schöne Baroness. Dieser entging nicht, dass die junge Dame bei der Verwendung der intimen Anrede geringfügig schmunzelte, bis sie ihre Gesichtszüge wieder gefangen hatte. Zugleich wurde das Gesicht der kleinen Eisensteinerin finster. Sie kannte Ardare flüchtig, aber von einer so vertrauten FREUNDIN ihres Schwertvaters wusste sie nichts. Überhaupt nichts. Das war unschicklich, würde ihr Vater jetzt sagen. Und das ging nicht: Weil Herr Lares ja nur für ihre Schwester Luzia reserviert war. Die Pagin trat vor und erklärte mit einem naseweisen Unterton: „Der Herr von Mersingen war viel verreist. Zunächst war er in Talwacht, dann auf diversen Hochzeiten eingeladen, dann waren wir gemeinsam“ - dabei deutete sie knapp auf Miranda - „zu Gast am Hofe in Darpatien - ähm der Rabenmark - und jetzt, naja…hier.“ Das Mädchen drehte sich zu ihrem Schwertvater, der durch sie hindurchzusehen schien. Sie schüttelte entsetzt den Kopf. „Aufgewühlt, ja, das ist Herr Lares schon länger. Seitdem er von einem langen Ritt gen Süden“, die Formulierung offensichtlich von ihrem Schwertvater übernommen und rezitiert, „zurückgekommen ist. Ich meine, er hat gesagt, bei seiner Hochgeboren Lucrann von Rabenstein gewesen zu sein.“

Viel gereist - doch Konkretes konnte selbst Lares’ Gefolge nicht genau benennen.

“Wie der Zufall es will, werde ich im Anschluss an diese Hochzeit gemeinsam mit dem Baron von Rabenstein auf eine längere Reise aufbrechen”, entgegnete Arda. Sie kannte das Mädchen - es war eine der Töchter dieses grauenhaften Barons von Eisenstein. “Ich werde sicher die Zeit finden, den Baron hierzu zu befragen”, versicherte sie gönnerhaft.

Für die Kaldenbergerin ergab sich ein Dilemma: würde sie die Konsultation eines Antimagiers empfehlen, würde das die Frage aufwerfen, wie sie auf den Verdacht einer magischen Ursache des Zustands kam. Schlimmer noch, ein geschickter Analysemagier mochte vielleicht Spuren von hexischem Wirken erkennen, was möglicherweise sie selbst in Gefahr brachte. Gewiss, ihre Zugehörigkeit zu der Schwesternschaft der Hexen war ein gut gehütetes Geheimnis, doch die Baroness hatte in ihrem jungen Leben bereits vieles gesehen, um die Gefahr dummer Zufälle zu unterschätzen.

Eine Lösung bot sich an: Lares war ein Praiosjünger, ein inbrünstiger Gefolgsmann des Sonnengottes. Eine Purgation mittels göttlicher Kraft war kein feines Werkzeug, sondern ein großköpfiger Hammer, der von den Spuren der Magie nicht viel übrig lassen würde. Dies wäre ein gangbarer Weg…

“Meine Frage zielte darauf ab, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, dass finstere Magie für Lares’ Zustand verantwortlich sein könnte. Ich war leider schon einmal Zeugin von solcher arkaner Beeinflussung, und… Offen gesagt: Sein Zustand erinnert mich daran. Meine Empfehlung wäre, ihn in einen Praiostempel zu bringen.”

Miranda nickte, während ihr die Tränen die Wangen hinabliefen. „Das Drachenwerk bringt nur Unheil“, grollte Erbosch düster. „Sie können einen von vielen Meilen Entfernung mit ihrem bösen Blick belegen! Das kommt davon, wenn man immer auf der Oberfläche herumstolziert. Ich halte mich deswegen bevorzugt im Inneren auf.“ Er hatte die Faust geballt und wippte damit auf und ab. „Aber nein, in den letzten Wochen war Herr von Mersingen auf dem Gut Rosenhain. Dort übt doch keiner finstere Schadzauberei“, warf Vinja ein. „Wie lang wirkt so ein Zauber?“, frug Basilissa daraufhin wissbegierig und schnell von Begriff.

“Das weiß ich nicht, Kind.” log Arda. Sie nutzte dabei den Ton, den geduldige Eltern an den Tag legen, wenn sie die dummen Fragen ihres Nachwuchses beantworteten. “Vielleicht sehr, sehr lang.” An die Erwachsenen und insbesondere den Zwergen gerichtet, der ihr von allen Anwesenden am Verständigsten vorkam: “Lares hat also von keinem besonderen Ereignis auf seinen letzten Reisen berichtet?”

„Nein. Der Herr von Mersingen ist in letzter Zeit sehr…schweigsam, was seine Reisen angeht“, konstatierte Vinja Rankmann. Doch da meldete sich Miranda, die sich wieder einigermaßen gefangen hatte: „Er war immer in düsterer Stimmung, wenn er von Fern nach Rosenhain zurückkam. Er sprach von einer wichtigen Aufgabe, einer großen Mission. Mir schien es, als habe er sie nicht abschließen können.“ Die kleine Ritterin im Werden sah dagegen mit strengen Augen zu der Baroness hinauf. So speiste man sie nicht ab. Das war doch keine Antwort! Herr Lares wäre ganz wütend bei so einer lapidaren Beschwichtigung. „Wie lang ist sehr, sehr lang?“, setzte sie nach.

Die Baroness schenkte der Pagin ein kurzes, nachsichtiges Lächeln, ignorierte aber ihre Frage. Stattdessen fragte sie die Erwachsenen: "Aber Ihr wisst nicht, auch nicht ungefähr, was oder welcher Natur diese Mission ist?"

„Herr Lares bekämpft den Feind der Ordnung!“, erklärte die kleine Lissa aus dem Brustton der Überzeugung. „Für die Herzog…“, rutschte es ihr halb heraus, dann schlug sie ihre Hände vor den Mund.

"...Herzogenmutter?" vervollständigte Arda fragend. "Und der Feind der Ordnung ist möglicherweise ein gewisser 'Bäcker'?"

Hatte sie die Worte noch mit gewissem Spott ausgesprochen, da sie überrascht war, dass ausgerechnet das Mädchen über die Aktivitäten des Mersingers Bescheid wusste, wurde sie nun ernst. "Wenn Du irgendetwas darüber weißt und uns jetzt verschweigst, könnte es sein, dass Dein Herr Deinetwegen zu Schaden kommt." Die Baroness wählte bewusst diese drastischen und manipulierenden Worte, denn sie hatte keine Zeit und auch keine Lust, sich mit den Allüren des Mädchens auseinanderzusetzen.

„Nein, nein, mehr weiß ich nicht!“, schüttelte sie vehement den Kopf. „Er hat nur immer und immer mehr … Angst gehabt. Um mich, um Luzia…“ Diese harsche Aufforderung hatte die Pagin ersichtlich schockiert und bei aller Stoik des Mädchens glitzerten jetzt Tränen in ihren Augenwinkeln.

“Wer hat mit ihm zusammen gekämpft? Hast Du schonmal vom ‘Herz der Nordmarken’ gehört?” drängte Arda das Mädchen, ohne darauf zu achten, dass es bereits emotional bereits angegriffen war.

„Nein. Die Nordmarken sind doch das Land. Das hat doch kein Herz“, wieß die Kleine irritert von sich. „Er ist allein losgeritten und allein wiedergekommen. Er hat gesagt, es ist zu gefährlich für mich.“

Die Baroness nickte, als fände sie sich bestätigt. “Du hast auch nicht mitbekommen, dass er mit jemandem per Brief korrespondiert hat?” hakte sie nach, und dann, nach kurzem Überlegen: “Irgendjemand, den wir befragen könnten, der Näheres wissen könnte?”

„Nein, also, nein, also er hat mit einer Bekannten von früher und mit Luzia geschrieben. Aber nicht über etwas Gefährliches.“ Das bestätigte Miranda. „Nein, mein Bruder hat in letzter Zeit sehr wenig Korrespondenz gehalten. Man könne den Boten nicht vertrauen, sagte er.“

Arda nickte weiter. Ihre Gedanken wanderten. Dass Lares nach den Ereignissen in Talwacht weiter gegen den Bäckerpruch vorgegangen war, hatte sie vermutet. Sie hielt es jedoch unwahrscheinlich, dass er dies auf eigene Faust getan hatte. So, wie sie den Mersinger kennengelernt hatte, brauchte, nein, sehnte sich dieser nach Führung… Doch - mit wem hatte sich Lares verbündet, und warum war er in dieser Angelegenheit nie auf sie zugekommen? Das gestrige Gespräch hatte sie glauben lassen, dass er sie von seiner zunehmenden Paranoia, die er wohl entwickelt hatte, ausgenommen und sie als Verbündete betrachtet hatte.

Und dann war da noch die Sache mit dem Greifenspiegel, und der Aussage der Baroness Caltesa von Immergrün, die mit Lares’ Beteuerungen nicht in Übereinstimmung zu bringen war.

Die Baroness gab ein frustriertes Seufzen von sich.

“Nun gut, ich werde versuchen zu ermitteln, mit wem sich Lares in letzter Zeit auf Reisen begeben hat. Bitte erwägt meinen Vorschlag, mit ihm bei einem Praiostempel vorstellig zu werden.” Die Baroness straffte sich und nickte den Anwesenden zu, bevor sie sich zum Gehen wandte.

***

Kalman suchte seinen zukünftigen Schwager Rhodan Herrenfels auf, der im Gespräch mit der Baroness Caltesa von Immergrün war.

“Rhodan, mein werter Schwager!”, grüßte Kalman den Kaufmann. “Es gab leider traurige Kunde. Auf der Jagd hat es einen Unfall gegeben. Doch hat diese Nachricht noch nicht alle im Dorf erreicht.” Kalman war es sichtlich unangenehm, in dieser Situation zu berichten, was Gwenn vermutlich gerade vor hatte. “Nun, einige unserer Leute, die von den Schrecken noch nichts wissen, haben wohl begonnen, einer alten Tradition zu folgen, die für den Vorabend einer Hochzeit hier nicht unüblich ist, und für die Euer Eingreifen notwendig ist. Es tut mir leid, dass ich in Anbetracht des Zustands Eures Herrn Euch zu diesem…”, erneut musste Kalman schlucken, bevor ihm das Wort über die Lippen kommen wollte, “diesem Scherz rufen muss.”

Rhodan hatte auf den Fortgang der Ereignisse um seinen Schwager in spe gewartet. Die Nachrichten der Jagd waren noch nicht vollständig zu ihm durchgedrungen - er hatte nach Kräften versucht, die Gesellschaft ‚zusammenzuhalten‘. Aus irgendeinem Grunde schienen es die Götter nicht wohl mit dieser Festivität zu meinen. Hatte am Ende der junge Lares mit seinen Warnungen Recht und das war nur Vorspiel einer weit größeren Tragödie? Sie mussten jetzt die Nerven bewahren, anders ging es nicht. Als Kalman mit der Aufforderung erschien, ihn zu einem Scherz abzuholen, lächelte Rhodan nur milde. „Mein lieber Kalman, macht Euch keine Sorgen. Meine Verlobte hat sicherlich ihre Gründe, wenn sie gerade jetzt die Tradition hochhält. Wir scheinen ob des Herrn von Mersingen gerade eh nichts unternehmen zu können, oder? Er hat einen starken Willen, er wird sich schon wieder fangen.“ Doch schwang im letzten Satz ein unbekannter Zweifel mit. „Geht voran.“

“Gut, werter Rhodan, gehen wir.” Noch einmal schluckte Kalman, denn es war ihm äußerst peinlich, Rhodan auf den folgenden Hinweis aufmerksam zu machen. Er wandte den Blick peinlich berührt von Rhodan ab und schaute zu Boden. “Ach, mein Herr Vater bat mich, Euch daran zu erinnern, dass Ihr besser Eure Geldkatze mitnehmen solltet, Es ist üblich, dass der Bräutigam die Zeche der ‘Entführer’ bezahlt, um die Braut auszulösen.”

Das wiederum brachte den Händler zum Schmunzeln - eine willkommene Erheiterung. „Lieber Schwager, meint Ihr, ich würde das Haus jemals ohne meine Geldkatze verlassen?“

“Vermutlich nicht”, lachte Kalman. “Also schön, tun wir Gwenn den Gefallen, nach ihr zu suchen! Lasst uns los gehen. Zum Glück wird das Wetter langsam besser. Eben ließ schon Praios einige seiner Strahlen auf die letzten Regentropfen scheinen.” Kalman führte den Kaufmann zur Haustür hinaus.

„Habt Ihr einen Anhaltspunkt, wo sie sein könnte? Nicht dass…“, Rhodan schluckte den düsteren Gedanken herunter, noch bevor er ihn ausgesprochen hatte.

Kalman hob entschuldigend die Hände. “Anscheinend weiß Wulfhelm, also der Sohn unseres Jagdmeisters, etwas darüber. Wulfhelm und Gwenn waren als Kinder Spielkameraden. Er wartet auf dem Dorfplatz auf Euch.”

"Na dann, verlieren wir keine Zeit mehr.", straffte der Händler seine Rockschöße.

“Gut”, stimmte Kalman zu. “Dann lasst uns keine Zeit verlieren.”

“Und ich komme mit. Eine alte Frau wird hier nicht abgehängt. Wäre ja noch schöner, wenn jemand glauben würde, dass eine Baroness von Immergrün zu nichts nütze wäre.” Dann erhob sich die betagte Dame.

Gemeinsam gingen sie zum Dorfplatz.

~ * ~

Der Tsageweihte und der Magier – Ein Gespräch im Gasthaus

(Rionn, Gudekar, Meta, Eoinbaiste, Lucilla, Lûthardt)

Der Anconiter Gudekar von Weissenquell führte den Tsageweihten Rionn in das Gasthaus “Zur Weißen Quelle”, das zwischenzeitlich in eine Art Notlazarett umgestaltet war. Doch letztlich verlief der Sturm glimpflicher, als befürchtet. Die meisten leichtverletzten Dorfbewohner waren versorgt und bereits wieder heimgeschickt worden, oder wurden durch Wulfhelms Jagdhorn nach draußen gelockt. Lediglich die schwer verwundete Traviahold Eichholz lag noch bewusstlos auf einem mit Tischen provisorisch hergerichteten Lager. Sie war außer Lebensgefahr, doch noch immer nicht erwacht. Ihre beiden Kinder, die Zwillinge Henna und Rabanna waren von der Elfenbaronin Liana Morgenrot in das Bett ihres Dienstritters Darian von Sturmfels zum Schlafen gebracht. Vea Bachschenk, die Tochter des Wirts, kümmerte sich um die Bewusstlose. Ihr Vater Hagunbald war damit beschäftigt, die restliche Gaststube wieder aufzuräumen und grob zu putzen. Er hoffte wenigstens für den Abend auf ein gutes Geschäft.

Gudekar führte Rionn quer durch den Gastraum zu einem kleinen Besprechungsraum, der durch eine in die Holztäfelung eingelassene Tür betreten werden konnte. Dieser Raum war klein. Lediglich ein Tisch mit mehreren Stühlen darum bot hier Platz für Gäste. An der Wand stand eine Anrichte, auf dem frische Tischtücher und Servietten gestapelt waren. Der Raum wirkte, als würde er nicht oft genutzt, doch ein offenes Fenster sorgte für frische Luft. Scheinbar war der Raum erst kürzlich grob gereinigt worden.

Begleitet wurden die beiden von der Jungritterin Meta Croy, die als Beschützerin des Magiers auftrat, sowie der Erbvögtin Lucilla von Galebfurten und ihrem Begleiter Lûthardt von Galebfurten. Rionn hatte auf dem Dorfplatz noch einen Tsa-Novizen eingesammelt, der ihn nun seit einem Götterlauf begleitete.

“Bruder Rionn, erzählt, wie ist es Euch ergangen seit unserer letzten Begegnung?” fragte Gudekar interessiert.

“Du weißt doch, Gudekar”, antwortete Rionn, “ich reise viel. Seit Jahr und Tag begleitet mich nun Eoinbaiste, den ich im Tsa-Tempel in Eisenstein kennenlernen durfte. Ise und Rike hatten ihn zuvor angeleitet. Nun ist er mit mir unterwegs, um mehr von der Welt und ihrer Schönheit kennenzulernen.” Rionn wies auf den Siebzehnjährigen, der sich noch neugierig umsah im Raum. Als sein Name genannt wurde, war seine Aufmerksamkeit bei den Anwesenden. Mit einem Lächeln im Gesicht grüßte der Novize: “Freut mich, euch kennenzulernen! Möge die Ewigjunge euer Leben stets erblühen lassen!”

Gudekar lächelte den jungen Mann an. “Dann seid auch Ihr herzlich willkommen. Ich hoffe, ihr könnt noch die Schönheit und den Frieden dieses Tals erahnen, wenn hier kein Sturm gewütet hat.” Das Wort ‘Sturm’ sprach Gudekar bewusst betont aus.

Dann wandte Rionn sich an Meta. “Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet, junge Ritterin. Kommst du hier aus dem Lützeltal?”

“Nacì en el paìs del sol y la hierba alta, en Almada.” Verschmitzt lächelte sie den Geweihten an. “Aber jetzt bin ich hier und nein, wir kennen uns noch nicht.”

“Ich habe die junge Dame vor zwei Jahren in Herzogenfurt kennengelernt und zu achten gelernt”, erklärte Gudekar mit einem wohligen Lächeln im Gesicht. “Damals war sie noch Knappin bei Thymon vom Traurigen Stein. Inzwischen hat sie den Ritterschlag erhalten und ist mir zu Diensten. Sie sorgt sich sehr gut um mein Wohl. Ich vertraue ihr und sie wird mich auf meiner nächsten Reise begleiten.”

“Bei Thymian dem Traurigen?”, flachste Rionn. “Na, dann ist es ja schön, dass das nicht auf dich abgefärbt hat, Meta!”

Gudekar lachte. “Nein, also traurig wirkte dein Schwertvater wirklich nicht auf mich”, kommentierte er an Meta gewandt.

Meta lachte vergnügt. „Da hat er Recht, der Name täuscht. Es würde Euch und... Eoin... sicher bei meinem Schwertvater gefallen. Er ist ein Mann, der das Leben liebt und es offen zeigt. Aber er war streng und sorgfältig genug, mich nicht zu früh zur Ritterin schlagen zu lassen.“

“Das ist schön”, kommentierte der Novize unbefangen inmitten der Erwachsenen, der hohen Damen und Herren. Meta konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass der junge Mann vom Gesicht her Ähnlichkeiten hatte mit dem Knappen des Rondrageweihten, der die Liturgie ihrer Schwertleite gefeiert hatte: die Augen, die leicht spitzen Ohren,... Doch die Kleidung hatte überhaupt keine Ähnlichkeit: Während der Knappe des Geweihten sehr streng gekleidet in einem Kettenhemd und Wappenrock daherkam, hatte dieser Novize ein schlichtes graues Leinengewand übergeworfen, auf dem recht wild bunte Stofffetzen aufgenäht worden waren. Versonnen ergänzte er: “Das Leben ist schön.”

„Manchmal mehr und manchmal weniger“, kommentierte Gudekar. “Aber es tut gut, dass ihr uns immer wieder aufs Neue daran erinnert.“ Gudekar lächelte Rionn an. „Manchmal liegen Glück und Unglück wahrlich dicht beisammen. Stimmt‘s nicht, Me.. meine Werteste?“ richtete er die Frage an Meta.

Meta stutzte, als sie das Gesicht Eoinbaistes sah, aber im Moment fiel ihr der Zusammenhang nicht ein. Zu viel gab es zu tun. “Mal überwiegt das eine, mal das andere…”, sie seufzte und sehnte sich zumindest nach etwas mehr privatem Glück. “Es drängt mich, wieder aufzubrechen und mich an der Suche zu beteiligen. So die Götter es fügen, sehen wir uns später wieder.” Ihre Körpersprache zeigte deutlich, dass sie gerne aufbrechen wollte.

“Oh, schade”, sagte Rionn, “willst du schon wieder aufbrechen, Meta? Alle sind so unruhig hier. Vorhin schon Mika und Imelda, nun auch du. Aber Reisende soll man nicht aufhalten, so lautet ein Sprichwort. Wenn du Wichtiges zu tun hast, dann musst du dir wohl die Freiheit nehmen und uns alleine hier lassen. Keine Sorge! Ich werde auf Gudekar aufpassen.” Beim letzten Satz lachte er herzhaft.

“Wenn du Gwenn suchen gehen willst, ist vielleicht das Beste, du fragst auf dem Dorfplatz noch einmal, ob schon jemand was herausgefunden hat. Am besten frag Kalman, ob er schon etwas plant. Vielleicht kann dir ja auch Imelda bei der Suche helfen?”

“Was ist mit Gwenn?”, fragte Rionn neugierig. “Ist sie verloren gegangen?”

„Es gibt Wichtiges zu tun. Ich werde auf dem Platz nachsehen, zur Not suche ich sie alleine. "Bei Kalman muss ich mich noch abmelden, damit er weiß, wo ich die Suche starte.“ Sie lächelte noch einmal in die Runde und huschte wieder ins Freie.

Die Erbvögtin, die der Unterhaltung aufmerksam aber passiv gelauscht hatte, gab ihrem Begleiter einen Zeichen. Gemeinsam folgten sie der Jungritterin, um sich der Suche anzuschließen.

Rionn winkte ihr hinterher. Dann schaute er in die Runde und schließlich zu Gudekar. “Was ist denn passiert? Erzähl doch mal!” Man konnte quasi spüren, dass es ihn vor Neugier zerriss.

“Hm, genau weiß ich es auch nicht. Was ich mitbekommen habe ist, dass Bernhelm und Marno mit einigen Pferden aus dem Stall verschwunden sind und Gwenn auch schon seit dem Sturm nicht mehr gesehen wurde.” Gudekar zuckte mit den Achseln, schien aber nicht sonderlich besorgt zu sein.

“Könnte ihr oder allen dreien etwas zugestoßen sein?” Aus Rionns Stimme war durchaus Sorge zu hören. Dieser Stimmungswandel erweckte wiederum die Neugier des Novizen. “Wieso? Was ist passiert?”, fragte dieser aufgeregt. “Oh, es sind Leute verschwunden und Meta sucht sie jetzt”, antwortete der Ältere. Dann schaute der Tsa-Geweihte wieder zu Gudekar. “Gwenn? Ist das nicht die Braut?”

“Ja”, bestätigte Gudekar, “meine Schwester Gwenn soll morgen  den Herrn Rhodenfels heiraten. Nun, hier in Lützeltal ist eine Brautentführung am Tag vor der Vermählung nicht unüblich. Deshalb hält sich meine Sorge in Grenzen. Und wenn meine Begleiterin in der Suche nach Gwenn derart enthusiastisch aufgeht, dann soll sie ruhig machen.” Das lenkte Meta vielleicht ein wenig ab, gab ihr eine Aufgabe, dachte Gudekar. “Allerdings waren wir eigentlich vorhin mit Gwenn verabredet, aber durch den Sturm konnten wir das Treffen nicht einhalten”, gab Gudekar zu bedenken. “Seitdem habe ich Gwenn nicht mehr gesehen.”

“Na, dann ist es vielleicht harmlos”, Rionn schüttelte den Kopf, “ich mache mir einfach zu viel Sorgen um Lützeltal, wie du weißt, Gudekar. Eben wegen diesem Bäckerjungen. Aber möglicherweise liege ich ja falsch.”

Gudekar seufzte. “Ich hoffe es sehr. Es war sowieso schon viel zu stürmisch heute hier in Lützeltal.” Rionn spürte, dass da etwas war, das Gudekar auf der Seele brannte. Doch der Magier suchte Ausflüchte in Floskeln.

“Aber so richtig sicher bist du dir nicht”, bohrte Rionn nach, “ob hier alles in Ordnung ist, oder?”

“In Ordnung? Was sollte hier nicht in Ordnung sein? Das hier ist das Lützeltal, der friedlichste Ort auf dem ganzen Dererund!” Gudekar war kurz davor, ausfällig zu werden, kurz vor einem Ausbruch, wie ihn Rionn schon einmal auf der Eilenwid bei dem Magier erlebt hatte. Doch in Gegenwart der ruhigen Ausstrahlung des Tsageweihten schaffte es der Anconiter, sich zu beherrschen. Ruhig sprach er weiter. “Nein, sicher ist hier nicht alles in Ordnung.”

“Wie meinst du das, Gudekar?” Rionn sprach leise mit sanfter Stimme. So leise, dass Eoinbaiste neugierig näherrückte, um mitzubekommen, was die beiden da gerade besprachen. Es klang spannend. Wahrscheinlich ging es um diesen Pruch, dachte der Novize.

Gudekar atmete tief durch. “Es geht um…, nun um, sagen wir mal, die Frage, was zu tun ist, wenn die liebholde Rahja sich in Angelegenheiten der guten Mutter Travia mischt.”

“Meistens entsteht dadurch Leben”, lächelte Rionn, “und Lebendigkeit.” Dann nickte er aber verständig. “Ja, aber manchmal auch bedrängende Situationen und Fragen, nicht wahr?”

„Ja“, lachte der Anconiter kurz auf, „manchmal entsteht Leben daraus.“ Doch gleich darauf wurde er wieder ernst und eine tiefe Traurigkeit überkam ihn. „Doch leider ist Mutter Travia in dieser Hinsicht streng, unerbittlich. Sie duldet es nicht, wenn Schwester Rahja fordert, was sie ihr eigen nennt.“

“Also”, Rionn wurde ernst, “was ist passiert, Gudekar? Meta?”

Was meinte Rionn?, überlegte der Novize. Etwa der Magier und diese Ritterin?

„Ja, Rionn“, gestand der Magier. „Meta und ich, wir lieben uns. Wir sind füreinander bestimmt. Das weiß ich seit zwei Götterläufen. Doch natürlich stehe ich im Traviabund mit Merle, weshalb Meta und ich nicht zusammen sein dürften. Aber ich kann und möchte Meta nicht aufgeben, auch wenn mich das zum Frevler macht.“ Es war erstaunlich, aber es fühlte sich befreiend an, mit dem Geweihten offen über die eigenen Gefühle zu reden. Wie eine Last, die von seinen Schultern fiel.

“Oh, oh, Gudekar”, sagte der Tsa-Geweihte in ruhigem Tonfall und runzelte besorgt seine Stirn. “Ob dich das bereits zum Frevler macht? Da wäre ich zurückhaltend. Ich spare mir dieses Wort lieber für die richtig Bösen auf. Und wenn du nicht gerade beschlossen hast, mit dem Bäckergesellen zusammenzuarbeiten, halte ich dich nicht für einen solchen.” Jetzt erschien wieder ein kleines Lächeln in Rionns Gesicht. “Doch solltest du dir bewusst sein, dass du mit deiner Untreue dem Bäckerjungen in die Hände spielst. Das schmälert das gute Werk der Gütigen Mutter.” Wieder ernst hob Rionn beide Augenbrauen. “Wirst du dich von Merle trennen?”

Gudekar nickte. „Keine Sorge, dem Pruch ins Handwerk zu pfuschen ist mein oberstes Ziel. Ich bin nicht wie er. Ich werde erst Ruhe geben, wenn er bekommen hat, was er verdient. Und was Merle angeht, ja, das habe ich versucht, ihr klarzumachen. Doch sie will es nicht akzeptieren. Sie droht mir, mich bei ihren Eltern anzuzeigen.“

Rionn wog nachdenklich seinen Kopf. “Weißt du? Als ich das erste Mal - vor anderthalb Götterläufen - von Albenhus gen Lützeltal reiste, sind uns erstaunlich viele Menschen begegnet, die sich fürchterlich stritten: Mann und Frau, Vater und Sohn, Eheleute und Familien… Es war das erste Mal, dass ich das Wirken des Bäckergesellen wahrgenommen habe. Ich war ziemlich überrascht davon, was er alles bewirken kann. Wir sind quasi seiner Spur des Unfriedens gefolgt. Die Spur führte nach Lützeltal…” Der Tsageweihte kniff die Augen zusammen. “Gudekar. Auf ein Wort. Würdest du einwilligen, dass ich an dir eine Seelenprüfung vornehme?”

„Eine Seelenprüfung? An mir?“ Der Anconiter schaute überrascht! Gudekar lachte unvermittelt auf. „Ihr denkt tatsächlich, ich sei der Rastlosen verfallen? Ach Rionn, warum dieses Misstrauen? Nur, weil ich mein Herz an eine andere Frau als meine Gemahlin verloren habe?“

“Nein!” Rionn schüttelte langsam den Kopf. “Es ist kein Misstrauen. Ich unterstelle dir keineswegs, dass du bewusst und freiwillig einen Pakt mit der Widersacherin der Gütigen Mutter eingegangen bist. Ich möchte aber nicht ausschließen, dass es dieser Pruch vermag, dein Herz zu vergiften. Das hat er bei sehr vielen Menschen in den Nordmarken getan. Und sie haben das nicht gewollt, Gudekar.”

Gudekar wurde ernst. „Nein.“ Er schüttelte energisch seinen Kopf, als wollte er sich selbst überzeugen. „Nein, mein Herz ist rein. Ich möchte nur das Beste für die Nordmarken. Das ist es, wofür ich kämpfe. Der Pruch hat mich nicht vergiftet. Seid unbesorgt.“

“Ich zweifle nicht daran, Gudekar”, erwiderte der Tsa-Geweihte, “dass du aufrichtig für das Gute streitest und das Beste für die Nordmarken erreichen möchtest.” Rionn seufzte. Niemals gegen seinen Willen. “Wie lange kennst du Meta? Wo hast du sie kennengelernt?”

Der Magier begann wieder zu lächeln. “Es war vor genau zwei Götterläufen im Schweinsfoldischen. Ich war dort auf der Hochzeit der Baronin. Im Auftrag unserer Vögtin. Wir sollten dort Leute treffen, die ebenfalls auf der Spur des Paktierers waren, um uns mit ihnen auszutauschen. Jedenfalls lief mir die Knappin - damals war sie noch Knappin - über den Weg, beziehungsweise wir saßen am selben Tisch. Und ich wusste schon sehr bald, dass uns das Schicksal zusammengeführt hat.“

“Die Hochzeit zu Schweinfold?”, murmelte Rionn. Was hatte er über diese Hochzeit gehört, gelesen? Der Geweihte versuchte sich zu erinnern. Immerhin lag das in seinem Vermögen, sich zumindest an das zu erinnern, was er in den letzten anderthalb Jahren gehört oder gelesen hatte. Noch einmal seufzte Rionn. Blöder Gedächtnisverlust! Dann schaute er Gudekar an: “Da war doch was. Hat auf dieser Hochzeit nicht der Bäckergeselle auch massiv eingegriffen? Gudekar? Warst du in Kontakt mit ihm? Oder Meta? Seid ihr Teil dieses Geschehens gewesen?”

„Nun, ja, das kann man so sagen, auch wenn ich ihm damals nicht direkt begegnet bin. Aber ich habe, wie so viele dort, gegen sein Wirken gekämpft.“

“Jaa”, zog Rionn nachdenklich das Wort, “ihr habt alle gegen ihn gekämpft, nicht wahr? Du … und sicher auch Meta, nicht wahr?” Der Geweihte wog nachdenklich seinen Kopf. “Wir kennen das Vorgehen des Bäckerjungen inzwischen ein wenig. Wie würde der Pruch vorgehen, wenn sich ihm jemand in den Weg stellt, ihn an seinem Tun hindert? Bist du dir sicher, dass es Schicksal war, das euch zusammengeführt hat?”

Nun musste Gudekar erneut lachen. „Meint Ihr etwa, Meta sei eine Gefolgsfrau Lolgramoths, die ausgeschickt wurde, um mich zu verführen? Ihr macht Euch ja lächerlich, Rionn.“ Doch Gudekar stutzte. Konnte das sein? Auszuschließen war dies nicht.

“Nein”, erwiderte Rionn mit leichter Empörung. “Wie geht er denn vor, der Pruch? Er versucht, uns zu beeinflussen. Am besten so, dass wir es nicht merken. Kann es sein, dass er euch beide zusammengebracht hat? Und das selbstverständlich in dem Bewusstsein, dass es wider die Herrin Travia sein wird?”

„Nein“, widersprach Gudekar. „Wir trafen uns bereits am Abend, bevor der Pruch sein übles Werk in Schweinsfold verrichtete. Und während sein Wirken dort für Verwirrung sorgte, waren Meta und ich nicht zusammen. Nein, an unserer Liebe trägt der Paktierer keinen Anteil.“

“Denk in Ruhe darüber nach. Zieh es einmal in Erwägung. Schließe nichts aus. Wir haben es mit einem üblen Feind zu schaffen.” Rionn blickte Gudekar ernst an. “Und wenn du Gewissheit haben möchtest, dann stehe ich dir zur Verfügung. Eine Seelenprüfung wäre ein geeigneter Weg. Aber das würde ich nur zulassen wollen, wenn du dich dieser Prüfung freiwillig unterziehen möchtest. Mein Angebot steht.” Rionn nickte sich selbst bestätigend und schwieg einige Zeit. “Lass uns das Thema wechseln.” Rionn atmete tief ein. “Du weißt ja, Gudekar, ich bin in den letzten Monden viel gereist. Ich bin interessanten Leuten begegnet, Elfen, dem Kobold, …” Erneut atmete der Geweihte tief ein, als ob er seinen Mut zusammennehmen wollte. “Gudekar. Ich mache mir Sorgen.”

„Sorgen machen wir uns doch alle“, stimmte Gudekar zu. „Und nicht erst seit Kurzem. Aber Eure Worte klingen, als hättet Ihr einen konkreten, neuen Anlass zur Sorge?“

“Wie soll ich anfangen?” Aus der Stimme des Geweihte klang leichte Verzweiflung. Er blickte den Novizen an, dessen Ohren nicht nur buchstäblich spitz waren. Eoinbaiste hatte die Unterhaltung mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Was und wieviel konnte Rionn hier in Gegenwart eines der Kinder Mirils erzählen? Rionn räusperte sich. “Ähm. Alles fing damit an, dass ich diesem Magierschüler begegnet bin: Hilarious. Ich bin in Breewald - das ist ein Dorf im Eisensteinschen - in einem Gasthaus eingekehrt zusammen mit einem Zwergen, der mir etwas über Baukunst erzählen wollte. Palladiosch heißt der kleine Kerl. Nun, da waren wir. Im `Tänzelnden…´ …äh… nein… `Stolzierenden Pony´ … so heißt das Gasthaus in dem Dorf. Und dort war auch dieser Magierschüler…” Rionn blickte Gudekar hilfesuchend an.

‚Ein Magierschüler? Aha, das soll es ab und an geben‘, dachte Gudekar. Er hatte keine Ahnung, worauf Rionn hinaus wollte. „Ja und?“

“Diiieser Magierschüler war alt und tattrig, gebrechlich und greise.” Rionn schaute ungewohnt ernst. “Er behauptete, noch nicht bis zum Abschluss an der Elenviner Akademie gelangt zu sein, er sei gerade einmal 17 Götterläufe alt geworden, doch sieht er aus wie 97. Gudekar! Ich bin der festen Überzeugung, dass hier dämonisches Wirken im Spiel ist.”

“Oh!” rief Gudekar aus. “Das klingt nicht gut. Und er hat nicht… gelogen? Seid Ihr sicher?” Eigentlich verwarf Gudekar diesen Gedanken sofort wieder. Wieso sollte der … Mann einen Tsageweihten anlügen in dieser Beziehung?

“Die Hesindekirche und die Magierakademie hat es wohl bereits untersucht, schweigen sich aber aus”, ergänzte Rionn nervös. “Es gibt auch eine Reihe von Beobachtungen von untoten Zwergen. Ein Praiosgeweihter ist stundenlang im Kreis herum geirrt. Anzeichen des Wirkens der WIdersacher Borons und Tsas.” Der Tsageweihte schien immer hastiger zu werden im Erzählen. “Und dann der frühe Tod Gudos von Bösenbursch. Er ist einer Kreatur des Namenlosen zum Opfer gefallen. Gudekar! Die Koinzidenz sovieler Ereignisse in so kurzer Zeit! Da passiert etwas Unheiliges!" Mittlerweile war er vernehmlich laut geworden.

Gudekar schüttelte ungläubig den Kopf. “Das klingt nicht gut. Wenn es nur um diesen Magierschüler ginge, hätte ich gesagt, es könne auch ein misslungener, mächtiger Zauber gewesen sein, der ihm die Lebenskraft aus den Adern gesogen hat. Aber die Koinzidenz all solcher Ereignisse, so unglaublich” – oder unglaubwürdig? – “diese klingen mögen, spricht für ein größeres Zusammenwirken unheiliger Mächte. Denkt Ihr, diese Ereignisse stehen im Zusammenhang mit dem Wirken des Mannes, den wir suchen?”

Rionn schaute den Anconiter mit großen Augen an. Er schien zu überlegen. “Kann ich schwer sagen. Ich bin mir nicht sicher, ob das ins Bild passt. Ich ahne nur mehr und mehr, dass wir keine Ruhe haben werden, wenn wir den Bäckerjungen besiegt haben…” Rionn schüttelte den Kopf. “All das weckt in mir Erinnerungsfetzen, die ich mit den Scharzen Landen verbinde. Aber das geschieht nicht im Osten, Gudekar! Das passiert mitten hier in den Nordmarken.” Dann verzog er das Gesicht. “Du weißt, dass ich Luch sehr schätze und ihn liebe. Es ist sehr schön, seine Gegenwart und Freundschaft zu genießen. Aber in diesen Dingen spricht er liebendgern in Rätseln. Aber eins wurde mir klar, all das steht irgendwie in einem Zusammenhang.” Kopfschüttelnd und erschöpft lehnte der Tsageweihte sich zurück. Er wirkte sichtlich überfordert.

“Hattet ihr nicht bereits vor einiger Zeit einen Tsafrevler gejagt und gefasst? Wofür Ihr damals auf der Eilenwid geehrt wurdet? Und Ihr sagt, es waren erneut Frevel an der ewig Jungen im Spiel? Und noch dazu im Eisensteinischen?” Gudekar konnte sich keinen Reim auf die Erzählungen machen.

Rionn wirkte blass und erschöpft. Er winkte ab. “Nein, der Tsafrevler, den wir gefangen haben, er war ein Chimärologe. Das ist wider die Ewigjunge. Dieser Travian von Punin hat einen Pakt mit ihrer Widersacherin. Aber seine Spur führte nicht nach Eisenstein, sondern nach Albenhus. Gudekar, ich mache mir nur große Sorgen, dass es offensichtlich vermehrt Anfechtungen von verschiedenen Seiten gibt: Widersacher der Travia, des Boron, der Tsa, … und das Rattenkind… Ohje, Gudekar: Wohin soll das alles führen?”

Gudekar lachte verzweifelt auf. “Woher soll ich das wissen?” fragte er ironisch. “Wisst Ihr, Rionn, ich bin irgendwann in diese ganze Sache um den Pruch hineingeschlittert, ohne dass ich zunächst wusste, was auf mich, auf uns zukommen würde. Doch schon bald habe ich Schrecken erlebt, die ich mir nie hätte vorstellen können. Ich dachte stets, dass ein einzelner Mann, eine verirrte Seele dahinter steckte. Dann, auf der Eilenwid, erfuhr ich, dass er nicht der einzige Frevler war, der sein Unwesen trieb. Doch gab mir der Erfolg Eurer Mission die Hoffnung, dass auch wir eines baldigen Tages Erfolg haben könnten und den Verehrer Lolgramoths stellen könnten. Und seine verirrte Seele retten könnten. Trotz der Rückschläge, wie zum Beispiel vor einem Götterlauf in Albenhus, hatten wir doch immer mehr Fortschritte bei der Rettung der Nordmarken gemacht. Und nun erzählt Ihr mir, an anderen Orten treten weitere Entitäten auf? Es ist, als würde, sobald man dem Drachen einen Kopf abschlug, drei neue aus seinem Leib wuchsen. Wo soll das nur enden? Können wir denn dann überhaupt jemals siegen? Können wir das Land überhaupt heilen, bevor es verdirbt, wie die Lande im Osten?” ‘Wo sollte es enden, wenn selbst der Tsageweihte den Mut zu verlieren schien?’, dachte der Magier.

Der Tsageweihte starrte weiterhin entgeistert vor sich hin. Dann flüsterte er kaum vernehmlich, dass sich der Novize vorbeugen musste, um ihn zu verstehen: “Ich habe vor einiger Zeit davon gehört, dass sich die Sternenkonstellationen verschoben hätten. Das sei ein Zeichen dafür, dass alles in Bewegung gerät.” Dann verstummte Rionn und schwieg.

“Und Ihr denkt, diese Ereignisse stehen im Zusammenhang mit diesem Phänomen?” Gudekar schaute mit großen Augen. “Was können wir dann überhaupt dagegen tun?”

Rionn sah Gudekar lange und intensiv an. “Uns auf die richtige Seite stellen, Gudekar. Auf die richtige.”

Gudekar blickte Rionn fragend an. Erst nach einigen Augenblicken antwortete er. “Ja, genau”, bestätigte der Anconiter.

Der Tsageweihte schwieg nachdenklich abwesend. Ab und zu nahm er einen Schluck aus dem Becher. Fast mechanisch führte er diesen zum Mund.

“Wie geht es jetzt weiter?”, fragte der Novize plötzlich und blickte zwischen Gudekar und Rionn hin und her.

“Nun”, konstatierte Gudekar, “ich denke, wir sollten zunächst unser Ziel weiterverfolgen. Der Lolgramothpaktierer muss aufgespürt werden und das Herz der Nordmarken muss das Land heilen, den Frieden zurückbringen. Dann besteht Hoffnung, dass auch die anderen Wunden des Landes geschlossen werden. Das Land muss wieder geeint werden, gemeinsam müssen die unterschiedlichen Kräfte gegen den Feind ankämpfen.”

Die Tür zum Besprechungsraum öffnete sich und ein junger Scholar in weißer Kutte betrat den Raum. “Onkel Gudekar, Großvater schickt mich dich zu holen. Zu Hause soll ein Rat einberufen werden, an dem du teilnehmen sollst. Es geht wohl um deine Mission.” Dann blickte Morgan von Weissenquell zu dem Geweihten und seinem Novizen. “Euer Gnaden! Verzeiht, wenn ich Eure Unterredung unterbrochen habe. Aber es klang dringend.”

“Rionn”, antwortete der Tsageweihte mit wenig Enthusiasmus, “einfach nur Rionn.”

Der Novize hingegen nickte. “Ja, selbstverständlich, wir kommen mit!” Man konnte die Freude und die Neugier in Eoinbaistes Gesicht deutlich erkennen. “Ein Rat? Was mag da wohl beraten werden?”  

“Ich weiß es auch nicht.” Der Magier schaute fragend zu seinem Neffen, während er sich von seinem Stuhl erhob.

“Das hat Großvater nicht gesagt”, antwortete der Magierschüler. Er meinte nur, du solltest dich beeilen. Ihr findet ja alleine dahin. Ich soll noch andere Gäste rufen.”

Nun war Gudekar noch mehr verwirrt. “Na gut, Rionn, dann gehen wir mal und hören, was Vater zu sagen hat. Es wird ja wohl kaum noch mehr schlechte Nachrichten geben. Yendans Tod hat mir gereicht für diesen Tag.”

“Au, ja!”, rief der Novize und sprang vor Freude auf. “Das Gespräch hier war zum Schluss ja doch etwas langweilig geworden, nicht wahr?! Komm Rionn, komm Gudekar, wir wollen hören und schauen, was da passiert ist!” Erwartungsvoll schaute Eoinbaiste die beiden älteren Männer an.

~ * ~

Warten auf den Bräutigam

(Mika, Wulfhelm, Borix, Darian, Dankhuld, Imelda, Liana, Jartgar, Liana, Limrog, Alana – alternativ könnt ihr euch auch der Gruppe bei “Ausgang der Jagd” anschließen oder habt ihr andere Pläne?)

Langsam leerte sich der Dorfplatz, als sich das Volk zerstreute. Einige Gäste blieben jedoch stehen, in der Erwartung, was als nächstes wohl geschehen mag. Die Kunde, die Braut Gwenn könne wohl durch einige Bedienstete des Edlen entführt worden sein, machte die Runde, schien die Dorfbewohner jedoch nicht weiter zu beunruhigen, war dies doch ein traditionelles Ritual vor Hochzeiten in Lützeltal. So warteten manche darauf, ob der Bräutigam bald auftauchen würde, um nach seiner Holden zu suchen. Andere schauten sich einfach nur um, mehr oder weniger entsetzt über die Schäden, die der Sturm auf dem Platz angerichtet hatte, der vor kurzem noch ein fröhlicher Fest- und Marktplatz war.

Als sich die Ansammlung auf dem Dorfplatz aufzulösen begann, lief die Firunnovizin Mika von Weissenquell zu der Gruppe der Jagdteilnehmer hinüber, die noch immer auf dem Dorfplatz standen und nicht so recht wussten, was nun als nächstes geschehen würde. Hier standen Wulfhelm Häsler, der Jagdgeselle des Edlen, der Angroscho Borix mit seiner Gemahlin Murla und der Ritter Darian von Sturmfels, gleich neben seiner Herrin stehend, Liana Morgenrot von Rodaschquell. Hinter Mika folgte ein Mann, der sich etwas verwundert und beunruhigt umsah und dabei den Blick vor allem in Richtung der Metzgerei richtete. Das war jener Ort, an dem sie etwas früher zusammen mit Alana die schwerverletzte Frau und ihre beiden Töchter gerettet hatte. Es war der Metzger Dankhuld Eichholz, der Lucilla von Galbfurten auf dem Weg von der Jagdhütte hierher begleitet hatte.

Auch die Ingrageweihte Imelda von Hadingen folgte ihrer Freundin Mika zu der Gruppe der Jagdteilnehmer, da sie dort ein bekanntes Gesicht erkannte.

“Firun zum Gruße!” kam Mika auf die Gruppe zu. “Wisst Ihr, wo mein Lehrmeister, Seine Gnaden Firumar ist?”

Wulfhelm merkte auf und erwiderte den Gruß mit einem knappen Nicken. “Er blieb mit meinem Vater zurück, um die Sauen aufzubrechen. Danach wollten sie sie zur Schutzhütte am Weg schaffen.” Er überlegte kurz, überschlug die vergangene Zeit. “Ich nehme an, damit sind sie zur Zeit noch beschäftigt.”

“Gut”, antwortete Mika. “Dann sollte ihnen jemand entgegen gehen, um zu helfen und die Beute abzuholen. Wie viele Tiere wurden denn letztlich erlegt?”

Wulfhelm wirkte kurz nachdenklich, ehe er antwortete: „Neun. Fünf ältere und vier Jungsauen.“ Er stutzte. „Der Edle Herr - euer Vater- sprach davon, ein Fuhrwerk die Straße hinauf zu senden. Aber ob er das bereits veranlasst hat, weiß ich nicht.“

“Vermutlich nicht”, meinte Mika. “Er ist ja nach der Ansprache gleich mit Merle und den anderen aufgebrochen. Ein Fuhrwerk wäre wohl eine gute Idee. Dankhuld, würdest du einen Wagen besorgen und mich begleiten?”

Der Metzger schien nervös zu sein. “Hohe Dame, verzeiht, ich halte Ausschau nach meiner Frau und den Mädchen. Ich habe sie nicht gesehen. Sie sind nicht aus dem Haus gekommen, als Euer Vater gesprochen hat, das Haus sieht aber verlassen aus.” Panik stieg deutlich sichtbar in dem jungen Mann auf. “Und unser Marktstand vor dem Haus ist von einem dicken Ast in Trümmer gelegt. Ihnen wird doch nichts passiert sein?” schrie er vollkommen erschrocken und hilflos.

Beschwingt lief Imelda zu der Gruppe der Jagdgesellschaft, als die Geweihte aus einiger Entfernung das Gebrüll des Metzgers mitbekam. Stirnrunzelnd blickte sie zu Mika. “Äh, was ist denn los?”

Mika schaute Imelda fragend an. “Hm, genau weiß ich auch nicht. Dankhuld vermisst wohl seine Frau und seine beiden Kinder.”

“Ich glaube, ich hab vorhin im Sturm gesehen, wie die drei ins Gasthaus in Sicherheit gebracht wurden. Eine bewusstlose Frau und zwei kleine Mädchen.” Die Hadingerin wandte sich an Dankhuld und sah die Panik in seinen Augen. “Aber so schlimm sah es nicht aus! Ich kann mir gut vorstellen, dass deine Familie dort wohlauf auf dich wartet!”, versicherte sie dem Metzger mit einem aufmunternden Lächeln und zeigte auf das Gasthaus.

Da Liana wusste, wen der Metzger suchte, wandte sie sich der Jagdgesellschaft zu, bei der auch ihr Ritter Darian stand.

Liana trat zu Imelda und dem Metzger hinzu. “In der Tat, es ist so, wie die Dame es sagte.” Ihre Stimme klang sanft und beruhigend. “Sei ohne Sorge. Deine Kinder sind wohlauf und schlafen, und deine Gemahlin wurde behandelt. Sie hat eine schwere Verletzung erlitten, ja, aber Herr Gudekar hat sich ihrer angenommen.”

“Sie hatten offenbar Glück”, fügte Darian hinzu - nachdenklich und leicht melancholisch, was so gar nicht zu dem ansonsten meist gut gelaunten Rittersmann passen wollte.  

Dankhuld atmete tief aus. Er entspannte sich sichtlich ein wenig. “Schwer verletzt sagtet Ihr? Ich muss sofort zu Traviahold!” Er wandte sich an Mika. “Bitte entschuldigt, Euer Gnaden, könnt Ihr auf mich verzichten?”

Mika lachte auf. “Euer Gnaden? So wurde ich noch nie genannt! Nein, Dankhuld, so weit bin ich noch nicht. Ich bin einfach nur Mika.” Dann wurde sie wieder ernst. “Aber natürlich Dankhuld, geh nur, ich finde schon jemanden im Dorf, der mit mir einen Karren zu seiner Gnaden lenkt.”

“Habt Dank, Euer… ähm, junge Dame!” Dankhuld verbeugte sich vor der Tochter des Edlen. Dann wandte er sich an Liana und Imelda. “Im Gasthaus ist meine Familie, sagtet Ihr?”

Noch ehe Liana antworten konnte, kam ihr Imelda zuvor.

“Ja, genau! Im Gasthaus!” Die Hadingerin nickte dem Metzger bestätigend zu, als sie plötzlich aus voller Kehle zu kreischen begann: “DARIAN!!!” Mit Luftsprüngen stürmte sie auf ihn zu und fiel ihm jubelnd um den Hals. Sie drückte ihn fest an sich und sah ihn mit leuchtenden Augen an. “Ich bin es! Imelda! Wie geht es dir?”

Zunächst verdutzt und überrascht, fing sich der Sturmfelser doch recht schnell, als er Imelda erkannte. Nur zu gut erinnerte er sich an den feucht-fröhlichen Abend, den er mit ihr beim Junggesellenabend bei der Schweinsfolder Hochzeit erlebt hatte.

Bislang waren sie sich hier in Lützeltal offenbar noch nicht wirklich über den Weg gelaufen - was bei der insgesamt überschaubaren Menge an Gästen zunächst etwas verwunderlich schien. Aber die Jagd und das Chaos des Sturms …

Er lächelte breit, schloss sie nun ebenfalls impulsiv in seine kraftvollen Arme und erwiderte den Druck etwas überschwänglich. Nach der unglückseligen Jagd tat es einfach gut, ein freundliches Gesicht zu sehen, das die Bitterkeit zu vertreiben vermochte.

Ein leises vergnügtes Jauchzen ging von Imelda aus, als der Sturmfelser sie noch einmal fester an sich drückte.

“Imelda! Ich freue mich, dich zu sehen! Mir geht’s soweit gut - und ich hoffe, die Zeit hat dich ebenfalls wohl bedacht.”

Er entließ Imelda aus seiner Umklammerung und machte eine ausladende Geste zu der sylphidenhaften Gestalt neben ihm.

“Erlaube mir, dir meine Herrin vorzustellen. Dies ist die Dame Morgenrot, die Baronin von Rodaschquell.”

Liana, die das kleine Schauspiel gleichermaßen überrascht wie auch neugierig und wohlwollend betrachtet hatte, neigte kurz ihr Haupt.

“Lia…” .. Darian korrigierte sich gleich …”Frau von Rodaschquell, dies ist Imelda von Hadingen, die ich auf der Hochzeit zu Schweinsfold kennenlernen durfte.”

Verschmitzt sah Imelda den Ritter an. “Darian, Ihre Hochgeboren von Rodaschquell und ich, wir haben uns sogar am gestrigen Abend bei der Nachtwanderung schon kennengelernt.” Die Geweihte sah mit ebenso leuchtenden Augen zur Baronin. “Eure Funken, die ihr gestern ver…”, Imelda suchte nach dem richtigen Wort, “...die Ihr verpufft habt, die waren großartig!”

Dankhuld stand ungeduldig neben den dreien und wartete, ob er die Erlaubnis bekam, gehen zu dürfen. Als das Gespräch diesen Verlauf nahm und er das Gefühl hatte, eh nicht weiter beachtet zu werden, ergriff er die Initiative. “Die hohen Herrschaften, Euer Gnaden, gestattet Ihr mir, dass ich jetzt nach meiner Frau schauen gehe?”

Als Imelda von “verpufften Funken” sprach, musste Liana lachen. Sie lachte nicht oft, und wenn sie es tat, klang es heiter, voller Freude und wie ein Glockenspiel. Es war nur kurz, und ihre Augen strahlten. Dann wandte sie sich Dankhuld zu.

“Bitte, guter Mann, schau’ nach den Deinen. Meine besten Wünsche begleiten dich.” Ihr Blick war warm, freundlich und sprach von Hoffnung und Zuversicht.

“Ein Impuls, dem ich nachgegeben habe, weil mich der Abend und Eure Gesellschaft gleichermaßen erfreut haben”, sagte sie dann und schaute zu Imelda.

“Und auf dem Junggesellenabend war sie großartig!”, platzte Darian hinein. “Ich wusste, dass Ihr Imelda mögen würdet. Ich weiß ja nicht, was ihr da oben bei den Feiern der Braut veranstaltet habt, aber wir hatten jede Menge Spaß, und das Tanzen, das war …”

Liana fuhr herum und schaute Imelda an: “Es ist also, wie Ihr schon sagtet: Ihr habt es vermocht, Herrn Darian zum Tanzen zu bewegen …”

Der Ritter lief schnurstracks rot an …  

“Ja, zunächst hatte er sich mit Händen und Füßen gewehrt, aber dann… nun, ich bin ihm hoffentlich nicht zu sehr auf die Nerven gegangen. Ich, äh, hab ihm klargemacht, dass er keine Wahl hat. Darian hat dann ganz temperamentvoll mit mir getanzt… und er war gar nicht mal schlecht!” Imelda lachte beherzt und hielt sich vergnügt die Hand vor den Mund. “Am Ende hatte er sogar behauptet, es hätte ihm Spaß gemacht”, erklärte sie und klopfte dem Ritter kumpelhaft auf die Schulter.

“Wenn Euch dies gelang, müsst Ihr wahrlich eine bemerkenswerte Frau sein”, sagte Liana heiter und völlig ungeniert. So, als spräche sie über die Farben der Blumen auf der Wiese.

“Und ich wusste immer, dass der Herr von Sturmfels auch auf dem Parkett eine gute Figur abgibt, wenn er es denn will.”

Das Gespräch entwickelte sich in eine Richtung, die ihm nicht vollumfänglich zusagte.

“Bei einer willensstarken Tanzpartnerin wie Imelda ist das auch kaum ein Wunder”, sagte Darian und sah Imelda keck an.  

“Na dann…” Imelda sah Darian verschmitzt an. “Wie es aussieht, wirst du nach dieser Unterhaltung wohl nicht mehr umhin kommen, sowohl mit Ihrer Hochgeboren als auch mit mir bei dieser Hochzeit das Tanzparkett zu beehren.” Sie lachte und knuffte den Ritter ein wenig gegen den Oberarm. “Also, dann bereite dich seelisch und moralisch schon mal vor!”

Er ließ es sich sichtlich gefallen und schenkte Imelda ein charmantes Lächeln, das selbstsicher, zufrieden, aber auch erfreut und freundlich wirkte. Und den feinen Sinnen der Dame Morgenrot entging nicht, dass ihr Ritter offenbar einen gewissen Gefallen auch an der Dame von Hadingen gefunden hatte, und nicht nur an ihrer aufmunternden Geste …

***

Als Dankhuld zum Wirtshaus geeilt war, wandte sich Borix an Mika: “Sollen wir nun einen Wagen organisieren und seiner Gnaden entgegen fahren?”

“Ja, danke, Meister Borix, das wäre eine große Hilfe, wenn Ihr mir zur Hand geht.” Mikas Freude darüber kam aus tiefstem Herzen. Mit großer Freude erinnerte sie sich an die Zeit in Ishna Mur zurück. Sie hatte die Gastfreundschaft der Angroschim dort als sehr großzügig empfunden. Murla und Borix waren für sie seitdem wie Großeltern für sie. Zumindest stellte sie sich Großeltern so vor, sie selbst hatte niemals welche. “Ihr wisst vermutlich, wo die Tiere letztlich abgelegt wurden? Ach so, Wulfhelm meinte ja, bei der Schutzhütte. Hm, wir könnten auf dem Weg beim Beeltzer vorbei und ihn bitten, uns mit seinem Wagen dorthin zu bringen. Sein Hof liegt ja am Weg.”

“Dann sollten wir es so machen, Euer Gnaden”, meint Borix mit einem Augenzwinkern. “Und Ihr, holde Gattin, begleitet Ihr uns?”

Auch Murla musste lächeln. “Gerne, Euer Wohlgeboren.”

“Bei Firun, so sei es! Ähm, Meister Borix”, wandte sich Mika an den väterlichen Freund, “die Anrede ‘Euer Gnaden’ steht mir noch lange nicht zu. Ich habe meine Weihe noch nicht erlangt.”

“Aber das ist doch nur noch ein kleiner Schritt auf Deinem Weg, oder?” ist die wohl eher rhetorische Gegenfrage Borix’.

Dann wandte Murla sich an Mika: “Tut Deine Hand noch sehr weh?”

Da lachte die junge Frau. “Nein, Murla, ich spüre sie eigentlich gar nicht mehr. Der Heiltrank, den mir Tante Caltesa gegeben hat, hat wahrlich Wunder gewirkt.”

“Du musst auf jeden Fall immer wieder versuchen, sie zu bewegen”, schärfte ihr Murla ein. ‘Auch wenn Dein Bruder nicht glaubt, dass Du es jemals wieder kannst.’ Aber diesen düsteren Gedanken behielt die Angroschna für sich.

“Ja, mache ich, Murla. Das wird schon wieder, so Firun es will”, antwortete die Novizin voller Zuversicht.

***

Als das Gespräch über seine Tanzkünste auszuarten drohte, räusperte Darian sich etwas und wandte sich auch den anderen in der Runde zu, die es bislang offenbar vorzogen, zu alledem zu schweigen. Wahrscheinlich, um ihn weiter leiden zu lassen …

“Ich frage mich, wie es denn nun weitergehen wird nach den Ereignissen der Jagd und diesem heftigen Sturm …”

Man musste kein großer Menschenkenner sein, um zu bemerken, dass der Ritter das Thema gern umzulenken trachtete.

Mika drehte sich nun wieder Darian und den beiden Frauen zu. “Eigentlich war eine kleine Firunandacht zum Dank für die Jagd geplant, sobald die Jagdgesellschaft mit der Beute heimgekehrt wäre. Anschließend sollte hier auf dem Dorfplatz Wildbret gebraten werden und abends sollte zum Tanz aufgespielt werden. Aber daraus wird ja wohl erstmal nichts. Hm, ich werde mit Borix und Murla einen Wagen organisieren, um Seiner Gnaden mit den Säuen zu helfen. Und wenn ich das richtig mitbekommen habe, wurde meine Schwester entführt.” Mika fiel auf, dass dies, so beiläufig gesagt, wohl skurril klingen musste, und lachte los. “Also eine Brautentführung als Spaß vor der Hochzeit, wo der Bräutigam seine Braut suchen muss. Wahrscheinlich wird dabei wieder viel zu viel Bier und Albenbluth gesoffen. Der Rodenbach freut sich dann über ein gutes Geschäft und morgen geht es allen schlecht und sie laufen zu Perainhulda für ein paar Kräuter. Stimmt’s, Wulfhelm?”

“Was soll das heißen, ‘viel zu viel’?”, fragte Imelda kichernd nach. “Ich bin da auf jeden Fall dabei! Sowas tolles lasse ich mir doch nicht entgehen!” Die Hadingerin sah ein wenig schuldbewusst zu ihrer Freundin Mika. “Äh… braucht ihr noch Hilfe mit den Säuen?”

“Ja, Imelda”, lachte Mika, “wenn du da mitgehst, bleibt für die anderen nicht mehr genug übrig, dass die sich besaufen könnten.” Die Novizin klopfte ihrer Freundin auf die Schulter. “Geh da ruhig mit, die Schweinen schaffen wir schon hierher. Firumar und Leodegar sind ja dort und wenn uns der Beeltzer mit dem Wagen fährt, haben wir genügend helfende Hände.”

“Hältst du mich für so eine Schnapsdrossel?! Schließlich ist das hier doch eine Hochzeit, das muss gefeiert werden!” lachte Imelda und zwickte ihre Freundin in die Seite, dann schaute sie ihr prüfend in die Augen. “Firumar… so, so. Seit wann sind wir denn so vertraut mit Seiner Gnaden? Gibt es da was, das ich wissen sollte?”

Mika schaute die Ingra-Geweihte überrascht an. “Was? Was meinst?” Dann schüttelte sie lachend den Kopf. “Ach Quatsch. Oder soll ich dich jetzt auch nur noch mit ‘Euer Gnaden’ anreden? Nee, gut, er ist mir recht vertraut geworden, wenn man einen Götterlauf ständig an seiner Seite ist und kaum einen anderen Menschen sieht. Da fällt es manchmal schwer, immer die Distanz zu wahren. Er ist wie ein Vater für mich. Aber er würde nie zulassen, dass ich ihn so vertraut anrede. Über Leodegar habe ich doch aber auch nicht als ‘Meister Häsler’ gesprochen.”

“Wenn du deine Weihe eines Tages abschließt, dann nenne ich dich ganz sicher nur noch ’Euer Gnaden Mikamaus’...” Imelda bekringelte sich vor Lachen. “Sag’ mal, hoher Herr Darian, du kommst doch auch mit zur Brautentführung, oder? Das wird ganz sicher lustig!”

“Spaßige Brautentführungen sind nichts für hohe Herren. Den hohen Herrn werde ich daher in der Kemenate lassen, wenn ich euch begleite”, sagte er strahlend.  “Sofern Frau von Rodaschquell es gestattet”, fügte er vorsichtig hinzu.

“Das tut sie”, sagte Liana gut gelaunt. “Wir wollen nicht mit den Traditionen brechen.”

Mika blickte sich um und sah, dass Borix und Murla schon am Loslaufen waren. “Oh, entschuldigt mich bitte, ich glaube die beiden sind schon auf dem Weg zu Ludewich. Dann muss ich aber mal hinterher. Mach’s gut, Imelda! Eure Hochgeboren, Hoher Herr! Bis später und viel Spaß! Imelda, trink den anderen nicht alles weg!” Mit diesen Worten lief die Novizin los und folgte den beiden Angroschim.

“Pfffhh… Ich will ja morgen noch mitkriegen, was alles bei der Hochzeit passiert”, rief Imelda Mika hinterher und blickte dann erfreut zu Liana und Darian. “Keine Sorge, Euer Hochgeboren, ich werde Ritter Darian unversehrt wieder zu Euch zurückbringen. Und wir werden ganz sicher alle Rätsel lösen, die uns aufgetragen werden!” Die junge Hadingerin hakte sich bei dem Sturmfelser unter und sah ihn fordernd an. “Bereit, den Abenteuern entgegenzutreten?”

“Da ich ja nun weiß, sicher und wohlbehalten von meiner Beschützerin zurückgebracht zu werden und mir nichts passiert, bin ich bereit”, feixte Darian und hakte sich ein.

“Auf, lassen wir die anderen nicht warten!”

Mit einem leichten Lächeln blickte die Baronin der Gruppe nach. Die Tragödie der Jagd, sie schien bereits einen Teil ihres Schreckens verloren zu haben, dachte Liana versonnen.

~ * ~

Besprechung auf Hof Wohlgedei

(Friedewald, Merle, Tsalinde & Lys, Doratrava, Nivard)

Friedewald von Weissenquell zog mit seiner Schwiegertochter Merle Dreifelder von Weissenquell und deren Freunden Tsalinde von Kalterbaum, Lys von Kargenstein, Nivard von Tannenfels und Doratrava zum Hof Wohlgedei, wo Merle dem Edlen eine wichtige Botschaft eröffnen wollte.

Am Hof angekommen, erkundigte sich Friedewald jedoch zunächst nach dem Wohlbefinden der Bauernfamilie.

„Travia zum Gruße, Traviana und Gerfried! Habt ihr den Sturm gut überstanden? Sind die Kinder wohlauf? Gab es irgendwelche Schäden?"

„Travia zum Gruße, Euer Wohlgeboren!“ grüßte Traviana zurück. „Bei uns ist alles gut gegangen. Keine Schäden bisher. Was ist denn im Dorf geschehen?“ fragte sie von dem Jagdhornblasen noch immer beunruhigt.

„Leider gab es einen Jagdunfall. Einen der Gäste hat es erwischt. Firun war unerbittlich“, erklärte der Edle knapp. „Wir erzählen später genaueres, zunächst habe ich mit den Damen und Herren etwas zu besprechen. Wo können wir ungestört reden?“ Bei der letzten Frage blickte Friedewald die Bäuerin eindringlich an.

"Traviana, wäre es möglich, dass wir uns noch mal in die Kammer ans Feuer zurückziehen?" fragte Merle mit einem verlegenen Lächeln. "Wenn's keine zu großen Umstände macht."

"Oh ja, Feuer klingt gut", kommentierte Nivard leise. Wenn schon zu fürchten war, dass die Nachrichten das Herz gefrieren ließen, war etwas Wärme von außen nicht das verkehrteste. Besser jedenfalls, als gut durchfeuchtet draußen im Sturm herumzustehen. Vor allem aber befürwortete er eine schnelle Entscheidung. Er wollte jetzt endlich wissen, was passiert war.

“Sehr gerne, die Herrschaften!” stimmte Traviana zu und führte die Gruppe in den kleinen Raum, in dem das Kaminfeuer brannte. “Seid, in Travias Namen, unsere Gäste. Kann ich Euch etwas bringen, Euer Wohlgeboren? Einen Tee, etwas zu essen?”

“Nein, vielen Dank, Traviana. Ich brauch nichts”, lehnte Friedewald ab. “Wie sieht es bei den anderen aus?” fragte er seine Begleiter.

“Gegen einen heißen Tee und eine Kleinigkeit zu essen hätte ich nichts einzuwenden”, meldete Doratrava sich. Vorhin hatten die Gespräche ihr den Appetit verdorben und sie hatte nicht mehr als einen einzigen Apfel herunterbekommen, und das war das einzige, was sie seit heute Morgen noch bei Dunkelheit zu sich genommen hatte.

"Ja, gerne. Tee wäre wunderbar", stimmte Merle zu. Der heiße Wein vorhin hatte ihr tatsächlich gut getan, doch mehr davon würde ihr zu sehr zu Kopf steigen. Ihre Nerven waren bereits zum Zerreißen gespannt und sie fühlte, dass sie nur eine Haarbreit davon entfernt war, vollends zusammenzubrechen, laut zu schreien oder weinend nach draußen zu rennen. Stattdessen nickte sie Traviana freundlich zu, zog langsam ihren Mantel aus und hängte ihn am selben Haken auf wie zuvor. Mit weiß hervortretenden Fingerknöcheln umklammerte sie ihre kleine Ledertasche.

Auch Doratrava hängte ihren noch immer nassen Mantel wieder zum Trocknen auf und warf dann Merle einen aufmunternden Blick zu, dann dirigierte sie ihre Freundin zu einer Bank, wo sie zu zweit darauf sitzen konnten und drückte sie sanft auf das Polster, um sich dann neben ihr zu platzieren.

Nivard setzte sich, nachdem er sich seines feuchten Überzeuges entledigt hatte, über Eck neben die beiden. Nach Essen war ihm eigentlich trotz des lang zurückliegenden Frühstücks noch immer nicht, aber er hatte an der Akademie gelernt, dass man sich - gerade bevor es in ein Gefecht ging - zuweilen zum Essen zwingen sollte, selbst wenn der Magen dagegen rebellierte. Später konnte man vielleicht jedes bisschen Kraft gebrauchen. Wer wusste, was das, was in diesem Brief stand, noch mit sich brachte. "Gegen einen Tee und etwas Gebäck hätte ich auch nichts einzuwenden. Aber nur, wenn es keine Umstände bereitet." Wobei Nivard nicht nur den Aufwand der Zubereitung, sondern auch das Warten auf die Offenbarung des Briefinhaltes zielte…

Eilig hängte Tsalinde ihren Mantel ebenfalls an den Haken und begann dann damit die ausgebreiteten, nassen Kleidungsstücke einzusammeln, damit alle Platz fanden und vor allem die Unterkleider vor den Blicken der Männer verborgen waren.

Währenddessen kümmerte sich Lys um das Feuer und schob einige Sitzgelegenheiten näher an den Kamin, damit alle ein warmes Plätzchen finden würden.

“Sehr wohl, die Herrschaften! Ich bringe das Gewünschte gleich.” Traviana machte noch einen Knicks, bevor sie den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss.

Friedewald ließ sich in einem Sessel nieder. Es tat ihm gut, nach der langen, anstrengenden Jagd endlich zu sitzen, noch dazu recht bequem. Er blickte eine Weile nachdenklich ins Feuer und hörte dem Knistern des Holzes zu. Dann schloss er seine Augen. Es war deutlich, dass er nicht am Einschlafen war, aber die Ruhe und Wärme, die vom Kaminfeuer ausging, eine Weile ungestört genießen wollte.

Niemand fasst den Mut, diesen Moment des Insichkehrens zu stören. Außerdem erwarteten sie ja die baldige Rückkehr der Bäuerin und diese sollte nicht in das Gespräch platzen. So warteten alle, bis Traviana mit einem Tablett voll Käse, Wurst und Brot zurückkehrte. Auch eine Kanne warmer Milch und ein Honigtopf standen auf dem Tablett. Ihre Kinder trugen Teller, Becher und eine Kanne mit heißem Tee hinterher. Als alle Sachen auf dem kleinen Tisch platziert waren, verließ die Familie die Kammer mit einem: “Wir wünschen guten Appetit!” Die kleine Runde war nun ungestört, um über Merles Anliegen zu reden.

Doratrava versorgte sogleich Merle mit einem Tee, dann jeden, der wollte, dann sich selbst und nahm sich ein Stück Käse. Sie lehnte sich auf der Bank zurück und nippte an ihrem Tee. Ihre Hände behielt sie ansonsten bei sich, aber sie presste ganz sanft ihre Schulter an Merles, um ihr zu signalisieren, dass sie da war und sie unterstützte.

Merle schenkte Doratrava ein scheues Lächeln und nahm vorsichtig einen Schluck Tee. Sie fürchtete sich vor Friedewalds Reaktion, wollte es aber so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Friedewald wartete noch einen Moment, bis sich die Gäste etwas zu essen und zu trinken genommen hatten. Er selbst verzichtete darauf. Dann, unvermittelt, wandte er sich an Merle. “Was ist los, Merle, Kleines? Was bedrückt dich derart, dass du deine herzerfrischende Fröhlichkeit abgelegt hast? So aufgewühlt habe ich dich schon lange nicht mehr gesehen.” Er konnte sich nicht daran erinnern, ob er sie je so erlebt hatte. Selbst als die Kunde von Gudekars Bekanntschaft mit Tsalinde – Friedewald blickte unwillkürlich zu der Edlen – sie erreicht hatte, wirkte sie gefasster als jetzt.

Merle gab sich innerlich einen Ruck. "Vater Friedewald, ich muss dir etwas gestehen… und ich hoffe, dass du mich nicht dafür verurteilen wirst." Friedewald schaute seine Schwiegertochter skeptisch an. Sie schluckte schwer und kämpfte sichtlich um die richtigen Worte. "Zwischen Gudekar und mir gibt es gerade… Probleme. Sehr schlimme Probleme. Ich ähm… ich… kämpfe um ihn. Um unsere Ehe. Und ich hoffe und bete, hoffe so verzweifelt, dass er wieder erkennt, wo sein Zuhause ist. Wie sehr er hier geliebt  wird…” Ihre Stimme drohte zu brechen und sie schluckte erneut mühsam. Friedewald nickte verstehend. Immerhin weilte Merle nun schon seit über einem Götterlauf mit ihrer Tochter hier in Lützeltal, während Gudekar weiterhin in Albenhus im Kloster wirkte. Nach einem kurzen Zögern fuhr sie fort: “Deshalb möchte ich dir nicht mehr zu dieser… Sache sagen, weil du, wenn du mehr wüsstest, sofort handeln würdest… und müsstest." Eindringlich, ihn mit ihrem todernsten Blick fast beschwörend, das Thema damit ruhen zu lassen, sah sie ihrem Schwiegervater in die Augen. "Aber das ist die… Erklärung, warum ich einen persönlich an Gudekar gerichteten Brief geöffnet habe. Und warum ich ihm hierbei, wo es um Frevel wider der Gütigen Mutter geht, nicht vertraue und ihn nicht dabei haben wollte. Ich weiß natürlich, dass es keine Entschuldigung ist." Merle zog den inzwischen recht zerknitterten Brief aus ihrer Tasche und reichte ihn Friedewald. "Bitte lies das." Dann blickte sie zu dem Tannenfelser und nickte ihm auffordernd zu. "Und Ihr auch, Herr Nivard."

Friedewald musterte Merle einen Moment sehr eindringlich, abwägend. Doch er sagte nichts zu dem, was sie ihm gerade gestanden hatte. Es war auch nicht erkennbar, wie er ihr Verhalten beurteilte. Sehr langsam und vorsichtig faltete der Edle den Brief auf und las ihn Zeile für Zeile, äußerst langsam, als würde er nicht begreifen, vielleicht noch nicht einmal verstehen, was dort geschrieben stand. Sein Blick verharrte wortlos auf den Zeilen. Dann nickte er. “Merle, es war gut, dass du den Brief geöffnet hast, wenn dein Gemahl nicht zugegen war, als er ankam. Dieser Brief ist zwar an Gudekar adressiert, aber er ist wohl auch an das Haus gerichtet, an Gwenn und mich. Es ist gut, dass du ihn mir gebracht hast.” Friedewald verstummte und dachte nach. Als er Nivards fragenden Blick auf sich ruhen bemerkte, reichte er ihn dem jungen Mann hinüber.

Das beklemmende Gefühl, das Nivard schon den ganzen Weg hierher beschlichen hatte, bis zuletzt, als er Friedewald ungeduldig bei der Lektüre dieses Briefes beobachtet hatte, kulminierte, als jener zu ihm hinüber gegeben wurde.

Wollte er wirklich wissen, was darin stand? Nein, er musste. So sehr er versuchte, ruhig zu wirken, so sehr verriet das leichte Zittern seiner Hand und das Beben seiner Lippen, wie aufgeregt er bereits war.

In fieberhafter Eile las Nivard ihn einmal. Dann ein weiteres und schließlich noch ein drittes Mal.

Werter Gudekar,

die Dinge überschlagen sich.

Traurige Kunde aus Hlutarswacht. Verzeiht, das ich nicht die Kraft habe die richtigen Worte zu finde und einen wohlformulierten Brief aufzusetzen.

In tiefer Trauer muss ich euch leider mitteilen, das die Vermählung zwischen Tabea und mir am Tag der Treue nicht stattfinden wird.

Die Umstände machen mir Angst ...

er ...

Ihr wisst wen ich meine, treibt noch immer sein Unwesen ...

und er hat zugeschlagen ... und hat getroffen ...

meine Zukünftige wurde sein Opfer. Mein Schwiegervater Gundeland hat Tabea gefunden ...

Sie lag tot am Fuß des Bergfried, außerhalb der Burg ...

... die Federn, man hat gebrochene Gänsefedern unter ihrem gebrochenen Körper gefunden ...

Und zwei Tage später noch eine Magd der Familie ... tot.

Steht zusammen und achtet auf euch.

Radulf von Grundelsee

Flusswacht, 11. Travia

Bei jedem Durchgang veränderte sich Nivards Gesichtsausdruck. Zu Beginn weigerte sich sein Verstand noch, zu akzeptieren, was dort geschrieben stand. “Radulf…” entwich es nur ächzend seinem Mund. Beim zweiten Mal formte sich seine rechte Hand so fest zur Faust, dass die Knöchel genauso geisterhaft weiß hervortraten wie sein bleich gewordenes Gesicht und sich die Fingernägel schmerzhaft, aber nicht wahrgenommen in die Handfläche bohrten. Zuletzt aber sackte die grausige Botschaft. Einige Augenblicke konnte er nicht anders, als wie erstarrt ins Leere zu blicken, nur seine Lippen formten lautlose Worte.

Friedewald beobachtete den jungen Mann, den er während der Jagd kennen und zu vertrauen gelernt hatte, sehr intensiv. “Ihr kennt den Herrn von Grundlsee?” fragte er schließlich.

Nivard nickte erst stumm. “Er ist ein Mitstreiter”, kam ihm schließlich leise, mehr wispernd als gesprochen, aus der staubtrocken gefallenen Kehle. Rasch nahm er ein-zwei kleine Schlucke Tee, um mit festerer Stimme fortzufahren. “Verzeiht. Das nimmt mich… sehr stark… mit. Radulf von Grundelsee hat ja Seite an Seite nicht nur mit mir, sondern auch mit Eurem Sohn und seinen Freunden hier im Raum…” Nivard sah dabei in Doratravas und Tsalindes Richtung, “gegen diesen götterverfluchten Bastard Pruch…”, wo Nivards Nägel sich in seine Handfläche drückten, war nun ein schwaches rotes Rinnsal zu erkennen, “...und für die Heilung der Wunden, die gerissen wurden, gekämpft. Radulf…”

Friedewald dachte einen Moment nach und erinnerte sich dann. “Herr von Tannenfels, Ihr wart damals auch in Liepenstein beim Lichterfest, als der dortige Edle… ermordet wurde. Erinnere ich mich richtig? Aber Doratrava, Ihr wart nicht dabei, oder?”

Diese schüttelte nur stumm den Kopf, wenn sie auch die Stirn runzelte. Wieder so etwas, von dem man ihr höchstens andeutungsweise berichtet hatte.

“Ja.” nickte Nivard abermals. “So war es. Wir sind ihm allzuoft nahe gekommen. So nahe, dass er uns zu kennen scheint. Aber nicht nahe genug, um ihn in die Niederhöllen zu schicken, in die er gehört. Vatermörder…”

Der Edle nickte. “Ihr denkt, er könnte auch bei uns zuschlagen? Ich meine, Gudekar hatte bereits vor über einem Götterlauf die Sorge, Pruch könnte sich hier in Lützeltal eingenistet haben. Aber seine Sorge erwies sich als übertrieben. Was könnte der Paktierer auch schon hier wollen?”

“Ich muss gestehen, dass ich die ganze Zeit schon die Augen aufhalte… eine große Hochzeit lockt den Frevler an wie Lichtschein die Stechmücken, das denke ich mir seit Tagen… aber ich schimpfte mich dafür selbst schon paranoid…” begann Nivard, wie leise sinnierend. Mit einem Mal veränderte sich seine Stimmlage, nahm einen eindringlichen, geradezu beschwörenden Tonfall an, und er sah Friedewald geradewegs an. “Euer Wohlgeboren, nach diesem Brief bin ich mir fast sicher, dass auch hier etwas passieren wird! Nicht einfach, weil es eine Hochzeit ist. Sondern weil es eine Hochzeit im Kreise Eurer Familie ist, Gudekars Familie. Dieser verdammte Hundsfott rächt sich nicht an uns selbst, greift nicht uns an, obwohl er dies gewiss könnte. Ich glaube, er weidet sich an unserem Unglück, wenn er unsere Liebsten tötet, unsere Familien zerstört und uns den Frieden nimmt. Euer Wohlgeboren, wir müssen die Vermissten finden!... Die gütige Mutter behüte sie!”

In seinem tiefsten Inneren wusste er, dass alles Gesagte nicht nur hier auf Lützeltal oder die Lande um Albenhus zutraf. Nordgratenfels mochte eine weite Reise für ihn selbst zu Pferd sein. Für Pruch stellte die Distanz dagegen nur ein lächerliches Hindernis dar, dessen war sich Nivard gewiss. Doch diese Wahrheit wollte er jetzt nicht sehen… würde die Angst um Elvrun und seine Familie ihn sonst doch in den Wahnsinn treiben.

Friedewald schüttelte den Kopf. Sah er die Dinge anders als Nivard, oder wollte er die Gefahr nur einfach nicht wahrhaben? “Aber der Angriff in Flusswacht ist erst…”, der Edle nahm Nivard den Brief ab und las noch einmal nach, “... erst zwei Tage her. Wie sollte er so schnell hintereinander erst dort und dann hier agieren?” In der Stimme des Alten lag Verzweiflung.

“Würde er nur auf einem Pferd reiten oder die Flüsse mit dem Schiff befahren, würde ich es sehen wie Ihr. Aber ich habe nicht nur einmal erleben müssen, wie er aus dem Nichts praktisch überall - sogar an den vermeintlich sichersten Orten auftauchen und ebenso spurlos wieder verschwinden kann. Er reist mit Hilfe von Dämonen, und seine Seele ist verpfändet an den rastlosen Herrn der unheiligen Bewegung. Er kann die Gestalt von Freunden und Anverwandten annehmen und uns alle täuschen. Vielleicht öffnet sich jäh eine Pforte, aus der er springt, vielleicht weilt er längst unerkannt unter uns. Nein, Euer Wohlgeboren. Nach diesem Brief gibt es keine Sicherheit mehr.” Nivards Blick wirkte konsterniert. “Für keinen von uns.”

Schutzsuchend rückte Tsalinde näher an ihren Mann.

Friedewald wurde kreidebleich. “Aber das hieße… Wenn Ihr sagt, er greift nach den Liebsten seiner Häscher, dann wären… Merle, dann wärst du und Lulu in größter Gefahr!”

Nivard nickte. Der von Friedewald ausgesprochene Gedanke schnürte ihm die Kehle zu. Merle und Lulu durfte einfach nichts passieren. Sie waren so liebenswert, so unschuldig. Sie durften nicht für ihre Liebe zu Gudekar und - erkaltet oder nicht - der Liebe des Anconiters zu ihnen sterben. “Merle! Ihr und Lulu dürft die nächste Zeit nicht mehr alleine sein. Bleibt immer in der Nähe von jemandem, der Euch beschützen kann, darum bitte ich Euch, von ganzem Herzen, hört Ihr?”

Nun schlang Doratrava doch wieder einen Arm um Merles Hüfte. “Ich passe auf sie auf”, erklärte sie fest. Nach kurzem Zögern warf sie Merle einen undeutbaren Blick zu und fügte ehrlicherweise, aber mit leiser Stimme hinzu: “Solange ich hier bin.”

Dann wandte die Gauklerin sich aber wieder den anderen zu. “Allerdings sollten wir nicht Merle allein als mögliches Ziel sehen und alles andere vernachlässigen. Letztendlich kann es jedes Familienmitglied oder jeden geliebten Menschen treffen.” Unwillkürlich hielt sie inne und presste kurz die Lippen zusammen. Sie selbst hatte keine Familie, aber machte sie Merle nicht noch mehr zum idealen Ziel für den Pruch, wenn sie zuließ, dass die junge, verzweifelte, aber so unglaublich liebenswerte Frau ihr Herz berührte und der Pruch damit mindestens zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte? Andererseits war der Frevler immer noch nur ein Mensch, wenn auch mit dämonischer Unterstützung, aber er konnte nicht alles wissen und erfahren und sofort darauf reagieren … oder?

Unwillkürlich schüttelte Doratrava den Kopf und verstärkte ihren Griff um Merles Hüfte. Sie würde wegen dieser Gedanken nicht gegen ihre Gefühle ankämpfen, denn auch das wäre schon wieder ein Sieg für den Pruch. Laut sagte sie: “Aber meiner Meinung nach können wir nur die Augen offenhalten, es ist nicht möglich, jeden und jede jederzeit zu beschützen. Wir könnten die Feier absagen, das würde es dem Pruch vielleicht schwerer machen, da nicht so viele Ziele auf einem Haufen anzutreffen wären, aber damit hätte er uns schon wieder getroffen, ohne einen Finger zu rühren, und wir wären trotzdem nicht sicher vor ihm. Wir sollten wachsam sein, aber trotzdem feiern! Wir dürfen uns vor ihm fürchten, aber wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen!”

“Ihr habt weise gesprochen”, bestätigte Friedewald Doratravas Gedanken. “Doch weiß ich zu wenig über die ganze Angelegenheit, als dass ich mir zutraue, hier und jetzt eine Entscheidung zu treffen. Hier bin ich auch auf Euer aller Einschätzung angewiesen.”

Merle war die Aufmerksamkeit, die sich auf sie richtete, sichtlich peinlich. Abwehrend winkte sie ab. "Ich mache mir keine Sorgen um mich…", sie schüttelte mehrmals den Kopf und verzog das Gesicht, "...na ja, nein, ich habe schon Angst, natürlich, aber… ich glaube, es würde Gudekar am Ende nicht besonders treffen, wenn mir was passiert. Wenn ich… fort wäre, dann wär’ das ganz in seinem Sinne. Dann wäre er endlich frei.” Ein sehr bitteres, sarkastisches Lächeln erschien für einen Moment auf Merles Gesicht, dann fing sie sich wieder und schaute Friedewald eindringlich an.

“Merle, so etwas solltest du nicht sagen!” Friedewald klang streng, doch war er eher besorgt, dass Merle derart hoffnungslos über ihre Ehe mit Gudekar sprach. “Gudekar ist dein Gatte, und er liebt dich. Ganz gewiss! Er steht vermutlich sehr unter Druck wegen seiner Aufgabe. Sobald der Paktierer gefasst ist, wird er sicher wieder wie früher sein. Niemand will, dass dir etwas passiert, mein Liebes!”

Tsalinde wollte gerade etwas dazu sagen, doch Lys gab ihr mit einer Geste zu verstehen sich da lieber nicht auf Merles Seite zu schlagen und ihr den Kampf zu überlassen.

Nivard starrte ausdruckslos ins Leere. Widersprechen wollte er Friedewald nicht. Bestätigend nickend konnte er zu seinen Worten nicht. Er fürchtete, dass Merle nicht vollkommen unrecht hatte.

Merle verzog traurig das Gesicht und seufzte leise. Genauso hatte sie vor ein paar Stunden auch noch gedacht… Entschlossen schob sie alle Gedanken an Gudekar zur Seite und versuchte sich zu konzentrieren. “Viel größere Sorgen mache ich mir um Gwenn! Sie ist die Braut dieser Hochzeit… so wie diese Tabea es war… und am Ende würde es Gudekar wirklich zerstören, wenn eine seine Schwestern…” Merle, die sehr bleich geworden war, brach ab und fuhr erst nach einem heftigen Schlucken zögerlich fort: “Woher wissen wir denn, wen wir alles besonders beschützen lassen sollen? Der Frevler kann sich gegen Gwenn, Mika oder Eilada richten, aber auch gegen Morgan und Madalin, oder gegen dich, Vater Friedewald… Der Eoban ist auch mit seiner Familie hier, oder? Und Tsalinde…” Sie schaute scheu zwischen der Edlen und Lys hin und her, unfähig Siegmunds Namen über die Lippen zu bringen. “Eigentlich sind wir alle in Gefahr, die ganze Hochzeitsgesellschaft… Wie sollen wir da noch fröhlich feiern?”

“Schsch”, machte Doratrava sanft und legte Merle einen Finger auf die Lippen. “Indem wir uns nicht verrückt machen, indem wir nicht in Panik verfallen. Ja, wer sich gegen den Pruch stellt, könnte nicht nur sich selbst, sondern auch seine Liebsten in Gefahr bringen. Aber was ist die Alternative? Aus Angst gar nichts tun gegen ihn? Genau das will er ja erreichen.”

Friedewald nickte. “Sicherlich können wir nicht so freudig feiern, wie wir es gestern noch getan haben. Aber ich denke, absagen sollten wir die Hochzeit nicht. Zum einen können wir nicht Gwenns und Rhodans Zukunft allein wegen des Schattens, den der Paktierer mit diesem Brief auf die Feierlichkeiten geworfen hat, aufgeben. Zum anderen ist da immer noch unser Volk. Welche Botschaft würden wir aussenden, wenn wir nun alles abbrechen? Das Volk sollte nicht beunruhigt werden. Es würde Erklärungen nötig machen, die ich nicht geben kann.” Der Edle blickte fragend in die Runde. “Wir sollten versuchen, die Feier wie geplant fortzuführen. Gleichzeitig müssen wir jedoch alle zu schützen versuchen.” Nun ließ auch Friedewald sich von Merle einen Becher Tee reichen. Er hatte das Gefühl, dass er etwas Stärkeres brauchen würde, aber er wollte die Unterredung nicht unterbrechen, um nach einem Schnaps zu fragen.

“Ich war zwar damals auf dem Lichterfest in Liepenstein, doch habe ich die Ermordung des Edlen nur am Rande mitbekommen, da ich noch mit seiner Gnaden die Beute der Jagd versorgt hatte. Und Gudekar hat mich kaum in die Angelegenheit eingeweiht.” Der alte Edle runzelte die Stirn und faltete die Hände. Er musste Entscheidungen treffen, doch wie sollte er dies tun, wenn er nur Teile der Geschichte kannte? “Mein Sohn wiegelte immer ab, er dürfe nichts sagen, die Angelegenheit unterliege der Geheimhaltung. Und wenn er uns mehr erzählte, würde er lediglich die Familie in Gefahr bringen. Als ich damals aus Ishna Mur zurück kam, sagte er nur, ich solle Merle und Lulu mitnehmen, gut auf sie Acht geben. Er würde dafür sorgen, dass wir Beschützer bekommen, denn er war sich nicht sicher, ob der Pruch nicht versuchen würde in Lützeltal zuzuschlagen. Wir sollten äußerst wachsam sein, niemandem trauen. Weder unbekannten Reisenden noch den Leuten aus dem eigenen Volk, denn der Pruch könne auch andere Identitäten annehmen. Wir haben dann sehr aufgepasst, doch erwiesen sich Gudekars Befürchtungen, Travia sei Dank, als reine Paranoia.” Der Edle lachte sarkastisch auf. Nun hielt es ihn nicht mehr auf dem Sessel. Er stand auf und tigerte in dem kleinen Raum auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. “Ihr seid in die Geschichte eingebunden. Was könnt ihr mir sagen? Was genau war damals geschehen? Welche konkreten Gefahren drohen uns? Wie schlägt der Paktierer zu? Womit müssen wir rechnen?”

Merle lehnte sich matt gegen Doratrava, versuchte aus dem sanften Griff um ihre Hüfte Kraft und Stärke zu ziehen, auch wenn sie sich absolut mut- und hoffnungslos fühlte. Aus der vorherigen Unterhaltung mit Tsalinde und Doratrava glaubte sie bereits zu wissen, dass der Pruch ein übermächtiger Feind war, der jederzeit und überall zuschlagen konnte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie man unter diesen Umständen noch eine Hochzeit feiern wollte, überließ es jedoch den erfahrenen Ermittlern, jetzt zu sprechen.

Da scheinbar niemand der anderen zuerst sprechen wollte, erhob Doratrava die Stimme: “Also … ich bin nicht so tief in die Geschehnisse mit dem Pruch eingebunden wie andere hier.” Sie warf Nivard und Tsalinde einen Blick zu und fuhr dann fort: “Aber ich habe zwei Angriffe, die der Pruch angezettelt hat, miterlebt. Er kann Dämonen rufen und sogar auf geweihtem Boden agieren, und auch menschliche Schergen sind sich nicht zu schade, seinen Befehlen zu folgen. Er kann seine Gestalt verändern und Tore in den Limbus öffnen und daher wohl jederzeit überall erscheinen, oder zumindest seine Dämonen können das.” Doratrava machte eine Pause und schaute nachdenklich in die Runde. “Aber ich bin immer noch davon überzeugt, dass er nicht immer alles wissen kann, was in der Welt vorgeht. Das Rekrutieren von Helfern und das Aussenden derselben braucht außerdem Zeit, und auch Dämonen ruft man eher nicht einfach mit einem Fingerschnippen, soweit ich weiß. Wenn er hier etwas geplant hat, dann würde ich vermuten, er hat es vorbereitet, und er hat hier vielleicht auch jemanden, der ihm Bericht erstattet. Andererseits sollten wir nicht davon ausgehen, dass all sein Streben lediglich darauf gerichtet ist, nur uns, die wir gegen ihn arbeiten, zu schaden, sondern er wird einen größeren Plan verfolgen, der seine Aufmerksamkeit fordert. Deshalb ist es zwar möglich, dass er etwas für hier geplant hat, aber sicher ist es eben bei weitem nicht. Ich glaube, er ist ganz zufrieden damit, dass wir uns vor Angst krümmen, wenn wir nur an ihn denken. Genau deshalb weigere ich mich, das zu tun!”

“Dieser Herr Radulf, seine Verlobte und seine Familie haben wahrscheinlich genauso gedacht… dass sie sich nicht ängstigen und die Hochzeit nicht verderben lassen wollen”, murmelte Merle mit düsterem Blick. “Jetzt hat er ihnen alles zerstört.”

Doratrava stellte ihren Tee weg und legte auch das noch nicht angebissene Stück Käse zur Seite, dann wandte sie sich Merle zu und nahm deren Gesicht sanft in beide Hände. "Ja, Radulf und seine Liebsten haben entweder so gedacht, oder sie waren sich der Gefahr nicht bewusst und haben einfach unbeschwert gefeiert oder feiern wollen, und sind nun ins Unglück gestürzt worden", sprach die Gauklerin leise und ernst. "Das ist schlimm, das zerreißt ihnen wahrscheinlich das Herz, und sie werden lange brauchen, um darüber hinweg zu kommen, wenn überhaupt. Aber wenn wir uns deswegen jegliche Freude verbieten, was haben wir davon? Wenn wir die nächsten zehn, zwanzig, dreißig Feiern absagen? Wenn wir uns in den Häusern verkriechen und aus Angst, der Pruch könnte um die Ecke lauern, nicht mehr hervortrauen? Wäre das ein Leben, das noch lebenswert ist? Und wir und unsere Liebsten wären nicht einmal in Sicherheit, denn der Pruch und seine Dämonen können uns auch nachts aus den Häusern holen, alle einzeln, denn wenn jeder sich versteckt, können wir uns gegenseitig nicht helfen. Und nochmal: dann hätte der Pruch gewonnen, denn wäre es seinem erzdämonischen Gebieter nicht eine hämische Freude, wenn es keine Familienfeiern mehr gäbe, kein unbeschwertes Zusammensein, keinen abendlichen Gang in die Taverne mehr? Wenn wir vor Angst zusammengekrümmt in unseren Stuben kauern würden, um auf das Ende zu warten? Wenn wir feiern, zeigen wir ihm, dass er bei uns nichts erreicht, dass er uns nicht brechen kann! Und vielleicht locken wir ihn damit sogar aus der Reserve und er macht einen Fehler! Ich sage nicht, dass so etwas ohne Leid und Opfer vonstatten gehen wird, aber lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, auch wenn das jetzt abgedroschen klingen mag!"

Doratravas Gesicht war nur eine Handbreit von Merles entfernt, ihre nebelgrauen Augen blickten tief in Merles im Versuch, ihr Hoffnung und Zuversicht zu geben. Eine kleine Bewegung nur, und ihre Lippen könnten Merles treffen, und trotz der ernsten Stimmung gab es nichts, was Doratrava gerade lieber tun würde, und es war ihr völlig egal, wer gerade zuschaute und dass sie sich damit in Schwierigkeiten bringen würde.

“Und außerdem”, schaltete sich Friedewald ein, “in Flusswacht sollte die Hochzeit gestern steigen, am Tag der Treue. Diese Tabea wurde aber vermutlich schon vor fünf Tagen gefunden. Da wurde noch nicht gefeiert. Also, da können wir schon einmal aufatmen, noch ist bei uns nichts geschehen. Travia sei Dank, Gwenns Hochzeit ist wohl nicht sein Ziel.”

Für ein paar Wimpernschläge starrte Merle in die faszinierenden grauen Augen Doratravas, deren Nähe sie gleichermaßen beruhigte und verunsicherte. Merles Puls beschleunigte sich, als sie Doratravas Atem auf ihrem Gesicht spürte, doch Friedewalds Bemerkung ließ sie schnell wieder von der Gauklerin zurückweichen und sich vergegenwärtigen, dass nicht nur ihr Schwiegervater hier war, sondern auch Nivard direkt neben ihnen saß. Nivard, der heute früh schon so konsterniert geschaut hatte. Sie biss sich verlegen auf die Unterlippe und drehte den Kopf zu dem Edlen. "Nur weil er eine Hochzeit vor dem Tag der Treue zerstört, kann er die andere genauso gut danach angreifen", widersprach sie mit müder, trübsinniger Stimme. "Ich glaube, dass dieser Schrecken erst dann enden wird, wenn es gelingt, den Paktierer zu vernichten."

Da Merle den Blick abgewandt hatte, sah sie nicht, wie sich Enttäuschung, aber auch ein klein wenig Erleichterung gleichermaßen in Doratravas Augen widerspiegelten, wie ihr Mundwinkel einen kurzen Moment nach unten sackte, bevor sie sich wieder fing. "Genau", murmelte die Gauklerin kaum hörbar und drückte Merle nochmals sanft an sich, aber zum ersten Mal an diesem Tag wankte ihre Entschlossenheit, Merle irgendwie zu retten, im Zweifelsfall vor sich selbst. Kaum merklich sackten ihre Schultern nach unten und das Licht in ihren Augen wurde ein Spur dunkler.

Merle registrierte die Veränderung in der Körperhaltung ihrer Freundin, konnte darauf aber weder äußer- noch innerlich reagieren. Nicht hier, nicht jetzt, wo in ihrer Seele ein verwirrendes Chaos aus Angst und Wut, Traurigkeit und Verzweiflung herrschte. Sich in Doratravas Arme und ihren so verlockend scheinenden Kuss fallen zu lassen, mochte ihr für einen kurzen Moment ein Gefühl von Klarheit und Zuversicht geben, doch danach würde alles noch viel schlimmer und verworrener sein als zuvor. Nein. Merle presste die Lippen zusammen und schaute ernst in Friedewalds Richtung.

Friedewald blickte nun zu Nivard und Tsalinde. Auch ihre Meinung wollte er hören.

Wie gerne hätte Nivard Friedewalds Hoffnungen bestätigt, weiter genährt. Hoffnung mochte zwar immer berechtigt und niemals vergebens sein, doch war sie auch ein trügerischer Boden, seine Pläne und Erwartungen allzusehr oder gar alleine darauf zu gründen.

"Dass hier bislang scheinbar nichts geschehen ist, ist erst einmal gut. Aber auch nicht mehr als das. Denn es sagt überhaupt nichts darüber aus, ob das Böse seine Ränke nicht auch hier schon längst im Verborgenen spinnt, am Ende vielleicht doch schon etwas passiert ist oder noch passieren wird. In Flusswacht mag Pruch schon Tage vorher sein Werk vollbracht haben, in Schweinsfold aber wirkte er erst am Tag der Hochzeit. In Flusswacht tötete er die Braut, in Schweinsfold nur Menschen, deren Tod ihm Mittel zum Weg war, die Ringe der Baronin und Winrich von Altenberg zu entführen. Die Dame Doratrava hat einerseits Recht - er verfolgt in erster Linie seinen perfiden Plan und nicht zuerst, uns als Personen unmittelbar zu schaden. Allerdings glaube ich auch, dass er jede schlimme Wirkung nicht nur billigend, sondern sogar gerne in Kauf nimmt, die er ohne Aufwand neben der Verfolgung seiner Hauptziele anrichten kann. Angst und Schrecken zu verbreiten, ist ihm eine Freude, davon bin ich überzeugt!”

Nivard war laut geworden, während er da so redete. Jetzt senkte er wieder seine Lautstärke, um eindringlicher fortzufahren: “Ganz anders wird es, falls wir ihm inzwischen aus seiner Sicht wirklich gefährlich geworden sind. Dann nämlich fürchte ich, wird er seinen Krieg ohne Federlesens auch gegen uns und damit auch gegen unsere Liebsten richten."

Nivard dachte einige Augenblicke lang nach. "Ob es inzwischen soweit ist, weiß ich nicht. Ebenso wenig, ob ich mir das überhaupt wünschen soll, oder lieber nicht...” Dann hätte der Tod dieser Tabea und der Magd zwar immer noch keinen Sinn. Aber er wäre wenigstens ein Zeichen der Hoffnung - der Hoffnung, dass es für Pruch langsam eng wurde.

“Doratrava hat auch damit Recht, dass Ihr die Feier nicht abblasen solltet.” wandte er sich nun wieder mit einer Einschätzung, was zu tun sei, an Friedewald. “Wenn die Saat der Angst, die der Verfluchte ausgebracht hat, aufgeht und einen Traviabund unmöglich macht, dann hätte er allzuleicht einen weiteren Sieg für den Gegenspieler der Gütigen errungen."

Nivard trank einen Schluck Tee, mit dem er zwei-dreimal seinen Mund befeuchtete. "Wenn Ihr mich fragt, sollten wir weitermachen, dabei aber der Herrin Travia zum Wohlgefallen als Gemeinschaft noch fester zusammenstehen - keiner sollte mehr alleine bleiben - niemals - weder alleine das Dorf oder das Haus verlassen, noch alleine einem Gewerk in Küche oder Werkstatt nachgehen, selbst nicht alleine im Schlafraum weilen. Jeder sollte stets einen, besser mehr Menschen bei sich haben, auf dass kein Einzelner einfach so von dem Frevler überrumpelt oder gar durch diesen in der eigenen Gestalt ersetzt werden kann. Jeder sollte ein Auge darauf haben, ob der oder die andere sich ungewöhnlich verhält oder verändert erscheint. Vielleicht ertappen wir ihn dann, vielleicht können wir ihn sogar stellen und unschädlich machen. Und wenn er nicht kommt, gereicht uns das Zusammenstehen gewiss nicht zum Nachteil."

“Gut”, überlegte der Edle. “Dann sollten wir die Feierlichkeiten fortführen und dabei möglichst Wachsamkeit walten lassen. Wen sollten wir alles in die Angelegenheit einweihen? Wer ist noch alles an Euren Untersuchungen beteiligt? Wen könnten wir ansonsten ins Vertrauen ziehen, um die anderen Gäste und das Volk zu bewachen?” Friedewald dachte angestrengt nach. “Sollten wir Rhodan informieren? Oder lassen wir ihn im Glauben, seine Hochzeit verlaufe ganz nach Plan? Und wie sieht es mit Gwenn aus?”

Ratlos blickte Merle in die Gesichter der anderen. “Vermögen die beiden ihre Hochzeit überhaupt noch zu genießen, wenn sie die ganze Zeit Angst haben müssen, dass sie oder ihre Gäste Opfer dieses Mörders werden?”

Friedewald, der noch immer hin und her lief, blieb vor Merle stehen. „Meinst du, wir sollten es ihnen gar nicht erzählen, Liebes?“

Merle hob verzweifelt die Schultern. "Ich weiß es nicht! Wahrscheinlich wäre es verantwortungslos, es nicht zu tun, oder?"

Doratrava blickte ein wenig ratlos zwischen Friedewald und Merle hin und her. “Ich würde es nur Leuten erzählen, die eingeweiht sind, und solchen, die gegebenenfalls auch etwas tun können”, sagte sie dann zögernd. “Allen anderen würden wir nur Angst machen, ohne dass sie davon einen Vorteil hätten, im Gegenteil.”

Die Gauklerin verstummte und runzelte die Stirn. “Allerdings … Lares von Mersingen würde ich außen vor lassen, der neigt in letzter Zeit zu Panikattacken. Und Eoban von Albenholz … ich glaube, der wäre dafür, die Hochzeit sofort abzusagen, und wenn man ihn dazu überredet, mit dieser Meinung hinter dem Berg zu halten, würde man sie ihm doch auf Schritt und Tritt ansehen.”

"Das kannst Du nicht machen." raunte Nivard Doratrava zu. "Beide stecken tief in den Ermittlungen. Beide sind restlos integer, und wehrfähig. Es käme Verrat gleich, sie außen vorzulassen."

Doratrava zuckte ein wenig hilflos die Schultern. “Ich weiß es einfach nicht, aber ich kenne viele Leute hier auch nicht gut genug, um zu entscheiden, was das Beste für sie wäre.” Unwillkürlich war nun sie es, die sich auf der Suche nach ein wenig Trost und Erleichterung an Merle lehnte.

“Wer ist denn von den Gästen noch alles bereits eingeweiht?” hakte Friedewald nach.

Merle legte den Arm wieder fester um die Tänzerin und drückte sie leicht. "Dieser Barde, ähm… der Herr Corwyn, der ist auch ein Ermittler, oder?" erinnerte sie sich. "Und die Frau von Kranickau sollte genug wissen, um ihre Arbeit machen zu können."

Ganz leise hörte Merle Doratrava seufzen, als sie sie drückte, dann sprach die Tänzerin: “Ich glaube, ich habe vorhin aus den Augenwinkeln Rionn auf dem Dorfplatz gesehen, den Tsa-Geweihten. Der weiß auch Bescheid, und den können wir ohne Risiko einweihen, denke ich.”

“Hm, also den Herrn von Mersingen würdet Ihr lieber nicht einweihen?” Friedewald machte sich Sorgen um diesen aufrechten, jungen Ritter. Er hatte ihn damals in Liepenstein kennen und achten gelernt. Ein wahrer Edelmann, dem man eigentlich bedingungslos vertrauen konnte. Doch was mag den armen Mann nur gebrochen haben? “

“Doch!” fiel Nivard jetzt besser vernehmbar ein. “Meiner Meinung nach muss er Bescheid wissen. Unbedingt! Er mag paranoid wirken, aber dieser Brief zeigt ja nur allzudeutlich, dass er damit nicht allzu falsch liegt. Er gehört zum festen Kreis der Ermittler, und ich halte ihn, seit ich ihn näher kennenlernen durfte - obgleich ich bei weitem nicht all seine Ansichten teile - für einen grundintegren Mann! Gleiches gilt für den Herrn von Albenholz!”

Konsterniert sah Doratrava Nivard von der Seite an.

“Die Dame von Kranickau ist zur Zeit wohl mit Gwenn losgezogen.” fuhr Friedewald fort. “Sie können wir erst informieren, wenn Meister Rhodan meine Gwenn gefunden hat. Aber wir können natürlich Gudekars Bedeckung, diese junge Ritterin – wie war noch einmal ihr Name? – mit einweihen, wenn wir ihn informieren. Sie sollte ja wohl auch grundsätzlich Bescheid wissen, wenn er sie zu seinem Schutz angeheuert hat.”

“NEIN! Nicht diese kleine, miese…”, platzte es aus Merle heraus, deutlich lauter und zorniger, als es sonst ihre Art war. Sie starrte in Friedewalds Richtung und biss sich auf die Zunge. “Ich äh… glaube nicht, dass wir ihr vertrauen können”, fügte sie leiser hinzu und blickte betreten auf den Boden.

Erschreckt zuckte Doratrava ein Stück zur Seite, als Merle auf einmal so laut wurde. Sie blinzelte zweimal, aber dann lehnte sie sich wieder an und fasste Merle umso fester, um ihr - und sich - Halt zu geben.

Der Edle erschrak bei Merles plötzlichen Ausbruch. “Aber Merle, was ist denn los? Denkst du etwa, die Frau agiert womöglich für den Paktierer? Sie wirkte mir nicht so, ich fand sie eigentlich recht vertrauenswürdig.” Friedewald versuchte zu ergründen, was Merle zu dieser Abneigung getrieben haben könnte.

Merle stellte erleichtert fest, dass ihr Schwiegervater nichts von der Wahrheit zu ahnen schien. "Ähm, diese... Frau", hilfesuchend blickte sie zwischen Nivard, Doratrava und Tsalinde hin und her, "...sie scheint mir eher unprofessionell, grobschlächtig und... geldgierig zu sein. Mehr eine Söldnerin als eine Ritterin. Aber…", Merle zwang sich zu einem gezwungenen Lächeln, "...das ist natürlich deine Entscheidung, Vater Friedewald.”

Wenn Gudekar Meta so verfallen war, wie es schien, wusste diese wohl tatsächlich sowieso schon alles, und eine Kämpferin mehr konnte im Zweifelsfall nicht schaden. Aber Meta war meist unbedacht und vorlaut; wenn man sie glauben ließ, der Pruch stände vor der Tür, hielt Doratrava es nicht für unwahrscheinlich, dass sie begann, Dorfbewohner am Kragen zu packen und zu fragen, ob sie der verwandelte Frevler seien. Insofern wäre es ihr recht, wenn sie Meta nichts sagten. Falls es zu einem handfesten Kampf käme, würde das die Ritterin schon merken und eingreifen. Aber laut sagte Doratrava lieber nichts dazu, sonst hätte sie womöglich Dinge erklären müssen, die sie nicht erklären wollte. Sie legte lediglich kurz wieder einen stärkeren Druck in ihre Umarmung, um Merle wissen zu lassen, dass sie ihrer Meinung war.

“Merle, es ist nicht so, dass ich deinem Urteil nicht vertraue, aber wenn Gudekar diese Ritterin zu seinem Schutz vor dem Paktierer ausgewählt hat, wird sie doch sicherlich ihre Qualitäten haben.” Merle stieß bei 'Qualitäten' ein leises, bitteres Lachen aus und unterdrückte mühsam ein Augenrollen. “Schhh”, machte Doratrava kaum hörbar, so dass es sich fast wie ein Schnurren anhörte. Wenn Merle sich nicht beruhigte, musste sie am Ende das mit Meta doch erklären, und ganz offensichtlich wollte sie das jetzt nicht.

Merle schloss kurz die Augen und versuchte ruhig zu atmen, auch wenn sie innerlich vor Wut kochte. Diese beiläufige, selbstgefällige Dreistigkeit, mit der ihr Mann seine dreckige kleine Gespielin hier auf dem Traviafest seiner Schwester als 'Geleitschützerin' präsentierte... die freche Schamlosigkeit, mit der er seinen lieben Vater und die ganze Familie belog und zum Narren hielt! Lange würde sie sich das nicht mehr gefallen lassen. Es wurde Zeit, dass Gudekar und seine Buhle für den Frevel bezahlten! Merles Fingernägel ballten sich schmerzhaft in ihre Handflächen, doch nach außen schaffte sie es, ein zwar versteinertes, doch halbwegs neutrales Antlitz zur Schau zu tragen. Fest drückte sie Doratrava an sich, um ihr ihre Dankbarkeit für die unermüdliche Unterstützung zu zeigen.

Friedewald blickte sich um. “Wie seht Ihr das, Herr von Tannenfels, Euer Wohlgeboren von Kalterbaum, Frau Doratrava? Ihr müsstet die Dame doch kennen, wenn Gudekar in Ihrer Begleitung reist? Dann müsste sie doch auch an Euren Ermittlungen beteiligt gewesen sein, oder?”

“Also, ich war nur bei einem Teil der Ermittlereinsätze dabei, und da hatte Gudekar seine Beschützerin nicht an seiner Seite”, gab Doratrava sich unverbindlich, während sie bei ‘Beschützerin’ versuchte, keine Miene zu verziehen. Dann schaute sie Nivard und Tsalinde an, um zu signalisieren, dass sie nicht mehr zu diesem Thema zu sagen hatte.

"Unter der Prämisse, dass wir nicht alle einweihen wollen, würde ich Eurer Schwiegertochter folgen und diese Meta Croy in der Tat außen vor lassen." sprang Nivard Merle zur Seite, vor allem aus Solidarität zu ihr, spürte er doch deutlich die Gefühlsaufwallungen, gegen die sie anzukämpfen suchte.

Er wusste selbst nicht, was genau er von der Jungritterin halten sollte - war sie Hauptschuldige an Gudekars Ehebruch, Komplizin oder nur argloses Desiderat seines untreuen Handelns? Als Kämpferin sah Nivard sie gewiss nicht an letzter Stelle derjenigen, die er hinzuziehen würde, aber weit hinter anderen in der Festgesellschaft und im Ort, die hier bereits zur Disposition standen.

"Allerdings möchte ich die Prämisse wenigstens hinterfragen: weihen wir zu wenige ein, sind wir vielleicht nicht wehrhaft genug, sollte der Feind zuschlagen. Weihen wir zu viele ein, wird es ohnehin rasch allen bekannt werden, von denen sich dann aber einige hintergangen fühlen könnten. Gewiss sollten wir nicht alle Geheimnisse hier publik machen, aber alle sollten wenigstens vor der Gefahrenlage gewarnt sein. Meint Ihr nicht?"

Doratrava runzelte die Stirn, da sie erneut nicht einer Meinung mit Nivard war. Aber er war der Krieger, sie nur die Gauklerin … auf sie würde sowieso am Ende niemand hören.

Friedewald nahm sein Hin- und Hergelaufe wieder auf, nervöser als zuvor. “Alle einzuweihen halte ich für… nun, sagen wir, den falschen Weg. Dann müssten wir wohl die Feier tatsächlich absagen. Es würde vermutlich eine Panik unter der Dorfbevölkerung ausbrechen. Aber wenn nur ausgesuchte Gäste eingeweiht werden sollten, wen würdet ihr dann dazuzählen?”

“Ob es eine Panik gibt oder nicht, hängt sicher auch daran, was genau und wie Ihr es den Einwohnern erzählt. Wenn Ihr mit ruhiger Stimme auf die Bedrohung hinweist und alle zur verschärften Wachsamkeit auffordert, zugleich aber zeigt, dass genügend Wehrfähige zugegen sind, die Anwesenden im Falle eines Falles zu schützen, und mithin die Feiern fortgeführt werden können, könnt Ihr eine Überreaktion der Leute durchaus vermeiden, davon bin ich überzeugt. Und wir hätten vielleicht eine Chance, den Frevler zur Strecke zu bringen.

Davon unbenommen, um Eure Frage zu beantworten, würde ich, wie schon gesagt, auf jeden Fall alle unsere Mitstreiter, die ohnehin bereits in die gesamte Bedrohungslage eingeweiht sind, hinzuziehen, also unbedingt den Herrn von Mersingen, den Herrn von Albenholz, die gräfliche Vögtin natürlich und ihren Bruder Corwyn, ebenso den gelehrten Herrn von Pfaffengrund und seine Gnaden Rionn. Nicht zu vergessen natürlich Euren Sohn Gudekar.” Auch wenn dieser streckenweise von allen guten Geistern verlassen schien, aber das drückte Nivard nicht aus. Stattdessen dachte er kurz nach.

“Vorbehaltloses Vertrauen bringe ich auch Rahjel von Altenberg entgegen,” fuhr er schließlich fort, und ihrer Hochgeboren von Rodaschquell. Beide gehören vielleicht nicht zum engsten Kreis der Geheimnisträger, sind aber bereits mehrfach mit der Krise in Berührung gekommen und sich wenigstens einiger der Zusammenhänge gewahr.” Sein Blick ging zu Doratrava und Tsalinde. “Was meint Ihr, Euer Wohlgeboren, und Du, Doratrava?”

Es gab so viele Optionen. Welche mag wohl die Richtige sein? Eine Krise vergleichbar wie diese hatte das Lützeltal noch nicht erlebt, seit Friedewald dieses Gut vor über 40 Jahren als Lehen zugesprochen wurde, nachdem sein eigener Vater gestorben war. Wie sollte er eine Entscheidung treffen? Vielleicht wäre es bald an der Zeit, … nein, jetzt war nicht der rechte Augenblick, über ein Abdanken nachzudenken. Jetzt musste Friedewald beweisen, dass er auch in schwierigen Lagen ein guter Anführer war. Das wurde von ihm erwartet.

„Einverstanden, rufen wir den Rat Eurer Gefährten zusammen, um die neue Lage zu besprechen. Ich würde jedoch vorschlagen, auch meinen alten Freund Borix mit einzubeziehen. Das Volk können wir hinterher noch informieren. Rufen wir alle im Saal des Herrenhauses zusammen. Einverstanden? Oder gibt es noch Einwände oder andere Aspekte, die wir noch nicht berücksichtigt haben?“

"Nein, ist gut." stimmte Nivard dem Vorschlag in knappen Worten zu. Er hatte das Gefühl, dass hier alles gesagt war. Jetzt hieß es zu handeln.

Da Nivard sie explizit nochmals angesprochen hatte, wollte Doratrava ihre - abweichende - Sicht der Dinge nochmals klarlegen, aber der Edle war ihr zuvor gekommen. Jetzt noch ihre Bedenken zu äußern, zum zweiten Mal, nachdem schon beim ersten Mal niemand darauf eingegangen war, hielt sie für verschwendete Liebesmüh’. Daher presste sie lediglich die Lippen zusammen und sagte nichts, aber ihrem Gesichtsausdruck war die Unzufriedenheit anzumerken.

Tsalinde richtete sich auf. Sie hatte sich schon gewundert, dass Friedewald Gudekar nicht als Mitwisser anbot. Nun sah sie sich gezwungen etwas dazu zu sagen: “Wir sollten den Kreis der Wissenden nicht zu sehr ausweiten und uns wirklich genau überlegen, wen wir mit einbeziehen. Auch ich fühle meinen Mitstreitern gegenüber eine gewisse Verpflichtung, allerdings können wir nicht für alle garantieren. Nehmt es mir bitte nicht übel, aber bei einigen möchte ich dann doch meine Bedenken anmelden. Lares von Mersingen zum Beispiel, ist ein loyaler und guter Streiter für unsere Sache, allerdings fürchte ich, dass es dann mit der Verschwiegenheit ein Ende haben wird. Er wird sich verpflichtet fühlen, sein Wissen weiter zu geben, was durchaus zu einer Panik führen kann.” Sie schluckte sichtlich nervös und fügte dann hinzu. “Leider sehe ich mich auch dazu genötigt mich dagegen auszusprechen Gudekar ins Vertrauen zu ziehen.” Bevor jemand, besonders Friedewald, sie unterbrechen konnte fügte sie hinzu: “Gudekar neigt in letzter Zeit dazu Unruhe und Zwietracht zu verbreiten. Gestern auf der Nachtwanderung hat er zwar den Anschein erweckt Frieden mit mir schließen zu wollen, doch hat auch da sein Verhalten sehr zu wünschen übrig gelassen. Ich muss leider sagen, dass ich Gudekar von Weissenquell nicht traue.” Leise fügte sie ein “Leider!” hinzu.

„Euer Wohlgeboren von Kalterbaum!“ Friedewald war durchaus entrüstet. „Das ist ein tiefes Misstrauen, dass Ihr gegen meinen Sohn hegt! Wenn Ihr selbst sagt, er hat versucht, mit Euch Frieden zu schließen, warum misstraut Ihr ihm dann derart? Erklärt Euch! Oder hegt Ihr einen persönlichen Groll gegen ihn wegen des Vorfalls vor zwei Götterläufen?“

Merle blickte starr nach unten und versuchte, sich auf die Zunge zu beißen. Und wieder versuchte Doratrava, ihr durch verstärkten Druck mit dem Arm Unterstützung und Trost zu spenden.

“Nein, Euer Wohlgeboren, nicht ich, sondern euer Sohn hegt einen Groll und er hat sich bereits mehr als einmal mir gegenüber grob und ungebührlich benommen.” Um sich zu beruhigen, nahm sie einen tiefen Atemzug und fuhr dann fort. “Gudekar benimmt sich mir gegenüber grob und äußerst streitlustig. Verzeiht mir bitte, ich möchte Euren Sohn in Euren Augen nicht schlecht machen. Vielleicht irre ich mich auch und er ist einfach nur zu starkem Stress ausgesetzt, doch kann und will ich sein Verhalten mir und anderen gegenüber nicht einfach ignorieren. Ihr wolltet, dass wir unsere Bedenken äußern und das habe ich hiermit getan. Gudekar von Weissenquell hat mich auf der Eilenwid vor unseren versammelten Mitstreitern angeschrien und beschimpft. Dabei hat er Worte für mich, meinen Gemahl und unser damals noch ungeborenes Kind benutzt, die ich in Eurer Gegenwart sicher nicht wiederholen werde. Erst gestern hat er mich so grob am Arm gefasst, dass ich einen blauen Fleck davon getragen habe. Verzeiht, aber jemandem, der sich so verhält, kann ich einfach nicht vertrauen.” Sie schniefte und räusperte sich. “Selbst wenn wir mein Befinden außen vor lassen. Er hat mit mir, ob unter einem Zauber oder nicht, seinen Traviabund gebrochen und das öffnet gerade dem Dämon, mit dem Pruch paktiert, dem Gegenspieler unser guten Göttin der Ehe, Tor und Tür.”

Merle nickte Tsalinde dankbar zu. Es lag ihr auf der Zunge, zu ergänzen, dass Gudekar nicht nur dieses eine Mal, sondern wieder und wieder seinen Traviabund gebrochen hatte. Und vorhatte, damit fortzufahren. Dass er sie und seine kleine Tochter rücksichtslos aus seinem Leben verstoßen wollte. Ihr Mann schien regelrecht stolz zu sein auf seine eheliche Untreue, so selbstgefällig, wie er hier im Dorf mit Meta auftrat... Erneut ballte sie die Hände, um sich daran zu hindern, Friedewald die Wahrheit über seinen Sohn an den Kopf zu werfen. "Ähm, er hat sich tatsächlich in letzter Zeit nicht sehr traviagefällig verhalten", murmelte sie nur vage und schlug die Augen nieder.

Doratrava schloss kurz die Augen, als sie das alles hörte. Sie spürte, dass nicht mehr viel fehlte, und Merle würde alles, was sie nicht sagen wollte, möglicherweise doch hervorsprudeln, und dann wären hier wahrscheinlich die Niederhöllen los - zumindest im übertragenen Sinne, wie sie sich im Geiste ermahnte ob der möglicherweise ganz realen Gefahr. Andererseits … könnte ein reinigendes Gewitter vielleicht nicht schaden. Aber ob Merle das verkraften würde, da war sich Doratrava nicht sicher, und daher hoffte sie für den Moment, dass Gudekars weitere Taten ungesagt blieben. Lediglich ein kleines Seufzen konnte sie sich nicht verkneifen, das ihre ganze Unsicherheit ausdrückte.

Friedewald schüttelte bei Tsalindes Worten den Kopf. “Das klingt mir nicht plausibel. Auch wenn ich damals nicht dabei war, denke ich, wenn er gestern noch versucht hat, mit Euch Frieden zu schließen, solltet Ihr ihm vielleicht nicht länger Worte vorhalten, die vor vielen Monden gefallen sind. Ihr solltet ihm die Gelegenheit geben, sich bei Euch zu entschuldigen. So haben es auch Merles Eltern getan, als er ihnen gegenüber Reue für das gezeigt hat, was er Euch und damit auch dir, Merle, angetan hatte. Das war vor einem Götterlauf. Du erinnerst dich, Merle? Ich hatte den Eindruck, danach war das Verhältnis zwischen Euch wieder besser. Und ja, er hat dich hierher geschickt und ist selbst in Albenhus geblieben. Aber du weißt doch, mein Liebes, warum er dies getan hat. Er kann dich dort nicht beschützen, wenn er wegen der Mission, Euer aller Mission, unterwegs ist. Und hier bei uns bist du in Sicherheit.” Friedewald blickte erst eindringlich zu Tsalinde, dann schaute er Nivard und Doratrava an. “Ich weiß nicht, warum das Misstrauen unter Euch gegen Gudekar so groß ist. Und ich spreche hier nicht als sein Vater, sondern als Herr dieses Lehens. Wenn Ihr Gudekar ausschließen wollt aus Eurem Kreis, treibt Ihr ihn dann nicht erst recht in eine Richtung, die Ihr nicht wollt. Ist es nicht genau das Ziel des Paktierers der Rastlosen, Zwietracht zu sähen. Fangt Ihr an, untereinander Misstrauen wachsen zu lassen, hat denn Euer Feind dann nicht schon gewonnen? Oder habt Ihr konkrete Hinweise, dass Gudekar womöglich gegen Euch arbeitet?”  

Unwillkürlich duckte sich Doratrava ein wenig. Jetzt war es wohl soweit. Entweder sie legten die Karten auf den Tisch oder sie logen den Edlen mehr oder weniger an. Sie selbst wollte aber eigentlich weder das eine noch das andere, weswegen sie für den Moment lieber den Mund hielt. Aber ihre zweite Hand wanderte wie von selbst zu Merles Gesicht und fuhr ihr mit den Rückseiten von Zeige- und Mittelfinger unendlich sanft über die Wange. Schnell nahm die Gauklerin die Hand aber wieder zurück, als ihr bewusst wurde, was sie da tat. Dennoch, wenn Merle in diesen Kampf zog, würde sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um sie dabei zu unterstützen.

"Wenn jemand für eine Sünde Reue zeigt, aber derweil weiter lügt und sündigt - dann ist das doch keine richtige Reue!" widersprach Merle sichtlich entnervt, wurde jedoch von Doratravas zärtlicher Berührung abgelenkt und aus dem Konzept gebracht. Wieder biss sie sich auf die Unterlippe, so fest, dass sie Blut schmeckte. Nein. Nein, sie wollte, konnte Gudekar jetzt nicht offen vor seinem Vater anklagen! Oder sollte sie? Vorhin, bei Kalman in der Schreibstube, da war sie schon kurz davor gewesen. Aber Gwenn hatte sie beschworen, es nicht zu tun. Die Dinge würden sich verselbstständigen; Gudekar würde vermutlich noch heute aus dem Familienkreis verstoßen... Ein Teil von ihr wünschte sich nichts sehnlicher als das. Endlich die Wahrheit ans Licht bringen, allen ins Gesicht schreien, was er ihr angetan hatte. Doch nein, zuvor musste sie mit Gudekar reden, wenigstens einmal. Wenn er ihr nur ein bisschen Einsicht und Freundlichkeit zeigen würde, ein schwaches Echo des guten, liebevollen Mannes, den sie geheiratet hatte, dann würde sie ihn nicht ans Messer liefern. "Nein, Herr Vater, natürlich glaube ich nicht, dass Gudekar für den Paktierer arbeitet”, lenkte sie mit leiser, sanfter Stimme ein. “Ich denke, es ist richtig, ihn zu der Besprechung hinzuzuziehen."

Doratrava seufzte erneut, ganz leise, doch wusste sie selbst nicht, was genau dies nun ausdrücken sollte. Erleichterung? Enttäuschung? Ärger? Mitgefühl? Alles zusammen?

Nivards Kiefer mahlten die ganze Zeit bereits aufeinander, während er verbissen schweigend dem Austausch über Gudekar zuhörte. Anscheinend wussten alle im Raum mehr oder weniger gut über die Fehltritte des Anconiters Bescheid, abgesehen von dessen eigenem Vater. Diese Scharade hier war nur schwer für den Ambelmunder Krieger zu ertragen. So viel Lug und Trug innerhalb einer Familie…

Erst Merles einlenkende Worte ließen ihn wieder etwas entspannen - dass ausgerechnet aus ihrem Munde diese versöhnlichen Aussagen kamen, machte diese besonders bedeutsam. Und sie nährten die Hoffnung, dass - allem was geschehen war, zum Trotze - auch deren Ehe mit Gudekar noch nicht ganz verloren war.

"Genau," pflichtete er Merle sofort bei. "Und ich sehe es genauso wie Ihr, Euer Wohlgeboren. Gerade jetzt müssen wir in Treue zusammenstehen und gemeinsam auch die Schwachen unter uns stützen, anstatt sie auszuschließen. Und was für Gudekar gilt, ist erst recht für die untadeligen Herren von Mersingen und Albenholz richtig. Sie zu übergehen hieße, den Spaltkeil in unsere Gemeinschaft zu treiben und damit, wie Ihr es zurecht anmerktet, dem Paktierer in die Hände zu spielen."

Merle nickte und rang sich ein mattes Lächeln ab. "Ja, wir sollten als Gemeinschaft zusammenhalten", bekräftigte sie Nivards Worte. "Als Familie."

Doratrava gab ein leises, resignierendes Schnauben von sich. Gut, dann also weiter ‘Familie’ heucheln, wenn Merle es so wollte. Das war wahrscheinlich besser als die Konfrontation, die sie eben noch befürchtet hatte. Was es ihnen am Ende einbrachte, würde sich zeigen. Und was Lares von Mersingen und Eoban von Albenholz bei der Versammlung sagen würden, ebenfalls. Sie hatte da nicht viel Hoffnung, mit ihren Befürchtungen falsch zu liegen. Aber sie sah keinen Sinn darin, für ihre Meinung zu kämpfen. Immerhin war es ja auch nur eine Meinung, und immerhin konnte sie sich auch irren. Wenn sie auch die Wahrscheinlichkeit, dass nicht sie es war, die sich irrte, höher einschätzte.

Ein zufriedenes Lächeln machte sich auf Friedewalds Gesicht breit. Die Sprache der Vernunft war aus dem Mund des jungen Kriegers gekommen. Männer wie diese waren es, auf die das Land bauen konnte, die die Zukunft sicherten. “Dann sei es. Wir rufen den Rat ein.”

Merle schwieg, im Inneren erleichtert, dass sich der Edle und die erfahrenen Recken der Gefahr annahmen und die Last nicht mehr auf ihren Schultern lag. "Ich ähm... ich glaube nicht, dass ich bei so einer Besprechung viel beitragen kann", brachte sie schließlich leise und zögerlich heraus und suchte Blickkontakt zu ihrem Schwiegervater. "Vielleicht sollte ich dann also wieder zu Lulu gehen… und Ciala endlich ablösen?"

“Merle, mein Herz, ich werde jedoch nicht zulassen, dass du und Lulu allein ohne Bewachung bleibt. Irgend jemand, der oder die mit dem Schwert umzugehen weiß, sollte auf euch Acht geben.” Friedewald klang bestimmt, Widerspruch ließ er nicht zu.

Merle zuckte indifferent mit den Achseln, nickte aber folgsam. "Ja, Vater Friedewald."

"Ich denke, es sollte jemand auf Euch und Lulu aufpassen, der in die Gesamtlage eingeweiht ist und weiß, mit wem wir es schlimmstenfalls zu tun bekommen könnten.” Denn Ihr beide seid in Pruchs Augen vermutlich ein ebenso einfaches wie lohnenswertes Ziel… fügte Nivard seinen Worten in Gedanken hinzu. “Ich kann das gerne übernehmen. Wie wäre es, wenn ich Euch rasch zu Lulu geleite, und wir dann mit ihr zum Rat im Herrenhaus gehen? Ihr seid inzwischen doch praktisch genauso Geheimnisträgerin wie wir. Und sicherlich werdet Ihr beide in diesem Moment nirgendwo so sicher sein wie dort.”  Außerdem hätte er die beiden so selbst stets im Blick - Nivard konnte die Aufgabe nicht nur übernehmen, er wollte es, von ganzem Herzen.

„Vielen Dank, Herr von Tannenfels, es würde mich beruhigen, wenn ihr ein Auge auf Merle und Lulu werft.“ Der Edle klopfte dem jungen Krieger anerkennend auf die Schulter.

Jetzt konnte Doratrava nicht mehr an sich halten. “Halt!”, rief sie, vielleicht ein klein wenig zu heftig, daher mühte sie sich gleich darauf um eine gemäßigtere Stimmlage. Gleichzeitig fasste sie Merle unwillkürlich fester um die Hüfte. “Ich habe Merle versprochen, auf sie aufzupassen, und ich stehe zu meinem Wort. Ich bin genauso eingeweiht wie der Herr von Tannenfels, und auch wenn es vielleicht nicht so aussieht, weiß ich mich meiner Haut - und der Merles und Lulus - durchaus zu wehren. Dafür ist der Herr von Tannenfels als Krieger sicher bewanderter in strategischen Überlegungen als ich, also wäre es auch aus diesem Grund besser, er würde an der Besprechung im Herrenhaus teilnehmen. Ich kann da vermutlich nicht viel beitragen, es genügt, wenn ihr mich hinterher über die Ergebnisse informiert.” Obwohl sich Doratrava um innere Ruhe bemühte, war dieser Versuch gänzlich fruchtlos, im Gegenteil, sie kochte innerlich. Natürlich auch aus dem Grund, weil sie Merle nahe sein wollte, aber hauptsächlich deswegen (das redete sie sich zumindest ein), weil ihre eigenen Wünsche und Meinungen schlichtweg ignoriert wurden. Sie hatte doch laut und deutlich gesagt, dass sie Merle beschützen wollte! Und ihre Meinung, wer aus welchem Grund einzuweihen war und wer nicht, war ebenfalls beiseite gewischt worden! Wenn es hart auf hart kam, war sie eben doch wieder nichts als die kleine Gauklerin, die nichts zu sagen hatte, die man ignorieren konnte. Immerhin war sie fast stolz darauf, dass sie nicht explodierte, aber ihre smaragdgrün strahlenden Augen schienen dennoch Blitze zu verschleudern.

“Doratrava, es spricht Euch niemand ab, dass auch Ihr ein Auge auf Merle werft. Doch würde es mich sehr beruhigen, wenn auch der Herr von Tannenfels bei euch bliebe.” Friedewald versuchte, die Gauklerin zu beruhigen. Sie mochte mit dem Herzen sehr bei ihrer Aufgabe sein, auf Merle aufzupassen, doch war es dem Edlen lieber, ein erfahrener Schwertgeselle wäre ebenfalls an ihrer Seite.

Doratrava hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Sie war nun mal eben sehr impulsiv, nicht immer, oder vielmehr oft nicht, zu ihrem Vorteil, und das hier lief so gar nicht nach ihren Vorstellungen. Irgendwo ganz tief drinnen war ihr auch klar, dass ihre Gefühle für Merle ihre Urteilsfähigkeit trübten und ihre Spiele mit ihr trieben und darauf drängten, mit Merle allein zu sein; Lulu zählte da nicht, aber Nivard schon...

Außerdem sprach aus der Antwort des Edlen in ihren Ohren schon wieder so etwas wie Herablassung, dass sie eben nicht fähig wäre, Merle allein zu beschützen, dass es dazu einen 'Schwertgesellen' brauchte. Sie hatte nichts gegen Nivard, im Gegenteil, von allen Anwesenden bei der Hochzeit war er vermutlich der Zweitliebste, mit dem sie ihre Zeit verbringen mochte - nun, vielleicht abgesehen von Liana, aber die Elfe faszinierte sie mehr, als dass sie etwas Persönliches mit ihr verband - aber hier und jetzt war er am falschen Platz. Aber sie schluckte tapfer jede Bemerkung, die ihre Gefühle ihr diktieren wollten, herunter, da ein kläglicher Rest ihres Verstandes sie warnte, das würde alles nur noch schlimmer machen. So blickte sie zwar immer noch mit feurigem Blick, aber ansonsten mühsam abwartend, von Friedewald zu Nivard.

“Und andererseits stimme ich auch in jenem Punkt Herrn von Tannenfels zu: Diejenigen, die bereits in die Vorgänge eingeweiht sind, sollten auch an dem Rat teilnehmen, wenn wir besprechen, was weiter zu tun ist. Das schließt auch euch, Merle und Doratrava mit ein.”

Jetzt war Doratrava verwirrt. Sollten sie nun Merle zu Lulu begleiten und auf sie aufpassen oder doch nicht?

Lys schlug vor: “Wie wäre es, wenn ich mit Merle und Lulu gehe? Wir nehmen noch Isavena und Siegmund mit, dann können die Kinder miteinander Zeit verbringen. Unsere Zofe kann sich durchaus ihrer Haut erwehren und wäre damit eine weitere Kämpferin an meiner Seite.”

Dazu nickte Tsalinde erleichtert. Sie wusste, dass ihr Sohn bei ihrem Mann in guten Händen war. “Den Vorschlag finde ich gut, dann würden sowohl Doratrava, als auch Nivard als Mitwisser handlungsfrei bleiben.”

Doratravas brennende Augen richteten sich nun auf Lys. Nur mit Mühe konnte sie das Entsetzen über diesen neuerlichen Vorschlag aus ihrer Miene heraushalten, während ihre Gedanken und Gefühle Karussell fuhren. Sie öffnete den Mund, aber ihr wollte nichts einfallen, was Lys' Argumente entkräftete, also schloss sie den Mund wieder. Hilfesuchend sah sie Merle an.

Merle sprang auf und blickte funkelnd in die Runde. "Ich wollte doch nur rüber zu Lulu! Das trau ich mir auch allein zu! Das Dorf und der Gutshof sind voller Menschen; was soll da tagsüber passieren?! Glaubt ihr wirklich, ich laufe dem Pruch jetzt gleich auf dem Marktplatz in die Arme?" Sie atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen. "Eigentlich denke ich auch nicht, dass ich viel zu der Runde der Ermittler beitragen könnte. Ich bin eine einfache Frau und Mutter. Aber...", Merle senkte schuldbewusst den Blick, "...es war meine Entscheidung, einen Brief zu öffnen, der nicht an mich gerichtet war. Dafür werde ich gerade stehen. Und ich werde natürlich tun, was ich kann, um zu helfen." Sie nickte ihrem Schwiegervater ehrerbietig zu. "Vater Friedewald, entscheide du, ob ich bei dieser Besprechung dabei sein oder derweil lieber bei Lys, Isavena und den Kindern bleiben sollte. Mir ist es gleich."

Am liebsten hätte Doratrava Merle jetzt einfach gepackt und aus dem Raum gezogen, damit sie Lulu holten, dann hätte die ganze Herumdiskutiererei ein Ende. Aber sie wollte den Gastgeber nicht vor den Kopf stoßen, daher hielt sie still, wenn sie das auch Überwindung kostete.

Nivard hörte zusehends ungläubig der Entwicklung des Gesprächs zu. Warum drängte Doratrava so massiv darauf, Merle beschützen zu wollen... nein, dumme Frage, warum sie darauf drängte, war ihm mehr als klar, schließlich hatte sie selbst es ihm ja schon gesagt... warum aber war sie nur immer so impulsiv, so sehr Spielball ihrer Gefühle, dass sie die Ehe zwischen Gudekar und Merle nicht achtete, eigensüchtig Merle für sich gewinnen wollte, statt - aus selbstloser Liebe heraus - alles dafür zu tun, deren Ehe zu retten?

"Merle, so sehr ich Eure Einschätzung zu der Gefahrenlage verstehen kann: Ihr dürft nicht unterschätzen, wie gefährlich Pruch wirklich ist. Bei ihm könnt Ihr nicht einmal gewiss sein, dass Ihr Eure Speisekammer in Sicherheit alleine betreten könnt, und selbst die belebte Öffentlichkeit bietet nur bedingten Schutz. In Schweinsfold war er unerkannt die ganze Zeit mitten unter der Festgesellschaft, hielt sich sogar in Gestalt dessen Novizen in nächster Nähe zu Vater Winrich auf. Bei diesem Gegner müsst Ihr mit allem rechnen, stets auf der Hut sein!"

Mit Besorgnis hörte Friedewald Nivards Worte und runzelte die Stirn. Deshalb entschied er, ohne wirklich einen Widerspruch seitens seiner Schwiegertochter zu dulden: “Merle, du gehst Lulu holen und gibst Ciala Bescheid, dass auch sie nicht allein bleiben soll. Wähle dir deine Begleiter. Zwei an deiner Seite wären mir lieber als eine oder einer. Und die übrigen ziehen aus und rufen Eure Gefährten zusammen.”

Doratravas intensiver Blick richtete sich auf Merle. Ohne, dass es ihr bewusst war, hatte die Anspannung ihr Gesicht in eine zu perfekte, nahezu ausdruckslose Maske verwandelt, die auch aus Stein hätte sein können. Lediglich die glühenden Smaragdaugen gaben ihrer Miene noch Leben.

Merle seufzte müde. "Wenn der Feind die Gestalt von jedem annehmen kann, dann wissen wir auch nicht, ob er schon irgendwo in unserer Mitte ist...", gab sie zu bedenken, schaute dann aber fragend ihren Schwiegervater an. "Wer soll denn dann auf Ciala aufpassen, wenn ich mit Lulu zu dieser Besprechung gehe?"

Friedewald atmete tief durch. Auf ein Problem folgte das nächste. “Ja, wir müssen auf jede einzelne Person in der Familie aufpassen. Wir sollten Ciala an Kalmans Seite stellen. Er weiß das Schwert zu führen. Andererseits sollte er auch auf Rhodan acht geben, wo wir schon bei dem nächsten Problem sind.” Der Edle schaute noch einmal intensiv in die Gesichter der Anwesenden. „Was unternehmen wir bezüglich Gwenn? Sie scheint sich irgendwo mit ihren Brautentführern versteckt zu haben, aber bisher wissen wir nicht wo. Ich meine, ich vertraue Bernhelm mehr als jedem anderen in Lützeltal, aber sollte es der Paktierer hierher geschafft haben, dann könnte die kleine Gruppe in Gefahr sein. Mich beruhigt zwar, dass die Dame von Kranickau Gwenn zu begleiten scheint, doch ist diese vermutlich die einzig Wehrhafte in Gwenns Gesellschaft.“

"Wo in der Nähe könnte man es sich denn im Warmen gemütlich machen, quatschen, essen und trinken?" fragte Merle und zog nachdenklich die Stirn kraus. "Gibt es in der Umgebung Schenken, Tavernen oder Landgasthöfe? Das Forsthaus ist wohl zu naheliegend…"

“Die nächsten Gasthäuser?” überlegte Friedewald. “Also abgesehen vom Brauhaus und der Weißen Quelle, meinst du? Hm, also erst in Hart im Norden oder in Schlatt im Süden. Aber ich glaube nicht, dass sie das Lehen verlassen haben. Ich denke eher, das Forsthaus käme in Frage oder einer der Bauernhöfe, wenn sie nicht einfach wegen des Sturms doch im Dorf geblieben sind.”

Aha, nun war das mit der Brautentführung doch nicht mehr so lustig, wie es vorhin auf dem Dorfplatz noch aus Friedewalds Mund geklungen hatte. Dennoch fiel es Doratrava schwer, sich auch noch auf dieses Problem zu konzentrieren, wenn es erst einmal um Merle ging. Sie hatte Friedewald zwar ihre Hilfe bei der Suche nach Gwenn angeboten, aber sie kannte sich hier nicht aus und wusste daher gar nicht, wo sie suchen sollte. Und bei dem Sturm waren bestimmt kaum Leute draußen gewesen, die hätten bezeugen können, wohin sich die Entführer mit der Braut gewandt hatten. Wenn nicht gar der Pruch in einem der Entführer gesteckt hatte, wie eine kleine, bösartige Stimme sich in ihr meldete.

Schnell wischte sie diesen Gedanken beiseite. “Können wir nicht eins nach dem anderen erledigen?”, meldete sie sich nun doch zu Wort. “Erstmal Lulu holen, damit wir mit der Versammlung anfangen können? Und vielleicht Ciala irgendwo hin schicken, wo sie nicht allein ist?”

“Ganz richtig! Wir dürfen uns nicht verzetteln!” unterstützte Nivard sie nun. “Erst Lulu holen und die Versammlung zusammentrommeln. Gleichwohl glaube ich, dass die Braut rasch und einfach gefunden werden kann - haben wir nicht einige Jagdspürhunde hier? Ein erst kürzlich getragenes Kleidungsstück der Braut wird sich gewiss finden lassen, und trotz des Wetters dürfte die Fährte noch frisch genug sein”, schlug Nivard pragmatisch vor.

Bei dem Sturm und Regen? Doratrava schaute skeptisch, aber sie hatte von Jagdhunden und deren Fähigkeiten keine Ahnung, also sagte sie nichts dazu … außer … “Sind die Hunde schon wieder da? Habe ich gar nicht mitbekommen.” Dann fiel ihr noch etwas ein: “Und wenn sie Gwenn auf einem Wagen transportiert haben? Kann man das ausschließen?”

“Gwenns Elenviner ist auch aus dem Stall”, wandte der Edle ein. “Ich vermute, sie sind geritten. Und unsere Hunde sind noch bei Leodegar. Lediglich der Hund des Herrn Zerf, Firun sei gnädig, und der von der Baroness sind zurück. Aber vielleicht hat Wulfhelm einen Hinweis, wo sie hin wollten, er war in die Brautentführung eingeweiht.”

“Hm. Klappt das dann mit den Hunden, wenn sie geritten sind? - Aber dann solltet Ihr vielleicht Wulfhelm befragen, während wir uns endlich um Merle und Lulu und auch Ciala kümmern?”

“Wenn sie geritten sind, gibt es frische Pferdespuren vom Ort weg.” gab Nivard zu bedenken. “So viele Leute zog es heute ja nicht weg von hier. Außerdem könnte man zur Sicherheit noch die Hunde im Stall der Pferde Witterung aufnehmen lassen. Aber Doratrava hat Recht. Noch immer ist Lulu nicht in unserer Obhut und auch Ciala nicht in Sicherheit.”

“Die sind doch noch im Sturm losgeritten, soweit ich weiß?”, warf Doratrava dennoch nochmals ein. “Blöde Idee, ich verstehe nicht, warum Gwenn da mitgemacht hat bei dem Wetter. Aber egal. Lasst uns zu Lulu und Ciala gehen!” Sie sah Merle auffordernd an. Wenigstens war wieder etwas mehr Leben in ihr Gesicht gekommen.

Merle nickte schicksalsergeben. "Ich möchte gerne noch ein paar Worte mit dem Herrn von Tannenfels wechseln. Wenn Ihr nichts dagegen hättet, würde ich mich freuen, wenn Ihr mich begleiten könntet, Herr Nivard." Dann wandte sie sich an Doratrava und schaute sie mit einem schüchternen Lächeln an. "Du natürlich auch, Doratrava."

Obwohl es völlig irrational war, setzte Doratravas Herzschlag einen Moment aus und sie konnte nicht verhindern, dass kurz ein Strahlen über ihr Gesicht lief, bevor sie sich halbherzig ermahnte, sich bedeckt zu halten. Sie nickte eifrig, ein Berg fiel ihr vom Herzen.

“Dann nichts wie los!” sprang Nivard auf. “Wir haben keine Zeit zu verlieren.”

“Gut”, stimmte Friedewald ein. “Frau von Kalterbaum, Herr von Kargenstein, würdet Ihr mit mir die anderen Ratsteilnehmer informieren?”

Aus einem Impuls heraus fiel Merle ihrem Schwiegervater um den Hals und drückte ihn kurz, aber fest an sich. "Wir beeilen uns, bis gleich!"

“Pass auf dich auf, mein Liebes! Und auf Lulu natürlich. Bis gleich!” Herzlich erwiderte Friedewald die Umarmung seiner Schwiegertochter. Ihr Lebensmut war erfrischend, dachte der Edle. Was wäre das Leben auf dem Gut nur ohne sie gewesen in den letzten Monden? Er würde sie vermissen, wenn sie wieder zu Gudekar nach Albenhus zöge, dachte er. Aber so wäre es richtig.

Dann wandte Merle sich noch einmal an Tsalinde und Lys und umarmte beide ebenfalls herzlich. Sie wollte sich schon zum Gehen aufmachen, hielt aber fragend den Brief hoch. “Soll ich den mitnehmen? Ist wohl besser, du nimmst ihn an dich, Vater Friedewald, oder?”

“Ja, ich nehme ihn an mich.” Friedewald faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche seines Mantels. “Ach eine Bitte noch an alle. Wenn die Frage aufkommt… ICH habe den Brief geöffnet, verstanden?” Eindringlich schaute er den Umstehenden ins Gesicht.

Merle verzog unwillig den Mund. Sie hatte genug von diesen ganzen Lügen. “Kalman weiß, dass ich ihn hatte”, wandte sie ein.

“Merle, du hättest ihn nicht öffnen dürfen.” Friedewald schaute streng auf die junge Frau. “Es war zwar gut, dass du es getan hast, aber du durftest es nicht. Für Kalman und Gudekar habe ich den Brief geöffnet. Vertraue mir! Es ist besser so.” Friedewald lächelte liebevoll aufmunternd und streng zugleich.

Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, dann schloss sie ihn wieder und nickte folgsam. "Ja, Vater. Hab Dank.”

“Merle, sag das nicht so, als ob du es nur aus Gehorsam mir gegenüber akzeptierst. Ich möchte einfach nicht, dass dir da jemand Vorwürfe macht.”

Die junge Frau nickte traurig. Die meisten Vorwürfe machte sie sich selbst. Sie sammelte ihren Mantel und ihre restlichen Sachen ein und rang sich ein kleines Lächeln ab. "Natürlich. Danke dir."

Nivard schwieg zu dem ganzen. Auch wenn ihm Unwahrheiten widerstrebten, kam es auf diese eine zusätzliche Lüge nun auch nicht mehr an. Es war bei weitem nicht die schlimmste, von der er heute erfahren hatte.

Tsalinde hatte die Umarmung Merles steif über sich ergehen lassen und diese nur leicht und halbherzig erwidert. Sie fühlte sich verraten und im Stich gelassen. Sie verstand einfach nicht, warum Merle weiterhin schwieg und es tat ihr sehr, sehr weh, dass sich offensichtlich außer ihr und Lys niemand Gedanken um die Sicherheit ihres Sohnes machte. Nachdem die Tür hinter Doratrava, Merle und Nivard geschlossen wurde, wandte sich Tsalinde mit Tränen in den Augen an ihren Gemahl. “Lys, bitte schnapp dir Siegmund und Isavena und verschwindet von hier. Bringt euch in Sicherheit.”

Beruhigend strich Lys ihr über den Rücken und schaute entschuldigend zu Friedewald. “Wir sind hier zu Gast, meine Liebe. Ich werde zu Isavena gehen und mit ihr gemeinsam auf den Kleinen achten, dann kannst du dich mit deinen Gefährten treffen.”

Laut donnerte die junge Mutter. “Es ist mir egal, welchen Eindruck das macht. Ich werde nicht zulassen, dass mein Sohn weiter in dieser toxischen und gefährlichen Umgebung bleibt. Meinen Worten der Wahrheit wird nicht geglaubt und stattdessen lügt man sich weiter gegenseitig ins Gesicht. Ich werde bleiben und meinen Mitstreitern zur Seite stehen, das bin ich ihnen schuldig, aber meine Familie riskiere ich nicht dafür.” Tränen liefen ihr über die Wangen als sie Lys anflehte: “Bitte, geh und bring unsere Familie in Sicherheit.”

“Bitte, Euer Wohlgeboren, kommt zur Vernunft!" Friedewald war innerlich recht empört über die Bezeichnung ‘toxische Umgebung’ für das Lützeltal. Doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. “Seht, wenn viele Meinungen im Raum stehen, muss am Ende doch eine Entscheidung getroffen werden. Ich verstehe Eure Besorgnis meinem Sohn gegenüber. Doch scheint mir nach allem, was ich heute gehört habe, der innere Zusammenhalt noch immer die beste Waffe gegen den Paktierer. Ihr und Gudekar solltet versuchen, Eure persönlichen Differenzen solange beiseite zu legen, bis die Bedrohung gebannt ist. Nur so kann Eure Gemeinschaft stark sein. Lasst nicht zu, dass das Gift, das der Paktierer versprüht, Eure Gruppe schwächt, lasst nicht zu, dass er einen Keil zwischen Euch treibt. Und was die Sicherheit Eures Sohnen anbelangt, ich bin zum einen überzeugt, dass Eure Zofe und Euer Gemahl alles dafür tun werden, ihn zu beschützen. Doch wenn sie jetzt zu dritt abreisen, dann sind sie auf dem Weg bar jedweder weiteren Hilfe und könnten ein leichtes Ziel werden. Auch hier gilt: In der großen Gemeinschaft ist die beste Sicherheit geboten. Lasst sie mit auf das Gut kommen, dort sind sie am besten aufgehoben. Zumindest solange, bis der Rat entschieden hat, wie wir weiter vorgehen sollten.” Friedewald wandte sich an Lys, da dieser weniger emotional zu agieren schien und die weit größeren Erfahrungen als Personenschützer hatte. “Meint Ihr nicht auch, Herr von Kargenstein?”

Es war Lys sichtlich unangenehm, dass Friedewald so offensichtlich um seine Zustimmung bat. Daher überlegte er sich seine Worte genau.

“Ich stimme euch zu, euer Wohlgeboren, dass eine Heimreise ein äußerst gefährliches Unterfangen wäre. Die Bedenken meiner Frau kann und will ich jedoch nicht einfach so abtun.” Er wandte sich Tsalinde zu und schaute ihr tief in die Augen. “Lass mich hier bei Siegmund und Isavena bleiben, hier kann und werde ich sie beschützen, bis du zurückkommst.”

Tsalinde rang sichtlich um Fassung, nickte dann und gab ihrem Mann einen Kuss. “Pass auf unsere Familie auf. Ich liebe euch von ganzem Herzen.”

Dann wandte sie sich zerknirscht an Friedewald. “Bitte verzeiht, dass ihr Zeuge meiner harschen Worte wurdet. Ich fürchte, wenn es um die Sicherheit meiner Familie geht, verliere ich allzu schnell die Fassung. Keinesfalls wollte ich euch zu nahe treten. Zu meiner Verteidigung kann ich lediglich anbringen, dass sich Dinge hinter eurem Rücken zutragen, von denen ihr nichts ahnt. Es ist nicht an mir, euch davon zu berichten, doch ich fürchte, dass genau diese Geheimnisse so viel Unfrieden stiften, dass die daraus resultierenden Streitigkeiten und Zwiste dem Ruhelosen deutlich mehr bringen, als es der Tod meiner Familie wäre."

“Grämt Euch nicht, Euer Wohlgeboren. Die Sorge um die eigene Familie kann ich sehr gut nachvollziehen. Sie ist ein Gut, das Ihr Euch bewahren solltet. Sie ist es, die uns stark macht gegen die Einflüsterungen des Bösen.” Friedewald schaute ernst zu Tsalinde und ging ein paar Schritte auf sie zu. Er wirkte dabei nicht bedrohlich, sondern sehr besorgt. “Frau von Kalterbaum, wenn es etwas gibt, dass ich wissen sollte, um die Gesellschaft auf dem Gut und die Bewohner des Dorfes zu beschützen, dann solltet Ihr, nein, dann ist es Eure Pflicht, es mir zu sagen!”

Tsalinde rang mit ihrem Gewissen. Andererseits hatte sie Gudekar nur versprochen, dass sie Merle nichts sagt und sie weiß ja nun alles. Tsalinde atmete tief durch und sagte: “Gudekar hat seinen Traviabund nicht nur mit mir und unter einem Zauber gebrochen. So wie es im Moment aussieht, plant er gar seine Frau zu verlassen und den Rest seines Lebens mit einer anderen zu verbringen.”

Eine Ohrfeige. So fühlten sich Tsalindes Wort für den Lützeltaler an. Eine harte, schmerzhafte Ohrfeige. Friedewald starrte Tsalinde fassungslos an. Wortlos. Nach einer gefühlten Unendlichkeit schluckte er. Erst dann fragte er nach: “Seid Ihr sicher?”

Nun ging Tsalinde auf den Edlen zu. Sie spürte, welche Schmerzen es ihm bereitete. “Glaubt mir bitte, dass ich niemals eine solche Aussage treffen würde, wäre ich nicht davon überzeugt. Gudekar hat es mir gegenüber eingestanden. Merle weiß es und die neue Frau im Leben eures Sohnes hat es auch bestätigt. Ich fürchte, es bestehen keinerlei Zweifel.”

“Warum hat sie nichts gesagt? Warum hat sie mir nichts gesagt?” Die Worte waren nicht an Tsalinde gerichtet, doch Friedewald konnte es kaum glauben. “Ich hätte es merken müssen, ich hätte es spüren müssen!” Plötzlich ergab so vieles einen Sinn. “Sie hätte es mir doch sagen können. Arme Merle!”

“Ich glaube, sie wollte euch nicht gegen Gudekar aufbringen und ich fürchte, sie macht sich noch immer Hoffnungen, dass sie Gudekar wieder für sich gewinnen kann.” Sie senkte den Kopf. “Ich weiß nicht, was mit Gudekar los ist.”

Nun mischte sich auch Lys an. “Was mich daran noch am meisten stört, ist, dass er mit den Gefühlen beider Frauen spielt. Er küsst Merle noch immer und macht ihr Hoffnung, dennoch steht sein Versprechen der anderen Frau gegenüber, mit ihr weg zu gehen und ein neues Leben zu beginnen. Das ist der Grund, warum wir ihm misstrauen, denn es ist der Nährboden von Neid, von Streit und Missgunst.”

Friedewald setzte sich in den Sessel und trommelte mit den Fingern auf die Armlehne. “Vielen Dank für Eure Aufrichtigkeit, Frau von Kalterbaum. Doch scheint mir dies in erster Linie eine familiäre… Tragödie zu sein. Ein solches Verhalten, zu Travias Leidwesen, kommt leider öfter vor als wir es uns vorstellen können, auch in den höchsten Kreisen. Das soll nicht bedeuten, dass ich dies gut heiße oder die Schande auch nur abwerten möchte. Ganz im Gegenteil! Doch macht das die Frevler nicht gleich zu Paktierern. Warum denkt Ihr, hat Gudekars Verhalten Einfluss auf seine Aufrichtigkeit in Euren Kampf gegen den Paktierer?”

“Da mögt ihr Recht haben. Doch kann man einen gewissen Einfluss des Ruhelosen auch nicht mit Sicherheit ausschließen. Versteht mich bitte nicht falsch. Ich misstraue eurem Sohn nicht per se. Ich möchte nur, dass ihr meine Skepsis und meine Vorsicht versteht und akzeptiert. Gudekar wirkt auf mich im Augenblick nicht wie jemand, der unserer guten Göttin Travia zugeneigt ist und dann kann ich einen Einfluss deren Gegenspielers nicht ausschließen. Ihr habt vorhin nach unseren Meinungen gefragt und an dieser Stelle wollte und konnte ich euch nicht anlügen oder weiterhin in Unwissenheit lassen. Nun, wo ihr von meinen Bedenken wisst, hoffe ich darauf, dass auch ihr euren Sohn im Auge behaltet. Sollte er unter dem Einfluss des Ruhelosen stehen, so können wir ihn vielleicht noch retten, wenn wir rechtzeitig reagieren.”

“Ja, ich verstehe. Ich hoffe sehr, dass Ihr Euch irrt. Sicher irrt Ihr Euch auf ganzer Linie. Aber wir sollten wachsam sein.” Friedewald schien verschiedene Optionen abzuwägen. Schließlich konstatierte er: “Um so wichtiger ist es, dass Gudekar bei der Beredung anwesend ist. Zum einen treiben wir ihn damit nicht noch weiter in die Fänge des Feindes. Zum anderen gibt uns dies Gelegenheit, sein Verhalten und seine Motivation zu ergründen. Wir müssen lediglich darauf achten, wie sein Verhalten einzuordnen ist.”

Zögernd nickte Tsalinde. “Ich verstehe eure Entscheidung und danke euch, dass ihr mir zugehört habt. Glaubt mir bitte, auch ich hoffe, dass ich mich irre.”

“Gut, ich danke Euch für Eure Offenheit und Euer Vertrauen!” Langsam und kraftlos erhob sich der Edle aus dem Sessel. “Na schön, dann gehen wir und sammeln Eure Gefährten zusammen, damit wir uns beraten können.”

“Ja. Rufen wir zum Kriegsrat.”

~ * ~

Ein Wagen für die Schweine

Es war ein düsterer Tag im Lützeltal, als der verheerende Sturm über das Dorf hinwegfegte. Der Wind heulte und die Regentropfen prasselten gegen die Fensterläden von Ludewich Beeltzers Bauernhaus. Im Stall hinter dem Haus schrien die Tiere vor Angst und Unbehagen.

Ludewich Beeltzer war ein Mann in seinen Fünfzigern, der seit Jahrzehnten auf seinem Bauernhof lebte und eine erfolgreiche Kaninchen- und Geflügelzucht betrieb. Doch dieser Sturm war anders als alles, an das er sich erinnern konnte. Die Böen waren so stark, dass die Scheunentüren knarrten und das Dach zu vibrieren schien.

Als der Sturm am Nachmittag abflaute, machte sich Ludewich auf den Weg zu den Ställen, um nach seinen Tieren zu sehen. Doch was er dort vorfand, ließ ihm das Herz in die Hose rutschen. Ein Teil des Daches war eingestürzt und hatte seine Kaninchen- und Geflügelzucht unter sich begraben.

Sofort begann Ludewich, die Trümmer beiseite zu räumen, in der Hoffnung, noch das ein oder andere Tier retten zu können. Doch je weiter er grub, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er viele seiner Tiere verloren hatte. Kaninchen und Hühner lagen tot oder schwer verletzt unter den Trümmern. Die, die noch am Leben waren, schienen traumatisiert und völlig verstört.

Ludewich war am Boden zerstört. Seine Tiere waren seine Lebensgrundlage und die seiner Familie. Er hatte ihnen alles gegeben, was er hatte, und nun hatte ihm der Sturm alles genommen. Doch trotz aller Trauer und Verzweiflung beschloss er, weiterzumachen. Er würde nicht aufgeben, sondern kämpfen, um seine Zucht wieder aufzubauen. Das war er seiner Familie schuldig, seiner Schwiegertochter und seiner Enkelin, die zu allem Überfluss auch noch mit Gänsepusteln im Haus lag.

(Text von chatGPT, leicht angepasst vom SL)

Die Firunnovizin Mika führte ihre beiden Begleiter, den Angroscho Borix, Bergvogt von Ishna Mur, und seine Frau Murla, die Straße nach Hart entlang, vorbei an Feldern und Streuobstwiesen. Gegenüber des ehemaligen Zeltlagers, auf dem auch die beiden Angroschim zunächst kampiert hatten, bog sie nach rechts auf einen Feldweg ab, der die drei Wanderer nach wenigen Schritt zum Hof von Ludewich führte. Hier erhofften sie, Ludewich würde einen Wagen zur Schützhütte im Haderholz lenken, um die Wildschweine aufzuladen, die während der Jagd erlegt und nun dort von Seiner Gnaden Firumar und dem Jagdmeister Leodegar abgelegt worden waren.

Schon von weitem konnten die drei das Chaos sehen, das der Sturm hier angerichtet hatte. Aufgescheuchte Hühner flattern über die Wiese und einige Kaninchen hoppelten davon, während der alte Ludewich fluchend zwischen den Überresten des Stalls stand.

“Mir scheint, hier ist auch einiges durch den Sturm durcheinander gekommen”, meinte Murla, als sie das Chaos erblickte. “Ich glaube, wir sollten helfen!”

Ohne auf die Antwort ihres Gatten zu warten, begann sie die herumlaufenden Tiere in Richtung auf ihren Besitzer zu zu treiben.

Borix musste sich ob des Chaos ein Lachen verkneifen und so begann auch er mit einem lauten “Put! Put! Put!” die Hühner zu ihrem zerstörten Stall zu treiben.

Auch Mika schaute sich um, um festzustellen, dass es wohl das Sinnvollste war, zunächst provisorisch ein kleines Gehege zu errichten, bevor man die herum flatternden Hühner einfing. Die Kaninchen einzufangen, die den Sturm überlebt hatten und ausgebüchst waren, würde wohl ein langwieriges Unterfangen werden, hatten sich die Rammler doch schnell über die Wiesen in alle Richtungen verteilt. “Meister Ludewich, Firun zum Gruße!” Mika ging auf den Bauern zu. "Herrje, das ist ja furchtbar, was hier passiert ist! Wie können wir am besten helfen?”

Ludewich schaute sich zu den Ankömmlingen um. “Oh, junge Dame Mika! Peraine zum Gruße!” Mit einer verzweifelten Geste deutete der Mann auf den zerstörten Stall. “Schaut doch nur! Alles ist hin! Die Tiere tot oder entlaufen. Was soll ich nur tun?”

“Wir sollten sie einfangen, solange sie noch nicht alle im Wald verschwunden sind!” rief Borix dem Bauern zu, während er zusammen mit Murla die Tiere in Richtung des zusammengebrochenen Stalls  trieb.

Die beiden Angroschim waren dabei als Paar relativ erfolgreich, die zu den Seiten ausbrechenden Hühner und Kaninchen wieder in die richtige Richtung zu jagen. Nach einiger Zeit der recht erfolgreichen Treibjagd, kam Murla aber langsam außer Atem. Sie war in Ishna Mur ein etwas ruhigeres Leben gewohnt und im Gegensatz zu ihrem Gatten nicht mehr in bester Kondition.

“Borix, Du schaffst das Kleinvieh auch ohne mich!” rief sie daher schnaufend ihrem Mann zu.

Es dauerte eine ganze Weile, aber dann hatte Ludewich mit Hilfe der beiden Angroschim und dem Mädchen aus Brettern vom zerborstenen Stall eine Art Behelfsumzäunung geschaffen, in die sie nach und nach beinahe alle Tiere getrieben hatten. Ein paar waren dann doch entkommen, doch Ludewich war mehr als froh, den Großteil gesichert zu wissen.

~ * ~

Auf dem Weg, Lulu und Ciala zu retten

Nivard und Doratrava begleiteten Merle zurück zum Herrenhaus, um dort nachzusehen, ob Lulu und Ciala wohlauf waren und diese in Sicherheit zu bringen, falls es tatsächlich auch in Lützeltal einen Übergriff durch den Paktierer Pruch geben sollte.

Doratrava war für den Moment zufrieden, nicht von Merle getrennt worden zu sein. Da diese aber mit Nivard sprechen wollte, hielt sie sich zunächst zurück und schaute Merle lediglich ab und zu von der Seite an.

Merle war ebenfalls zunächst schweigsam. Seit Nivard sie und Doratrava in aller Frühe geweckt hatte, war unendlich viel passiert… und das meiste davon lastete ihr schwer auf der Seele. Dennoch wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte, über was sie überhaupt mit dem ihr gleich so vertraut erscheinenden, aber eigentlich noch immer fremden Krieger sprechen konnte und sollte. “Es tut mir leid mit dem… Jagdunfall”, sagte sie stattdessen.

Erneut sah Doratrava zu Merle hinüber und runzelte die Stirn. Warum wollte sie mit Nivard über den Jagdunfall sprechen? Aber ausnahmsweise blieb sie ruhig und mischte sich nicht ein … ein Zustand, von dem sie selber wusste, dass er nicht lange anhalten würde.

“Ja, das war… schlimm.” ging Nivard auf Merle ein. Insgeheim wunderte er sich, warum sie ausgerechnet dieses Thema anschnitt. Wollte sie nicht, dass Doratrava mitbekam, was zwischen ihr und Gudekar heute geschehen war, oder auch nicht? Obwohl die beiden so vertraut miteinander umgingen - seit er sie wiedergetroffen hatte, sogar noch mehr als in der zuückliegenden Nacht, so hatte er wenigstens den Eindruck… “Mir scheint… als stünde dieses Fest hier insgesamt unter keinem guten Stern. Wie habt Ihr den Tag heute in Lützeltal erlebt?” versuchte Nivard das Thema nun doch in die Richtung zu lenken, die ihn umtrieb, dabei aber zunächst so unbestimmt zu bleiben, dass Merle nicht gezwungen war, mehr preiszugeben, als sie wollte. “Mal abgesehen von dem Brief.”

Sie schluckte und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Es half ja alles nichts. Nivard hatte, nachdem er sich gestern angeboten hatte, mit Gudekar zu reden und sie zu unterstützen, auch ein Recht, die Wahrheit zu erfahren. "Er betrügt mich", berichtete sie mit harter, düsterer Stimme. "Seit zwei Götterläufen schon. Mit dieser Ritterin. Gwenn hat es mir gesagt, nachdem Gudekar sein Gepäck aus unserer Kammer hat schaffen lassen. Zu ihr."

Hatte Nivard das nicht schon gewusst? So langsam verlor Doratrava den Überblick, wer wann was wo wem gegenüber gesagt oder verschwiegen hatte. Man könnte das Dorf hier ja fast schon ein Schlangennest nennen, wenn man zynisch war.

Nivard atmete scharf ein. Die Neuigkeit selbst vermochte ihn natürlich nicht zu überraschen, dass, wie und von wem Merle davon erfahren hatte, dagegen schon - noch mehr aber, mit welch grausamer Kälte Gudekar offenbar seine endgültige Trennung von Merle vorantrieb - und das noch vor der Frist, in der der Anconiter ihm gegenüber eigentlich noch stillzuhalten gelobt hatte.

“Es tut mir leid… das ist alles so falsch… so unfassbar falsch.” Nivard schmerzte es aus tiefster Seele, Merle mit dieser schrecklichen Gewissheit konfrontiert zu sehen. Gleichzeitig plagte ihn ein schlechtes Gewissen, weil er es schon gestern Abend gewusst hatte und nur aus reiner Treue Gudekar gegenüber Merle nicht bereits reinen Wein eingeschenkt hatte - die Gelegenheit hätte er gehabt. Aus Treue einem untreuen Lügner und Betrüger gegenüber hatte auch er die treue Merle hintergangen… er fühlte sich schäbig.

Angesichts von Merles düsterer Stimmung verflog Doratravas kurzzeitiges - und egoistisches, wie sie sich sehr wohl bewusst war - Hochgefühl gleich wieder. Am liebsten hätte sie Merle gleich wieder tröstend in den Arm genommen, aber ihr war wieder eingefallen, was sie Nivard im Wald gestanden hatte, und wollte ihn jetzt nicht auf falsche - oder richtige? - Gedanken bringen. Aber sie nahm zumindest wieder Merles Hand und drückte sie stumm.

“Habt Ihr mit Gudekar selbst schon gesprochen?” fragte er mit belegter Stimme hinterher.

"Ähm...", Merle merkte, wie sich angesichts von Nivards Mitgefühl auch in ihren Augen wieder Tränen sammelten. "Ja... schon. Ich bin in den Rahja-Schrein, als die beiden gerade...", sie schluckte mühsam, "...aber es war eigentlich ganz gut... wir konnten unter Begleitung des Geweihten sprechen, ohne uns gleich…” Sie brach ab und biss sich wieder auf die Unterlippe. “Wir haben vereinbart, uns heute noch einmal zu unterhalten… wie es weitergeht… aber ich hab keine große Hoffnung mehr.”

Doratrava machte große Augen. Sie hatte sich mittlerweile das ein oder andere aus dem hier und da Gehörten zusammengereimt, aber es nun so aus Merles Mund zu hören ... was musste sie dabei gefühlt haben? Was hätte sie selbst in einer solchen Situation gefühlt? Sie vermochte es sich kaum vorzustellen.

"Ihr habt sie im… Rahjaschrein…?" ächzte Nivard. Das konnte doch fast nur bedeuten... nein, eine solche Chuzpe traute er selbst Gudekar nicht zu, noch vor der Hochzeit seiner Schwester dieses ganze Fest - ein Hochfest der Gütigen Mutter - durch einen Rahjabund der Untreue zu besudeln. "Hat der Geweihte nur mit Euch beiden gesprochen... oder hat er..." Nivard brachte es nicht über die Lippen. Er hoffte so sehr, dass Rahjel bei Gudekars miesem Spiel nicht mitgemacht hatte.

Merle räusperte sich schmerzhaft, um gegen den harten Knoten in ihrer Kehle anzukämpfen. "Ja, sie haben einen… Rahjabund miteinander geschlossen", brachte sie mit rauer Stimme heraus. "Für zwei Jahre. Und es war wohl nicht der erste. Vor einem Götterlauf hatten sie schon mal einen." Sie stieß ein bitteres, sarkastisches Lachen aus. “Gudekar war am Ende noch sauer, dass Gwenn es mir verraten hat und ich ihre schöne Zeremonie gestört habe! Kann man sich das vorstellen! Er tut so, als hätte er irgendein Recht darauf, mit dieser... 'armen, kleinen Ritterin' zusammen zu sein", sie rollte wütend mit den Augen, "... als wäre es am Ende alles meine Schuld, weil ich seinem Glück im Wege stehe!"

Das war zuviel für Doratrava, sie konnte den Schmerz in Merles Stimme und in ihren Augen nicht mehr länger ertragen und zog sie in eine sehr enge, tröstende Umarmung, während sie über ihre Schulter hinweg Nivard einen entschuldigenden Blick zuwarf, der allerdings fast sofort in ein ärgerliches Blitzen überging, denn für was hatte sie sich zu entschuldigen? Aber sie senkte den Blick nun auf Merle, während sie ihr sanft über die Haare fuhr, ohne Worte, denn sie hatte gerade keine, konnte nicht ausdrücken, was sie fühlte, außer durch ihre Nähe und ihre sanften, tröstenden Berührungen.

Sie stand ja selbst auf Kriegsfuß mit den travianischen Lehren, zumindest mit der strengen Auslegung derselben und der Selbstgefälligkeit mancher Geweihter, welche ihre eigenen überzogenen Vorstellungen von Sitte und Moral als Ausdruck der Göttin Travia vor sich her trugen, auf dass niemand ihre Kompetenz in diesen Dingen anzweifelte. Aber was Gudekar da getan hatte, war schon ein starkes Stück, obwohl Doratrava nur zu gut wusste, was Gefühle anrichten konnten. Wenn Merle nun ein unleidliches, zänkisches Weib gewesen wäre, hätte sie das ja noch verstanden. Und wenn das mit Meta nur ein kurzzeitiger Ausrutscher gewesen wäre, dann hätte sie es auch verstanden, wenn auch dies bereits in den Augen eben jener erwähnter Geweihter und ähnlich eingestellter Gläubiger einen unentschuldbaren Verrat des Treueschwurs bedeutet hätte.

Aber Merle war eben kein zänkisches Weib, sondern die liebste Person, die Doratrava in der letzten Zeit kennengelernt hatte, und es war eben kein Ausrutscher von Gudekar gewesen, sondern systematischer Betrug. Und das war selbst für sie zu viel, vor allem, da es Merle solche Qualen bereitete und sie eine solche Nähe zu der jungen, gebeutelten Frau verspürte, dass ihre Qualen in nicht unerheblichem Maß zu ihren eigenen wurden. Sie spürte, wie ihr bei diesen Gedanken die Tränen kamen, aber sie konnte nichts dagegen tun.

Merle nahm die liebevolle Umarmung dankbar an, drückte Doratrava an sich und strich ihr sanft über das weiche, weiße Haar. Fast war es, als würde sie ihre Freundin trösten und nicht umgekehrt. Ihr tat es leid, dass ihre Probleme die schöne Tänzerin so mitnahmen, dass auch Nivard sichtlich betroffen wirkte. "Es... geht schon", murmelte sie schwach. Sie wollte nicht, dass alle nur Mitleid mit ihr hatten. Sie wollte vor allem nicht, dass Gudekar sie bemitleidete. Und gleichzeitig nagte in ihrem Hinterkopf das böse Gefühl, dass es im Grunde wirklich ihre Schuld war. Dass es außer Mitleid überhaupt keinen Grund gab, sie zu mögen oder bei ihr sein zu wollen. "Es ist gut”, brachte sie leise heraus. “Ich komm' schon klar.”

"Nichts ist gut!" brodelte es jetzt aus Nivard heraus, der nach Merles knappen Bericht der Geschehnisse erst ganz blass geworden war, nun aber ein blutrotes Gesicht hatte. "Überhaupt nichts! Gudekar muss von allen guten Geistern verlassen sein, nicht nur, wenn man sieht, was er tut, sondern auch wie er es tut! Indem er Euch - seine Gemahlin und Mutter seines Kindes - unentwegt belügt und betrügt, den Traviabund wieder und wieder bricht, versündigt er sich bereits aufs heftigste an den Geboten Travias, wirft das kostbarste weg, das einem Mann auf Deren von den Göttern gegeben werden kann, seine Familie. Dass er es auch noch auf solch aufreizende Weise in der Öffentlichkeit tut, noch dazu im Rahmen der Feierlichkeiten des Traviabundes seiner eigenen Schwester, ist darüber hinaus eine fürchterliche Verletzung sowohl Eurer Ehre als auch der seiner ganzen Familie. Und dass er dann auch noch die Dreistigkeit besitzt, Euch die Schuld dafür zu geben, seinen Rahjabund gestört zu haben, ist so perfide, dass ich wirklich zu glauben beginne, Travias Widersacher hat seine Seele berührt, und nicht nur sanft touchiert."

Gudekar konnte froh sein, jetzt nicht zugegen zu sein - wäre er es gewesen, Nivard hätte sich mutmaßlich vergessen und ihn beim Schlafittchen gepackt, am liebsten so lange geschüttelt, bis Reue und Vernunft wieder einsetzten - so der Anconiter diese jemals besessen haben sollte. "Dass Rahjel von Altenberg dabei auch noch mitgemacht hat, hinterlässt mich entsetzt. Ein so mieses Spiel kann selbst Rahja nicht gut heißen." Nivard kämpfte noch immer damit, seinen Zornausbruch in den Griff zu bekommen. "Mit dem, was hier gespielt, wie Euch mitgespielt wird, müsst Ihr nicht klar kommen, Merle! Damit muss niemand klar kommen. Damit kann man nämlich nicht klar kommen, wenn man ein Herz im Leib hat und ein Gewissen besitzt! Ich jedenfalls kann es nicht!"

Seltsamerweise wurde Doratrava bei Nivards Ausbruch das Herz eng, als wäre sie es, dem seine Worte gegolten hatten, vor allem seine letzten. So genau hatte sie über das alles noch gar nicht rational nachgedacht, aber so, wie es Nivard darstellte, war es noch viel schlimmer, als es ihr bisher erschienen war. Umso mehr konnte sie Merles Erschütterung nachvollziehen, und umso betroffener war sie dadurch selbst.

Sie drückte Merle noch fester, weitere Tränen rannen ihr über das Gesicht, aber Nivard zischte sie ein halbherziges “Schhh!” zu und fügte dann mit leiser, brüchiger Stimme hinzu: “Wenn du weiter so schreist, wissen bald alle Bescheid!” Mehr brachte sie gerade nicht heraus.

“Verdammt, ich reg mich halt auf!... Aber Du hast ja Recht. Ich bin schon still.” zügelte Nivard die Heftigkeit seiner Entrüstung. “Aber gefallen… gefallen lassen dürft Ihr Euch das nicht, Merle! Auf keinen Fall! Und was auch immer ich für Euch tun kann, Euch zu helfen, werde ich tun, das verspreche ich Euch, hört Ihr? So etwas darf niemand alleine durchmachen müssen…” Nivard sah Doratrava an und sprach für sie, so glaubte er fest, mit, als er sagte. “Wir stehen auf Eurer Seite!”

Merle schaute Nivard mit großen Augen an. Der Ausbruch des jungen Kriegers hatte dem Zorn Ausdruck verliehen, den sie selbst empfand, aber nicht hinauslassen konnte. In seltsamer Weise befähigte sie dies, ruhiger zu werden und Nivard sanft eine Hand auf den Oberarm zu legen. “Seine Gnaden Rahjel trifft keine Schuld”, widersprach sie leise. “Er tut das Werk seiner Göttin. Rahjel hat versucht, uns zu Harmonie und Verständnis zu geleiten. Und er hat zu Gudekar gesagt, dass ich immer seine Ehefrau vor der Gütigen Mutter bleibe, trotz dieses Bundes mit Meta. Aber”, nun wurde auch Merles Tonfall wieder schärfer, “Gudekar tut so, als könne er sich von mir verabschieden und mich irgendwie loswerden. Er meint, dass ich seiner wahren Liebe, seiner Bestimmung, im Wege stehe, dass ich vielleicht seine Vergangenheit bin, aber Meta seine Zukunft. Wie kann er sowas sagen… Ich stand zehn Götterläufe treu an seiner Seite, habe alles für ihn getan… Er war doch früher auch glücklich mit mir! Wie kann er so plötzlich…” Nun sammelten sich doch wieder Tränen der Verzweiflung in Merles Augenwinkeln.

Bei Merles Erzählung, was sie im Rahjaschrein gesehen hatte, und erst recht bei Nivards Ausbruch waren sie unwillkürlich stehen geblieben, was es Doratrava leichter machte, Merle zu halten und an sich zu drücken. Zu Nivards Aussage, dass sie beide an Merles Seite standen, hatte sie lediglich genickt. Wenn sie jetzt sprach, fürchtete sie, nicht nur tröstende Dinge zu sagen, mal ganz abgesehen davon, dass Weinen und Sprechen sich sowieso schlecht vertrug, daher verzichtete sie darauf. Lediglich ein gebrochenes “Wir sollten trotzdem weiter” konnte sie sich abringen. Sie glaubte zwar nicht an eine unmittelbare Gefahr, aber ein Risiko wollte sie trotzdem nicht eingehen, nachdem sie nun beschlossen hatten, Lulu und Ciala nicht ohne Bewachung zu lassen.

Als er die Tränen in Merles Augen sah, zog sich der ärgste Zorn - für den Moment, denn besänftigt war er noch lange nicht - zurück und räumte Betroffenheit und  Mitgefühl den vordersten Platz ein. Seine Stimme wurde wieder leiser und weicher, als er noch kurz loswurde, was er auf Merles letzte Worte sagen wollte: "Ihr dürft Euch nicht weiter mit der Suche nach einer Erklärung quälen, für etwas, für das es keine Erklärung gibt, keine gute Erklärung geben kann. Denn alles, was hier geschehen ist und geschieht, ist schlichtweg grundfalsch. Und noch weniger dürft Ihr eine Schuld bei Euch suchen. Nichts davon ist Eure Schuld." Nivard spürte jetzt, da er Merle ansah, wieder den Kloß im Hals, so sehr zerriss ihm sein Mitgefühl das Herz. Er stand schon kurz davor, den Zorn wieder herbeizuwünschen - dieser war nicht nur scharfes Schwert, sondern in solchen Momenten auch eine stabile Rüstung für das eigene Innere. Bevor es um seine Fassung noch schlechter bestellt wäre, griff er rasch Doratravas berechtigten Hinweis auf. “Aber Doratrava hat Recht! Wir sollten weiter. Lulu wartet auf uns.”

Merle fasste sich und lächelte traurig. "Ja, wir sollten weiter. Es hilft ja alles nichts." Die junge Frau machte sich vorsichtig von der Tänzerin los und setzte sich langsam in Bewegung. "Aber irgendwie muss es zum Teil auch meine Schuld sein”, überlegte sie mehr zu sich selbst und starrte nachdenklich ins Leere. “Weil ich nicht erkannt habe, wie unglücklich er mit mir und unserem Bund in Wirklichkeit war. Weil ich nicht gesehen habe, was ihm fehlt. Blind für seine Bedürfnisse war." Müde seufzend blickte sie zwischen Nivard und Doratrava hin und her. "Jedenfalls hab ich vorhin zugestimmt, heute noch mal mit Gudekar und Meta zu sprechen. Zu sehen, ob es eine Lösung für uns gibt; einen Weg, wie wir leben können, ohne uns gegenseitig zu verletzen." Wieder biss sie sich schmerzhaft auf die Unterlippe, bis sie den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge schmeckte. "Aber das war noch unter dem Eindruck von Rahjas Harmonie. Nachdem ich später noch mal mit Gudekar geredet hatte, da hab ich die Hoffnung verloren. Was für eine Art Ehe soll das sein, wo Meta alles für ihn ist und ich nur ein lästiges Anhängsel aus vergangenen Zeiten, an das er nicht erinnert werden will?! Selbst wenn ich ihn zwingen könnte, sich um Lulu zu kümmern und nach außen als braver Ehegatte aufzutreten - am Ende wäre es nur eine grausame, unheilige Farce!" Unvermittelt blieb Merle wieder stehen und atmete tief ein und aus. "Morgen werde ich mit Mutter Liudbirg und Vater Reginbald sprechen und ihn offiziell bei der Traviakirche als Frevler und Eidbrecher anklagen. Dann habe ich sein Leben zerstört." Sie nickte zu sich selbst. “Endgültig.”

Doratrava presste die Lippen zusammen, als sie Merle so reden hörte. Sie musste allerdings mehrere Male schlucken und schniefen, bis sie selbst wieder einigermaßen vernünftig sprechen konnte. “Merle!”, sagte sie dann, halb tröstend, halb aufgebracht. “Such’ die Schuld doch nicht immer bei dir! Wenn Gudekar etwas gefehlt hat, warum hat er es dir nicht gesagt? Warum hat er, statt mit dir zu sprechen … also, vielleicht hat er erst, als Meta ihm schöne Augen gemacht hat - wenn es nicht anders herum war - gemerkt, dass ihm etwas fehlt, aber warum hat er nicht spätestens da mit dir gesprochen? Wenn du ihm wichtig gewesen wärst, dann hätte ich das von ihm erwartet, anstatt dich einfach abzuschieben und mit Meta einen Rahjabund einzugehen. Und jetzt den zweiten, ich kann es ja kaum glauben!” Doratrava musste innehalten und erneut schlucken, damit nicht wieder die Tränen hochkamen. “Merle - ich kenne dich erst seit einem Tag, aber ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass du wirklich blind für Gudekars Bedürfnisse warst! Außerdem - um diese zu erkennen, hätte er ja auch erst einmal da sein müssen, oder? Also hör auf, dir Vorwürfe zu machen! Und wie du schon sagtest, wenn du ihn nun zwingst, nach außen die Fassade des guten Ehemanns und Vaters aufrecht zu erhalten, dann ist das nur eine Lüge. Noch eine Lüge! Mach dich frei von ihm. Ich finde es schade, denn ich habe ihn eigentlich als recht umgänglichen und netten Menschen kennengelernt, der mich im Gegensatz zu manchen der Adligen wenigstens anerkannt hat, aber ich konnte natürlich nicht hinter seine Stirn sehen, und Privates spielte bei unseren gemeinsamen Reisen keine Rolle. Daher: wie nett und umgänglich er sonst auch sein mag, mit dir hat er einen … nein, dir hat er großes Unrecht zugefügt, daran ist nicht zu rütteln. Und ich denke, du kannst nur wieder glücklich werden, wenn du darüber hinwegkommst. Ob du ihn dazu bei der Traviakirche anklagst, musst du natürlich selbst entscheiden, aber wenn das dein Weg ist, dich zu befreien, dann in Travias Namen tu es! Und ich stehe dir bei, soweit es in meiner Macht steht.” Sie spürte eine heftige Gefühlsaufwallung in ihrem Inneren hochkommen, die von ihrer leidenschaftlichen Rede nur noch verstärkt worden war, und blickte zu Nivard und dann zurück zu Merle. “Ich … ich biete dir auch …”, aber jetzt versagte ihr die Stimme. Sie konnte nicht … sie wollte doch … sie musste … durfte sie?

“Doratrava hat Recht, Merle!” fiel Nivard in diesem Moment ein. “In allem, was sie sagt. Sogar - so sehr es mich auch schmerzt, das zugeben zu müssen - aber nach allem, was ich gerade gehört habe, ist das so - in dem was sie als Konsequenz vorschlägt. Es scheint auf den ersten, aber auch auf den zweiten und den dritten Blick nicht mehr viel… nichts mehr zu retten… außer Eurer eigenen seelischen Gesundheit und dem Glück Eurer Tochter.” Der junge Krieger wirkte konsterniert ob dieser Einsicht. “Nur einen letzten Zweifel habe ich an den Schlussfolgerungen noch.”

Nivard blickte nun die Gauklerin prüfend - oder war es hilfesuchend? - an. “Doratrava! Du warst doch jetzt auch an vielen unserer Unternehmungen im Kampf gegen Pruch und zur Heilung der Frevel, die er angerichtet hat, dabei. Könnte es nicht sein, dass… dass nicht nur unsere Leiber manche Wunde davongetragen haben, sondern auch unsere Seelen? Und dass Gudekar, im Streben, dem Guten zu dienen, besonders stark vom Bösen, dem wir ständig ins Auge blickten, verletzt worden ist? Dass es nicht einfach sein untreuer Charakter ist, sondern der Schatten eines leibhaftigen Erzdämons, der auf ihn gefallen ist? Wenn Untreue sein natürliches Wesen ist, ist wirklich nichts mehr zu retten, dann müsst Ihr Euch von ihm befreien. Wenn es aber ein Siechtum ist, das er unfreiwillig erworben hat, so mag es heilbar sein. Mit Travias und der anderen Götter Segen. Und unserer Hilfe.” Nivard wusste selbst nicht, was ihn zu dieser Vermutung trieb - ob er tatsächlich daran glaubte oder nur nicht wahrhaben wollte, dass ein Gefährte, der trotz seiner manchmal distanzierten Weise über die letzten Jahre beinahe so etwas wie ein Freund geworden war, ein solcher Arsch sein konnte.

Im ersten Moment wusste Doratrava nicht, ob sie erleichtert oder erzürnt sein sollte, dass Nivard sie daran hinderte, den in ihr hochgequollenen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, aber sie konnte seine Worte nicht ignorieren. “Ich … will nicht ausschließen, dass der Erzdämon hier seine Finger im Spiel hat. Aber so ganz mag ich nicht daran glauben. Hätte er unter erzdämonischem Einfluss einen Rahjabund eingehen können? Hätte er nicht damals beim Flussfest in Albenhus im Efferdtempel gegen uns arbeiten müssen? Denn wenn er uns da in den Rücken gefallen wäre, wäre die Sache womöglich ganz anders ausgegangen. Und ja, ich war schon ein paarmal mit ihm unterwegs, aber wenn diese ganze Sache mit Meta auf Lolgramoth zurückzuführen ist, dann war das ja sozusagen vor meiner Zeit mit ihm. Vor zwei Jahren habe ich ihn noch gar nicht gekannt und kann daher gar nicht beurteilen, ob er sich irgendwie verändert hat.” Sie zögerte einen Moment, dann fügte sie hinzu: “Eigentlich müssten wir ihn dazu bringen, sich einer Seelenprüfung zu unterziehen, um sicher zu sein.”

"Darüber haben wir vorhin schon mit Tsalinde gesprochen", warf Merle nachdenklich ein. "Gibt es vielleicht die Möglichkeit, dass er sich nicht vollständig der Rastlosen verschrieben hat, aber doch irgendwie unter einer Art... Beeinflussung steht oder stand? Also, damals vor zwei Götterläufen, als das mit Meta angefangen hat?" Sie runzelte die Stirn. "Wenn er nicht wirklich für den Feind arbeitet, aber vielleicht gegen seinen Willen von ihm… gelenkt wurde? Würde das durch so eine Seelenprüfung überhaupt festgestellt werden können?” Sie seufzte traurig und wischte sich fahrig eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. “Ich weigere mich zu glauben, dass Untreue sein natürliches Wesen ist. Gudekar war früher wirklich ein unheimlich liebevoller, aufmerksamer Ehemann! Er war immer sanft und gütig zu mir. Wir haben uns aufeinander verlassen können und ich habe nicht für einen Moment an seiner Treue gezweifelt.” Merle lächelte für einen Wimpernschlag melancholisch, dann runzelte sie die Stirn und hob fragend den Blick. “Aber dann war er auf dieser Hochzeit in Schweinsfold und kehrte völlig verändert zurück. Das kam schon extrem schnell und plötzlich, zumindest aus meiner Sicht. Auch wenn es in den letzten zwei Götterläufen immer wieder… zärtliche Momente gab… Im Grunde war er nach dieser Reise ein anderer Mann. Kalt, abweisend und irgendwie… gleichgültig mir gegenüber.”

Nivard warf Doratrava einen vielsagenden Blick zu. All die Splitter und Scherben setzten sich zusehends zu einem Bild zusammen - einem Schlimmen, einem, das für sie alle, auch für ihn, kein Schmeichelhaftes war.

"Schlagartig? Wie ausgewechselt? Seit der Schweinsfolder Hochzeit, sagt Ihr? Dort sind wir nicht nur mit einer einzelnen Freveltat Pruchs konfrontiert gewesen - Gudekar hat einige davon unmittelbar miterleben, aushalten müssen. Er ist auch mit gegen den Dämon gezogen... in den Sümpfen nahe Hadingen."

Das schlechte Gewissen packte Nivard nun vollends. Hatte Gudekars Seele schon damals schweren Schaden davon getragen? Und er als sein Mitstreiter und Gefährte hatte dies immer übersehen, zwei Jahre schon? Wie hatte er nur so blind sein können?

"Bei der gütigen Mutter - so lange schwärt das Gift bereits in seinem Herzen! Dann braucht er dringend Hilfe - falls seine Seele überhaupt noch zu retten ist. Und wir müssen, entgegen meiner wohl naiven Einschätzung vorhin, doch äußerst vorsichtig sein, was wir ihm anvertrauen dürfen!"

Tsalinde und die anderen Mahner hatten doch Recht gehabt…

Verunsichert blickte Merle Nivard mit ihren tränennassen, braunen Augen an, dann schüttelte sie ängstlich den Kopf. "Nein… Nein, vielleicht klang das jetzt zu hart… ich, ähm… ich glaube eigentlich nicht, dass seine Seele… verderbt ist. Sein Herz ist nicht böse, das möchte ich einfach nicht glauben! Und ich kann mir nicht vorstellen, dass er wirklich seit zwei Götterläufen unter einem Dämonenbann steht! Dafür war er zu lieb bei Lulus Geburt. Und auch vor einem Jahr beim Tag der Heimkehr. Da war er fast normal…" Überlegend spielte sie mit ihrem langen, dunkelblonden Zopf. "Vielleicht hat der dunkle, verderbliche Einfluss ihn damals zum Verrat, zum ersten Frevel mit Meta verführt, getrieben… aber danach hat er aus eigener Entscheidung… weitergemacht? Weil es ihm… gefallen hat?" Wieder verzog sie schmerzhaft das Gesicht und stieß ein leises, gepresstes Schluchzen aus, wie von einem verwundeten Tier. "Ach, ich weiß nicht… selbst, wenn er alles aus Liebe zu Meta tat - wie konnte er mir gegenüber so kalt und hartherzig werden? Wie konnte er mir so schamlos ins Gesicht lügen? Wie kann er mir das jetzt alles antun? Ich verstehe es einfach nicht. Ich verstehe ihn nicht mehr." Sie zuckte mit den Achseln und legte den Kopf in den Nacken, um zum Himmel hochzublicken. "Oder aber… vielleicht ist Meta der verderbliche Einfluss? Vielleicht findet er, wenn er eine Weile von ihr getrennt ist, zu sich selbst zurück - aber in ihrer Nähe verfällt er wieder ihrem Bann und ist ihr zu Willen?"

“Wir sollten jetzt keine voreiligen Schlüsse ziehen”, warf Doratrava ein, die sich wieder halbwegs gefasst hatte, auch wenn Merles Verzweiflung und Zerrissenheit für sie nur schwer zu ertragen waren - wie auch der Gefühlstumult in ihrem Inneren. “In der Welt passieren viele schlimme Dinge, ohne dass gleich immer ein Erzdämon dahintersteht.” Sie fasste Merle bei den Armen und sah ihr eindringlich ins verheulte Gesicht. “Bitte versteh’ das jetzt nicht falsch, aber ich möchte nicht, dass du falsche Hoffnungen hegst. Am Ende war es wahrscheinlich doch Gudekars eigene Entscheidung, und falls der Erzdämon doch seine Hand im Spiel gehabt haben sollte, ist nicht sicher, ob das alles so einfach wieder rückgängig zu machen ist und alles so wird wie zuvor, vor Meta. Mal ganz abgesehen davon, dass die Erinnerungen dich weiter plagen werden.” Und das sage ich nicht nur deswegen, weil ich in dich verliebt bin, versuchte sie sich selbst zu überzeugen.

Dann wandte sie sich nochmals Nivard zu. “Ja, der Verdacht war der Grund, wieso auch ich Gudekar jetzt nicht bei der Versammlung haben wollte, aber ein Verdacht ist kein Beweis, egal, wie es aussieht. Wir brauchen wohl diese Seelenprüfung. Vielleicht müssen wir Gudekar einfach klar und deutlich mit unserem Verdacht konfrontieren und auf die Seelenprüfung bestehen! Dem kann er sich wohl kaum verweigern, wenn er reinen Herzens zu sein glaubt. - Und Merle, du solltest dich vielleicht nicht nochmal allein mit ihm treffen, denn wenn der Verdacht doch zutrifft, kann er dann ja vielleicht sonstwas mit dir anstellen, falls er sich in die Enge getrieben fühlt.”

Doratrava ließ Merles Arme wieder los, um sie wieder an sich zu drücken und ihren Rücken zu streicheln. “Und Meta … offenbar hat sie einen Einfluss auf Gudekar, aber auch der ist eher nicht erzdämonisch. Ich sage nochmal: hätten sie heute, und auch schon beim ersten Mal, einen Rahjabund schließen können, gesegnet von der Göttin der Liebe selbst, wenn dem so wäre? Ich bin keine Geweihte, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass man als eine solche da nichts gespürt hätte.”

Merle zuckte - genauso wie Nivard, der in diesem Moment, nicht zum ersten Mal heute, seine Elvrun oder seine Schwester Relindis an seine Seite wünschte - ratlos mit den Achseln. “Ich könnte es mir nur so erklären, dass diese… Affäre aus einem Zusammentreffen von verderbten und göttergefälligen Kräften entstanden ist. Vielleicht ist Gudekar - und Meta auch - vielleicht sind sie Spielbälle in einer Schlacht, die noch nicht entschieden ist? Kann es sein, dass sowohl die Rastlose als auch Rahja auf Gudekar eingewirkt haben… oder noch einwirken… und das sein getriebenes, widersprüchliches Verhalten erklärt? Nein, ich kenn’ mich mit diesen Dingen wirklich nicht aus… aber sowas wäre wohl auch für die meisten Geweihten nicht festzustellen, oder? Also selbst wenn Gudekar sich zu einer Seelenprüfung überreden lässt - was ich nicht glaube - wenn eine solche ergibt, dass mit ihm alles… in Ordnung ist - selbst dann werde ich meinem Mann wohl nie wieder richtig vertrauen können. Ich weiß ja, dass er mich im Zweifelsfall auch… verzaubern könnte, um mich zum Schweigen zu bringen.” Sie presste unbehaglich die Lippen zusammen und schloss für einen Moment die Augen. “Aber dennoch… Er ist und bleibt mein Ehemann.” Merle schluckte schwer. "Ich liebe ihn. Immer noch. Und ich kann damit nicht einfach aufhören! Glaubt mir, ich versuche es ja!" Nun schossen ihr wieder heiße Tränen in die Augen.

Diese Frau machte sie noch wahnsinnig - in jeder Beziehung. Doratrava spürte, wie auch in ihr schon wieder neue Tränen hochstiegen. Sie drückte Merles Kopf an ihre Schulter und streichelte ihr wieder sanft den Rücken. "Ist es dein Herz, das Gudekar noch liebt, oder ist es dein Verstand? Weil es einfach so sein muss, weil es nicht anders sein kann, sein darf?", murmelte sie mit brüchiger Stimme, obwohl sie am liebsten laut schreien würde. Schreien über die Ungerechtigkeit, welche Merle widerfuhr, über das Leid, das sie dadurch ertragen musste, an dem dieses liebe, gütige Wesen zu zerbrechen drohte, über den Paktierer, dessen Machenschaften sie so in Bedrängnis brachten, dass sie alles, was passierte, unter dem Gesichtspunkt betrachten mussten, dass er dafür verantwortlich sein könnte, auch und gerade das, was mit Gudekar und Merle geschah; aber auch schreien über sich selbst, ihre eigenen Gefühle, über ihre Liebe zu Merle, die keine Hoffnung hatte, wenn das mit Gudekar je wieder in Ordnung kam und die daher hoffte, dass es nie wieder in Ordnung kam, was sich wie Verrat an Merle anfühlte, den sie niemals begehen könnte, und doch schrie alles in ihr danach, ihn zu begehen. Und eine andere Stimme, vielleicht die der Rahja, schrie, dass es niemals Verrat war, den eigenen Gefühlen zu folgen, und vielleicht war das dieselbe Stimme, die Gudekar zu seinem Verrat getrieben hatte.

Doratrava konnte nicht verhindern, dass ein Seufzer aus tiefstem Herzen ihren Mund verließ, fast schon ein verzweifeltes Stöhnen. Mühsam kratzte sie die letzten Fetzen ihres Verstandes zusammen und sagte gepresst: "Ich kann dir nicht sagen, was man genau bei einer Seelenprüfung sieht, aber zumindest wäre dann ein direkter Einfluss Lolgramoths bestätigt oder ausgeschlossen. Und von 'überreden' habe ich nicht gesprochen ..." Hier versagte ihr die Stimme wieder.

Merle nahm Doratravas Worte und sanfte Streicheleinheiten nur unbewusst wahr, während sie in sich nach einer Antwort auf die Frage forschte, ob es ihr Verstand oder ihr Herz war, das Gudekar liebte. “Er ist einfach ein Teil von mir”, hauchte sie schließlich fast lautlos an Doratravas Schulter. “Und ich von ihm. Wenn ich versuche, ihn aus meinem Herzen zu reißen, dann tut es so weh…”

Nivard nickte verständnisvoll. "Natürlich ist Gudekar ein Teil Eures Herzens, denn Ihr habt ein gutes Herz, ein Herz, in dem immer Platz ist für Eure Familie und Freunde, allen voran Euren Gemahl, auch wenn er sich noch so sehr gegen Euch versündigt hat. Deswegen werdet Ihr auch nicht aufhören, um ihn zu kämpfen, solange auch nur ein Fünkchen Hoffnung auf die Rettung Eurer Ehe besteht. Und weil Ihr bereits jetzt einen Platz in unserem Herzen habt, aber auch um der Freundschaft zu Gudekar willen, der gerade dabei ist, den größten Fehler seines Lebens weiter und weiter zu begehen, werden wir Euch dabei helfen."

Nivard räusperte sich, auch um das heftige Nachschwingen dieser ebenso pathetischen wie ernstgemeinten Worte enden zu lassen.

"Und dabei wird der erste Schritt sein, Gudekar der Seelenprüfung zuzuführen. Doratrava hat Recht: Hier geht es nicht mehr länger um Überreden... wir werden diese Prüfung von ihm einfordern. Das muss er einsehen, nach allem was vorgefallen ist.... das wird er auch einsehen, wenn noch ein Rest von dem Gudekar übrig ist, von dem vorsichtigen und bedachten Mann, den wir kannten... oder zu kennen glaubten. Er wird verstehen, dass es sein muss, nicht nur Eurer Ehe wegen, sondern auch für unsere gemeinsame Sache. Misstrauen, der leiseste Zweifel, dass Travias Widersacher bereits unter uns wirken könnte, würde unserer Gemeinschaft erheblichen Schaden zufügen."

Nivard nickte nochmals, zur Bekräftigung seiner Worte. "So, jetzt sollten wir aber wirklich zu Lulu."

Doratrava nickte und entließ Merle aus ihrer Umarmung, um sie dann wieder bei der Hand zu nehmen. Aber jeder Schritt in Richtung ihres Zieles fühlte sich an, als müsste sie sich gegen eisigen Wind einen Berg hinauf kämpfen, denn jeder Schritt brachte sie ab jetzt einer Entscheidung näher, was nun mit Gudekar - und seiner Ehe mit Merle - geschah. Die eigene innere Zerrissenheit, was sie selbst eigentlich wollte, oder vielmehr, wie sie ihre eigenen Wünsche mit denen Merles unter einen Hut bringen konnte, ohne Merle noch mehr weh zu tun, machten ihr das Atmen schwer. Aber sie biss die Zähne zusammen und kämpfte sich vorwärts. Sie war eine Kämpferin, schon immer gewesen, seit sie damals als Kind aus dem Traviatempel ihrer Zieheltern entflohen war. Sie kannte Schmerz und Leid, körperlich wie seelisch, zur Genüge, und ihr war schon mehr als einmal das Herz aus der Brust gerissen worden. Bisher war es zu ihrem eigenen Erstaunen immer wieder nachgewachsen, irgendwann zumindest, wenn auch wohl nicht mehr im selben Zustand wie vorher. Hoffentlich würde es das auch diesmal tun, und hoffentlich so, dass sie damit leben konnte.

All diese Gedanken, dieser innere Kampf äußerte sich lediglich dadurch, dass sie Merles Hand sehr fest hielt und dass sie nicht verhindern konnte, die ein oder andere Träne zu vergießen. Eigentlich wollte sie Merle auch noch klarmachen, dass sie Gudekar nicht aus ihrem Herzen reißen musste, sondern dass er sich dort schon ganz allein herausgerissen hatte. Merle schmerzte nicht der mögliche Verlust Gudekars, sondern das Loch, das er hinterlassen hatte, die schwärende Wunde. Das war zumindest ihre Meinung. Aber sie hatte heute schon so oft auf diese oder ähnliche Weise versucht, Merle zur Vernunft zu bringen, dass sie sich einen weiteren Versuch wohl sparen konnte, vor allem in ihrem eigenen Zustand, der die Worte in ihrem Kopf verschwimmen ließ; es fühlte sich an, als würde der Mahlstrom der Gefühle, die in ihrem Inneren tobten, sie demnächst zerreißen.

“Danke.” Merle nickte Nivard und Doratrava mit einem sanften Lächeln zu. “Danke. Euch beiden. Wisst ihr”, sie blickte verlegen auf den Boden, “...ich hatte bisher nie viele Freunde. Ähm… außer Gudekar.” Sie schwieg eine Weile, während sie den gepflasterten Gutshof betraten. “Ich kann gar nicht sagen, wie viel mir eure Unterstützung bedeutet.”

In einem Anflug, dass die böse, kleine, ironische Stimme in ihrem Inneren, die sich immer so gern als Spielverderber aufspielte, als Galgenhumor bezeichnete, fasste Doratrava Merle nun doch wieder um die Hüfte und zog sie an sich, aber ohne dabei stehenzubleiben. “Egal, was passiert, Freunde werden wir bleiben, auch wenn der heutige Tag und auch dieses Fest zuende sind”, sprach sie mit immer noch oder schon wieder brüchiger Stimme, wobei sie das Wort “Freunde” seltsam betonte. “Und für Freunde gehe ich auch in die Niederhöllen und wieder zurück!” Für einen kurzen Augenblick erlaubte sie sich, ihre mühsam aufrechterhaltene Beherrschung ein wenig zu lockern und küsste Merle auf die Wange.

Schon schien es, als wolle die Gauklerin nicht mehr sagen, aber dann fügte sie leise hinzu: “Auch ich habe nicht wirklich viele Menschen, die ich Freunde nennen könnte.” Auch hier betonte sie das “Freunde” besonders, aber anders als vorher.

"Es braucht auch gar nicht viele Freunde. Es braucht wahre Freunde, Freunde, die in Treue zu einem stehen, die für einen da sind, selbst und besonders, wenn es einem dreckig geht, und auf die man sich immer verlassen kann. Und das könnt Ihr... das kannst Du, Merle," Nivard räusperte sich, "wenn das 'Du' für Dich in Ordnung ist."

Als Doratrava sie an der Hüfte umfasste und auf die Wange küsste, lächelte Merle ihr zu, entspannter und weniger gequält als zuvor, fast ein wenig kokettierend. Dann blickte sie zu Nivard und senkte kurz errötend die Lider. "Ähm, ja, natürlich ist das in Ordnung für mich! Ich hätte Euch, ähm dir, auch das 'Du' angeboten, aber ich war mir nicht sicher, ob das angemessen ist... Ich meine, ich bin ja ohnehin keine Dame von Stand, sondern eigentlich nur eine einfache Magd... und das hier ist alles viel zu viel für mich..." Sie merkte, dass sie zu stammeln begann und biss sich verlegen auf die Unterlippe. Für ein paar Schritte sagte sie nichts, bis sie erneut das Wort erhob: "Ciala wird vermutlich fragen, wie es mit Gudekar steht. Sie hatte gleich was geahnt, als er vorgestern ganz ungeniert mit der Ritterin beim Abendessen reinspaziert ist."

“Ich bin nur eine einfache Gauklerin und mit Nivard schon lange per du”, gab Doratrava zurück. Fast schlich sich so etwas wie ein Grinsen auf ihr Gesicht.

"Genau, es ist mir ganz egal, ob Du eine Dame von Stand oder eine einfache Magd bist. Du hast ein viel edleres Herz als viele Adlige.” Nivard hatte das Gefühl, dass sich Merle viel zu klein machte, nahezu kein Selbstwertgefühl besaß. Hatte Gudekar sie immer so schlecht behandelt, dass sie sich ihm noch immer nicht ebenbürtig wähnte?

“Oh ja!”, warf Doratrava bestätigend ein und küsste Merle gleich nochmal auf die Wange. Wie gut sich das anfühlte!

“Davon abgesehen gehörst Du selbstverständlich einer Adelsfamilie an, und mein Eindruck ist, dass Du dort auch Rückhalt genießt - wenigstens bei Deinem Schwiegervater bin ich mir da sehr sicher. Weißt Du denn, wie Ciala zu Dir... und Gudekars Gebaren steht?"

Merle dachte kurz nach. "Damals, also, als wir zusammengekommen sind, da war Ciala erst gegen mich, so wie auch Kalman. Die wollten nicht, dass Gudekar eine Gemeine heiratet. Aber inzwischen hat sie mich in der Familie akzeptiert und ist sehr lieb zu mir. Sie hilft mir ganz viel mit Lulu und meint immer, ich soll mir nicht alles von ihm gefallen lassen. Als er mit Meta aufgetaucht ist, da hatte sie gleich den richtigen Riecher. Aber", Merle atmete langsam aus, "...wenn sie erfährt, was er getan hat, dann wird sie nicht mehr aufzuhalten sein und ihn eigenhändig zur Schnecke machen. Sie ist sehr traviafromm."

"Klingt, als müsstest Du ihr jedenfalls nichts verheimlichen, was Gudekar angeht. Vielleicht hilft viel Gegenwind aus der Familie auch, den Wahnsinn aus seinem Kopf zu pusten." überlegte Nivard. Und wenn Gudekar auch das nicht scherte, war das nur ein weiteres Indiz für das Wirken Lolgramoths. Diesen Gedanken sprach er aber nicht aus.

Doratrava sagte nichts dazu. Sie kannte Ciala nicht und wusste daher auch nicht, wie sie wohl gegebenenfalls Gudekar “zur Schnecke machen” würde. Merle würde wohl selbst entscheiden müssen, was sie Ciala sagte. Stumm genoss sie Merles Nähe und freute sich darüber, dass diese ein wenig aus dem Tal der Verzweiflung herauszukommen schien.

Merle lachte leise bei der Vorstellung, wie Ciala den Wahnsinn aus Gudekars Kopf 'pusten' würde, wurde dann jedoch wieder ernst. "Ja, vielleicht hilft das. Aber ich möchte ihr jetzt noch nichts sagen. Weil ich ja selber erst mit Gudekar reden muss."

Da lief es Doratrava schon wieder kalt den Rücken herunter. “Merle … willst du das wirklich? Hatten wir nicht gesagt, dass es zu gefährlich sein könnte, wenn du dich allein mit ihm triffst? Und wann willst du das machen? Wir gehen jetzt gleich mit Lulu zum Rat, und da werden wir Gudekar wohl schon auf die Seelenprüfung ansprechen.” Sie schaute Bestätigung heischend zu Nivard. Der nickte entschieden.

“Dann eben nach der Besprechung.” Ratlos zuckte Merle mit den Achseln. “Gwenn hatte vorhin zugesagt, dass sie dabei sein wird… als neutrale Beobachterin. Ich glaube zwar nicht, dass es viel nutzt, weil er ja Meta mitbringen will. Aber ich hab es ihm versprochen. Und dazu stehe ich.” Gereizt stieß sie die Luft aus. “Irgendwie denke ich immer noch, dass es auch in Gudekars Interesse sein müsste, wenn nicht alles an die Öffentlichkeit kommt… aber er scheint sich unbedingt selbst als Frevler bloßstellen zu wollen. Ich verstehe wirklich nicht, warum.”

Doratrava schüttelte den Kopf. “Wie kann er dann auf die Idee kommen, hier einen Rahjabund mit Meta einzugehen? Dass das ja wohl kaum geheim bleibt, müsste ihm doch klar gewesen sein. - Also, ich kann und will dich nicht zwingen, von dem Gespräch mit Gudekar Abstand zu nehmen, aber wenigstens seid ihr da nicht allein zu zweit, wenn Meta und Gwenn anwesend sind. Auch wenn Gudekar wohl kaum unbefangen sprechen wird, wenn seine Geliebte und seine Schwester neben ihm sitzen.” Trotzdem sah man der Gauklerin an, dass sie mit Merles Entschluss nicht einverstanden war. “Aber jetzt schauen wir erst einmal, wie das mit dem Rat läuft. Vielleicht ist danach alles ganz anders.”

"Ich fürchte, dass er im Moment alles tut, was Meta von ihm verlangt. Der Rahjabund war garantiert ihre Idee. Und hier auf der Hochzeit aufzutauchen, bestimmt auch!" grollte Merle. Nachdenklich zog sie die Stirn kraus. "Wenn er nur erkennen würde, wie sehr er unter ihrer Fuchtel steht... Eigentlich müsste ich wirklich noch mal allein mit ihm reden. Vielleicht kann ich dann irgendwie zu ihm durchdringen."

Doratrava verzichtete darauf, erneut zu wiederholen, dass sie das für keine gute Idee hielt. Vielleicht würde sich nun beim Rat irgendetwas ergeben, was sowieso alle Überlegungen zu einem Treffen zwischen Gudekar und Merle zunichte machte, da hatte es keinen Sinn, sich darüber jetzt zu viele Gedanken zu machen. Sie drückte Merle lediglich erneut an sich, um sie ihrer Unterstützung zu versichern.

"Alleine mit ihm reden wäre wahrscheinlich besser als in dieser Viererkonstellation. Jedenfalls halte ich es nicht für klug, zu dieser alleine hinzugehen. Wie sicher bist Du, dass Gwenn wirklich auf Deiner Seite bleibt? Nicht dass Du am Ende alleine gegen drei stehst?" wandte Nivard stattdessen nochmal ein. "Am besten wäre es aus meiner Sicht, zu dritt miteinander zu reden. In Anwesenheit einer Person, die Euch beiden verbunden ist und der viel an Euch beiden liegt. Oder bei einem Geweihten."

"Vermutlich wird es ohnehin nichts bringen. Aber ich glaub’ schon, dass Gwenn mir wirklich helfen will. Eben weil sie mit uns beiden verbunden ist..." Merle stieß müde die Luft aus, sichtlich überfordert von der gesamten Situation. Nach einigen Schritten hob sie zögernd den Blick. "Mit ihr hatte ich vorhin noch über eine weitere Möglichkeit gesprochen. Aber ich weiß nicht, ob ich das kann... Oder sollte. Gwenn meint, ich könnte versuchen, ihn und Meta auseinanderzubringen." Vorsichtig schaute sie in Doratravas und Nivards Gesichter, um darin eine Reaktion zu lesen. "Wenn sie... fort wäre, dann könnte ich wieder zu ihm durchdringen. Dann würde mein Mann sich vielleicht an das erinnern, was wir miteinander hatten. Wie glücklich wir waren.” Sie hob die Schultern und blickte fast verträumt in die Ferne. “Und wenn es eine Chance gäbe, das zurückzubekommen, ihn zurückzubekommen, dann sollte ich ihn nicht vorschnell... zerstören."

"Du bist ein guter Mensch. Achte zuallererst darauf, dass Du Dich selbst nicht zerstören lässt, nicht selbst an alldem zugrunde gehst, Dich von Rache zerfressen lässt." mahnte Nivard besorgt ob letzten Worte Merles. "Denn um Rache sollte es nicht gehen, sondern um Heilung, die Heilung Deiner Wunden, die Rettung Deiner Ehe. Und - so erforderlich - die Rettung der Seele Gudekars.” Nivard dachte kurz nach. “Wahrscheinlich wäre es aber schon gut, die beiden auseinanderzubringen. Ich kann diese Meta halt schlecht einschätzen - vielleicht reicht es ja schon, ihr mal eindringlich ins Gewissen zu reden, damit sie sich darüber klar wird, was sie angerichtet hat."

“Tut mir leid, aber ich glaube, sie weiß sehr wohl, was sie da anrichtet”, ließ sich nun Doratrava vernehmen, mit ärgerlich zusammengezogenen Brauen. “Sonst hätte sie doch niemals zugestimmt, hier, auf der Hochzeit von Gudekars Schwester, unter Merles Nase, einen Rahjabund mit Gudekar einzugehen. Zudem müsste sie ja nun diesen brechen, um Gudekar freizugeben, ich glaube nicht, dass sie das vorhat. Und Gudekar sicher auch nicht. Tut mir leid”, wiederholte die Gauklerin nochmal, recht grimmig.

"Wahrscheinlich hast Du Recht.” räumte Nivard ein. “Ich kenn sie halt nur flüchtig, und der erste Eindruck bei mir war, dass sie schneller und großkotziger plappert als denkt. Wenn sie so auch an das rangeht, was sie für Liebe hält…” Der junge Krieger verzog nachdenklich das Gesicht, ehe er den Kopf schüttelte. “Aber nein, Du hast wirklich Recht: so blind kann ein erwachsener Mensch einfach nicht sein. Jedenfalls darf sie es nicht."

Niedergeschlagen senkte Merle den Blick. "Ich wünschte, sie würde sich irgendeinen anderen Mann suchen und nicht meinen wegnehmen", murmelte sie mit schwacher Stimme. "Warum muss sie unbedingt eine Familie auseinanderreißen?" Wieder verfiel sie in düsteres, brütendes Schweigen.

“Weil sie ein grober Klotz ist und vermutlich nicht viel in der Birne hat”, antwortete Doratrava recht heftig und drückte Merle wieder tröstend an sich. “Wir sind da”, erklärte sie dann überflüssigerweise, als sie vor der Tür des Gutshauses standen.

Nivard hatte Doratravas Einschätzung wenig hinzuzufügen, umschrieb sie doch nur etwas unverblümter, was er gerade gesagt und auch gemeint hatte.

"Ein grober Klotz braucht einen groben Keil." murmelte er daher nur, ehe er ganz verstummte und die Türklinke nach unten drückte...

Schwebende Bauklötze

Trotz all der vielen kleinen Unterbrechungen auf ihrem Weg – ein Außenstehender wäre nie auf die Idee gekommen, dass hier eine Gruppe furchtloser Recken und Reckinnen unterwegs war, um ein Kleinkind und dessen Tante vor dem Angriff eines Dämonenpaktierers zu beschützen – kamen Merle, Doratrava und Nivard dann doch noch irgendwann auf dem Gutshof an. Die Nachfrage bei der Hofmagd Wiltrud ergab, dass sich Ciala von Weissenquell zusammen mit ihrer Tochter Madalin und ihrer Nichte Liudbirg Rotrude in Friedewalds Arbeitszimmer im ersten Stock aufhielt. Wiltrud führte die heldenhaften Retter nach oben. Als Doratrava, Merle und Nivard in die Schreibstube traten, saß Ciala mit Lulu auf dem Schoß in Friedewalds gemütlichem Sessel am Kamin und las ihr eine Geschichte vor. Madalin saß im Schneidersitz auf einer Truhe, das Fenster im Rücken gab ihr genügend Licht für die Stickarbeit, mit der sie sich beschäftigte.

Madalin blickte auf, als die Neuankömmlinge das Zimmer betraten. „Ah, Merle“, begrüßte das Mädchen ihre Tante freudig. „Kannst du mir bitte noch einmal den Kreuzstich zeigen?“

“Natürlich, meine Süße. Ich muss aber erst mit deiner Mutter reden, ja?” Merle nickte Madalin lächelnd zu und wandte sich dann zu Ciala. Sie kniete sich neben deren Sessel, strich ihrer Tochter liebevoll übers Haar und drückte ihre Schwägerin kurz an sich. Für Nivard und Doratrava mochte es überraschend wirken, wie gefasst, geradezu fröhlich Merle sich nun plötzlich gab. “Ciala, es tut mir so leid, dass ich dich den ganzen Tag mit Lulu allein gelassen habe! Ich hatte die ganze Zeit schrecklich viel um die Ohren.” Sie schaute in Richtung ihrer Begleiter. “Das hier sind der hohe Herr von Tannenfels und die Frau Doratrava - du weißt schon, die berühmte Künstlerin, die auf dem Fest auftritt.”  

Erleichtert drückte Ciala Merle fest an sich. „Travia sei Dank, dass dir nichts passiert ist. Ich war mit Lulu auf unserem Zimmer, als dieser furchtbare Sturm kam und sie hatte so Angst, die Arme.“ Aufmunternd schob sie das kleine Mädchen zu seiner Mutter. „Herr von Tannenfels, Doratrava, meinen aufrichtigen Dank, dass Ihr Merle sicher zu uns gebracht habt. Setzt Euch, hier im Schoße der Familie sollten wir sicher sein.“ Neugierig betrachtete sie Doratrava, die allerdings in ihrer unter dem Mantel getragenen geliehenen, viel zu weiten Kleidung, die bis zu den Knien mit Schlamm bespritzt war, und den noch immer nicht trockenen weißen Haaren, die ihr etwas wirr ins Gesicht hingen, gerade nicht sonderlich beeindruckend aussah. Wohl eine besondere Halbelfe, wie sie sie noch nie gesehen hatte. „Doratrava, was für ein hübscher Name.“ Es war ein gutes Zeichen, dass diese Frau Travia im Namen trug. „Euch muss kalt sein, wir sollten hier bleiben, etwas warmes trinken oder etwas essen. Wie eine Familie werden wir zur gütigen Mutter beten. Sie wird uns schützen. Erzählt, wie geht es den anderen? Meinem Mann, meinem Schwiegervater und der kleinen Mika?“

Ciala schien nett zu sein, aber bevor Doratrava etwas Freundliches erwidern konnte, erhob bereits Merle ihre Stimme.

"Ähm…" Merle räusperte sich kurz. Wo sollte sie anfangen? Zunächst zog sie mit einem erstickten Seufzen ihre Tochter fest an sich. "Ach, meine arme, süße, kleine, unglaublich tapfere Lulu…" murmelte sie zärtlich in das Ohr des kleinen Mädchens, "...ich hab dich so, so sehr vermisst! Es tut mir schrecklich leid, dass ich bei dem bösen Sturm nicht bei dir war…" Liebevoll fuhr sie dem Kind mit den Fingerspitzen durch das zarte blonde Haar und drückte sachte Küsse auf Lulus Wange, sichtlich bemüht, nicht wieder weinen zu müssen. Sie war Ciala unendlich dankbar, dass sie die Kleine getröstet und sich so lieb um sie gekümmert hatte. Zart strich Merle ihrer Schwägerin über den Handrücken und schaute ihr schließlich mit einem traurigen Lächeln in die Augen. "Wir kommen gerade von Friedewald", berichtete sie leise, aber eindringlich. "Leider gibt es… schlimme Nachrichten." Die junge Frau zögerte, es vor Madalin auszusprechen, doch auch das Mädchen würde beschützt werden müssen und musste verstehen, warum. "Der Feind hat die Familie eines Mannes angegriffen, der zusammen mit Gudekar gegen ihn vorgegangen ist. Radulf von Grundelsee", erklärte sie. "Vater Friedewald hat daher entschieden, dass wir stets beschützt werden müssen." Sie blickte hilfesuchend zu Nivard und Doratrava, in der Hoffnung, dass diese es besser erklären könnten.

Nivard nickte Merle aber nur bestätigend zu. Er fand die Erklärung so zunächst sehr gut und fürs erste ausreichend.

„Wer ist denn der Mann, von dem du da redest, Merle?“ fragte Madalin neugierig. „Kenne ich ihn?“

Ciala wurde bleich, gleichzeitig wuchs in ihr der unterdrückte Groll gegen Gudekar. Sie wandte sich an ihre Tochter. „Liebes, vielleicht hast du ihn beim Pelura gesehen, aber du kennst ihn eigentlich nicht.“ Dann sah sie Merle und den Ritter ernst an. „Das sind schreckliche Neuigkeiten. Wir bleiben also am besten hier? Die anderen sind aber auch in Sicherheit? Ach, ich hatte schon so ein seltsames Gefühl, als dein Mann kam. Da stimmt doch was nicht. Warum ist er nicht bei dir?“ Sie erhob sich und trat näher zu den Erwachsenen. So leise und beiläufig wie möglich sprach sie die drei an. „So genau weiß ich nicht Bescheid, aber diese Beschützerin, die er da angeschleppt hat. Mit der stimmt garantiert was nicht."

Nivard merkte auf.

Merle versuchte weiterhin ruhig zu atmen. "Nein, mit der stimmt was nicht" flüsterte sie ganz leise und nickte vielsagend, damit Madalin nichts mitbekam. "Aber bitte unternimm' erstmal nichts. Ich möchte nachher noch einmal privat mit Gudekar reden, bevor ich entscheide, was ich tue. Das hab ich ihm versprochen. Soviel bin ich ihm schuldig. Bis dahin lass' uns den Ball flach halten, ja?" Lauter fuhr sie fort: "Es gibt keine unmittelbare Gefahr, soweit man das sagen kann. Deshalb versuch' dich nicht verrückt zu machen. Bitte, Ciala." Der beklommene Ausdruck auf Merles bleichem Gesicht strafte ihre beruhigenden Worte Lügen, auch wenn sie sich bemühte, in alltäglicher, sachlicher Stimmlage zu sprechen. "Doch niemand von uns sollte allein bleiben, auch nicht für ganz kurze Gänge zur Waschküche oder zu den Ställen. Vater Friedewald sagt, du sollst in Kalmans Nähe bleiben."

Doratrava wollte sich nicht einmischen, außerdem hatte sie keine Ahnung, wohin man Ciala mit ihrer Tochter schicken sollte, das sollte Merle regeln. Sie schaute sich um und sah ein paar Holzklötzchen auf dem Boden liegen, vermutlich Spielzeug von Lulu. Schnell bückte sie sich und hob vier Klötzchen auf, dann unterdrückte sie all ihre innere Zerrissenheit und Trauer, so gut es ging, und grinste die beiden Kinder an, um dann wortlos mit den Klötzchen zu jonglieren. Das war nicht ganz einfach, da die Holzstückchen eigentlich zu leicht und auch alle unregelmäßig geformt waren, aber es gelang ihr trotzdem tadellos, und es lenkte sie auch ein wenig von ihren düsteren und nicht ganz so düsteren Gedanken ab.

Nicht nur die Kinder freuten sich an Doratravas spontaner Darbietung, auch auf Merles Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus, das die Grübchen an ihren Wangen hervortreten ließ. Ihre tränengeröteten Augen begannen begeistert zu funkeln, als sie die Hand ausstreckte, um Lulu auf die herumwirbelnden Klötzchen aufmerksam zu machen.

Madalin applaudierte stürmisch, als Doratrava fertig war. „Das ist ja wundervoll! Kannst du mir zeigen, wie man das macht?“ fragte sie, nahm sich auch vier Holzklötzchen und warf sie in die Luft... mit dem Erfolg, dass sie scheppernd zu Boden fielen, bevor Madalin auch nur einen wieder gefangen hatte.

„Lulu auch, Lulu auch!“ rief Lulu und schmiss weitere Bauklötze ziellos durch das Zimmer.

Doratrava lachte auf, nicht zuletzt, weil Merle sich so freute, warf die Klötzchen etwas höher, und als sie alle vier in der Luft waren, drehte sie sich einmal blitzschnell um ihre Achse, um dann weiterzujonglieren, als wäre nichts geschehen. Dabei antwortete sie Madalin: "So, wie es Lulu macht, kann ich dir gleich zeigen. Das, was ich hier tue, dauert etwas länger. Aber du kannst schon mal selbst anfangen, am besten mit zwei Bällen. Vielleicht habe ich morgen ein wenig Zeit, um dir ein paar Sachen beizubringen."

Ciala verstand genau, was Merle ihr sagen wollte, nickte ernst angespannt. „Sorge dich nicht, ich mische mich erstmal nicht ein.“ Doratravas Spiel lenkte sie dann ab und sie lächelte glücklich. Die Elfe brachte Heiterkeit und lockerte die Stimmung auf. „Wie geht es weiter? Soll ich mit den Kindern hier auf Kalman warten oder bringt ihr uns irgendwo hin? Oh, und Doratrava und du, ihr bleibt doch bei uns?“ Sie suchte nun den Blickkontakt zu Nivard. „Herr von Tannenfels, Ihr werdet wahrscheinlich zum Schutze oder zum Kampf gebraucht? Gerade weil Ihr doch…. Merles Angetrauten  und die Situation insgesamt sehr gründlich kennt.“ Sie wollte weder laut den Paktierer noch Gudekar, mit dem sie noch ein Entchen zu rupfen hatte, namentlich erwähnen.

Merles Lächeln schwand, als sie über Cialas Frage nachgrübelte. "Kalman ist nicht hier im Haus? Hm, wahrscheinlich organisiert er die Suche nach Gwenn..." Als sie den fragenden Blick ihrer Schwägerin bemerkte, erklärte sie: "Scheinbar hat sie trotz des Sturms eine Brautentführung durchgezogen. Aber keine Sorge, die Frau Herlinde, Marno und Bernhelm sind bei ihr. Und Brun auch, glaube ich. Ich würde vorschlagen…", Merle zog nachdenklich die Stirn kraus, "...lasst uns doch alle zusammen Richtung Dorfplatz gehen und dort nach Kalman sehen. Das dürfte sicherer sein, als wenn wir uns wieder aufteilen?" Nun blickte sie wieder ratsuchend zu Doratrava und Nivard.

“Hört sich gut für mich an”, sagte Doratrava, ohne zu Merle zu blicken, da sie ihre Holzklötzchen im Auge behalten musste. Mittlerweile jonglierte sie abwechselnd unter dem linken und dem rechten Oberschenkel hindurch.

“Auf jeden Fall!” pflichtete Nivard bei.

Es klopfte an die Tür und ehe jemand reagieren konnte, öffnete sie sich einen Spalt breit. Hinein lugte der Kopf von Lukardis von Weissenquell.

“Mutter?”, fragte der Knappe leise. “Mutter, bist Du hier?” Der Junge hatte rote Augen und wirkte leicht neben sich.

Doratrava zuckte leicht zusammen, als die Tür sich so unvermittelt öffnete, so dass sie beinahe eines der Klötzchen verlor. Als sie den Kopf kurz zur Tür wandte und das anscheinend verheulte Gesicht eines Jungen sah, stellte sie ihre Darbietung allerdings zunächst ein und schaute fragend zu Ciala und Merle.

Ciala lief sofort zu ihrem Sohn und drückte ihn fest an dich. „Mein Kleiner, du warst ja so tapfer.“ Mit dem Finger wischte sie vorsichtshalber sanft unter seinen Augen. „Was ist passiert?“ Dann gab sie ihm einen zärtlichen Kuss auf die Backe.

Lukardis schmiegte sich an seine Mutter und brauchte ein paar Augenblicke, bevor er antwortete: “Meister Yendan, unser Kundschafter, er… er hat… die Jagd nicht überlebt.” Seine Augen füllten sich erneut, doch versuchte er, die Tränen zurückzuhalten.

Merle schenkte Lukardis ein sanftes, mitleidiges Lächeln. "Lukardis, weißt du, wo dein Vater ist?" fragte sie leise.

“Ähm, nein, warum?”, fragte er verwirrt.

Merle sah den Knappen ernst an. Ihr war klar, dass Lukardis schon tief erschüttert wegen des Todesfalls bei der Jagd war, doch musste auch er informiert werden. "Es gab schlechte Nachrichten. Der... Feind, du weißt schon, gegen den Gudekar und seine Gefährten ermitteln", sie wies mit ihrer Hand zu Doratrava und Nivard, "...er hat in Flusswacht zugeschlagen. Deshalb sorgt sich Vater Friedewald, dass unsere Familie auch in Gefahr sein könnte."

“Was!”, Lukardis riss die Augen auf. “Vielleicht ist Yendan deshalb gestorben. Vielleicht hat er ihn oder die Säue verzaubert oder… oder es waren Dämonensäue!” Lukardis schlug sich die Hand vor den Mund. “Wir… wir müssen alle warnen”, sprudelte es dann aus ihm heraus.

"Ja, wir warnen alle", sagte Merle mit betont ruhiger und leiser Stimme, in der Hoffnung, dass dies ein wenig auf den Jungen abfärben würde. "Aber wir sollten auch aufpassen, dass es keine Panik unter den Leuten gibt. Auf jeden Fall müssen wir alle aufeinander achtgeben."

“Aber… das sind Dämonen und… und ein Paktierer. Ein sehr gefährlicher Paktierer. Wieviele sollen denn noch sterben?”

Als das Wort ‘Dämonen’ fiel, schaute Madalin erschrocken auf, lief zu ihrer Mutter und schmiegte sich schutzsuchend an sie. Sie lauschte aufmerksam, jedoch ohne ein Wort zu sagen.

"Wenn wir es verhindern können, niemand mehr", erklärte da Doratrava mit überraschend fester Stimme, ihre smaragdgrünen Augen blitzen, während sie die Hände mit den Klötzchen sinken ließ. Sie wusste, dass sie es vermutlich nicht würde verhindern können, aber der Junge schien ihr kurz davor, hysterisch zu werden, und das letzte, was sie jetzt brauchen konnten, war, dass er schreiend nach draußen lief und der Dorfbevölkerung vom drohenden Ende der Welt predigte.

Doratrava sah Lukardis fest in die Augen und versuchte, seinen Blick zu halten. "Aber wir können es nur verhindern, wenn alle hier ruhig und besonnen bleiben."

Merle nickte Doratrava dankbar zu. "Wir hatten eigentlich gehofft, dass Kalman hier wäre, damit er auf deine Mutter und Madalin aufpassen kann", erklärte sie dem Knappen. "Wäre es vielleicht möglich, dass du sie zum hohen Herrn von Storchenflug und seiner Lanze geleitest?" Sie schaute ihre Schwägerin fragend an. "Ciala, vielleicht könntest du dich ein wenig um die Trauernden kümmern? In ihrer Mitte wärst du auf jeden Fall sicher."

“Der Hohe Herr und seine Lanze hält gerade Totenwache, ich weiß nicht, ob das ein geeigneter Ort ist für…”, er blickte vielsagend in Richtung der Jüngsten.

Merle nickte verstehend und runzelte nachdenklich die Stirn. "Hm, aber welche waffenfähigen Leute könnten dann auf Ciala und Madalin achten?"

“Wir könnten vielleicht in den Raum neben… Yendan… gehen. Bei der Totenwache muss man sich eh abwechseln und dann könnten sich die Leute bei uns ausruhen. Und bei Gefahr sind dann immer welche mit uns zusammen und weitere im Raum nebenan.”

"Das wäre gut, denke ich", sagte Merle ernsthaft. "Danke, Lukardis." Erleichtert stellte sie fest, dass der Knappe sich nunmehr auf das weitere Vorgehen konzentrierte und nicht mehr ganz so panisch wirkte. Dennoch blickte sie fragend zu Nivard, ob der Krieger einverstanden war.

"Ist gut, so machen wir es. Aber ein Wort noch: Das Schicksal Yendans, das mir von ganzem Herzen leid tut, dürfte wohl nichts mit dem Paktierer zu tun haben. So sehr auch ich ein Mahner zur Vorsicht bin und in allem nach Hinweisen auf den Feind suche, so muss ich doch einräumen, dass es schlicht die Gefahren in Firuns Reich waren, die sein Leben genommen haben - Gefahren, denen wir uns alle aussetzen, wenn wir uns hineinbegeben, und um die auch Yendan wusste. Das macht seinen Tod nicht weniger tragisch, nicht weniger schmerzhaft - dennoch müssen wir keine dämonischen Schweine fürchten, sondern die Augen vielmehr offen halten, dass sich kein menschlicher Feind in unserer Mitte befindet oder uns im Verborgenen auflauert."

Da der Junge sich beruhigt zu haben schien, hatte Doratrava ihn auch schon längst wieder aus ihrem Blick entlassen. Stattdessen widmete sie sich wieder der Ablenkung der Kinder. Dazu war sie vor beiden in die Hocke gegangen und hatte begonnen, die Klötzchen auf ihrem rechten Zeigefinger zu einem Turm zu stapeln, den sie auf dem Finger balancierte. Erst bestand der Turm aus drei Klötzchen, dann aus vier, dann stapelte sie ein fünftes der unregelmäßig geformten Klötzchen darauf, dann ein sechstes, und ein siebtes … und der Turm fiel zusammen, direkt Lulu vor die Füße. Doratrava grinste Lulu und Madalin an und zuckte die Schultern. “Das passiert, wenn man es übertreibt”, scherzte sie leise, um das Gespräch um die Sicherheit Cialas und Madalins nicht zu stören.

Lulu lachte herzhaft, als der Turm zusammenstürzte. “Nochmal!” rief sie und versuchte Doratrava einen Baustein auf den Finger zu legen, der aber sofort wieder herunterfiel. Madalin hingegen blieb unbeeindruckt und schaute immer noch leicht verstört ihren großen Bruder an.

“Alles wird wieder gut, Linny. Der Hohe Herr Rondrard und ich, wir beschützen euch schon.” Lukardis lächelte zaghaft und legte seine Hand auf Madalins Kopf.

“Auch vor den Dämonen?” fragte seine Schwester nun zaghaft.

"Dafür sind Ritter und Knappen doch da", sagte er tröstend, "um Prinzessinnen in Not zu retten." Natürlich war ihm klar, dass das hier kein Märchen war.

Schön wär’s, dachte Doratrava bei sich und schaute Merle mit einem weichen Ausdruck in den Augen von unten an. Es gab leider Prinzessinnen mit Nöten, gegen die Waffengewalt nichts half. Aber gleich forderte Lulu wieder ihre Aufmerksamkeit, die weiter versuchte, Bauklötzchen auf ihren Finger zu stapeln. Die Gauklerin schüttelte den Kopf und lächelte, dann hielt sie Lulu die flache Hand hin und legte eines der Klötzchen auffordernd darauf. Das war eine Aufgabe, die das kleine Mädchen vielleicht eher schaffte, als diese auf ihrem Finger zu stapeln.

Ciala hatte mittlerweile Madalin zu sich genommen. “Wäre es nicht besser, wenn ich mit Lukardis, Madalin und Lulu neben besagtem Raum bleibe? Dann sind die...”, sie wollte nicht  Kleinen sagen, da sie ihren Sohn stärken wollte, “...Kinder und Lukardis alle mit mir zusammen und sicher.”

Merle kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Alles in ihr schrie danach, Lulu jetzt bei sich zu behalten, nachdem sie sie schon fast den ganzen Tag bei Ciala gelassen hatte. Andererseits war der ‘Kriegsrat’ vermutlich wirklich nicht der richtige Ort für ein Kleinkind und Friedewald legte aus unerfindlichen Gründen ja Wert darauf, dass sie als Eingeweihte dabei war. Sehnsüchtig blickte sie zu ihrer Tochter, ihrem wundervollen lieben Schatz, und musste breit lächeln, als sie beobachtete, wie Lulu mit ihren kleinen Händen eifrig Bauklötze auf Doratravas Handfläche packte. Sie atmete tief durch und drehte sich zu Ciala. “Ja, das wäre wohl besser, denke ich.”

Nivard blickte nicht vollends überzeugt drein. Auf einem Kriegsrat mochte Lulu nicht ideal aufgehoben sein, dafür gab das Mädchen aber Merle Halt, wie er an deren besseren Verfassung, seit sie hier angekommen waren, bestens beobachten konnte. "Solange allen vollkommen klar ist, die Kinder nie aus den Augen lassen zu dürfen und mit mindestens zwei Kampffähigen beschützen zu müssen, mag auch das nicht verkehrt sein." Auch seiner Stimme war ein Restzweifel anzuhören.

Merle straffte ihren Oberkörper und zwang sich, die Entscheidung nicht länger herauszuzögern. "Ja, gut, machen wir es so und ich lasse Lulu erstmal bei Ciala in der Obhut des hohen Herrn Rondrard und seiner Leute. Wenn das in Ordnung für dich ist, Ciala?" Plötzlich von Emotionen überwältigt, zog sie ihre Schwägerin in eine enge Umarmung und drückte ihr einen zarten Kuss auf die Wange. "Ciala, danke. Vielen Dank! Ich glaube, ich hab dir viel zu selten gesagt, wie dankbar ich dir bin... Du warst so oft für mich da, wenn ich traurig war in den letzten zwei Jahren, hast mir soviel mit der Kleinen geholfen… das alles kann ich dir nie wieder vergelten! Es war fast, wie eine große Schwester zu haben…" Merle schluckte; sie wollte nicht schon wieder in Tränen ausbrechen. Noch einmal drückte sie Ciala fest an sich. "Ich komm’ wieder, so schnell ich kann, ja?"

Als Doratrava das hörte, legte sie gegen den Protest Lulus die Klötzchen beiseite und hob das Kind dann auf, um es zu Merle zu bringen, denn diese wollte sich sicher nochmal von ihrer Tochter verabschieden. “Lulu darf Mama einen Kuss geben, denn Mama muss nochmal fort”, raunte sie der Kleinen zu, während sie diese im Arm hielt. “Schau, so!” Und dann nutzte sie schamlos die Gelegenheit, um selbst Merle nochmals auf die Wange zu küssen, wobei sie dieser zuzwinkerte. Vielleicht heiterte sie das wieder auf.

Lukardis wurde rot und schaute beschämt zu Boden.

Merle küsste ihre Tochter zärtlich auf die Stirn, während sie ihr liebevoll mit den Fingerspitzen über die Wange streichelte. "Mama ist bald wieder da, meine Süße...", seufzte sie dem kleinen Mädchen leise ins Ohr. Noch einmal drückte sie Lulu fest an sich, dann schaute sie Doratrava in die Augen und lächelte sie liebevoll an. Als Merles Blick auf ihren errötenden Neffen fiel, wurde ihr Lächeln schiefer und kecker. Wahrscheinlich hatte der Junge Angst, sie würde ihm auch noch einen Schmatzer auf die Wange drücken.

Na, das hat wenigstens geklappt, dachte Doratrava bei sich und merkte, wie ein wenig ihrer eigenen Unbeschwertheit zurückkehrte. Allerdings gestand sie sich auch ein, dass diese Anwandlung wohl kaum den kommenden Rat überstehen würde. Hoffentlich gab das nicht wieder so ein unsägliches Palaver wie vor einem Jahr in Schneidgrasweiler, als sie sich dort mit den meisten der anderen Ermittler getroffen hatte, um das weitere Vorgehen zu beraten. Sie schauderte jetzt noch, wenn sie daran zurückdachte.

Sie strich diese unerquicklichen Gedanken aus ihrem Kopf und fuhr stattdessen Merle mit dem Daumen sanft über die Wange. “Viel besser”, flüsterte sie lächelnd.

Nivard gefiel nicht, wie Doratrava noch immer die körperliche Nähe Merles suchte. Ja, sie hatte ihm gesagt, was sie für Gudekars Frau empfand. Aber sie hatte es doch auch selbst gehört, dass Merle Gudekar trotz allem noch liebte. Merle brauchte jetzt alle Unterstützung, die sie für ihren Kampf um ihre Familie bekommen konnte und nicht noch mehr emotionale Verwirrung, Kräfte, die sie weg von ihrer Familie zogen.

"Genau! Lasst uns direkt aufbrechen!" drängte er daher. "Damit Deine Mama umso schneller wieder bei Dir ist, Lulu!"

Doratrava zog ein wenig die Nase kraus, denn Nivards missbilligende Blicke entgingen ihr nicht, und es konnte wohl nur einen Grund dafür geben. Die Gauklerin schätzte sich selbst als sehr hilfsbereit ein, manchmal gar als zu hilfsbereit, denn das (und ihre ausgeprägte Neugier) hatte sie schon manchmal nahezu in des Namenlosen Küche gebracht, was fast wörtlich zu nehmen war, und eben auch zu den Ermittlern. Aber so hilfsbereit sie auch war - selbstlos war sie nicht, oder nur manchmal. Wenn es um Liebesdinge ging, dann ganz sicher nicht. Vielleicht war das ein Erbe ihrer über-travianischen Erziehung, die nun etwas in ihr bei jeder Gelegenheit zu überkompensieren versuchte. Oder vielleicht war das einfach ihre Art. Und warum sollte sie gegen ihre Art ankämpfen? Das brachte auf längere Sicht nur Ärger, Verdruss und Verbitterung, und darauf hatte sie keine Lust.

Also ignorierte sie Nivards Blicke und hakte sich fast zum Trotz bei Merle unter. “Also, bringen wir es hinter uns”, erklärte sie dazu.

Merle nickte und ließ es bereitwillig zu, dass Doratrava sich bei ihr unterhakte. Den Ausdruck auf Nivards Gesicht wusste sie wohl zu deuten; sie kannte diesen von heute früh, als er sie beide geweckt hatte. Die junge Frau rollte leicht mit den Augen, selbst davon überzeugt, die Situation unter Kontrolle zu haben. Lieb zu einer Freundin zu sein, das war ja wohl erlaubt, dachte sie sich.

Nivard seufzte lautlos in sich hinein. Würde er Doratrava nicht besser kennen und zugleich auch nicht wissen, dass Gudekars verhängnisvolle Liaison mit Meta nicht hier, sondern schon deutlich früher und an anderer Stelle begonnen hatte, würde er anfangen zu glauben, dass Pruch und Lolgramoth dieses Tal hier längst vergiftet und in ihren Klauen hatten, so untravianisch sich hier viele verhielten. Wenigstens schien Merle auch nicht begeistert von Doratravas aufdringlichem Verhalten, wie ihr Augenrollen verriet. Er musste es der Gauklerin nachher noch einmal schonend beibringen. Aber nicht hier vor aller Leute Augen, und auch nicht in Anwesenheit Merles.

"Gut, dann bis nachher!" verabschiedete er sich stattdessen nur von den anderen, die sie hier zurückließen.

Ciala hatte Merles Umarmung herzig erwidert und zog sich nun mit den Kindern von der Gruppe zurück. „Macht dir keine Sorgen, Merle. Anders kann ich nicht helfen und ich werde auf die Kleinen acht geben, wie die Gans auf ihre Küken. Außerdem werden wir ja von fähigen Recken bewacht.“

Unendlich dankbar und voller Liebe blickte Merle Ciala in die Augen, dann wandte sie sich mit Doratrava zum Gehen.

Schließlich führte Lukardis seine Mutter und die beiden Mädchen zu dem Aufenthaltsraum von Rondrards Lanze, wo auf sie aufgepasst werden sollte.


Kriegsrat im Herrenhaus

Die Zusammenkunft

Schlimme Nachrichten hatten Lützeltal erreicht. Bereits vor zwei Tagen brachte ein berittener Bote zu später Stunde einen Brief zum Gutshof, der an Gudekar von Weissenquell adressiert war. Da der Anconiter jedoch nicht in der Kammer seiner Frau Merle Dreifelder von Weissenquell übernachtete, sondern sich bei seiner Geliebten einquartierte, nahm Bernhelm Lützelfisch, der Knecht und Berater des Edlen den Brief in Verwahrung. Im Laufe des Tages, während die Jagd in Gange war, übergab Bernhelm den Brief an Gudekars Frau Merle und seine Schwester Gwenn, damit diese den Brief dem Magier übergaben. Doch das taten sie nicht. Stattdessen öffnete Merle den Brief selbst - heimlich. Geschockt über die Nachricht zog sie ihre Freundinnen Tsalinde von Kalterbaum und Doratrava sowie ihren Freund Nivard von Tannenfels zu Rate. Alle drei gehörten auch zu Gudekars Weggefährten auf der gemeinsamen Mission zur Erneuerung des Herzens der Nordmarken. Gemeinsam beschlossen die vier, den Edlen Friedewald von Weissenquell zu informieren, der wiederum vorschlug, einen Rat einzuberufen, an dem in erster Linie alle in die Ermittlungen gegen den Lolgramoth-Pakierer Jast-Brin von Pruch Eingeweihten, Wohlgeboren Eoban von Albenholz, Wohlgeboren Lares von Mersingen, Corwyn von Dürenwald, Seine Gnaden Rionn und sein Novize, teilnehmen sollten, aber auch weitere hochrangige Adelige wie die Baronin Liana Morgenrot von Rodaschquell, Baroness Ardare von Kaldenberg, der Ritter Rondrard von Storchenflug sowie seine Gnaden Rahjel von Altenberg.

So wurden die Herrschaften in den großen Saal des Herrenhauses geladen, in dem eigentlich am Abend ein Festmahl zu Ehren der Brautleute und der erfolgreichen Jagd stattfinden sollte, während andere Gäste auf die Suche nach Gwenn auszogen, die ‘Opfer’ einer traditionellen Brautentführung wurde. Statt Lares erschien jedoch seine Schwester Miranda von Mersingen.

Merle, Tsalinde, Nivard und Doratrava warteten bereits im Saal, als sich der Saal nach und nach füllte. Doch schon beim Eintreffen einiger der Gäste war eine gewisse Anspannung und Unstimmigkeit zu spüren. Friedewald war noch nicht im Raum, sondern war noch dabei, etwas vorzubereiten.

Zunächst betraten Gudekar und Rionn zusammen mit dessen Novizen den Raum. Während sich Rionn schon bald zu der kleinen Gruppe gesellte, nickte Gudekar lediglich zum Gruße, ging dann aber durch den Raum und stellte sich am anderen Ende an die Wand neben ein Fenster und blickte nachdenklich nach draußen. Nach und nach trafen auch die anderen Geladenen ein, bald schon auch Eoban, der sich wortlos zu Gudekar gesellte. Schließlich fehlte nur noch der Gastgeber.

Als Doratrava Eoban sah, verdrehte sie innerlich die Augen. Sie hatte ja gewusst, dass er hier irgendwo herumschwirrte, ihn und seine sauertöpfische Miene aber zum Glück bisher nicht gesehen, oder höchstens aus der Ferne.

Dann nahm sie auch die anderen Anwesenden zur Kenntnis, die sie teilweise gar nicht kannte. Hatte es nicht immer geheißen, über die Sache mit dem Pruch und dem Herz möglichst Stillschweigen Außenstehenden gegenüber zu bewahren? Sie zuckte unwillkürlich die Schultern, es lag nicht an ihr, das zu entscheiden, wenn so viele Höhergestellte anwesend waren. Zum Beispiel Eoban, sollte der doch was dazu sagen.

Gudekar warf sie einen kritischen Blick zu. Immerhin hatte er Meta nicht auch noch hierher geschleppt, obwohl Doratrava sich kaum vorstellen konnte, dass er sie nicht ins Vertrauen gezogen hatte und sie daher nun wohl auch als “Eingeweihte” zählen dürfte. Ansonsten hatte sie aber nichts gegen seine Anwesenheit, im Gegenteil, sie hoffte, dadurch würden sich so einige Dinge klären. Verstohlen nahm sie Merles Hand, denn natürlich war sie dieser nicht von der Seite gewichen, und drückte sie kurz, ließ sie dann aber los. Sie wollte nicht, dass durch zu viel zur Schau gestellter Vertraulichkeit in dieser Runde bei dem einen oder anderen gewisse Gedanken aufkamen …

Schweigend, aber sehr aufmerksam musterte Merle die Gesichter der versammelten Leute. Die meisten kannte sie gar nicht oder nur flüchtig, hatte sie die Vertraulichkeit von Gudekars Mission doch stets respektiert; doch war sie froh, Gudekars Freund Eoban in der Gruppe zu sehen. Auch wenn ihr Doratravas tröstliche Nähe ein Gefühl von Sicherheit vermittelte, war es eigentlich ihr erster Impuls in solch einer Situation, an die Seite ihres Mannes zu eilen, seine Hand zu drücken und sich an seine Schulter zu lehnen, um seine vertraute Wärme zu spüren. Oh, wie sie die unsichtbare, aber undurchdringliche Mauer hasste, die jetzt zwischen ihnen stand. Er, ihre große Liebe, war so nah und nun scheinbar unerreichbar weit entfernt von ihr… Und Gudekar, der am anderen Ende des Saals zwischen zwei Fenstern an die Wand gelehnt stand, lächelte sie zu allem Überfluss liebevoll an… Sie runzelte irritiert die Stirn und schaute bewusst in die andere Richtung. Immerhin war es eine Erleichterung, dass er nicht probiert hatte, seine verdorbene, grobschlächtige Liebhaberin hier öffentlich zu präsentieren, unter den Augen seiner treuen Gefährten und seines armen, gutherzigen Vaters. Es verstärkte das beklommene, üble Gefühl in ihrer Kehle, dass sie ihm eine solche Schamlosigkeit zugetraut, fast damit gerechnet hatte. "Doratrava", flüsterte sie ihrer Freundin zischend zu, "... sollen wir jetzt was sagen? Wegen der Seelenprüfung?" Mit nervösem, fragenden Blick schaute sie zwischen der Gauklerin, Nivard und Tsalinde hin und her.

“Wenn ich jetzt was sage, fährt mir Eoban vermutlich über den Mund, bevor ich mehr als drei Wörter gesprochen habe”, raunte Doratrava mit sarkastischem Unterton zurück. “Der kann mich nicht leiden, vermutlich, weil ich keine Adlige bin und als Tänzerin und Gauklerin unter travianischen Gesichtspunkten von vornherein verdächtig.” Nun konnte sie sich ein gewisses schelmisches Grinsen in Merles Richtung trotz der ernsten Situation nicht verkneifen, fuhr aber gleich darauf nüchtern fort: “Vermutlich müsste Nivard das anbringen, oder, noch besser, Tsalinde. Sie ist Edle, sie wird man anhören.”

Merle runzelte die Stirn. Sie hatte Eoban als bedachten und warmherzigen Mann kennengelernt, der Gudekar in enger Freundschaft verbunden war. Eigentlich konnte sie sich nicht vorstellen, dass er Doratrava derart geringschätzig behandeln würde. Dennoch sagte sie nichts dazu, sondern wandte sich nun flüsternd Nivard und Tsalinde zu: "Wollt Ihr es ansprechen? Vermutlich müssten wir es jetzt gleich machen, bevor es losgeht."

Tsalinde schüttelte den Kopf. Die Chance war aus ihrer Sicht vertan. Eine Seelenprüfung hätten sie einberufen sollen, bevor der Kriegsrat zusammenkam. Doch sie war noch zu wütend darüber, dass Merle sie bei Friedewald mit dem Thema allein gelassen hatte, um jetzt die richtigen Worte zu finden.

"Doch." widersprach Nivard entschieden. "Das sollten wir. Der Brief offenbart eine ernste Bedrohungslage, wegen der wir hier den Kriegsrat zusammengetrommelt haben. Hier geht es nicht nur darum, zu warnen und die notwendigen Maßnahmen zu besprechen. Wir müssen unsere Reihen wider Pruch und seinen dämonischen Gebieter schließen. Deshalb muss Gudekar einerseits dabei sein. Anderseits sind Zweifel an der Treue oder gar seelischen Unversehrtheit Einzelner Gift und eine große Gefahr für uns alle. Sie müssen daher ausgeräumt werden. In diesem Unterfangen wird uns Eoban gewiss ein guter Verbündeter sein - Du solltest ihm gegenüber nicht zu ablehnend sein - er mag nicht immer einfach sein, aber er ist ein durch und durch integrer Mann. Ich jedenfalls vertraue ihm voll und ganz..."

Noch bevor Doratrava antworten konnte, kam auf einmal Rionn geradewegs auf sie zu.

Rionn schaute sich im Raum um, wen er alles kannte und wen nicht. Da erblickte er Doratrava und sein Gesicht hellte sich auf. Er drängte sich durch die Umstehenden und strebte mit einem freudenstrahlenden Lächeln auf Doratrava zu. Als er sie erreicht hatte, umarmte er sie. Doch dann wich urplötzlich die Freude aus seinem Gesicht. Er raunte der Gauklerin leise flüsternd zu: “Doratrava, wir müssen gleich dringend sprechen. Es geht um Gudekar.”

“Ach was?”, entfuhr es Doratrava unwillkürlich, nachdem sie sich von der überraschenden Umarmung erholt hatte, und sie schaffte es gerade noch, ihre Stimme leise zu halten. Sie runzelte kurz überlegend die Stirn. “Wir können jetzt schlecht die Versammlung schon wieder verlassen. Aber seine Frau Merle und auch Nivard und Tsalinde dürfen durchaus hören, was du mir über Gudekar mitteilen möchtest”, flüsterte sie zurück.

“Ja”, nickte Rionn mit ernstem Gemüt. “Vielleicht warten wir erst noch diese Versammlung ab.” Doratrava konnte ihm eine gewisse Unruhe anmerken. “Selbstverständlich können Nivard und Tsalinde dabei sein.” Bei diesen Worten nickte er den beiden grüßend zu. “Und Merle? Wenn du ihr vertraust, dann tue ich das auch. Es könnte aber um erschütternde Dinge gehen. Das als Vorwarnung.”

“Ja, ich vertraue Merle”, gab Doratrava zurück, wobei sie innerlich schon wieder die Augen verdrehte. Düstere Andeutungen waren genau das, was ihre Freundin jetzt brauchte. Impulsiv entschloss sie sich, in die Offensive zu gehen: “Erschütternder, als dass Gudekar seine Frau mit seiner Ritterin betrügt und damit seinen Traviabund bricht?”, zischte sie leise, so dass es nur die direkt bei ihr Stehenden hören konnten. Zum Glück hatte Rionn seinen Novizen dort hinten gelassen, denn diesen kannte sie nicht gut genug, um so etwas vor ihm auszusprechen.

Merle nickte dem Tsageweihten schüchtern zu. Sie war dankbar, dass Doratrava, die ihn gut zu kennen schien, für sie das Wort führte. Mit leicht geballten Händen versuchte sie sich zu zwingen, nach außen eine aufrechte Haltung und unbewegte Miene zu zeigen, dennoch wanderte ihr Blick immer wieder wie automatisch zu Gudekar. Bevor er jedoch in ihre Richtung schaute, wandte sie sich erneut Doratrava und dem Geweihten zu.

Der Tsageweihte druckste etwas herum. Es schien ihn sehr zu beschäftigen. “Vielleicht, Doratrava”, mutmaßte er. “Das, was du sagst, steht im Kontext.” Rionn hob seine Augenbrauen und flüsterte: “Ich halte es dringlich notwendig, dass wir Gudekar überzeugen, dass er sich einer Seelenprüfung unterzieht.” Der Geweihte nickte sich selbst bestätigend. “Doratrava, Nivard, Tsalinde: Ihr erinnert euch an unser Treffen in Schneidgrasweiler? Seither gehen mir die Ereignisse dort nicht mehr aus dem Kopf. Vor allem das, was sie über Gudekars Seelenzustand nahelegen…” Rionn stockte. Er musste schlucken. Erschrecken über die eigenen Erkenntnisse stand in seinem Gesicht geschrieben.

Natürlich erinnerte Doratrava sich, sie hatte vorhin ja erst darüber sinniert. “Dann bist du zu demselben Schluss gekommen wie wir auch”, flüsterte Doratrava, untermauert von einem entschiedenen Nicken Nivards, zurück. “Wir hatten es gerade davon, dass dieses Thema wohl am besten Tsalinde anspricht, als Edle. Ich würde es ja selbst machen, aber du weißt, dass gewisse Leute hier Vorbehalte gegen mich haben.” Ihr Blick wanderte zu Eoban. “Oder du machst es, als Geweihter hat dein Wort ebenfalls Gewicht.”

Doratrava machte eine kurze Pause, wobei sie sich umschaute, ob ihr Getuschel schon Aufmerksamkeit erregte, dann fuhr sie fort: “Wenn das jetzt nicht zu weit führt: wie bist du zu deiner Einschätzung gelangt?”

Rionn seufzte. Er war sich sicher, dass Doratrava wusste, dass er darauf pfiff, ob er als Geweihter mehr Gewicht hätte, oder ob irgendwelche Adeligen sich für etwas Besseres hielten. Am Ende waren sie dieselben armen Säue wie alle anderen. “Tsalinde und ich sind ja später angereist nach Schneidgrasweiler. Aber ihr habt uns erzählt, dass ihr am Abend gemeinsam Brot geteilt habt, das der Gütigen Mutter gesegnet war. Gestutzt habe ich, als ihr erzählt habt, dass das Brot Gudekar nicht bekommen ist. Travias Speisesegen bewirkt, dass das Essen gut ist, nichts ist verdorben oder vergiftet. Warum ist es ihm nicht bekommen? Und dann dieses Kästchen, der Liebesgruß vom Bäckerjungen. Gudekar hat es geöffnet, Tsalinde hat es untersucht. Der Fluch der Widersacherin der Gütigen Mutter bewirkte bei Tsalinde, dass sie unruhig und aufgewühlt wurde, Angstzustände bekam und flüchtete. Doch auf Gudekar hatte dieses dämonische Ding keine Wirkung. Nicht auf ihn, nicht auf ihn.” Der Tsageweihte schüttelte den Kopf. “Es drängt sich die Vermutung auf, dass Gudekar von Travias Widersacherin beeinflusst ist, wissentlich oder unwissentlich.” Nach diesen Mutmaßungen atmete Rionn einmal tief durch, als ob er froh wäre, dass er es endlich hatte aussprechen können.

Merle blickte kurz mit gequältem Blick zu dem Geweihten, dann schlug sie verlegen die Augen nieder. Die junge Frau wusste nichts von den Ereignissen, auf die Rionn anspielte, doch klang das alles schlimm - sehr, sehr schlimm. "Mein Mann hat sich... verändert", murmelte sie leise und errötete. "Seit dieser Schweinsfolder Hochzeit vor zwei Götterläufen. Früher war er gütig und lieb, jetzt ist er kalt und abweisend zu mir. Es scheint ihn gar nicht zu interessieren, wie sehr er mich mit seinem Tun verletzt. Seine Familie ist ihm anscheinend egal geworden. Und ja, wir...", sie schaute von Nivard zu Tsalinde und schließlich zu Doratrava, "...wir hatten vorhin schon darüber gesprochen, ob das... normal ist. Oder ob etwas ihn... beeinflusst haben könnte.” Sie zwang sich nun doch, Rionn in die Augen zu blicken. Nicht nur, weil er ein Geweihter der Zwölfgötter war, begann sie, Vertrauen zu ihm zu fassen. “Dann müsste sich Gudekar wirklich einer solchen… Seelenprüfung unterziehen, oder? Ansonsten wäre es vermutlich nicht gut, wenn er hier dabei ist?”

“Ja”, bestätigte Rionn, “das mit dieser Hochzeit in diesem Schweine… äh… feld … hatte ich auch bereits vermutet. Dort hat er Meta kennengelernt, dort hat der Bäckergeselle mit Dämonen eingegriffen und den Hochgeweihten des Traviatempels entführt. Gudekar war mit dem Bäckerjungen konfrontiert. Das ist also sehr gut denkbar, dass dort etwas geschehen ist.” Er atmete noch einmal durch. “Bisher habe ich nicht eingegriffen, weil ich über meinen Verdacht noch nachdenken musste. Gudekar war bei all unseren Beratungen dabei. In Schneidgrasweiler wusste der Bäckergeselle sehr genau, wer und wo wir waren. Von wem wusste er es?”

"Aber er würde doch seine Gefährten nicht... verraten gegenüber dem Feind!" wandte Merle erschrocken ein, immer noch bemüht, leise zu flüstern. “Jedenfalls nicht bewusst!”

Doratrava nahm nun doch wieder Merles Hand, das würde hoffentlich nicht sehr auffallen, und wenn doch … sollte es eben. “Ich kann auch nicht glauben, dass Gudekar bewusst gegen uns arbeitet, aber ein Einfluss ist nicht auszuschließen. Deshalb wollten wir auch, dass er sich der Seelenprüfung unterzieht. Wenn er seines Wissens nach nichts zu verbergen hat, sollte er dem auch zustimmen. Aber jemand muss das hier und jetzt ansprechen! Allerdings dauert meines Wissens nach so eine Prüfung einige Zeit, wir müssten also den Rat vertagen oder parallel zu der Prüfung durchführen, ohne Gudekar und den prüfenden Geweihten - und möglicher Wächter, denn ich möchte trotz aller Unwahrscheinlichkeit nicht, dass Gudekar allein mit dem prüfenden Geweihten ist.”

Merle verzog nachdenklich das Gesicht. "Schauen wir erst einmal, wie Gudekar auf die... Bitte reagiert. Vielleicht verzichtet er freiwillig darauf, hier dabei zu sein?” Nachdenklich musterte sie ihren Ehemann aus der Entfernung. “Oder soll ich ihn erstmal persönlich fragen, ehe wir es öffentlich vor allen ansprechen?”

“Ich habe ihm bereits nahegelegt”, erklärte Rionn immer noch bemüht leise sprechend, “sich einer Seelenprüfung zu unterstellen. Ich stimme dir zu, Merle, das hier öffentlich zu fordern, würde ihn bloßstellen. Das sollte unser letztes Mittel sein.”

“Wie hat er darauf reagiert?” fragte Merle überrascht nach. “Also auf den Vorschlag mit der Seelenprüfung.”

Tsalinde, die bislang schweigend zugehört hatte, flüsterte: “Merle, die Zeit etwas dagegen zu sagen, dass Gudekar hier dabei ist, hattest du vorhin auf dem Bauernhof. Jetzt ist es etwas zu spät, fürchte ich.” Sie sah Rionn an. “Ich gehe doch recht in der Annahme, dass Gudekar der Seelenprüfung nicht zugestimmt hat, oder? Denn hätte er es getan, wärst du jetzt nicht hier, sondern mit ihm in der Prüfung. Was die Geschehnisse in Schneidgrasweiler angeht, so war ich damals auch sehr skeptisch. Jetzt wo ich weiß, dass er schon damals eine andere Frau neben Merle hatte und somit den Traviabund nicht nur einmal gebrochen hatte, denke ich, dass ihm das Brot aus dem Grunde nicht schmeckte. Er hat es schließlich ja doch gegessen, wenn auch mit deutlichem Widerwillen. Das spricht ihn in meinen Augen nicht frei, doch sehe ich im Augenblick keine Möglichkeit, ihn ohne großes Aufheben von dieser Versammlung fernzuhalten. Die Chance hatten wir, bevor Friedewald den Kriegsrat zusammengetrommelt hat.”

“Stimmt, ich hätte es vorhin zu Friedewald sagen müssen”, nickte Merle mit sichtlich zerknirschter Miene. “Aber Gudekar ist immer noch mein Ehemann und ich wollte ihn nicht vor seinem Vater bloßstellen. Eigentlich hab ich erst im Gespräch mit Nivard und Doratrava auf dem Weg zum Gutshaus richtig erkannt, wie wenig ich ihm noch traue.”

Rionn nickte. “Tsalinde hat recht”, stimmt er ihr zu. “Und ja: Gudekar hat ziemlich verhalten reagiert auf meinen Vorschlag. Er hat nicht zugestimmt. Ich habe ihn gebeten, sich das noch einmal zu überlegen.” Dann schaute er zu Doratrava. “Ja, so ein Ritual dauert mehrere Stunden, vielleicht sogar einen ganzen Tag. Es braucht dazu Ruhe, am besten einen Tempel oder ein den Göttern heiliger Ort.”

“Dann bleibt uns nur, Gudekar im Auge zu behalten. Für alles andere ist es jetzt zu spät. Lasst uns sehen, wie er sich hier beim Rat benimmt und dann sehen wir weiter”, raunte Tsalinde.

Von dem vielen Hin und Her schwirrte Doratrava schon wieder der Kopf. Hatten sie nicht vorgehabt, das mit der Seelenprüfung genau hier beim Rat anzusprechen? Oder war sie jetzt schon wieder völlig durcheinander, weil sie auch vorhin in alle Richtungen diskutiert hatten? Aber gut, wenn es für die Prüfung einen Tempel oder so brauchte, dann konnten sie auf die Schnelle sowieso nichts machen. Ein Schrein reichte vielleicht auch, also ein richtiger Schrein und nicht so was Provisorisches wie der Rahjaschrein im Gasthaus, aber wo war der nächste Schrein? “Gibt es einen Schrein in Lützeltal?”, sprach sie ihre Gedanken auch sogleich aus. “Irgendeinen? Also einen festen? Reicht ein Schrein für eine Seelenprüfung?”

“Soweit ich weiß, gibt es in Lützeltal weder Tempel noch Schreine”, erklärte Merle.

“Das ist nicht schlimm”, beruhigte Rionn die Diskussion, “mir geht es nur um einen ruhigen Ort für das Ritual, es muss nicht unbedingt ein Tempel oder Schrein sein.”

Merle nickte verstehend und blickte bekümmert zu Boden. “Ich hoffe, dass es kein Fehler ist, wenn Gudekar am Rat teilnimmt. Zwar kann ich mir wirklich nicht vorstellen, dass er absichtlich was an den Paktierer verrät… Aber wäre es möglich, dass dieser irgendwie in Gudekars Geist blicken kann?” Ein unbehaglicher Schauer lief ihr den Rücken herunter, als sie dem Geweihten fragend in die Augen schaute.

Auch Doratrava waren nun die Zweifel anzusehen. Mittlerweile war ihr die beiderseitig tröstende Nähe zu Merle schon fast selbstverständlich geworden, so dass sie diese nun - unter dem Stirnrunzeln Nivards - um die Schulter fasste und sachte streichelte, ohne bewusst darüber nachzudenken, während sie murmelte: “Wenn Rionn recht hat und der Paktierer wirklich über Gudekar alles mitbekommt, was wir besprechen, dann wäre es in der Tat ein Fehler, ihn am Rat teilnehmen zu lassen. Aber wie sollen wir das Gudekar begreiflich machen? Wie den anderen, ohne dass es zum großen, dem Widersacher gefälligen Streit kommt? Wenn Gudekar schon die Seelenprüfung verweigert, dann wird er so ein Argument doch sicher ebenfalls ablehnen.” Unsicher schaute die Gauklerin zu Gudekar hinüber und dann zu Merle.

"Soll ich zu ihm rübergehen und ihm offen sagen, worüber wir uns sorgen?" schlug Merle nachdenklich vor und schaute ratlos in Nivards Richtung. Der Krieger hatte ja am vehementesten eine Seelenprüfung für Gudekar gefordert.

Miranda von Mersingen saß schweigend am Tisch und blickte von einem der Anwesenden zum Nächsten. Auf ihren geröteten Wangen konnte man noch immer Tränen glitzern sehen. Ihre langen hellbraunen Haare verdeckten vorteilhaft die geröteten Augen. Sie war die Einzige, die ihren Bruder vertreten durfte - doch absolut nicht in der Lage, dies auch zu tun. Sie wusste nicht, warum sie hier war. Sie wusste nicht, was sie hier sollte. Sie wusste nur: Es musste etwas mit dem Zustand ihres heißgeliebten Bruders zu tun haben. Deswegen musste sie hier sein und bleiben. Sie fing Wortfetzen der Gespräche auf. Einflüsterungen, Briefe, schlechte Nachrichten. All diese finsteren Gedanken passten zu den gramvollen Vorahnungen, von denen Lares in den letzten Monden gesprochen hatte. Und zu seiner Obacht, die er immer mehr an den Tag legte. „Die hohen Herrschaften, welcher Belang treibt Euch um“, versuchte sie den Schleier der Unwissenheit zu lichten.

Doch niemand schien Notiz von ihrer Frage zu nehmen. Die einen wussten selbst nicht, worum es ging, und die, die es wussten, hatten ganz andere, zusätzliche Sorgen.

So viel also zu einer beschaulichen Hochzeitsfeier in einem kleinen Dorf! Erst der Sturm, dann die Tragödie bei der Jagd, und nun sogar ein besonderer Rat, zu dem man sie gerufen hatte. Innerlich musste die Dame Morgenrot seufzen. Würde es denn nie einen Moment der Ruhe geben, an dem die Menschen, Elfen und Angroschim in Frieden würden leben können?

Das wenige, das sie über die bisherigen Geschehnisse wusste, die der Grund dieses Treffens waren, war ihr nur aus Erzählungen bekannt. Und das, was sie gehört hatte, war beunruhigend genug.

Doch Liana ließ sich nichts anmerken, als sie - allein - den Saal betrat und sich umblickte. Hier und da gab es bereits vereinzelt beisammen stehende Grüppchen, so dass sie zunächst ein wenig verloren wirkte.

Dann jedoch sah sie Nivard und nickte ihm zu. Immerhin war er es, der sie ins Vertrauen gezogen und um Hilfe ersucht hatte.

Keinen Moment hatte die Baroness von Kaldenberg gezweifelt, dass der Bäckerpruch wieder sein Unwesen trieb, als der Edle von Lützeltal die ranghohen Adeligen zum Gespräch - oder, wie er es nannte, Kriegsrat - gerufen hatte. Ihr war nicht ganz klar geworden, ob sie wegen ihres Ranges zu dem Gespräch hinzu geladen worden war, oder ob ihr Gastgeber wusste, dass auch sie gegen den Bäckerpruch ermittelt hatte. Mehr noch, sie war eine derjenigen Personen gewesen, die vor einigen Jahren den Paktierer erstmals enttarnt und aus seinem Wirkungsort, dem Dörfchen Talwacht, vertrieben hatten.

Ardare betrat den Saal. Sie hatte die Gelegenheit genutzt, sich rasch frisch zu machen und ein etwas höfischeres Gewand anzulegen, das dem Anlass angemessener war als eine vom Regen aufgeweichte Jägerskluft. Dennoch trug sie zu ihrem Reitkleid einen Waffengurt um die Hüfte, an welchem weiterhin das Jagdrapier hing, das sie bei der Jagd mit sich getragen hatte.

Das Haupt und auch das Kinn hoch erhoben, ging sie an den bislang Anwesenden vorbei. Wie selbstverständlich nahm sie sich einen Sitzplatz, der so nah, wie die Sitzverteilung es zuließ, am Kopfende der Tafel postiert war.

Miranda schenkte ihr ein vorsichtiges Lächeln. Sie war gut zu ihrem Bruder gewesen.

Die Tür zum Saal öffnete sich und Wiltrud trat gefolgt von Harka in den Raum. Während Harka ein Tablett mit Obst, Käselaiben, Filets von geräucherten Forellen und Broten hinein trug und in die Mitte des Tisches stellte, brachte Wiltrud mehrere Krüge mit unterschiedlichen Getränken. Sie fragte die Gäste, was sie wollten und goss ihnen Entsprechendes in einen Becher ein. Dann verließen die beiden den Saal wieder.

Schon lange hatte der Albenholzer die Gruppe seiner Reisegefährten und ihr schier endloses Gespräch bemerkt. Ebenso die Blicke, die quer durch den Raum geworfen wurden. Er beobachtete die Nähe Merles zu Tsalinde und Doratrava. Das machte ihm Sorgen. Was auch immer sie da taten, er hoffte, ihr travia-frevelndes Verhalten würde Merle nicht beeinflussen. Vielleicht sollte er einschreiten? In ihrem Zustand war sie möglicherweise besonders empfänglich für schlechte Einflüsterungen.

"Ich komme mit!" antwortete Nivard entschieden auf Merles Frage hin, wer mit ihr hinüber zu ihrem Ehemann ging. "Wenn er der Gudekar ist, den ich zu kennen glaubte, der kluge und zwar streitbare, aber einem sachlichen Argument immer aufgeschlossene und rechtschaffene Gelehrte, wird er, wenn wir ihn mit unseren Gedanken konfrontieren, der Seelenprüfung zustimmen, alleine schon um jegliche Zweifel an seiner Person auszuräumen. Wenn er sich verweigert, muss er diese Sitzung verlassen. Wegen der Öffentlichkeit hier würde ich mir dann keine Gedanken machen - wer als verheirateter Mann im Traviamond am hellichten Tag an seinem Heimatort, voller Hochzeitsgäste seiner eigenen Schwester einen Rahjabund mit seiner Geliebten feiert, hat keinen Scham und kein Gesicht mehr zu verlieren."

Nivard sah in diesem Moment die Blicke, die Eoban zu Ihnen hinüberwarf. Er suchte selbst nun auch die Begegnung mit diesen. Sie mussten Eoban einbeziehen - als alter Freund Gudekars hatte sein Wort - hoffentlich noch immer - Gewicht bei dem Anconiter. Zum anderen wusste er nicht, wie die Situation im weiteren Verlauf eskalierte, falls Eoban sich - zur Recht oder Unrecht - hintergangen fühlte.

Nivard winkte diesen zu ihnen hinüber.

"Gut. Danke", sagte Merle leise zu Nivard. "Falls die Diskussion hitziger wird, können wir zur Not auch mit ihm in den kleinen Salon nebenan gehen…" Sie sah, dass Nivard Eoban heran winkte und wartete ab, ob dieser zu ihnen herüberkam.

Doratrava zuckte die Schultern, das war ja wohl unvermeidlich gewesen. Ein letztes Mal fuhren ihre Finger fast wie nachtrauernd über Merles Schulter, dann ließ sie den Arm fallen. Sie wollte Eoban nicht noch einen weiteren Angriffspunkt bieten, nicht um ihrer selbst Willen, sondern um Merles. “Wenn Rionn schon nicht zu Gudekar durchgedrungen ist …”, murmelte sie vor sich hin. Nun, vielleicht würde der nun zu erwartende Streit die Sache auch endlich klären.

Eoban sah das Zeichen seines Freundes. Er schüttelte ruhig seinen Kopf und deutete in die Richtung eines leeren Platzes, den hoffentlich bald Friedewald füllen würde. Vor allem wollte er auch nicht von der Seite Gudekars weichen. Die einstige Gruppe war schon gespalten. Und wieder zeigte sich, dass Doratrava und Tsalinde nicht auf der gleichen Seite wie Eoban standen.

“Ich werde nicht mit euch beiden zu Gudekar gehen”, erklärte Rionn. “Ich habe ihm die Seelenprüfung bereits angeboten. Hier seid ihr beide hoffentlich erfolgreicher, Merle, Nivard.” Dann schaute er in die Richtung, in die Nivard gewunken hatte, und sein Gesicht hellte sich auf. “Ah! Eoban! Wie schön. Die gütige Mutter schenkt uns Beistand”, sagte er sinnend und winkte Eoban ebenfalls auffordernd heran.

Eoban lächelte zurück, winkte aber ab.

Merle schaute Doratrava liebevoll, fast entschuldigend in die Augen, dann blickte sie mit einem warmen Lächeln in Eobans Richtung. Als sie sein Kopfschütteln sah, schaute sie sich nervös um. Ging es jetzt wirklich bereits los?

Die Gauklerin musste an sich halten, um nicht ergeben zu seufzen, und bemühte sich um ein kleines Lächeln für Merle. Dann sah sie Eoban eher kühl entgegen. Eigentlich war sie nicht nachtragend, aber der Streit in Schneidgrasweiler stand ihr vor Augen, als wäre es erst gestern gewesen, und Eobans Miene deutete darauf hin, dass sich seine Laune und Einstellung seither nicht geändert hatte.

Dann sah Doratrava Eobans Kopfschütteln. Als Eoban Doratravas Blick sah, verschwand sein Lächeln rasch. Der Gesichtsausdruck wurde kühl.

Hieß das, er wollte nicht kommen? Oder er wollte jetzt noch nicht kommen? Oder ging es jetzt gleich los? “Wenn ihr noch was vor dem Start der Versammlung machen wollt, müsst ihr euch wohl beeilen”, flüsterte sie Merle und Nivard zu, auch wenn sie ein mulmiges Gefühl dabei hatte, Merle zu Gudekar zu lassen, ob Nivard nun dabei war oder nicht.

“Gut, Nivard, dann gehen wir schnell zu ihm rüber?” forderte Merle den jungen Krieger auf und versuchte, sich innerlich für das Gespräch mit ihrem Ehemann zu wappnen.

“Ja. Unbedingt. Da muss jetzt geklärt werden. Soll ich vorangehen, oder willst Du das erste Wort an ihn richten, Merle?” Nivard hätte Verständnis für beide Entscheidungen und wünschte sich, dass sie die wählte, mit der sie sich am wohlsten fühlte - insofern man in ihrer Lage überhaupt von ‘Wohlfühlen’ sprechen konnte.

Schade, dass Eoban offensichtlich nicht herüberkommen wollte. Nivard signalisierte dem Albenholzer mit Blicken ein weiteres Mal, dass dieser gerade sehr willkommen wäre. Er konnte nur hoffen, dass Eoban verstand. Vorher zu ihm hinzugehen und ihm alles in Ruhe zu erklären, würde jetzt zu viel Zeit kosten… zumal Eoban direkt neben Gudekar stand.

Noch einmal atmete Nivard tief durch. Dann machte sich der Krieger an Merles Seite auf in Richtung Gudekar. ‘Auf in die Schlacht!’

Merle dachte kurz nach und straffte ihren Oberkörper. "Ich werde Gudekar selber ansprechen. Wir sind jetzt zehn Götterläufe zusammen, da hoffe ich einfach, dass er mir immer noch ein wenig vertraut." Mit besorgt gerunzelter Stirn schaute sie Nivard in die Augen und nickte ihm zu. "Aber danke, dass du mitgehst."

Nivard schüttelte den Kopf, ein ernstes Lächeln auf den Zügen. “Dafür nicht. Es ist mir selbst ein Herzensanliegen.”

“Wartet!”, intervenierte Rionn überraschend und auch deutlich vernehmbar. Doch dann wurde er wieder leiser. Er blickte zu Eoban und war sichtlich irritiert, dass der Albenholzer keine Anstalten machte, herüber zu kommen. “Mir wäre Eobans Meinung in dieser Sache wichtig.”

So erleichtert Doratrava war, dass Merle und Nivard jetzt zumindest noch nicht losliefen, verdrehte sie dennoch die Augen und konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Denn einerseits war sie froh, dass es noch nicht zur Konfrontation mit Gudekar kam, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser leise blieb, wenn er die Anschuldigungen hörte. Aber dieses Hin und Her machte sie trotzdem wahnsinnig. Außerdem … “He, ich bin sicher, es kann sich nur um Augenblicke handeln, bis Friedewald hereinkommt”, zischte sie den anderen zu. “Dann war es das. Oder?”

“Unruhe und Ungeduld sind der Widersacherin der Gütigen Mutter”, murmelte Rionn. Doch dann sprach er in gedämpften, aber klaren Ton: “Es ist aber eine so bedeutende Sache, dass wir nichts überstürzen sollten.”

Auch Merle stieß sichtlich gestresst die Luft aus. Jetzt hatte sie ihren ganzen Mut zusammengenommen, um sich dieser unangenehmen Konfrontation zu stellen und wurde im letzten Moment wieder zurückgepfiffen. "Ich glaube, Eoban denkt, dass es gleich losgeht”, flüsterte sie. “Aber Friedewald ist doch noch gar nicht hier. Ich würd’ ohnehin vorschlagen, dass Nivard und ich mit Gudekar in den kleinen Salon nebenan gehen und dort sprechen. Ob wir den Anfang der Unterredung verpassen, ist vielleicht auch egal, oder?” Fragend blickte sie in die Runde.

“Du hast Recht, das Gespräch im Salon zu führen ist gut.” pflichtete Nivard Merle bei. Zu Rionn gewandt stellte er noch klar. “Mir wäre Eobans Meinung sehr wichtig, auch ist er ein alter Freund Gudekars. Daher habe ich ihm ja auch signalisiert, dass wir ihn gerne bei uns hätten. Aber Doratrava hat Recht - die Zeit läuft uns gerade davon. Auch wenn Travias Tugend die Geduld ist, muss man sich manchmal sputen. Vor allem wenn der Gegner droht, schneller zu sein.”

Doratrava öffnete den Mund, aber schloss ihn gleich wieder, weil Rionn schon wieder weitersprach.

Rionn blickte immer wieder unruhig zu Eoban. Zunehmend wirkte er nervöser. “Ich bin mir nicht sicher, ob wir gerade so dem Gegner in seine Hände spielen. Lasst uns Eoban bitten, uns zu helfen. Bitte! Vertraut mir!”

“Dann geht doch einfach bei Eoban vorbei, schnappt ihn euch ohne Erklärung und nehmt ihn mit in den Salon, da hört er dann ja, was ihr wollt. Wenn er euch vertraut, wird er mitgehen - vor allem, wenn ich nicht dabei bin.” Ein winziges Grinsen konnte Doratrava sich bei diesen Worten nicht verkneifen. “Aber ich bezweifle, dass Friedewald anfängt, wenn die Hälfte der Leute nicht da ist …”, setzte sie dann murmelnd hinzu.

“Ich habe es mir überlegt”, warf Rionn ein. “Ich werde doch mitgehen.”

“Sehr gut!” Nivard freute sich sichtlich, sowohl, dass endlich Einigkeit einzukehren schien, als auch darüber, dass Rionn mitkam. Jedes gute Wort, jedes Quäntchen Überzeugungskraft würden sie gleich gut gebrauchen können. “Dann machen wir es doch genauso! Und zwar am besten jetzt. Sofort. Lasst uns endlich gehen!”

Besorgt schaute Doratrava den dreien hinterher. Ihre Befürchtungen waren nicht ausgeräumt, auch wenn sie letztlich selbst dazu beigetragen hatte, dass ihre Gefährten losgingen. An Merle blieb ihr Blick länger hängen und wurde liebevoll, während sich gleichzeitig ihr Magen zusammenzog.

Merle versuchte durch langsame tiefe Atemzüge ihr wild pochendes Herz zu beruhigen. Jetzt kam es darauf an, Besonnenheit und Vernunft auszustrahlen, damit Gudekar erst einmal zuhörte und sich nicht gleich künstlich über die Bitte aufregte. Sie war froh, dass der Geweihte nun doch mitkam, so dass ihr Ansinnen begründet und überzeugend rüberkam und nicht wie die hysterischen Hirngespinste einer gehörnten Ehefrau. Zumindest hoffte sie das.

Eoban sah Merle, Nivard und Rionn auf sich zukommen. Merle sah angespannt aus. Was war hier los?

Auch Gudekar sah die drei erwartungsvoll an, als sie auf Eoban und ihn zu kamen.

Eoban tauschte einen verwunderten Blick mit Gudekar aus.

„Das gibt Ärger!“ gab Gudekar resigniert an Eoban gewandt von sich.

Merle nickte Eoban grüßend zu und schenkte ihm ein freundliches, sanftes Lächeln. Dann wandte sie sich jedoch sofort an ihren Ehemann. “Gudekar, wir müssen ganz dringend mit dir reden", sprach Merle ihn eindringlich an, immer noch flüsternd.

Eobans Blick veränderte sich zu alarmiert.

„Ja ich weiß, wir waren vorhin mit Gwenn und Meta verabredet.“ Entschuldigend blickte der Anconiter seine Frau an. „Doch der Sturm kam dazwischen und es gab im Dorf Verletzte. Meine Hilfe wurde gebraucht.“

“Um das Gespräch geht es nicht. Sondern eine andere Sache.” Für lange Vorreden hatten sie jetzt keine Zeit mehr. "Bitte hör' uns an; es ist sehr wichtig und dringlich. Aber wir sollten im Privaten darüber sprechen.” Intensiv, fast flehend sah sie ihn mit ihren großen braunen Augen an, dann ergriff sie aus einem Impuls heraus seine beiden Hände. “Würdest du kurz mit nach nebenan kommen?”

Gudekar blickte fragend, fast hilfesuchend zu Eoban.

Eoban zuckte mit den Schultern. Wichtig, dringlich? Jetzt? Und warum bei einem privaten Thema noch mehr Personen dazuholen? Fragend blickte er zu Merle.

“Sei gegrüßt Eoban”, auch Rionn nickte dem Albenholzer zu, “ich freue mich wirklich dich hier zu sehen, denn ich hoffe, dass du uns einen großen Dienst tun wirst.” Dann schaute er Gudekar an, um zu sehen, wie er auf die Bitte seiner Frau reagieren würde.

"In der Tat." bestätigte Nivard.

Eigentlich hatte Eoban auf mehr Informationen von Merle gehofft, aber er antwortete zunächst Rionn. "... Habt Dank. Auch ich freue mich…. Einen großen Dienst?"

“Wir brauchen deinen klaren Kopf, Eoban”, erklärte der Tsageweihte. “Ich vertraue sehr auf dein Urteilsvermögen… und auf deine Nähe zur Gütigen Mutter.” Während er zu Eoban sprach beobachtete er weiterhin Gudekar. “Ich denke, wir müssen zuerst dieses Anliegen klären, sonst wird dieser Rat nicht tagen können. Ohne zu wissen, was dieser Friedwald möchte… Aber: `Störungen haben Vorrang´, sagt Sautama Tsafried 523 nach dem Falle Bosperans.”

Nivard stutzte kurz ob des Zitats. Als Krieger war er mit der reinen Lehre der Tsa-Kirche eher weniger vertraut: weder lag ihm ihre kategorische Ablehnung von Waffengewalt noch ihr ewiges Streben nach Erneuerung und Aufbrechen gewohnter Strukturen nahe. Ihm kam das alles immer wie eine Übertreibung und damit beinahe schon Parodie der Prinzipien der lebenspendenden Seite der großen Mutter, die die weisen Frauen auch Tsatuara nannten, vor. Aber dazu schwieg er sich hier aus.

"Wenn sie wichtig sind!" ergänzte er daher nur. "Und diese Störung ist sehr wichtig. Aber lasst uns doch erst kurz rausgehen." Nivard hatte schon die Befürchtung, dass sie sich gleich hier in Diskussionen stürzen könnten. Da Menschen coram publico allerdings in Furcht vor einem Gesichtsverlust oft weniger einsichtig reagierten als in kleinem Kreise, aber auch, weil nicht gesagt war, wie heftig das Gespräch sich gleich entwickeln würde, wollte er das große Rund so rasch wie möglich verlassen. Ebenso konnte es hier passieren, dass sie an entscheidender Stelle durch die Ankunft Friedewalds unterbrochen wurden. Vor allem aber wollte er das Gesicht aller Beteiligten wahren - oder das, was noch davon übrig war.

„Was gibt es, Merle?“ Gudekar drückte Merles Hände. „Vater hat nach mir geschickt, ich solle hierher kommen. Ich denke, er wird gleich kommen. Es klang dringend, was er zu besprechen hat.“

Doratrava hatte Merle und die Gruppe der Gefährten die ganze Zeit nicht aus ihren brennenden Augen gelassen. Als sie zu sehen glaubte, wie Gudekar Merles Hände nahm, lief ihr ein Schauer über den Rücken, und ihr sowieso schon verkrampfter Magen zog sich noch mehr zusammen. Dass sie den ganzen Tag noch so gut wie nichts gegessen hatte, weil sie erst bei der Jagd gewesen und dann ständig etwas dazwischen gekommen war, machte es nicht besser. Aber diese unsägliche Heuchelei, als die sie Gudekars Verhalten Merle gegenüber mittlerweile ansah, bereitete ihr wirklich körperliche Übelkeit.

"Ja, das ist es auch", bestätigte Merle gegenüber Gudekar. "Sehr dringend. Dennoch müssen wir vorher dich sprechen. Aber ohne, dass alle hier mithören. Lass' uns schnell nach nebenan gehen." Sie blickte ihrem Mann tief und eindringlich in die Augen. "Bitte vertrau mir, Gudekar. Diese Sache ist ebenfalls sehr, sehr wichtig", beschwor sie ihn, drückte noch einmal seine beiden Hände, dann versuchte sie, ihn an einer Hand aus dem Raum zu geleiten. Auffordernd suchte Blickkontakt zu Nivard, Rionn und Eoban. "Wenn die Herren uns folgen würden, bitte?"

Gudekar warf noch einmal einen Blick zu Eoban, der halb fragend, halb auffordernd zum Mitkommen aussah. Der Magier war neugierig, was seine Frau und die anderen so Wichtiges mit ihm zu bereden hatten. Doch fühlte er sich in Gegenwart seines besten Freundes wohler und sicherer. Dieses Vertrauen war in den letzten Monden gemeinsamer Unternehmungen noch stärker gewachsen, auch wenn Gudekar bewusst war, dass Eoban der erste sein würde, der Gudekar verdammen würde, würde er Gudekars wahre Pläne bezüglich Meta erfahren.

"Also na gut. Wenn es sein muss", antwortete der Ritter kurz mit einem Unbehagen. Auch wenn er sich noch keinen so rechten Reim darauf machen konnte und er es als grob unhöflich gegenüber Friedewald empfand.

Widerstandslos ließ sich Gudekar von Merle an der Hand führen, denn er wusste, wenn sie ihn derart darum bat, musste es wichtig sein. Er folgte ihr und den anderen in den Salon.

Eoban folgte und gab den anderen Gästen entschuldigende Blicke. Wie mochte das auf die geladenen wirken?

Zufrieden atmete Rionn ein wenig auf, als Eoban mitkam. Sogar ein kleines Lächeln kehrte zurück in sein bis dahin für ihn ungewöhnlich ernstes Gesicht. Er schickte stumm ein kurzes Stoßgebet zur Ewigjungen und folgte in den Nebenraum.

Tsalinde beobachtete die Gruppe. Eigentlich gedachte sie nicht, an dieser Diskussion teilzunehmen. Ihrer Meinung nach war es absolut der falsche Zeitpunkt. Doch als sie sah, dass Eoban sich der Gruppe anschloss folgte sie ihnen. Wenn Eoban erfuhr, was zwischen Gudekar und Meta vor sich ging, würde die Welt des Ritters erneut erschüttert werden. Im Moment schien er vor allem Tsalinde die Schuld an ihrer Nacht mit Gudekar zu geben, doch das würde sich, wenn er von der Affäre Gudekars mit Meta erfuhr, wahrscheinlich ändern.

Kurz überlegte Doratrava, ob sie Tsalinde zurückhalten sollte, aber dann zuckte sie die Schultern. Sie saßen hier sowieso auf einem Fass mit Hylailer Feuer, und die Lunte brannte schon. Wenn jetzt noch jemand eine kürzere Lunte anlegte, änderte das am Ergebnis auch nichts mehr. Sie hoffte nur, vor der Explosion rechtzeitig Deckung finden zu können … und Merle musste sie dann auch irgendwie retten. Und alle anderen …

Merle bemerkte Tsalinde und schaute sie mit einem dankbaren Lächeln an. Es tat ihr immer noch leid, das Thema nicht vorhin bei Friedewald angesprochen zu haben, was Tsalinde anscheinend missbilligte. Um so erleichterter war sie, dass die Edle ihnen nun folgte. Die Nähe ihrer Freunde gab ihr Trost, Halt und Stärke, ein Gefühl, das sie auch Gudekar vermitteln wollte.

Doratravas Unruhe nahm zu. Kaum war Tsalinde durch die Tür des Salons verschwunden, begann sie, ebenfalls in diese Richtung zu driften. Wenn sie sich neben der Tür postierte, könnte sie vielleicht hören, wenn es drinnen laut wurde, und vielleicht irgendwie reagieren, wenn es nötig werden sollte.

Nivard war nicht ganz so überzeugt, ob die zusätzliche Anwesenheit Tsalindes ihrer Sache zuträglich wäre. Einerseits waren ihre Erlebnisse und ihre Eindrücke durchaus weitere Argumente für die angestrebte Prüfung. Andererseits geriet das ganze dadurch aus dem Gleichgewicht - mit Merle und Gudekar wären sich sonst nur die beiden Ehepartner in Gegenwart von Freunden, die beiden nur Gutes wollten, begegnet. Aber jetzt war es halt so. Möge Travia ihnen beistehen und Hesinde Gudekar mit Einsicht segnen.

~ * ~

Die Moralpredigt / Das Blutbad im Kreise guter Freunde

Gudekar von Weissenquell ließ sich von seiner Gemahlin Merle in den kleinen Salon führen, der direkt an den großen Saal des Herrenhauses anschloss. Es war ein Kaminzimmer und das Feuer hüllte den Raum in eine wohlige Wärme. Dem Ehepaar folgten einige Gefährten, die unbedingt mit Gudekar sprechen wollten und dies als wichtiger erachteten, als die Zusammenkunft mit dem Edlen: Nivard von Tannenfels, Tsalinde von Kalterbaum und der Tsageweihte Rionn. Auch ein weiterer Angehöriger dieser illustren Ermittlergruppe betrat besorgt den Salon. Es war Eoban von Albenholz, Gudekars bester Freund. Als alle eingetreten waren, schloss Rionn bedächtig die Tür.

Gudekar schaute fragend in die Runde. Er fühlte sich wie auf der Anklagebank.

Als Eoban den Raum betrat, begann sogleich die Wärme des Feuers ihre Wirkung zu entfalten.

Ganz bewusst schenkte der Tsageweihte dem Anconiter ein aufmunterndes Lächeln.

“Also gut, Merle. Was wollt ihr so Dringendes?” fragte der Anconiter seine Frau.

Merle straffte sich, atmete einmal tief durch und schaute ihren Gemahl ernst an. Sie hatten kaum Zeit für lange Vorreden, aber vielleicht war gerade das auch ganz gut so. Sie musste es jetzt schnell rausbringen. "Gudekar, einige deiner Gefährten und ich… wir glauben, dass es vielleicht gut wäre, wenn du Rionn den Zustand deiner Seele ansehen lässt. Um zu schauen, ob es da vielleicht… Spuren gibt. Von allem, was… passiert ist.”

“Gudekar, wir kennen dich als einen anständigen Menschen und achten dich”, fügte Rionn hinzu. “Ich mache mir aber Sorgen.”

“Du weißt, dass du mir vertrauen kannst, oder?” ergänzte Merle mit sehr leiser und sanfter, doch nachdrücklicher Stimme. “Sei dir versichert, dass ich fest und treu an deiner Seite stehe. Immer. Was auch passiert.”

“Vertrauen.” Gudekar atmete tief ein und aus. “‘Vertrauen’ scheint dieser Tage ein weit gefasster Begriff zu sein. Einen Blick auf meine Seele wollt ihr werfen?” Der Magier blickte enttäuscht zu Rionn. “Hat Euer Gnaden euch das eingeredet?” Gudekar sprach mit ruhiger, trauriger Stimme.

Der Tsageweihte senkte kurz den Blick. Gudekar hatte recht, dachte Rionn, es war ein Bruch des Vertrauens, dass er vorhin auf Nivard, Doratrava, Tsalinde und Merle zugegangen war und ihnen davon erzählt hatte, dass er Gudekar auf die Möglichkeit einer Seelenprüfung angesprochen hatte. Aber es war die aufrichtige Sorge um Gudekar, die ihn umtrieb. Der Tsageweihte gestand sich in diesem Moment jedoch nicht ein, dass ihn innerlich ein heiliger Zorn wider Paktierer und Frevler antrieb. Rionn blickte wieder auf und sah Gudekar entschlossen direkt in die Augen.

Merle blickte kurz zu dem Tsageweihten und schüttelte den Kopf. "Ehrlich gesagt hatten wir den Gedanken unabhängig von Rionn…" Sie merkte, wie aufgewühlt Gudekar innerlich war und wich unwillkürlich ein Stück von ihm zurück. "Bitte, Gudekar, lass' mich ausreden! Du hast mir gegenüber selbst eingestanden, dass du Zweifel hast, ob deine… Begegnung mit… der Ritterin durch das Wirken des Paktierers zustande kam." Merle schluckte hart, versuchte aber weiter, betont ruhig, leise und ohne Groll zu sprechen, einzig und allein ihre tiefe Liebe zu Gudekar in ihre Stimme zu legen: "Es wäre für dich… und für uns alle eine Erleichterung, wenn wir zweifelsfrei wüssten, dass deine Seele und dein Geist unter keinem… Einfluss stehen, meinst du nicht auch? So unwahrscheinlich das ist - das wissen wir auch! - die Zweifel werden sonst immer stärker, bis sie uns zerfressen…" Sie brach ab und blickte zu Boden, nahm jedoch erneut Gudekars Hände und drückte diese, um ihm zu signalisieren, dass sie unerschütterlich zu ihm stand. "Gudekar, mein Herz, ich mache mir Sorgen um dich."

“Merle, mach dich doch nicht lächerlich! Wieso sollte ich unter einem Einfluss stehen? Eoban”, Gudekar blickte zu seinem Freund, “du weißt das doch besser. Wir waren das letzte Jahr oft zusammen. Wirkte ich auf dich, als stünde ich unter Lolgramoths Bann?”

Rionn zuckte merklich zusammen, als der Anconiter den Namen der Widersacherin der Gütigen Mutter fast wie beiläufig aussprach. Dann blickte er zu Eoban, wie er jetzt reagierte.

Auch Merle war bei Gudekars Worten sichtlich zusammengezuckt. "Du hast es selbst gesagt", entgegnete sie leise, fast kleinlaut, während sie wie getroffen die Augen niederschlug. "Du hast gesagt, ER und Travias Widersacherin hätten ihre Hand im Spiel gehabt."

"Gudekar. Ich kenne Euch nicht nur als gelehrten und klugen sondern auch als einen kritischen Geist. Daher bitte ich Euch, versetzt Euch ein einziges Mal selbst in die Rolle Eures eigenen Betrachters, einem Analysemagier gleich. Vergesst für einen Moment all Eure Gefühle für diese Meta. Seht einfach nur auf das, was Ihr in den letzten zwei Jahren getan habt, und besonders auf das, was heute und gestern durch Euch geschehen ist. All die Lügen Merle gegenüber, all die Heimlichkeiten. Die Ereignisse zwischen Euch und der Dame Tsalinde, noch vor Eurer Ritterin. Unser Mahl in Schneidgrasweiler. Vor allem aber Euer heutiges Rahjabundfest, hier, vermeintlich verborgen, doch umringt von Eurer eigenen Familie und Euren Freunden, die Ihr damit offensichtlich und plump hintergangen habt - in unmittelbarer Nähe Merles sogar, und das im Traviamond, am Tag vor der Hochzeit Eurer eigenen Schwester! Seht Ihr nicht, dass nicht nur das 'Was' all dieser Eurer Handlungen, sondern auch das 'Wie', 'Wann' und 'Wo' berechtigterweise schreckliche Fragen aufwerfen und unsere Sorgen befeuern, dass Eure Seele im Kampf gegen die Widersacherin - ihr Name sei nicht ausgesprochen - der Gütigen Mutter Schaden davon getragen haben könnte?" Nivard sah Gudekar geradezu beschwörerisch an. Die volle Breite der Indizien musste doch auch den Anconiter überzeugen - wenigstens wenn - wovon Nivard überzeugt war - an dessen Seele noch etwas zu retten war. "Wenn Ihr all das mit kühlem Verstand abwägt, muss Euch selbst doch an einer Prüfung Eurer Seele gelegen sein."

Der Albenholzer hörte, blieb aber innerlich ruhig wie ein See. Die Worte fielen darauf wie Regentropfen und versanken sogleich in der endlosen Tiefe. Hin und wieder atmete er tief ein und aus. Irgendwann begann er leise zu sprechen. "Was soll denn daraus erwachsen, wenn viele auf einen einreden? Ist es unser Recht, eine Prüfung zu erbitten, wenn es nicht unsere eigene ist? Wer sind wir, dass wir glauben, so urteilen zu können? Der Ort, die Zeit. Seht ihr nicht, was hier passiert? Schlimmes hat sich ereignet und ereignet sich jetzt. Die Reihen sind nicht mehr geschlossen. Und so schließen sie sich nicht. Das Dunkel in unserer Mitte ist da. Und es wächst und wächst und wächst. Wir sollten einen Boten nach Albenhus senden. Wir brauchen Hilfe. Noch heute. Und solange wir warten, bewahren wir Ruhe. Hier, an diesem Feuer." Damit endete Eoban, trat einen Schritt zurück und wandte seinen Blick in die lodernden Flammen.

Nachdenklich hatte Rionn dem Albenholzer zugehört und schaute ihm nach, als er sich dem Feuer zuwandte. “Eoban, du hast vollkommen recht”, bestätigte er grübelnd, “wir sind von einer merkwürdigen Unruhe getrieben. Wir stehen hier zu viert und bedrängen Gudekar. Wir sollten innehalten und bedenken, was wir hier tun.” Der Tsageweihte atmete vernehmlich ein. “Aber Merle hat eine Bitte an dich ausgesprochen Gudekar. Ich weiß, ich habe dein Vertrauen gebrochen, als ich mich verleiten ließ, meine ebenfalls an dich gerichtete Bitte in dieser Runde zu thematisieren. Und dennoch möchte ich dich ersuchen, Gudekar, Merles Bitte zu erwägen. Du kannst nur in aller Freiheit diese Entscheidung treffen und ohne unser Drängen. Du hast die Argumente gehört, die Nivard vorgetragen hat. Du bist ein gebildeter, gutherziger Mensch und kannst all das abwägen. Um mehr als das können, wollen und dürfen wir dich nicht bitten Gudekar. Es ist deine Entscheidung. Wir hören jetzt auf, dich zu bedrängen.” Er schaute Gudekar ernst an und dann in die Runde. “Und wir? Wir reißen uns jetzt zusammen und ertragen, dass wir nicht auf alles sofort eine Antwort erhalten. Wir gehen jetzt wieder zurück in den Saal und hören uns an, was Friedwald zu sagen hat.” All das sagte der Geweihte mit einer Strenge, die keinen Widerspruch gelten ließ. Dann schaute er wieder zum Albenholzer. “Und dann schicken wir jemanden nach Albenhus, Hilfe zu holen, wie Eoban es gesagt hat. Solange bürge ich - bürgen wir: Eoban und ich - für Gudekar. Wir nehmen ihn in die Beratung mit hinein und stehen zueinander. Vertrauen wir der Gütigen Mutter, die durch ihren Gesandten spricht!”

"Meine Eltern, das Tempelpaar aus Albenhus - sie kommen morgen ohnehin hierher", sagte Merle mit leiser, sachlicher Stimme. "Doch wenn wir mit ihnen über… alles reden, dann wird ein Stein ins Rollen gebracht, der nicht mehr aufzuhalten ist… Gudekar", sie schaute ihren Mann eindringlich an, "ich will dich nicht öffentlich anklagen. Ich will dich nicht zerstören. Sag du mir, was ich tun kann, um dich zu retten. Bitte."

Der Albenholzer starrte ins Feuer. Mit der rechten Hand über sein Kinn streichend sagte er mit monotoner Stimme: "Die Göttin wird nicht kommen, um zu richten. Vielleicht. Sie wird kommen, um zu heilen, wo Heilung möglich ist." Dabei öffneten sich die Augen des Ritters weit. Flammen spiegelten sich darin wieder.

Rionn hatte seinen Blick nicht von Eoban abgewandt. Nachsinnend hatte er geschwiegen und zugehört. Jetzt aber sagte er mit Bestimmtheit: “So! Ihr habt gehört, was der Gesandte sagt. Wir gehen jetzt wieder zurück in den Saal zu den anderen.” Der Tsageweihte machte eine auffordernde Geste.

Nivard war überrascht, nein, ernüchtert traf es eher. Er hatte gehofft, geradezu erwartet, von Eoban Unterstützung für ihre Sache zu erfahren. Dass er sich nun dagegen aussprach und Rionn auf diese Sicht einlenkte, würde es Gudekar leicht machen, sich der Prüfung zu entziehen. Dann würde der Schatten des Verdachts weiter über ihnen hängen, weiter am Vertrauen zehren. Er wollte gerade insistieren, da...

“Wartet!” kam nun der Ruf von Gudekar. “Eine Seelenprüfung verlangt ihr, um mir wieder zu vertrauen? Nun ja, Rionn, erkläre uns, wie läuft diese ab? Was muss ich dabei tun? Und was werdet ihr daran erkennen?”

Der Tsageweihte hielt inne. Seine Augenbrauen zuckten für einen kurzen Moment nach oben. Ansonsten verblieb sein Gesicht bei dem ernsten Eindruck, den es auch schon die übrige Zeit schon hatte. “Gut. Du hast recht, Gudekar. Wenn wir dich um etwas bitten, dann soll auch klar sein, was wir meinen…”

"Bitte Rionn, sag uns, was bei der Seelenprüfung passiert", bat Merle, dann wandte sie sich wieder ihrem Mann zu: "Gudekar, wir werden das schaffen, Hand in Hand!" flüsterte sie flehend. "Bitte, schließ' mich nicht länger aus deinem Herzen aus! Ich werde dir helfen und bin an deiner Seite! Glaub mir, mein Liebster, wir werden das gemeinsam durchstehen, zusammen und mit Hilfe der Götter!"

Rionn wartete geduldig Merles emotionalen Ausbruch ab, der ihn unterbrochen hatte, und sprach dann mit sanfter Stimme weiter: “Niemals würde ich etwas vorschlagen, zudem ich nicht selbst bereit wäre. Ich habe mich selbst vor zwei Jahren einer Seelenprüfung unterzogen, Gudekar. Als der Sternenkundler mich in Albernia gefunden hatte und niemand wusste, wer ich war, auch ich selbst nicht, da hat Uisce Beatha, die Tsageweihte, die damals in dem Tsatempel in Völs am Waldsee lebte, eine Seelenprüfung an mir vorgenommen, weil es die Vermutung gab, dass ich der Ewigjungen geweiht sein könnte. Das war eine sogenannte `große Seelenprüfung´ - denn nur so konnten wir herausfinden, welcher Gottheit ich geweiht bin.” Rionn sann ein wenig zurück an die ersten Wochen seines `neuen Lebens´ und auch darauf, dass er immer noch nicht deutlich weiter war, was sein Wissen um seine eigene Vergangenheit anbetraf. Es gab nur wirre Gedächtnissplitter, doch sein Gedächtnis in die Zeit vor jenem Tag, an dem Hesindiard von Rickenbach ihn gefunden hatte, war immer noch blockiert. Er seufzte kurz. Es war eigentlich nicht seine Art lange Lehrreden zu halten. Doch er gab sich einen Ruck und begann zu dozieren: “Ich verfüge selbst auch über die Kenntnis des Rituals, welches man die `große Seelenprüfung´ nennt. Es ist eine intensive Meditation, welche viel Ruhe und Zeit bedarf. Im Gebet versetzt sich die Geweihte und der Mensch, der sich ihr anvertraut, immer weiter in eine Trance, sie gleiten immer weiter hinein in die Welt der Seelenregungen, tief hinein in das, was im Aureliani psychē heißt. Die Geweihte berührt den Menschen an seinem Kopfe und spricht die Gebete der Einsicht, die in einem beständigen Gemurmel wiederholt werden. Desto tiefer beide in die Trance geraten, desto mehr verschmilzt der Geist der beiden miteinander. Die Geweihte sieht in den Bildern, welche die tieferen Wirklichkeiten der Seele zeigen, welcher Gottheit oder welchem höheren Wesen der Mensch nahe ist, sie sieht die Bilder des Vollzugs des Glaubens oder der Verbundenheit mit der Entität und schließlich auch den Namen, wie der Mensch seine Gottheit oder das höhere Wesen nennt, mit dem er oder sie verbunden ist. Das ganze dauert mehrere Stunden, es lässt sich nicht genau benennen wie lange, aber es sollte nicht durch irgendeine Eile eingeschränkt werden. Ruhe und Freiheit sind wichtige Voraussetzungen. Darum auch die notwendige, freiwillige Einwilligung. Habe ich das einigermaßen verständlich erklärt?” Er schaute Gudekar fragend an.

Nivard hielt den Atem an. Hoffentlich ließ Gudekar sich darauf ein. Dessen Zustimmung würde mehr Vertrauen wiederherstellen als das Ergebnis der Prüfung. Selbst wenn sich herausstellte, dass die Seele des Anconiters bereits Schaden davon getragen hätte, wüssten sie dann wenigstens, dass er noch dagegen ankämpfte, noch den Willen zum Guten besaß. Dann würden sie auch Hilfe für ihn finden. Falls jedoch nicht…

In diesem Moment öffnete sich die vom großen Saal und Friedewald erschien in dem Durchgang.

~ * ~

Wann geht es endlich los?

Man kann sich wohl vorstellen, wie verblüfft die im Saal verbliebenen Gäste schauten, als die Hälfte der Versammelten sich plötzlich in den kleinen Salon verzog, obwohl man doch gemeinsam auf die Beredung mit dem Edlen Friedewald von Weissenquell wartete. Noch dazu schien die Gauklerin Doratrava die Tür zum Salon zu bewachen. Ein eigenartiges Verhalten dieser Personen!

Kurz nachdem sich Doratrava neben die Tür zum Salon gestellt hatte, betrat Friedewald den Saal und schaute sich irritiert um. Er wandte sich an die Verbliebenen Liana, Ardare, Rahjel, Miranda, Rondrard, und Doratrava.

“Nanu”, fragte er verwundert zu sich selbst, “sind noch gar nicht alle da?” Der alte Edle stand aufrecht in der Tür. Seine Augen wirkten ernst und müde. Er hatte sich umgekleidet, die nassen und verdreckten Jagdkleider abgelegt. Dunkelbraune Lederhosen bedeckten seine Beine, den Oberkörper ein hellbrauner Wams. Darüber hatte er seinen weißen Wappenrock gezogen, der von Familienwappen geziert wurde: Die weiße Quelle, die aus einem grünen Berg entspringt, vor blau-silbernem Feh. Seitlich hing sein Schwert gegürtet. Ein Hauch von Stolz, Würde und alter Stärke vermittelte der Mann mit seinem Auftreten. Der Edle räusperte sich, bevor er zu reden begann. “Ähm, hohe Damen und Herren, verzeiht mein spätes Erscheinen. Es hat alles länger gedauert als gedacht, da Bernhelm und Marno nicht im Haus sind und auch mein Sohn im Dorf unterwegs ist. Ich hatte gehofft, wir könnten gleich beginnen.”

Die Baronin von Rodaschquell nickte. “Ich denke, dass die Zeit bereits trefflich genutzt wurde für einen ersten Austausch.”

“Austausch, sagt Ihr, Euer Hochgeboren?” fragte der Edle. “Zwischen wem? Zum gemeinsamen Austausch wollten doch wir hier zusammenkommen.”

Die großen, schönen Augen Lianas sahen ihn an. Fast, als verstehe sie die Frage nicht so recht. Dann hob sie ihre Hand und deutete in Richtung der Gruppe, die soeben den Hauptsaal verlassen hatte.

“Vielleicht brauchen wir noch etwas mehr Zeit?”

Friedewald schüttelte den Kopf. “Nein, ich denke nicht, dass wir uns noch viel Zeit lassen sollten.” Seine Augen folgten Lianas Blick zur Tür, vor der Doratrava stand. “Sind die anderen dort? Sind denn alle da?”

“Da drin sind Gudekar, Merle, Nivard, Eoban, Rionn und Tsalinde”, ließ sich nun Doratrava vernehmen, ohne sich um Anreden und Titel zu scheren, während sie mit dem Daumen auf die Tür schräg hinter sich deutete. “Sie wollen noch etwas Dringendes mit Gudekar besprechen.” Die Gauklerin bemühte sich um einen neutralen Tonfall, auch wenn es in ihr brodelte. Ungeduld und Ungewissheit und die Sorge um Merle rumorten in ihren Eingeweiden.

Doratrava bot im Moment kein sehr beeindruckendes Bild. Mangels Zeit zum Umziehen trug sie immer noch die von Tsalinde geliehene, zu weite Kleidung, darüber ihren eigenen, noch immer nassen Mantel. Ihre Stiefel hatte sie zwar mittlerweile wieder angezogen, aber eher widerwillig, hatte sie doch auch keine Zeit gefunden, ihre schlammigen Füße zu reinigen, und auch die Hosen von Tsalinde waren noch bis über die Knie schlammbespritzt. Die halb nassen, weißen Haare hingen ihr wirr ins Gesicht und klebten ansonsten flach an ihrem Kopf, so dass ihre spitzen Ohren deutlicher als sonst hervortraten.

Friedewald betrachtete Doratrava, und es kostete ihn alle Willenskraft, nicht über ihr Erscheinungsbild zu schmunzeln, wenn er an die verführerische Erscheinung zurückdachte, die die Tänzerin am Abend zuvor auf dem Fest darbot. “Soll ich Harka schicken, damit sie Euch führt, Euch frisch und trocken zu machen? Nicht, dass Ihr Euch noch den Tod holt, so nass wie Ihr noch immer seid. Sicherlich findet Harka auch ein paar saubere Kleider in Eurer Größe, Doratrava.”

Zweifelnd warf Doratrava einen Blick auf die Tür zum Salon. Bis jetzt war alles ruhig geblieben, also waren sie da drin sich nicht gleich an die Gurgel gegangen. Aber das Angebot auszuschlagen war sicher unhöflich, außerdem fühlte sie sich tatsächlich nicht sehr wohl gerade, wenn sie einmal zuließ, dass ihre äußeren körperlichen Empfindungen zu ihr durchdrangen.

“Ja … das wäre nett von Euch”, meinte sie dann zögernd. “Vielleicht sind ja auch meine eigenen Sachen mittlerweile trocken, die lagen im Gutshaus von … von …”, der Name der Bauernfamilie wollte ihr gerade nicht mehr einfallen, “also da wo wir vorhin waren, am Feuer. Dann bräuchten wir nichts anderes Passendes suchen.” Es würde für ihre Körpermaße vermutlich sowieso schwierig sein, etwas aufzutreiben. Und vielleicht ging es dann schneller. Sie wollte nicht länger als nötig von hier weg sein.

“Wie Ihr meint, Doratrava, dann schicke ich Harka, Eure Sachen vom Hof Wohlgedei holen.” Friedewald ging auf die Wand neben der Tür zu, wo ein Klingelzug angebracht war, und läutete nach der Magd. “Wollt Ihr solange ein Bad nehmen oder Euch frisch machen?”

“Wenn wir dafür Zeit haben … aber kaltes Wasser genügt”, antwortete Doratrava noch immer etwas zögerlich. Sie freute sich ja über die Fürsorge, aber sie wollte wirklich nicht zu lange weg sein. “Habt vielen Dank!”

Da öffnete sich auch bereits die Tür und Wiltrud trat ein. Sie wartete wortlos, bis sie angesprochen wurde.

“Ah, Wiltrud” rief Friedewald die dicke Magd zu sich, “könntest du bitte dafür Sorgen, dass Harka der Dame Doratrava trockene Kleider bringt und sie zu einer Gelegenheit, sich frisch zu machen, führt?”

“Sehr wohl Frie.. Euer Wohlgeboren!” Wiltrud verbeugte sich. “Wollt Ihr mir bitte folgen, Edle Dame?”, forderte sie Doratrava auf.  

Diese verzichtete darauf, die Magd zu korrigieren, und folgte ihr wortlos, mit allerlei müßigen Gedanken beschäftigt.

***

“Wenn Ihr die von Doratrava genannten Personen berücksichtigt, Euer Wohlgeboren, und ebenso die hier Anwesenden seht: Fehlt aus Eurer Sicht noch jemand, oder sind dies alle, die Ihr um diese Unterredung gebeten habt?”, fragte Liana.

Friedewald ging in Gedanken noch einmal die Liste der einbestellten Gäste durch und schaute sich um. “Hm, Euer Hochgeboren, ich vermisse den Herrn Lares. Werte Dame von Mersingen, würdet Ihr bitte Eurem Bruder Bescheid geben? Und Euer Gnaden Rahjel, werter Neffe, ich hätte gedacht, dass Euch vielleicht eure Schwester begleitet? Oder ist sie mit auf der Suche nach Gwenn? Naja, Ihr könnt sie dann später in Kenntnis setzen.”

Da erklang von der Tür her ein helles "hohe Herren und Damen?" Dort wippte ein halbwüchsiges Mädchen von einem Bein aufs andere und als sie sich des Blickes Friedewalds sicher war, winkte sie kurz mit der Hand. "Ich soll Euch ausrichten der hohe Herr von Dürenwald ist aktuell verhindert und verspätet sich." Nach einem kurzen Zögern und das Gesicht verziehen setzte sie noch ein "Ach ja, er bittet euch ihn zu entschuldigen und ich soll Euch TRAvias, RAHjas und PRAios Segen wünschen für Worte und Taten bis er wieder pässlich ist und selber anwesend sein kann." nach.

Friedewald nickte dem Mädchen zu. “Habt Dank, junge Dame! Richtet dem hohen Herrn aus, wir hätten wichtige Kunde und es wäre gut, hier zu erscheinen, sobald er wieder pässlich ist. Mögen die Götter ihre schützenden Hände über ihn und Euch halten. Doch bevor Ihr zu ihm zurückkehrt, lasst Euch in der Küche von Harka eine Stärkung reichen, junge Dame!”

Die Baroness von Kaldenberg äußerte sich nicht, sondern rollte lediglich mit den Augen, sichtlich genervt von der Verspätung.

Das merkliche Missfallen der Kaldenbergerin war durchaus nachvollziehbar. Erst tauchte der Gastgeber deutlich verspätet auf, und nun war ein Teil der Gruppe ohne weiteres Wort in einen Nebenraum verschwunden. Es galt jedoch, Ruhe zu finden vor der Besprechung einer solch zweifellos wichtigen Angelegenheit.

“Vielleicht wissen die anderen noch nicht, dass Ihr eingetroffen seid, Wohlgeboren”, sagte die Rodaschquellerin. “Wenn man sie davon in Kenntnis setzt, werden sie vielleicht hinzustoßen, auf das Ihr beginnen mögt, uns zu sagen, weshalb Ihr uns hierher gebeten habt.”  

“Das mag sein durchaus sein. Ich werde ihnen Bescheid geben.” Friedewald seufzte resigniert, ging zur Tür, die den Salon von dem großen Saal trennte und öffnete diese.

Miranda rutschte unbequem auf ihrem Stuhl herum. Hatte man den Gastgeber nicht informiert. Sie beugte sich zu der zarten Elfe herüber, die sie schon viele Jahre kannte; wenn auch nur als die faszinierende, fremde Frau, mit der ihr Vater wichtige, seriöse Gespräche führte und die immer freundlich und zärtlich zu ihr war - schließlich aber war sie ja die Baronin der Lande, die Rosenhain umgaben. „Euer Hochgeboren, wäre es Euch möglich, meinen Bruder Lares zu entschuldigen? Er ist…indisponiert“, flüsterte sie, sichtlich um Fassung ringend.

Die Baronin beugte sich zu ihr.

“Ich habe ihn seit der Rückkehr der Jagdgruppe nicht wirklich getroffen, sondern nur erfahren, dass die Tragödie bei der Jagd ihn sehr mitgenommen hat. Macht Euch keine Gedanken, ich werde seine Wohlgeboren bitten, ihn zu entschuldigen. Wie geht es Eurem Bruder im Augenblick?”

Miranda wich dem Blick aus großen Elfenaugen aus und schlug die Lider nieder. „Nicht gut. Er…er…er ist nicht ansprechbar. Völlig apathisch. Ich verstehe es nicht. So kenne ich ihn nicht. Er war immer stark und hat die Verantwortung auf sich genommen!“

Seit Lares’ harten Worten in Schweinsfold gegenüber jenen, die das Mandra in sich trugen, und deren Liana Zeuge wurde, war das Verhältnis zwischen ihm und der Herrin von Rodaschquell nicht mehr ungetrübt. Dennoch bekümmerte es sie, dass der neue Herr von Rosenhain, den auch sie selbst stets als stark und voller Tatendrang erlebt hatte, so mitgenommen war.

“Euer Bruder besitzt einen starken Willen”, sagte die Elfe sanft und bestimmt zugleich.

“Ich habe keinen Zweifel, dass er das, was geschehen ist, mit der Zeit überwinden wird. Und genau das ist es, was Ihr ihm nun geben solltet: So viel Zeit, wie er benötigt.”

„Meint Ihr? Euer Hochgeboren, das wäre wirklich schön“, erwiderte die junge Frau, doch merkte Liana, dass sie ihr nicht glaubte - oder noch nicht glauben konnte. Der Zustand ihres Bruders musste sie fundamental aufgerührt haben. „Irgendwie…ich weiß nicht…etwas…“ Miranda brach den Satz ab und versank in Schweigen.

Liana sagte nicht gleich etwas dazu. Denn es bedurfte keiner fragenden Worte, und sie verstand nur zu gut, was die junge Dame von Mersingen aufwühlte. Vorsichtig fasste sie nach Mirandas Hand. Sah ihr in die Augen.

Eine Weile lang.

Schließlich brach sie ihr Schweigen.

“Ihr wisst besser als ich, dass Euer Bruder ein Mann von großer Willensstärke ist. Und von daher können wir darauf vertrauen, dass er über diesen Schmerz hinweg kommen wird. Nur wird er dafür Zeit benötigen. Und die Gewissheit, dass Ihr ihm Kraft geben könnt, weil seine eigene in diesem Moment verbraucht ist.”

Ein zaghaftes Lächeln glitt über Lianas Züge.

„Ich…danke“, nickte die Hofdame und versuchte ebenfalls, ihre Gesichtszüge in den Griff zu bekommen. Die Freundlichkeit der gutherzigen Elfe beruhigte die nagende Stimme in ihrem Kopf, dass ihr Bruder nicht mehr bei Verstand war.

~ * ~

Saubere Kleider für die Tänzerin

Die Magd Wiltrud führte Doratrava aus dem Besprechungssaal in die Eingangshalle des Herrenhauses. “Wartet hier bitte einen Moment, Edle Dame! Ich hole meine Tochter Harka, sie kann Euch ins Badehaus führen und Euch frische Sachen bringen. Wiltrud musterte die Tänzerin von oben bis unten. “Naja, ein wenig zierlicher als Mika seid ihr ja, aber ich denke, eines ihrer alten Kleider könnte euch passen.”

Die Magd drehte sich um und ging in die Küche, ohne die Tür hinter sich zu schließen. aus dem Raum hörte Doratrava Wiltruds Stimme. “Harka, mein Schatz, kannst du der Dame da draußen eines von Mikas Kleider bringen und ihr zeigen, wo sie sich waschen kann?”

“Ja, Mutter, ich komme gleich”, rief eine jüngere Stimme zurück.

“Wolltet ihr nicht meine Sachen vom Gut Wohlgedei holen?”, fragte Doratrava leicht verwundert. “Die liegen da seit Stunden am Feuer zum Trocknen. So richtig sauber sind sie allerdings nicht mehr … ich war ja mit auf der Jagd."

“Wenn Euch Eure eigenen Kleider lieber sind, dann kann Harka die natürlich holen, Edle Dame”. stimmte Wiltrud zu. “Los, Harka, geh!” Wiltrud wandte sich zu Doratrava. “Und bis Harka zurück ist, könnt Ihr Euch oben im kleinen Baderaum frisch machen. Dort ist es wärmer als im Badehaus.”

Doratrava nickte zustimmend, dann folgte sie den Anweisungen zu dem Baderaum und schaute sich um.

Es war ein relativ kleiner Waschraum, in einem Waschtisch war eine Schüssel eingelassen. Eine Kanne mit Wasser und eine Schale mit Seife stand daneben. “Ist es euch warm genug? Sonst könnt ich dort die Belüftung aufmachen. Da kommt die warme Luft vom Kamin unten hoch.” Wiltrud ging wieder zu Tür. “Benötigt ihr noch etwas?”  

Eigentlich war Doratrava nicht sonderlich verfroren, aber nachdem sie fast den ganzen Tag bisher teilweise im strömenden Regen und durchnässter Kleidung zugebracht hatte, konnte ein wenig Wärme nicht schaden. “Das mit der Belüftung hört sich gut an”, erwiderte sie daher. “Ansonsten komme ich zurecht. Falls mir doch noch etwas einfällt, kann ich ja rufen. Du bist in der Nähe?”

“Ja, ich bin unten in der Küche”, bestätigte Wiltrud. Ihr könnt aber dort”, die Magd zeigte auf eine Klingelschnur, wie Friedewald sie unten benutzt hatte, “ziehen, und dann komme ich.” Mit diesen Worten verneigte sich die Magd und verließ den Raum.

Als Doratrava die Lüftungsklappe öffnete, hörte sie Stimmen, die aus der Wand kamen.

Das weckte natürlich sofort Doratravas Neugier und sie lehnte sich zu der Lüftungsklappe, um zu lauschen, ob sie etwas verstand. Waren das Stimmen aus dem Salon?

Tatsächlich konnte Doratrava Rionns Stimme erkennen und seine Worte verstehen, der gerade über seine eigene Seelenprüfung berichtete.

Gebannt lauschte Doratrava unwillkürlich, was der Tsa-Geweihte da erzählte, wenn ihr es auch so vorkam, als käme das, was der Betroffene spürte, etwas arg schwammig herüber, ob das nun Rionns Absicht war oder nicht.

Als sie hörte, wie Friedewald in den Salon rief, fiel ihr wieder ein, dass sie sich hatte waschen wollen. Hastig entledigte sie sich ihrer geliehenen Kleider und begann damit, sich einzuseifen, wenn auch ein wenig ungelenk, da sie gleichzeitig versuchte, nichts von dem zu verpassen, was unten gesprochen wurde.

Mit genügend Konzentration war es Doratrava auch am Waschtisch möglich, der Unterhaltung unten zu folgen.

~ * ~

Zwischen Tür und Angel

Friedewald öffnete die Tür zwischen großem Saal und Salon, um die ‘Ausreißer’ zurück in den großen Saal zu bitten. Da der Edle in der offenen Tür stehen blieb, konnten auch die Wartenden alle Worte hören, die nun gewechselt wurden.

“Ah, hier seid ihr”, bemerkte der Edle. “Würdet ihr bitte kommen, die anderen Gäste warten schon, dass wir mit der Beratung anfangen können.”

“Jetzt nicht, Vater” entgegnete ihm Gudekar etwas unwirsch. Dann fing er sich wieder und sprach mit sanfter Stimme weiter. “Verzeiht, Vater! Würdet Ihr uns bitte noch für einen Augenblick entschuldigen? Dann kommen wir gleich.”

Friedewald war ob der Dreistigkeit seines Sohnes derart überrascht, dass ihm zunächst die Worte fehlten.

Die unwirsche Antwort Gudekars auf Friedewalds Einladung ließ die Herrin von Rodaschquell aufmerken. So kannte sie den Magier nicht, der so viele Jahre in Donnerbach gewesen war, ihrer alten Heimat.

Fast ein wenig besorgt blickte sie kurz in Richtung des Nebenraums. Es war ihr sichtlich unangenehm, ungewollt Zeugin dieses kleinen Disputs zu werden, und sie schlug betreten die Augen nieder.

Merle unterdrückte ein Seufzen. Gerade hatte sie für einen kurzen Moment Hoffnung geschöpft, dass Rionn zu Gudekar durchdringen und ihr Mann sich nicht nur zu der Seelenprüfung bereit erklären würde, sondern vielleicht auch den allerersten Schritt tat, vom verderblichen, selbstzerstörerischen Pfad des Frevlers und Eidbrechers abzurücken, um in Travias Wärme, Gnade und Geborgenheit zurückzukehren. Und zu ihr. Doch nun platzte Friedewald im ungünstigsten Moment herein... Sie schluckte ihre Frustration herunter und nickte ihrem Schwiegervater freundlich zu. "Bitte entschuldige, Vater Friedewald! Könntest du uns eventuell noch einen kleinen Moment geben? Es ist sehr wichtig und duldete gerade keinen Aufschub. Aber wir kommen wirklich gleich zu euch!" Sie zeigte Friedewald ein offenes, entschuldigendes Lächeln und versuchte, ihn mit ihrem Blick wortlos zu bitten, noch einmal die Tür zu schließen und ihnen weitere Augenblicke der Privatsphäre zu gewähren.

Nivard war - vor lauter Anspannung - richtiggehend zusammengezuckt, als Friedewald hereingeplatzt war. Ausgerechnet in dem Moment, in dem Gudekar so kurz davor gestanden hatte, sich auf die Seelenprüfung einzulassen. Dass der Anconiter aber die Fluchtmöglichkeit, die sein Vater ihm unbeabsichtigt eröffnet hatte, nicht sofort nutzte, sondern blieb und das Gespräch weiterführen wollte, mochte ein weiteres gutes Zeichen sein. Wieder richtete sich Nivards Aufmerksamkeit voll und ganz auf die Reaktion Gudekars.

Auch Rionn war zunächst irritiert, als die Türe sich am Ende seines Vortrags über das Ritual der Seelenprüfung öffnete. Er hätte sich auch noch eine Reaktion Gudekars gewünscht. So missfiel ihm zunächst die Unterbrechung durch Friedewald. Doch dann rief er sich innerlich zur Ordnung: wenn das stimmte, dass er Gudekar nicht bedrängen wollte, dann musste er jetzt auch zulassen und aushalten können, keine direkte Antwort zu erhalten. Er versuchte gelassen zu bleiben und schaute nun nach dem kurzen Dialog zwischen Friedewald und Gudekar sowie Merle, wie sich die Situation nun entwickeln würde.

Friedewald wandte seinen Blick zu Merle. Beim Anblick ihres Lächelns verflog sein Ärger über Gudekar sogleich. Merle wollte also zunächst mit ihren Freunden und Gudekar allein sprechen? Nun gut, dachte er, sie hatten Friedewald ins Vertrauen gezogen, so dass es überhaupt erst zu dieser Versammlung kam. Wenn sie noch etwas zu klären hatten, dann sollte es so sein. “Beeilt euch aber bitte”, ermahnte der Edle mit einem freundlichen Nicken. “Wir wollen die hohen Herrschaften nebenan nicht unnötig lange warten lassen.” Friedewald wollte sich gerade zurückziehen und die Tür schließen, als er noch einmal erst zu Gudekar und dann zu Merle schaute. “Denk bitte an meine Worte von vorhin, Merle”, ermahnte er seine Schwiegertochter noch einmal, woraufhin Gudekar seine Gemahlin fragend ansah.

Kurz schaute Merle irritiert, da ihr im ersten Moment selbst nicht klar war, welche seiner Worte Friedewald meinte. Das mit dem Brief vermutlich? So nickte sie ihm nur schlicht zu und lächelte dankbar. “Ja, natürlich, Vater Friedewald. Wir sind gleich soweit.”

“Gut, dann bis gleich.” Friedewald ging in den Saal zurück und schloss die Tür hinter sich.

Der Albenholzer schwieg, die Augen noch immer auf das Feuer gerichtet. Diese waren aber nicht entspannt, sondern bei einigen der Beiträgen weit geöffnet, aufmerksam.

Eoinbaiste hatte neugierig in den Raum gelugt, als Friedewald die Türe geöffnet hatte. Was mochten sie nur dort hinter der verschlossenen Tür besprechen? Der Novize platzte fast vor Neugier. Umso größer war seine Enttäuschung, als Friedewald die Türe wieder verschloss.

In Erwartung des Ausgangs des kurzen Austausches hatte Doratrava den Atem angehalten und ihre Bemühungen, sich zu waschen, eingestellt, aber nun ließ sie die Luft aus ihren Lungen entweichen und setzte die gleichmäßig kreisenden Bewegungen mit der Seife fort. Sie war erstaunt, hätte sie doch angenommen, dass Gudekar die Gelegenheit nutzte, um der Befragung zu entkommen. Umso gespannter war sie nun, wie es weiterging.

Neben den dringlichen Angelegenheiten, wegen derer Friedewald um Unterredung ersucht hatte, gab es offenkundig noch Angelegenheiten des Herzens. Und wie so oft würden die dringlichen vermutlich so lange warten müssen, bis jene des Herzens geklärt waren, dachte Liana bei sich. Denn sonst wären die Gedanken nicht wirklich frei und fokussiert …

Tsalinde überließ Gudekar, Merle und Rionn ihrem Gespräch. Vermutlich hätte eine Einmischung ihrerseits eher zu mehr Gegenwehr des Magiers geführt. Also stellte sie sich neben Eoban an den Kamin und schaute in die Flammen. “Es tut mir leid, Eoban. Wir alle haben euch enttäuscht. Doch bitte, vergesst nicht, dass wir alle Menschen sind und jeder von uns Fehler hat und macht.”

Eoban blickte kurz mit einem milden Blick auf Tsalinde. Dann wandte er sich wieder dem Feuer zu und strich mit der Hand über das Kinn.

~ * ~

Gudekars Entscheidung

(Gudekar, Merle, Nivard, Tsalinde, Rionn, Eoban)

Nachdem Friedewald den Salon wieder verlassen hatte, schien die Stimmung hier am Kamin gedrückter als zuvor. Waren die zarten Triebe der Vernunft, die Rionn und Merle bei Gudekar zum Wachsen gebracht hatten, nun schon wieder verwelkt?

Merle sah fragend zu Rionn. Er hatte eine so unbefangene und freundliche Art an sich, dass Gudekar tatsächlich bereit schien, sich zumindest ein wenig zu öffnen. Daher wollte sie es dem Geweihten überlassen, nach dem Schließen der Tür das Wort erneut zu ergreifen.

Als die Türe wieder geschlossen war, blickte Rionn forschend in die Runde. Sein Blick blieb bei Gudekar hängen. “Äh”, stieg er vorsichtig mit einem Lächeln auf seinem Gesicht wieder ein, “wir waren unterbrochen worden.” Kurz schmunzelte er noch, dann blickte er wieder ernst. “Gudekar. Hat dir meine Ausführung geholfen? Oder hast du noch Fragen?”

Gudekar blickte sich schweigend um, er schaute jedem der fünf Gefährten der Reihe nach in die Augen und versuchte zu ergründen, was ihre Augen ihm zu sagen hatten.

Zunächst blickte Gudekar in die Augen seines Freundes Eoban, von dem er sich am ehestens Vertrauen erhoffte.

Eoban spürte Blicke in seinem Nacken, richtete den Kopf auf und drehte sich zu Gudekar um.

"Gudekar, mach was Du als richtig siehst. Du weißt, so wie das Brot wird auch die Gemeinschaft aus vielen Körnern gemacht. Ein faules Korn ist oft nur eines unter vielen. Ein einzelnes reines Korn kein Zeichen für gesunde Saat." Mit diesen Worten wanderten die Augen des Albenholzers zu dem Geweihten.

Der Anconiter nickte und lächelte seinen Freund dankbar an. Er verstand dieses überaus passende Gleichnis.

Doratrava verdrehte die Augen bei Eobans unvermittelt einsetzendem Geschwafel, sie wusste ja nichts von Gudekars forschendem Blick. Wollte der Ritter damit etwa sagen, sie alle seien schuld, wenn Gudekar ein “faules Korn” war? Und wenn er ein “reines Korn” war, dann könnten trotzdem andere in der Gruppe “faul” sein? So dass letztlich die Seelenprüfung keinen Vorteil bringen würde? Oder waren Eobans Worte lediglich der ausschweifende Ausdruck für ‘Mach, was du für richtig hältst', wie er seine Ansprache ja auch eingeleitet hatte? Blabla, dachte die Gauklerin bei sich.

Die Worte des Albenholzers lösten in Rionn eine blitzartige Nachhallerinnerung aus, einen Fetzen aus seiner Vergangenheit, in den sich der Tsageweihte schlagartig zurückgeworfen fühlte. Nur in seinem Unterbewusstsein gab es noch Reste seines `alten Lebens´, an das er sich zu seinem tiefen Leidwesen nicht mehr bewusst zu erinnern vermochte. Nun stiegen mit Wucht die Bilder dieses Erinnerungsfetzens in seinem Geiste auf. Rionn konnte sich nicht dagegen wehren. Er sah sich, wie er in Tobrien an den Krankenbetten einiger fiebernder Bauern saß und ihnen nasse, kühle Wickel auf Stirn, Waden und Gelenke, und wechselte die Wickel beständig aus, tauchte sie in den Eimer mit dem kalten Wasser. Die armen Geschöpfe quälte der Fieberwahn. Sie gingen buchstäblich durch die Niederhöllen. Da hatten er und seine Freunde im Dreischwesternorden zusammen mit den Bauern ihr Bestes, das verwüstete Land, das vom Feind abgerungen zurückgewonnen wurde, wieder urbar zu machen und die Felder zu bestellen. Nun wuchs das Korn wieder auf den Feldern, doch es gab immer wieder bittere Rückschläge wie dieser hier. Die Bauern hatten sich am Brot, das sie gebacken hatten, vergiftet. Ein einzelnes Mutterkorn hatte ausgereicht und alles war verdorben. Nun fieberten die Bauern dort und entglitten der Wirklichkeit, in ihren Halluzinationen sahen sie die schlimmsten Monster und Dämonen. Rionns Blick fiel auf das Holzbild an der Wand des improvisierten Siechenhauses. Eine Perainegeweihte aus dem Orden hatte aus ihrer Heimat, den Nordmarken, mitgebracht. Es war von dem berühmten eisensteiner Holzkünstler `Grunewald´, der seinerzeit den beeindruckenden Isenhager Altar in der Wehrhalle zu Elenvina gestaltet hatte, als sein Freund Palladiosch Sohn des Vitrufax den Tempel erbaute. Das Holzrelief an der Wand des tobrischen Sichenhauses zeigte Szenen aus dem Leben des Anconius von Baburin, des Gründers der Anconiter. Die Bauern hier litten unter Anconiusfeuer.

Gudekars zweiter Blick wandte sich an Nivard, schien er doch vergleichsweise neutral zu Gudekar eingestellt zu sein.

"Unser gemeinsamer Feind dient dem Erzwidersacher der gütigen Mutter Travia. Sie ist die allzeit Treue, Bewahrerin der Schwüre und Versprechen, Hüterin von Gemeinschaft und Familie, Sitte und Moral. Aus ihr rührt unser Glück und die Zufriedenheit mit dem, was wir dank ihr haben. Der Feind ist das Gegenteil. Wo steht Ihr, Gudekar? Im Herzen und in Euren Taten?" Nivard betete, dass Gudekar den richtigen Schluss für sich zog und sich der Prüfung stellte.

Gudekar schloss bei Nivards Moralpredigt die Augen und verdrehte diese innerlich. Der Anconiter wusste genau, wo er stand. Hatte er nicht unermüdlich gegen den Pruch gekämpft? Hatte er nicht alles aufgegeben, was ihm einst wichtig war in seinem Leben? Hatte er nicht mit ansehen müssen, wie ein guter Freund gefangen und gefoltert wurde und dieser daran zerbrochen ist, obwohl er, Gudekar alles gegeben hatte, um Reto zu retten? War er nicht bereit, seine Familie, sein Zuhause aufzugeben, um sie alle zu beschützen? Hatte er nicht unaufhörlich versucht, den Pruch zu finden, um ihn von der falschen Bahn abzubringen? Ihm musste man nicht vorhalten, nicht alles für das Gute, für das Wohl der Menschen, an denen ihm etwas lag, zu tun. Er, Gudekar, wusste, dass er für die richtige Seite kämpfte. Sie alle würden es früher oder später erkennen und ihm dann danken.

Gudekar öffnete seine Augen und schaute Nivard an. „Ich stehe auf Eurer Seite! Ich kämpfe für die Nordmarken, daran braucht Ihr nicht zu zweifeln.“

Nun wanderte sein Blick zu Tsalinde. Mit großem Misstrauen versuchte er zu ergründen, wie diese Frau, mit der er vor zwei Götterläufen versehentlich eine Nacht verbracht hatte, und die ihm seitdem immer wieder mit so viel Hass entgegentrat, auf seine Antwort reagieren würde.

Auch Tsalinde spürte den Blick des Magiers und drehte sich kurz zu ihm um. In ihren Augen konnte er lesen, wie sehr sie sich wünschte, er würde sich dieser Prüfung unterziehen, damit sie ihre Angst verlieren und ihm wieder vertrauen könnte. Doch verstand er nicht, warum sie sich derart vor ihm fürchtete.

Nach Tsalinde schaute Gudekar zu Rionn. Der Anconiter wusste, dass es Rionn ernst damit war, dass er Gudekars Seele retten wollte, auch wenn dies nicht notwendig war, war seine Seele doch nicht in Gefahr. Doch Gudekar wollte in Rionns Augen ergründen, ob es bei dem Ritual ein Detail gab, das der Geweihte in seinen Ausführungen zu erwähnen vergaß.

Anconiusfeuer? Rionn spürte den Blick des Anconiters. Nur mit Mühe konnte der Tsageweihte sich aus seiner Nachhallerinnerung zurückkämpfen in die Gegenwart. Die fehlende Erinnerung an sein Leben belastete Rionn sehr, es blieben ihm nur diese zusammenhanglosen Erinnerungsfetzen. Gudekar konnte das Leid in seinen Augen sehen. Rionn dachte an die Seelenprüfung, die die albernische Tsageweihte Uisce Beatha mit ihm durchgeführt hatte. Sie waren tief in seine Seelenregungen eingedrungen, es waren viele Bilder in ihm aufgestiegen. Bilder, die Rionn nicht zuordnen konnte, die ihm viele Rätsel aufgaben. Mit dem Ritual stieg die Geweihte tief hinab in das Unterbewusstsein, auch in Bereiche des Selbst, in denen die Anteile der eigenen Persönlichkeit lagerten, die man aus gutem Grunde dort verborgen und begraben hatte. Das aufzubrechen und an die Oberfläche zu holen war sehr schmerzhaft, erinnerte sich Rionn. Die Geweihte interessierte sich lediglich für Indizien, die ihre Vermutung bestätigten, dass Rionn eine Ordination erhalten hatte, und ob er womöglich der Ewigjungen geweiht sein könnte. Mit den vielen Bildern aus der Tiefe seiner Seele aber ließ sie ihn allein. Das hatte Rionn aufgewühlt und tat es noch heute, wo er sich an diese Seelenprüfung erinnerte. Er musste mit all diesen Bildern leben, den Erinnerungsfetzen, vermochte die Mosaiksteine der vielen Bilder aber nicht zu einem großen Ganzen zusammenzufügen. Das war der tiefe Schmerz des Tsageweihten.

Gudekar wusste von alldem nichts, doch er sah einen tiefen Schmerz in Rionns Augen, der auf dessen Seele lag. Die den Tsageweihten sonst eigene Unbeschwertheit ließ Rionn vermissen. Doch nichts deutete darauf hin, dass der Geweihte nicht sein Bestes wollte.

Als letztes wanderte Gudekars Blick zu Merle. Doch blickte er zunächst schuldbewusst zu Boden. Er wusste, dass er Merle Unrecht getan hatte, und es tat ihm leid, dass sie so sehr leiden musste und dass er dies nicht verhindern konnte. Der Anconiter schloss die Augen und atmete tief ein. Schließlich schlug er die Augen auf und suchte Merles Blick.

In Merles großen, braunen Augen lagen in diesem Moment weder Zorn noch Verbitterung, weder Scham noch Verletztheit, wie Gudekar sie zuvor an diesem Tag in ihrer Miene gesehen hatte. Jetzt begegnete sie seinem Blick mit einem Ausdruck, der vor allem… vertraut war. Sie blickte ihn mit derselben innigen Zuneigung und Hingabe an wie an ihrem Hochzeitstag, damals blumengekränzt und mädchenhaft in ihrem einfachen weißen Kleid, als sie nach langen Gefechten mit seiner Familie endlich den Bund hatten eingehen dürfen.

In Merles Augen lag die sanfte Sorge und Zuwendung, mit der sie ihrem Mann nach einem langen Arbeitstag im Kloster oftmals ein Glas Wein gebracht, sich an ihn gekuschelt und ihn leise ermahnend gebeten hatte, sich trotz aller Pflichten mehr Ruhe und Schlaf zu gönnen.

Und da war noch eine Spur von Sehnsucht nach körperlicher Nähe, Verlangen nach seiner Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit, nach der leidenschaftlichen Vereinigung ihrer Körper. So, wie sie ihn angeschaut hatte, als sie zueinander gefunden hatten, ein frischgebackener Magus und ein blutjunges Waisenmädchen, mit flatterndem Herzen bei ihren ersten heimlichen, fast nervenzerreißend aufregenden Treffen in irgendwelchen Ställen und Scheunen. Aber vor allem stand Liebe in Merles Blick… tiefe, unerschütterliche Liebe für diesen, ihren Mann, dem sie unter Travias segnender Hand Vertrauen und ewige Treue geschworen hatte. Sie durfte, wollte, konnte ihn nicht aufgeben. Erneut sammelten sich Tränen in ihren glasig schimmernden Augen, doch blieb ihr Blick fest und fokussiert, erfüllt von Hoffnung und Göttervertrauen, dass dieser Moment, dieser Blickwechsel, der erste, zögernde Schritt war, um Gudekar und sie wieder zusammenzuführen. Wenn er sich nach Umkehr sehnte, er sein verhärtetes Herz nur ein Stückchen für sie öffnete, dann würde es Hoffnung für ihre Ehe geben.

"Ich weiß, wie schwer es ist, Liebster. Aber ich bin für dich da", sagte sie schlicht und drückte ihn auf vertraute, tröstende Weise an sich, sodass ihre wispernde, leise Stimme, ihre warme Umarmung und der zarte Duft ihres Haars ihn umfingen. "Stoß mich bitte nicht mehr fort. Komm' zurück nach Hause."

Sanft legte Gudekar seinen Zeigefinger auf Merles Lippen. “Psssst!” zischte er ihr leise zu. Seine Augenlider schlossen sich, er erwiderte ihre Umarmung, zog sie fest an sich. Tief sog er den vertrauten Duft ihrer Haare in sich auf. Schon so lange fühlte er sich ihr nicht mehr derart nahe wie in diesem Moment. Er ließ ihre Umarmung geschehen, spürte ihre Nähe, ihre Wärme. Noch einmal die Erinnerungen an alte Zeiten erleben, noch einmal dieses aufregende Gefühl mit Merle erfahren, als ihre Liebe neu war, unerforscht, ein Geheimnis, etwas, das nur für sie und ihn war. Diese Unbedarftheit, das Abenteuer des Heimlichen. All dies versprach der Blick in ihren Augen, den sie ihm zugeworfen hatte. Ihre Worte versprachen Geborgenheit, Vertrautheit, ewige Verbundenheit. Das war nicht das Neue, Aufregende, Unerforschte. Die Zeiten von früher würden mit Merle nie zurückkommen. Dies konnte sie ihm nicht mehr bieten. Merle war der sichere Hafen. Meta war die stürmische See, auf der er neuen Ufern entgegenreisen konnte. Meta war das, was einst Merle für ihn bedeutete.

Eine gefühlte Ewigkeit verharrte er regungslos mit geschlossenen Augen in Merles Umarmung. Sein Atem wurde ruhiger. Merle spürte, wie er sich langsam entspannte. Merle spendete ihm innere Ruhe.

Plötzlich hörte Doratrava Merles Stimme, leise nur, aber gerade noch verständlich. Beim Wort “Liebster” zogen sich ihre Eingeweide zusammen, auch der Tonfall ihrer Stimme, soweit sie ihn wahrnehmen konnte, ließ erneut erkennen, wie verfallen Merle Gudekar war, trotz all seiner Taten, seiner mehrfach und nachhaltig bewiesenen Untreue. Ist es so, wenn der Pruch seine Frauen verführt?, schoss ihr da ein jäher, ungebetener, ungewollter Gedanke durch den Kopf. Bringt er sie so dazu, alles für ihn zu tun? Doratrava versuchte, diese Gedanken, die nicht wahr sein konnten, abzuschütteln, doch alles, was sie schaffte, war, dass erneut Tränen in ihre Augen traten.

Dann flüsterten die beiden auch noch miteinander, aber so leise, dass die Gauklerin nichts verstand. Sie verfluchte den Umstand, dass sie nicht sehen konnte, was da unten vor sich ging. Oder vielleicht war es auch besser so.

Eng und innig, wie eine Ertrinkende, drückte Merle ihn an sich, nicht sicher, wer von ihnen eigentlich wen festhielt, wer wen beruhigte. Sie spürte nur, dass es fast wie früher war… wenn sie einander in den Armen gehalten und Kraft und Stärke geschenkt hatten. Ein ganzes Jahr war es nun schon wieder her, seit sie sich ihrem Mann das letzte Mal so nah und verbunden gefühlt hatte. “Ich habe dich vermisst”, murmelte sie mit erstickter Stimme in seine Halsbeuge. “Gudekar, ich hab dich so vermisst...”

Der Tsageweihte beobachtete die Innigkeit der beiden mitfühlend. Tief im Inneren, dachte Rionn, war Gudekar ein gutherziger Mensch. War er nun hin und her gerissen in einem typisch menschlichen Dilemma? Oder hatte der Bäckergeselle nachgeholfen? Diese Fragen bohrten im Herzen des Geweihten. Er machte sich aufrichtig Sorgen um Gudekar.

Erreichte Merle Gudekar etwa? Fast sah es so aus. Hoffnung glomm in Nivard auf, und er begann zu beten: 'Gütige Mutter Travia! Schenke Gudekar, der so tapfer für Deine Sache gestritten hat, Vergebung und die Einsicht, dass Merle seine wahre Liebe, seine Heimstatt und Bestimmung auf immerdar ist! Erlöse ihn von seiner Unruhe und schenke ihm den inneren Frieden, die Zufriedenheit mit dem unermesslichen Glück, das Du ihm in Gestalt Merles und Lulus schenktest. Befreie ihn von der Besessenheit von dieser Meta und tilge jeden Flecken des Einflusses Deines Widersachers aus seiner Seele.‘

Eoban sah weiterhin stumm den Geweihten an und behielt seine Gedanken für sich.

Tsalinde war schockiert. Was muss wohl noch geschehen, damit Gudekar aufhörte, seine Frau so zu quälen. Sah er denn nicht, dass jede dieser Berührungen der Mutter seiner Tochter nur Hoffnungen machte? Wut kochte in ihr hoch. Wie kann dieser Mann einer Frau, die ihn so sehr liebt, nur so martern?

Immer wieder sagte sie sich im Kopf: ‘Es ist ihre Entscheidung, das geht dich nichts an.’ Doch es half nur wenig. Am liebsten würde sie dazwischen gehen, um Merle zu beschützen.

„Ich vermisse dich auch, Merle.“ Gudekar sprach leise, doch flüsterte er nicht. „Du weißt, dass es mir leid tut, was ich dir antue. Aber bitte vertraue mir, ich bin kein Paktierer.“

"Es hat niemand behauptet, du wärst ein Paktierer." Für einen Moment schaute Merle ihrem Ehemann ernst, aber gefasst in die Augen, während sie in der tröstlichen Umarmung verweilte. "Doch hast du mir gesagt, dass Er deiner Meinung nach dahinter steckt, dass du plötzlich für Meta entbrannt bist. Dass genau dies sein Plan gewesen wäre. Wenn es wirklich so ist, wie du sagst, dann liegt möglicherweise ein Schatten auf deiner Seele, gegen den du ankämpfen musst. Und dabei werde ich dich unterstützen." Sie blickte voller Dankbarkeit in die Runde seiner treuen Gefährten. "Wir alle."

Nach Merles Beitrag blinzelte Eoban prüfend mit den Augen.

Tsalinde ballte die Hände zu Fäusten. Hatte dieser elende Mistkerl ernsthaft den Einfluss eines Dämonen als Ausrede für sein Verhältnis zu Meta benutzt?

Nivard keuchte vernehmbar. Wenn Gudekar selbst den Verdacht spürte und sogar geäußert hatte, dass Travias Widersacher hinter seinen Gefühlswirren steckte - so hatte er gestern Abend aber gar nicht geklungen, als er von Rahjas Wirken schwärmte - dann verstand Nivard umso weniger, warum er sich nicht sofort von Meta löste. Wie konnte sich jemand wie Gudekar nur auf eine solche Liebelei einlassen.

Rionn nickte bestätigend bei Merles Worten. Nein, Gudekar war kein Paktierer. “Es wäre aber sicher für dich selbst gut, zu wissen, ob es einen fremden Einfluss geben könnte”, murmelte er und sprach seinen Gedanken damit laut aus. Dann schaute er auf, Gudekar in die Augen und ergänzte mit klaren Worten: “Aber das musst du selbst für dich wollen. Du musst es entscheiden. Brauchst du noch etwas von uns, was dir bei dieser Entscheidung helfen könnte? Oder ist alles gesagt?”

Ausdruckslos sah Eoban den Geweihten an.

Zum wiederholten Mal hielt Doratrava inne in dem Bemühen, sich sauber zu bekommen, da die da unten so leise sprachen und sie sich sehr auf das Lauschen konzentrieren musste. Es war allerdings nichts Neues, was sie da vernahm, dennoch wühlten Merles, aber vor allem Gudekars Worte, wie er Merle vermisste, in ihren Eingeweiden.

Doch dann dachte sie plötzlich an Jel. Und dann an Rahjalind. An Cupida. An Ivrea, die ihr sogar einen neuen Namen gegeben hatte. Vermisste sie all diese Frauen? Hatte sie Jel vermisst, als sie mit Cupida erlag? Cupida, als sie Rahjalind erkundete? Und Ivrea ... war noch einmal etwas ganz besonderes gewesen, hatte alle Gedanken an ein "vorher" verblassen lassen, nein weggewischt. Aber war das dasselbe mit Gudekar und Meta und Merle? Sie selbst hatte all ihre Freundinnen geliebt, glaubte sie zumindest, denn niemals hatte sie die Gefühle bis zur Neige auskosten können, immer hatten sie sich nach spätestens zwei, drei Tagen getrennt, aus verschiedenen Gründen, im Guten oder im nicht ganz so Guten. Wie sollte sie wissen, wie es sich anfühlte, jemanden zehn Jahre lang zu lieben? Konnte man das überhaupt? Wenn man nach so langer Zeit eine neue Liebe fand, vermisste man die alte dann so, wie sie selbst Jel nach einem Tag vermisst hatte, also so, als hätte man ihr das Herz herausgerissen? Oder nur so wie einen liebgewonnenen Gebrauchsgegenstand, das Lieblingsmesser oder das Lieblingskleid? Und es gab noch einen Unterschied: all ihre Liebschaften hatten sich spontan ergeben, und weil sie im Grunde trotz ihrer 24 Jahre immer noch ein dummes, naives, unerfahrenes Kind war, musste sie sich immer gleich in (fast) jede Frau verlieben, die ein wenig nett zu ihr war. Inwieweit das auf Gegenseitigkeit beruhte, konnte sie bei den meisten der Genannten nicht sagen, denn dazu hätten sie wohl länger zusammen sein müssen. Und da es dazu nie gekommen war, hatte es keine Schwüre, weder zwischen Menschen noch vor Göttern gegeben. Was bedeutete, sie hatte keine Ahnung, wie sich ein Versprechen vor Travia überhaupt genau auf beide Partner auswirkte und was es gefühlsmäßig bedeutete, ein solches zu brechen und ob das überhaupt bei jedem und jeder gleich war, ob Travia eine andere als eine strafende Hand im Spiel hatte, ob sie es überhaupt mitbekam und ...

Doratrava merkte, wie ihre Gedanken wirr wurden und ihre Überlegungen sich verknoteten. Außerdem merkte sie, dass sie in der nassen Pfütze saß, die sich mittlerweile unter ihren nackten Füßen gebildet hatte, weil sie nicht darauf geachtet hatte, was sie mit Wasser und Seife tat. Dass sie die halbe Kammer mit Seifenspritzern verziert hatte, war ihr noch gar nicht aufgefallen. Aber all das nahm sie nur am Rande wahr, während sie die Beine anzog und mit den Armen umschlang und mit dem Kopf auf den Knien leise weinte. Ja, sie vermisste alle ihre Geliebten, Jel und Ivrea am meisten, und doch hatte sie sich in Merle verliebt, weil diese so unglaublich nett und süß war, und vielleicht auch, weil sie so verzweifelt und hilfsbedürftig war, was ihren ausgeprägten Beschützerinstinkt weckte, der sich in den letzten Jahren aus welchem Grund auch immer entwickelt hatte. Und Merle war da unten und verzehrte sich nicht nach ihr, sondern nach Gudekar, ihrem Ehemann, dem sie vor zehn Jahren den Traviabund geschworen hatte und der sie vielleicht vermisste, aber nichtsdestotrotz verlassen würde. Sie glaubte nicht, dass er ein Paktierer war, aber sie glaubte auch nicht, dass er Meta durch gutes Zureden der Gefährten und Merles einfach fallen lassen würde. So weinte sie, weil ihre Erinnerungen sie süß-sauer quälten und weil sie um Merles Seelenheil trauerte, das sie wohl nicht retten konnte, um Merles Herz, das zerschmettert werden würde. Zerschmetterte Herzen konnten heilen, ja, so erstaunlich das war, sie hatte es am eigenen Leib erlebt, aber was zerbrochen war, konnte man nie wieder so zusammensetzen, wie es gewesen war, vor allem dann nicht, wenn man nicht alle Teile wiederfand.

Gudekar löste sich aus Merles Umarmung und atmete tief durch. Er blickte zu Rionn und mit fester Stimme sprach er: „Ich werde mich einer Seelenprüfung stellen.“

Das bekam Doratava aber nicht mehr mit, da sie mit sich selbst beschäftigt war und nicht mehr lauschte.

Merle stieß einen tiefen Atemzug aus und schloss für einen Moment die Augen. Die plötzliche Erleichterung zerschmolz Beklemmung und Angst in ihrer Brust; die eiserne Hand, die ihr Herz zerdrückte, schien sich ein wenig zu lockern. Als sie die Augen wieder öffnete, schaute sie Gudekar mit einem Lächeln an, das offen, warm und herzlich war, so wie sie ihn früher jeden Tag angelächelt hatte. Merle spürte, wie ein Teil des bedingungslosen, tiefen Vertrauens zu ihrem Ehemann zurückkehrte, das durch seinen Fehltritt mit Tsalinde und sein oft so kaltes, hartherziges Verhalten in den letzten zwei Götterläufen zerrüttet und durch die Enthüllungen des heutigen Tages brutal zerschmettert worden war. Es tat weh, jemanden zu lieben, dem man nicht vertraute. Gudekar hatte sie zwei Jahre lang belogen und betrogen, und doch glaubte sie ihm jetzt, wenn er sagte, er würde sich der Seelenprüfung stellen. "Ich vertraue dir", entgegnete sie mit belegter, dankbarer Stimme. Es war wie das erlösende Abklingen eines quälenden Schmerzes, das langsame Heilen einer tiefen Wunde. "Du bist ein guter und tapferer Mann."

Der Albenholzer schloss für einen Moment die Augen, behielt aber seine Gedanken für sich.

Nivard atmete erleichtert durch und lächelte Gudekar erstmalig am heutigen Tage an. "Der Gütigen sei Dank - das ist gut!"

Der Tsageweihte nickte zustimmend und wirkte auch ein wenig zufrieden. “Gut, Gudekar, ich danke dir für deine Entscheidung. Ich schlage vor, dass wir jetzt erst an der Versammlung teilnehmen, die Friedwald einberufen hat, und dass du dann entscheidest, wann und wo du gerne das Ritual der Seelenprüfung begehen möchtest. Ich gehe bisher davon aus, dass ich der Geweihte sein soll, der das Ritual durchführt? Ist dir das recht, Gudekar?”

Wortlos drehte sich Tsalinde weg und verließ den Saal. Das wurde ihr langsam alles zuviel. Erneut kam der Wunsch auf, sich einfach ihren Mann und ihr Kind zu schnappen und diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen.

Eoban sah Tsalinde hinterher und starrte auf die Tür, die sie eben verließ.

Als Doratrava unten die Tür gehen hörte, drängte sich das Geräusch zusammen mit ein paar anderen Gedanken in ihren Schmerz: Waren sie fertig da unten? Was war herausgekommen? Sollte sie nicht langsam mal selbst fertig werden?

Aber der Schmerz war zu groß, um ihn einfach so beiseite schieben zu können mit solch profanen Erwägungen. Sie konnte sich nicht aufraffen, weitere Tränen flossen.

Gudekar schaute Tsalinde mit einem finsteren Blick hinterher. Ihr schien diese Sache also nicht wichtig zu sein. Sollte ihm auch recht sein. Also wandte er sich wieder dem Tsageweihten zu, von dem er wusste, dass er sich mit Tsalinde gut verstand. “Nein, Rionn”, sagte er ganz sachlich. “Du wirst das Ritual nicht durchführen.”

Merle rückte unwillkürlich ein Stück von ihm ab und starrte ihren Mann konsterniert an. Das gerade neu entstehende Vertrauen in ihr begann zu wackeln - wollte Gudekar Zeit schinden, in der Hoffnung, sich früher oder später aus seiner Zusage herauslavieren zu können? “Warum nicht?” fragte sie nach, in ihrem Blick Unbehagen und Skepsis. “Rionn ist sehr erfahren in diesen Dingen. Und du vertraust ihm doch.”

Der Tsageweihte legte sanft seine Hand auf Merles Oberarm. “Das ist vollkommen in Ordnung, Merle. Dein Mann hat seinen Grund und diesen möchte ich nicht erörtern.” Dann wandte er sich an Gudekar. Rionn war nicht besonders vertraulich mit ihrem Gespräch im Gasthaus umgegangen. Wie konnte Gudekar ihm da noch vertrauen? “Ich gehe davon aus, dass du schon eine Idee hast, welche Geweihte du aufsuchen möchtest. Dann wirst du mit ihr alles weitere klären.” Rionn schenkte dem Anconiter ein Lächeln und nickte ihm zu.

„Ja, ich habe entschieden welcher Geweihte die Seelenprüfung vollziehen soll. Ich werde morgen nach Gwenns Trauung Vater Reginbald darum bitten.“

Nivards Augen verengten sich einen Moment lang zu skeptischen Schlitzen. Was gab das? Spielte Gudekar etwa auf Zeit? Was bedeutete es für die Hochzeitsfeier morgen und die Zeit bis dahin, wenn Gudekar ungeprüft unter ihnen weilte und auf seiner Seele tatsächlich ein Schatten lag?

Überrascht runzelte Merle die Stirn. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Gudekar von sich aus das Gespräch mit ihren Eltern suchen würde, waren diese es doch, die am härtesten über seine Taten urteilen würden. Eher hätte sie gedacht, er würde sich an die sanftmütige Rajalind von Zweibruckenburg wenden, mit der sie beide aus Albenhus bekannt waren. Nachdenklich trat Merle nun wieder dicht an ihren Mann heran und musterte ihn forschend mit leicht zusammengekniffenen Augen. "Wirklich?"

“Das scheint mir eine vernünftige Wahl, Gudekar”, bestätigte Rionn den Anconiter. “Dann können wir ja jetzt rüber in den großen Saal gehen, oder?”

„Wartet!“ forderte Gudekar zur Geduld auf. „Natürlich werde ich nicht der einzige sein aus unserer Gemeinschaft, der sich der Seelenprüfung unterziehen wird.“

Der Albenholzer schaute noch immer zur Tür, nickte aber leicht den Kopf nach Gudekars Beitrag.

Rionn hingegen schaute Gudekar überrascht und fragend an. Damit hatte er nicht gerechnet. Jetzt war er natürlich umso neugieriger, wen der Anconiter meinte.

"Gudekar!" fuhr Merle ihren Gemahl immer noch leise, aber mit einer gewissen Schärfe an. Ihre Augen funkelten sehr wachsam und sichtlich unwillig, sich auf dieses neue Spiel einzulassen, das Gudekar anscheinend abziehen wollte. "Wir haben die ganze Zeit davon gesprochen, wie die wichtigste Sache bei so einer Seelenprüfung die Freiwilligkeit ist. Dass wir dir dies raten, aber dich nicht zwingen können und wollen. Ich bin überglücklich, dass du dich dazu bereit erklärt hast”, ihre Miene wurde wieder freundlicher und sanfter, ihre Stimme liebevoller, “...doch genauso wenig wie jemand dir die Prüfung abverlangen kann, so kannst du sie von einem anderen deiner Gefährten fordern.” Sie seufzte müde; ihren geröteten Augen waren die bestürzenden Ereignisse des Tages und das viele Weinen mehr als deutlich anzusehen. “Wenn du ehrlich bist, weißt du das selber.”

Merles Stimme, obwohl leise, riss Doratrava endlich aus ihrer Trauer. Unwillkürlich konzentrierte sie sich wieder darauf, was gesagt wurde. Offenbar war das Gespräch im Salon doch nicht vorbei, es wurde noch heftig diskutiert. Die wechselnde Stimmung, welche sie aus Merles Stimme heraushörte, machte sie sofort wieder unruhig und unsicher.

Gudekar lächelte Merle freundlich an. „Nein, nein, Merle, du verstehst mich falsch. Natürlich, es basiert auf Freiwilligkeit. Ich stimme der Seelenprüfung ja freiwillig zu, um das angekratzte Vertrauen meiner Gefährten in meine Einstellung zu den Zwölfen wieder zu festigen. Doch, wenn ich mich dieser Prüfung nach Gwenns Vermählung freiwillig stelle, um Vertrauen zu schaffen, dann gehe ich wohl recht in der Annahme“, Gudekar drehte den Kopf und blickte in dieselbe Richtung, in die auch sein bester Freund Eoban schaute, „dass auch andere unserer Gemeinschaft freiwillig dazu bereit sein werden, jegliche Zweifel, die bei einigen von uns bestehen, aus der Welt zu schaffen. Dies ist keine Forderung. Es ist eine Feststellung.“

Was? Gudekar stellte sich der Seelenprüfung? Zumindest schien es so, allerdings knüpfte er Bedingungen daran? Jetzt verfluchte Doratrava die Tatsache, dass ihr kurzer Zusammenbruch sie einen Teil des Gesprächs hatte verpassen lassen.

“Wen meinst du, Gudekar?”, fragte Rionn neugierig nach. “Ich bin selbstverständlich bereit, mich einer Seelenprüfung durch Vater Reginbald zu stellen.” Vielleicht konnte er ihm sogar so bei seiner Suche nach seiner Vergangenheit helfen?

„Ich meine nicht Euch, Rionn.“ Gudekar schaute auffordernd zum Albenholzer. „Eoban, sag du ihnen, wer von uns sich der Prüfung zusammen mit mir stellen sollte.“

Doratrava wurde heiß und kalt, als sie hörte, wie Gudekar Eoban offenbar die Entscheidung überließ. Ihr war sofort klar, dass es entweder Tsalinde oder aber sie selbst treffen würde. Was war das für ein perfides Spiel, das der Magier da trieb?

Merle hatte durchaus gesehen, wie Gudekar Tsalinde hinterher geblickt hatte und rollte nun leicht mit den Augen. Manchmal war ihr Mann unglaublich starrköpfig. "Gudekar, ich bitte dich”, versuchte sie mit ruhiger, gelassener Stimme zu ihm durchzudringen. “Natürlich kannst du Tsalinde eine solche Prüfung nahelegen. Ebenso wie sie dir nahegelegt wurde." Sie baute sich vor dem Anconiter auf und blickte diesen ernst von unten her an. "Doch würdest du deine Entscheidung von ihrer Entscheidung abhängig machen - was du hoffentlich nicht vor hast - dann wäre das im Grunde nur ein billiges Ablenkungsmanöver. Oder sowas wie... Erpressung." Sichtlich um Ruhe bemüht atmete Merle tief ein. "Ich dachte, du würdest die Prüfung für dich wollen, um deine eigenen düsteren Ahnungen auszuräumen. Um zu erkennen, ob der Paktierer wirklich Einfluss auf dich genommen hat, wie du es selbst befürchtest. Quälen dich die Zweifel daran denn nicht?"

Merle sprach genau das aus, was Doratrava in diesem Moment dachte. Nun mischten sich Tränen des Zorns zu denen der Trauer und der Verzweiflung, welche ihr Gesicht so reichlich benetzten. Dieser Spielzug Gudekars rüttelte fast noch stärker an ihrem Glauben, dass mit ihm, was die Verpfändung seiner Seele betraf, alles in Ordnung war, als alles, was er vorher gesagt oder getan hatte. Das war in ihren Augen kalt und berechnend, hinterhältig und gemein. Unwillkürlich entfuhr ihr ein wütender Aufschrei, den sie nicht mehr rechtzeitig unterdrücken konnte, gleichzeitig sprang sie auf.

Mit einem Mal war aus dem Kamin ein kurzer, wütender Aufschrei zu hören, woraufhin der Anconiter in Richtung der Quelle des Geräusches blickte und amüsiert schmunzelte. Kurz entfuhr ihm ein grunzenden Lachen, bevor er sich wieder fing und ernst schaute. Gudekar wusste von Mikas „Geheimnis“. Doch nun nutzte offensichtlich jemand anderes die Lauschmöglichkeit, und Gudekar konnte sich denken, wer dies war.

Auch Eoban drehte den Kopf in Richtung des Geräusches. Seine Miene blieb aber nichtssagend.  

Vielfach irritiert versuchte Rionn die Orientierung wieder zu gewinnen. Diese seltsame Wendung in diesem Gespräch? Der Aufschrei aus dem Kamin? Offensichtlich wurden sie belauscht. Der merkwürdige Ausbruch und das grunzende Lachen von Gudekar? Der Tsageweihte schaute die Anwesenden rundum an und sagte bemüht sachlich: “Ich habe den Eindruck, unsere Gespräch hier ist nicht so privat, wie ich bisher gedacht habe. Wir sollten hier jetzt nicht mehr weitersprechen. Gudekar hat einer Seelenprüfung durch Vater Reginbald zugestimmt. Und der Gesandte wird uns sagen, wen wir noch ansprechen sollen, sich einer solchen Seelenprüfung zu stellen - in der gebotenen Freiwilligkeit. Lasst uns diesen Ort hier verlassen. Jedes weitere Wort, das hier gesprochen wird, bleibt nicht unter uns, wie wohl zuvor auch nicht.”

“Ich denke, das war Doratrava”, flüsterte Merle. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sehr die Gauklerin sich über das Gesprochene aufgeregt hatte. Resigniert zuckte sie mit den Achseln. “Aber ja, lasst uns zurück in den Saal gehen.”

“Doratrava?”, stutzte Rionn zunächst. Doch dann hellte sich sein Gesicht auf und er kommentierte schmunzelnd, vernehmbar laut: “Neugier ist eine tsagefällige Tugend!”

„Doratrava!“ rief nun auch Gudekar herzhaft lachend. „Magst du nicht einfach zu uns setzen? Hier unten ist die Akustik besser!“

Nivard Hand ging alarmiert zu seinem Schwert. Jederzeit bereit, dieses schnell zu ziehen, ging er auf den Kamin zu. "Doratrava. Bist Du es wirklich? Dann gib Dich zu erkennen!"

Da ihr das Blut in den Ohren rauschte, hatte Doratrava Rionns Worte gar nicht gehört, aber als nun Gudekar rief, und dann auch noch in einem solchen Tonfall, der wie Hohn in ihren Ohren klang, drang das doch zu ihr durch. Im ersten Moment wollte sie eine unflätige Bemerkung zurückschreien, aber sie konnte sich mit Mühe soweit beherrschen, dass sie zumindest kurz überlegte, ob und was sie sagen sollte, nachdem sie nun entdeckt worden war. Doch alles, was ihr zunächst einfiel, waren Dinge wie Ich könnte Eobans Anstand beleidigen, wenn ich nackt den Kamin herunter rutsche. So entfuhr ihr spontan nur ein unwilliges Knurren, dem sie nach einer kurzen Pause “Sobald ich etwas Frisches zum Anziehen habe” anhängte, was allerdings ziemlich gepresst klang.

Gudekar schmunzelte weiter amüsiert. Er mochte die unbedarfte Art der Gauklerin.

Der Albenholzer schaute etwas entnervt zur Decke. Schon wieder. Diese Person hatte keinen Anstand, war impulsgesteuert und brachte sich selbst und andere in Gefahr. Aus Dummheit, Gleichgültigkeit oder Absicht. Zu allem Übel schien sie auch noch ihre Gedanken auf andere wirken zu lassen. Die Zeit des Beobachtens war vorbei.

Auch Merle musste, obwohl sie in extrem angespannter Stimmung war, ein wenig grinsen und ein Glucksen unterdrücken. Gudekars fröhliches Lachen war wie ein Klang aus einer verlorenen Zeit. Als sie seinen schmunzelnden Blick erwiderte, schien ihr Herz sich ein wenig zu öffnen und zu befreien, während es gleichzeitig ein Stück weiter zerbrach. Wie albern sie früher manchmal zusammen gewesen waren, wenn sie sich wegen irgendeinem Blödsinn bekringelt hatten. Würden sie jemals wieder so ausgelassenen Spaß miteinander haben, sich necken und aufziehen wie Kinder? Oder waren diese Zeiten schon deshalb vorbei, weil Dere sich verändert hatte, weil Mörder, Paktierer und Dämonen umgingen und ihre Lieben bedrohten? Hatte Gudekar deshalb seinen unbeschwerten Humor und seine Gutmütigkeit verloren? Sie schluckte und ihr Blick wurde wieder ernst und traurig.

Nivard schüttelte grinsend den Kopf. Doratrava eben... "Müssen wir jemanden schicken, der Dir etwas zum Anziehen holt, oder ist schon alles auf dem Weg?

“Nein und ja”, klang es ziemlich ärgerlich verzerrt aus dem Kamin. Verspottete sie jetzt sogar schon Nivard? Dafür war sie gerade nicht in der Stimmung.

Als dann alle ihrer Entrüstung ausreichend Ausdruck verliehen hatten, antwortete der Albenholzer auf Gudekars Aussage. "Wie ich bereits sagte, so schließen wir die Reihen nicht. Wir nähren nur das Dunkel in unserer Mitte…. Ich denke, es wäre gut, wenn eine jede und ein jeder von unserer Gemeinschaft für sich überprüft, wie er und sie zu Travia steht. Denn wir sind auf einem Travia-gefälligen Unterfangen. Kann ein jeder und eine jede von uns behaupten, alles zu tun, um die Gebote der Göttin zu wahren, zu pflegen und in die Welt zu tragen? Wenn ihr daran Zweifel habt oder sogar bemerkt, Euer Verhalten schadet der Gemeinschaft, dann könnte Euch ein Blick in Eure Seele helfen. Euer Gnaden, wie Ihr gesagt hattet: Ist es nicht für euch selbst gut zu wissen, ob es fremden Einfluss gibt?"

Dankbarkeit lag in Gudekars Augen ob der Worte seines Freundes. Eoban fand immer die richtigen Worte, dachte der Anconiter. An seiner aufrichtigen Traviaergebenheit gab es für Gudekar keine Zweifel. Hoffentlich nahmen Nivard und Rionn die Worte Eobans in sich auf und trugen diese an die anderen Gefährten weiter. Hoffentlich nahmen sich die Gefährten, insbesondere jene, die sich gerade nicht im Raum befanden, diese Worte zu Herzen. Wer reinen Gewissens gegenüber Travia war, hätte nichts zu befürchten. Wer die Prüfung jedoch ablehnte, machte sich verdächtig.

All dies waren Gudekars Gedanken. Doch er wartete stumm auf die Reaktionen der anderen.

Merle trat noch einmal zu ihrem Ehemann. Nach einem kurzen Seitenblick zu Eoban, der ihr seit ihrem letzten Zusammentreffen seltsam verändert schien, blickte sie in Gudekars vertraute graue Augen, die ihr früher so klug, warm und liebevoll erschienen waren, deren Blick sie jetzt aber als verschlossen und feindselig empfand, zumindest gegenüber ihrer Freundin Tsalinde. “Gudekar, wenn Tsalinde oder einige der anderen die Prüfung ablehnen, wirst du die Freiwilligkeit der Sache respektieren?” fragte sie direkt nach. Ihr Blick war offen, aber ernst. “Wirst du auch dann bei deiner Entscheidung bleiben, dich selbst dem zu stellen?”

Nachdem Doratrava den Drang, auf irgendetwas einzuschlagen, mühsam niedergekämpft hatte, zog sie an dem Klingelzug, damit die Magd kam, dann begann sie sich abzutrocknen. Sie hatte hier ja nur die mehr oder weniger schlammbespritze Kleidung von Tsalinde, die sie nicht unbedingt wieder anziehen wollte, zumal sie jetzt halbwegs sauber war. Nur mit den Stiefeln hatte sie ein Problem, hatte sie diese doch vorher mit schlammigen Füßen anziehen müssen, entsprechend schmutzig war ihr Inneres nun, und hier gab es keine Möglichkeit, sie auszuspülen. Stirnrunzelnd verlegte sie sich wieder aufs Lauschen, da sie nun erst einmal warten musste, bis Wiltrud kam.

// Wiltrud kommt in Saubere Kleider für die Tänzerin II. Doch du darfst gerne erst einmal weiter kommentieren, wenn du magst.

Gudekar war von Merles Frage überrascht. “Meine Bereitschaft, mich nach Gwenns Traviabund der Prüfung durch Vater Reginbald zu stellen, war doch nicht an Bedingungen geknüpft!” Gudekar ergriff Merles Hände. “Nein, ich werde zu meinem Wort stehen. Nach der Trauung reise ich mit deinen Eltern nach Albenhus und dort kann Reginbald das Ritual in Ruhe durchführen. Und wie Eoban es gesagt hat”, dabei wanderte sein Blick langsam zu Nivard und Rionn, “jedem unserer Gemeinschaft wird es gut tun, sich meinem Handeln anzuschließen. Wenn es jemand nicht tut, ist dies jedoch durchaus ein Zeichen über die eigene Einstellung.”

Und wie wollte Gudekar verhindern, dass Merles Zieheltern von seinem Rahjabund mit Meta erfuhren? Denn nach allem, was sie gehört hatte, würden diese ihren Schwiegersohn vermutlich hochkant aus dem Tempel werfen, wenn ihnen das bekannt wurde. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein über die Maßen erzürnter Traviageweihter eine Seelenprüfung an Gudekar vornehmen würde. Spekulierte er etwa darauf? Noch vor ein paar Stunden hätte sie das nicht für möglich gehalten, aber nun … ?

Bei Gudekars Worten, was eine Verweigerung einer Seelenprüfung für die anderen Mitglieder der Gemeinschaft bedeuten würde, ballte sie erneut die Hände zu Fäusten und musste an sich halten, diese nicht gegen die Wand zu schlagen. So, wie er es sagte, klang es in ihren Ohren noch immer nach Erpressung. Das hatte etwas von einem auf frischer Tat ertappten Dieb, der seine Häscher selbst des Diebstahls bezichtigte und dazu aufforderte, ihrerseits die Taschen leer zu machen. Verringerte das etwa die Schuld des Diebes? Es war auch nicht seine Forderung dem Inhalt nach, die Doratrava so erzürnte, sondern seine unglaubliche Unverschämtheit und seine taktischen Spielchen, mit denen er versuchte, sie alle gegeneinander auszuspielen.

Merle nickte verstehend. Sie wollte ihm so gerne vertrauen, wollte glauben, dass er die Wahrheit sagte und dass er in Zukunft wieder ehrlich und lieb mit ihr umgehen würde. Innerlich gab sie sich selbst einen Ruck, nicht länger an seinen Worten zu zweifeln. Wenn die aufgerissenen Wunden heilen sollten, dann musste sie wieder Vertrauen zu Gudekar fassen, so schwer es ihr fiel. Auch das war Teil des Gelübdes, das sie ihm einst geschworen hatte. Aus diesem Gefühl heraus streckte sie den Arm nach seinem Gesicht aus und strich sanft mit den Fingerspitzen über seine Schläfe, dann beugte sie sich vor und hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Wange. “Dann gehst du nicht sofort nach der Hochzeit mit Meta weg?” fragte sie mit schwacher, zittriger Stimme, in der sich Angst und Hoffnung mischten.

Gudekar schluckte. Ein Schlag mitten in seinen Bauch raubte ihm die letzte Luft. So fühlte sich Merles Frage zumindest an. Schweigend dachte Gudekar nach. Die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er suchte nach Worten. Nicht nach Ausreden. Nach Antworten. So verharrte er eine gefühlte Ewigkeit.

Doratrava hatte Merles Frage gerade eben so verstanden und war nun selbst sehr gespannt. Als sich danach aber nichts mehr tat, wurde sie erneut unruhig und ärgerlich.

Rionn musterte Gudekars Reaktion aufmerksam. Er konnte sein Dilemma fast schon spüren. Aber offensichtlich musste der Anconiter durch das Geflecht seiner Beziehungen hindurch nun den Weg finden, der ihn dahin bringen sollte, wo die Zwölfe ihn hinhaben wollten. Der Tsa-Geweihte wartete gespannt auf Gudekars Antwort.

Merle entließ Gudekar nicht aus dem wachen, warmen Blick ihrer braunen Augen. Sie fühlte, dass er es ernst meinte, sich von Vater Reginbald prüfen zu lassen. Gudekar hatte seinen Schwiegervater immer respektiert und seinen Rat geschätzt - wenn er sich ihm jetzt anvertrauen wollte, dann sehnte er sich vielleicht wirklich nach Vergebung und Gnade der Gütigen Mutter. Doch genauso war ihr klar, dass Gudekar die Wahrheit gesprochen hatte, als er ankündigte, gleich nach der Hochzeit mit seiner Geliebten in die Rabenmark flüchten zu wollen... Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. Wenn er zunächst mit nach Albenhus kam, sei es für ein oder zwei Tage, dann hätte sie ein bisschen Zeit gewonnen, um für die Rettung ihres Bundes zu kämpfen. Verkrampft und angespannt ballte die junge Frau die Fäuste, während sie auf seine Antwort wartete und merkte kaum, wie schmerzhaft sich ihre Fingernägel in das Fleisch ihrer Handflächen bohrten.

Immer noch war es still im Salon, so sehr Doratrava sich anstrengte, etwas zu hören. Aber da vernahm sie Schritte auf der Treppe, das musste wohl die Magd sein.

Mit einem sehr klaren und bestimmten "Nein." brach Nivard schließlich das lange, allzu lange Schweigen. "Da wir gemeinsam nach Albenhus reisen und unsere Seelen der Prüfung stellen werden." Auffordernd blickte er Gudekar direkt in die Augen. Wenn sie den Gefährten schon dahin drängten, dann würde er diesem auch zur Seite stehen, und wenn Gudekar es erbat, sich auch selbst dem Ritual unterziehen.

Gudekar holte tief Luft. Er legte seine Hand auf Nivards Schulter. “Danke, Nivard, für dein Vertrauen. Ich weiß, was ihr jetzt von mir zu hören erhofft.” Der Anconiter sprach mit ruhiger, sanfter Stimme. Kein Hohn, keine Falschheit lag in ihr, im Gegenteil, von Offenheit und Ehrlichkeit waren seine Worte geprägt. Kein Groll gegen seine Gefährten war zu spüren. Seine Worte schienen eine Befreiung für ihn zu sein. “Ihr hofft, dass ich meinen Fehler einsehe, den ich begangen habe, dass ich einsichtig bin und Meta fortschicke. Dass ich bei Liudbirg und Reginbald um Vergebung erbitte und treu an Merles Seite bleiben werde. Dies wäre traviagefällig. Und wenn wir gegen Ihre Widersacherin kämpfen wollen, müssen wir uns doch alle stets traviagefällig verhalten. Hab ich nicht Recht?” Gudekar blickte verzweifelt zu Eoban. “Ja, ich könnte euch dieses versprechen. Und ich könnte mich auch eurem Wunsch entsprechend verhalten. Doch wäre es nicht das, was mein Herz von mir verlangt. Ich stünde an Merles Seite, wäre aber stets rastlos, so wie ich die letzten zwei Götterläufe rastlos zwischen dir, Merle, und Meta hin und her getrieben wurde. Wir beide würden leiden unter meiner Sehnsucht. Du würdest leiden, denn du hättest einen Mann neben dir, der in dir stets nur eine Kette sieht, die ihn am Erreichen seines Zieles hindert. Und der nicht das in dir sieht, was du wirklich bist: eine wunderschöne, fürsorgliche, liebenswerte Frau, ein Schatz, den es zu bewahren gilt.” Gudekars Augen füllten sich mit Tränen voller Mitleid, Trauer und Sehnsucht, seine Worte waren voll von Zärtlichkeit, als er zu Merle sprach und sich an seine früheren Gefühle für Merle erinnerte. Sanft strich er mit den Fingern über ihre Wange, bevor er sich wieder Rionn und Nivard zuwandte. “Aber mein Herz sehnt sich nach Meta, wird sich auch weiter nach ihr sehnen. Das kann auch keine Seelenprüfung und kein traviagefälliger Bußgang beenden. Doch seid gewiss, an meiner Liebe zu Meta trägt Lolgramoth keine Schuld. Es war Rahja, die Meta und mich geküsst hat. Und deshalb sehe ich auch einer Seelenprüfung nicht mit Angst entgegen. Ich werde sie nach Gwenns Hochzeit absolvieren. Ohne Bedingungen, ohne von irgendjemanden zu verlangen, es mir gleich zu tun. Denn diese Prüfung kann nur offenbaren, dass meine Liebe rein ist. Ich will mich ihr stellen, damit auch ihr es seht! Doch danach werde ich mit Meta fort ziehen.” Voller Stolz und inbrünstiger Überzeugung redete der Magier nun weiter. “Ich habe mich verpflichtet, in Tälerort in den Dienst zu treten und dort in den Kampf gegen das Üble zu ziehen. Und Meta wird an meiner Seite stehen. Mit dem, was ich dort lernen werde, werde ich zurückkehren und Jast-Brin von Pruch entgegentreten, auf dass er seine Freveleien beende und die Nordmarken endlich wieder Frieden finden. Das gelobe ich!” Noch einmal atmete Gudekar tief durch. Er fühlte sich befreit.

Merle hob die rechte Hand, die sie bisher angespannt geballt hatte, öffnete diese und schlug Gudekar die Handfläche mit aller Kraft klatschend ins Gesicht, überraschend stark und heftig. "Du verfluchter Scheißkerl!" schrie sie ihm kreischend ins Gesicht. "Du willst alle Brücken abbrechen? Gut, tu das! Geh fort! Viel Spaß bei deinem neuen Frevlerleben!" Ihre Stimme wurde etwas leiser, dabei aber schärfer und bitterer. "Irgendwann wirst du deine bösartige, widerliche Hure ansehen und erkennen, dass es ein Fehler war. Du wirst alles vermissen, was du verloren, nein, selbst vernichtet hast. Du wirst deine Familie vermissen. Und dann wird es zu spät sein, Gudekar. Dann hoffe ich, dass du irgendwo in kalter Einsamkeit leidest und elendig krepierst, du verfickter Arsch! Ich hab' dir zehn Jahre meines Lebens geopfert, für nichts und wieder nichts. Oh, ich hoffe, die Götter werden dich mit aller Grausamkeit strafen, die du verdienst!" Mit einer Mischung aus Weinen und Schreien sank sie zu Boden und kauerte sich wimmernd und zitternd vor den Kamin.

Eoban hörte die Worte der jungen Frau. Der Vergifter hatte gewirkt. Eoban schloss die Augen, verlangsamte die Atmung und griff nach dem Knauf seines Schwertes…. Da schoss ihm das Bild durch den Kopf, wie die drei Frauen im Saal zusammen tuschelten. Und die anderen beiden waren nicht mehr hier. Und gleichzeitig doch. Verbunden über einen Kaminschacht. War es Dummheit, Gleichgültigkeit, Absicht oder… Zufall? Irgendwann waren es zu viele Zufälle. Die Zeit des Beobachtens war vorbei.

Geistesgegenwärtig kniete der Tsageweihte nieder und nahm Gudekars Gemahlin tröstend in den Arm, als sie sich vor dem Kamin hinkauerte. Sein Blick war auf sie gerichtet, die anwesenden Herren blendete er aus. Er sprach ein Stoßgebet zur Ewigjungen, die Merles zerbrochenes Herz doch heilen möge.

Merle ließ die Umarmung des Geweihten teilnahmslos über sich ergehen, ohne erkennen zu lassen, ob sie dessen Präsenz bewusst wahrnahm.

Gudekars Worte trafen Nivard wie ein Faustschlag in die Magengrube, ließen ihn keuchen. Merles Schmerz aber ließ sein Herz krampfen.

‘Dieser götterverdammte Idiot! Wie konnte Gudekar nur glauben, dass es eine Göttin war, noch dazu die, die er die Liebholde zichtigte, sein Fühlen und Handeln lenkte? Es war der Fehler der vermeintlich Rechtgläubigen, dass sie sich die Götter als unabhängige Einzelpersönlichkeiten vorstellten! Sie hatten einfach vergessen oder sich die Erkenntnis aberziehen lassen, dass alle Göttinnen Aspekte der alleinen großen Mutter waren. Ja, sie mochten vielleicht so verschieden anmuten, dass man sie für getrennte Entitäten halten konnten, doch in Wahrheit waren sie eins! Und daher konnte es nicht göttlicher Wille sein, im Namen der schönen Göttin alles zu verraten und zu zerstören, was der gütigen Mutter heilig war. Um Gudekar stand es daher schlimm. Wer so handelte, dessen Seele war befleckt. Hoffentlich öffnete die Seelenprüfung Gudekar die Augen. Und hoffentlich war es noch nicht zu spät für seine Rettung.’

Nivard rückte von Gudekar ab, und gesellte sich zu Merle, legte ihr die Hand auf die Schulter. Er hoffte, diese Geste würde ausdrücken, wofür ihm in diesem entsetzlichen Moment die Worte fehlten.

Kurze Zeit später öffnete sich die Tür und Friedewald stürmte in den Salon.

~ * ~

Friedewalds Erklärung

(Friedewald, Liana, Ardare, Rahjel, Miranda, Rondrard, Eoinbaiste )

Zurück im großen Saal richtete Friedewald von Weissenquell das Wort an die Anwesenden, die schon ungeduldig an der Tafel den Beginn der Besprechung erwarteten. Der Edle von Lützeltal schüttelte unzufrieden den Kopf. „Euer Hochgeboren, Euer Wohlgeboren, Euer Gnaden, hohe Dame, hohe Herren, verzeiht bitte, mein Sohn und seine Begleiter benötigen anscheinend noch einen Moment. Doch das ist nicht tragisch, denn sie sind bereits informiert, worum es sich in unserer Unterredung drehen soll.“ Der Edle ging davon aus, dass Nivard, Tsalinde und Merle ihre engsten Begleiter im Nebenraum über die Umstände in Kenntnis setzten, um ein gemeinsames Vorgehen vorab abzustimmen. „Ich denke, auch wir können die Zeit nutzen, den Grund dieses Treffens zu klären, bevor wir dann gemeinsam das weitere Handeln abklären.“ Friedewald blickte in die Runde, um erste Reaktionen der Gäste zu erkennen.

Ohne Regung hatte die Baroness den beginnenden Worten des Edlen gelauscht.

Lediglich der wippende Fuß ihres überschlagenen Beins verriet ihre wachsende Ungeduld. Der durch die Bewegung immer wieder aufgeworfene Saum ihres Kleides erzeugte ein leises, doch nervtötendes scharrendes Geräusch, das nun, in der Stille, hörbar wurde.

Ausdruckslos und abwartend schaute die Elfe den Gastgeber an. Sein Unbehagen war spürbar. Und so war auch Mirandas Unbehagen merklich.

Aus Eoinbaistes Gesicht konnte man deutlich ablesen, dass er gerne wissen wollte, worüber Friedewald denn nun sprechen wollte. Er blickte den Edlen mit großen Augen an.

Friedewald räusperte sich noch einmal. “Also eigentlich hätte ich mich gefreut, Euch alle an dieser Stelle zu begrüßen, um in froher Runde die erfolgreiche Jagd und den anstehenden Traviabund meiner Tochter Gwenn zu feiern. Doch leider haben uns schlechte Nachrichten aus Flusswacht erreicht. Einige von Euch wissen vielleicht von den Umtrieben eines Paktierers der Widersacherin unserer Gütigen Mutter, der seit, ähm, ich glaube, nun fast drei Götterläufen sein Unwesen in den Nordmarken treibt?”

"Man hat davon gehört." antwortete die Kaldenbergerin mit sarkastischem Lächeln.

“So lange bereits?”, fragte die Rodaschquellerin. Es klang zunächst wie eine verwunderte Frage. Doch Kundige mochten erahnen, dass sich in ihre Stimme noch ein Hauch von … ja, was? … hinein mischte. Verärgerung vielleicht?

Miranda nickte betreten.

Eoinbaiste nickte. Ja, klar, wusste er vom Pruch. Darüber hatte Rionn ihm viel erzählt. Aber… “Was ist denn in Flusswacht passiert?”, fragte er unbefangen in die Runde, ohne auf jegliche Etikette Rücksicht zu nehmen.

„Geduld, junger Mann!“ ermahnte Friedewald den Novizen der ewigjungen Göttin mit einem väterlichen Tonfall, bestimmt aber nicht unfreundlich. „Übe dich in Geduld. Um das zu berichten sind wir zusammengekommen.“

Der zurückgewiesene Novize stutzte für einen Moment ob der Ermahnung. Eoinbaiste war es durch die langen Jahre bei Ise und `Glöckchen´ im Tsa-Tempel in Eisenstein nicht mehr gewohnt, sich in Geduld zu üben. Schwach erinnerte er sich, dass seine Eltern, Galahan und Miril, sowie besonders seine Großmutter Noitburg darauf Wert legten.

Der Lützeltaler lächelte den Jungen beschwichtigend an.

Nun stützte sich Friedewald mit seinen Fäusten auf der Tischplatte auf und blickte eindringlich zu den Zuhörern. „Seit zwei Götterläufen ist mein Sohn Gudekar Teil einer Gruppe Suchender, die gegen die Machenschaften dieses Paktierers kämpft“, erklärte der Edle. „Details darüber sind mir nicht bekannt, Gudekar betonte immer wieder, dass er uns nicht weiter einweihen könne. Doch gleichzeitig machte er uns, also meinem Sohn Kalman und mir, deutlich, wie gefährlich dieser Mann und seine Schergen seien. Ein guter Freund und Nachbar, Reto von Darrenbruck, ist selbst Opfer des Mannes geworden. Zwar konnte Gudekar wohl sein Leben retten, doch ist Reto seither ein gebrochener Mann.“ Friedewald ließ seine Worte wirken.

All diese Geheimniskrämerei, dieses ständige Zurückhalten von wertvollen Informationen…

Die Verstimmung Lianas nahm zu, als sie das Wort ergriff.

“Immer und immer wieder vernehme ich Klage. Klage darüber, dass Grafen zu zaghaft seien. Oder dass wichtige Kunde nicht weitergegeben werde. Doch wenn dieser Paktierer schon so lange sein Unwesen treibt, frage ich mich, warum erfahren diejenigen, die ihm etwas entgegenstellen könnten und deren Pflicht es ist, dies zu tun, erst so spät von diesen Dingen?”

Sie blickt kurz betreten zur Seite. Und ihre folgenden Worte klangen versöhnlicher.

“Ich verstehe, dass es mitunter vonnöten ist, den Kreis der Eingeweihten klein zu halten, auf dass Kunde nicht die falschen Ohren erreicht. Aber mehr als zwei Jahre nun schon? Und dies angesichts der Gefahr, die von diesem Menschen ausgeht?”

Ihre amethystfarbenen Augen blickten in die Runde, und verharrten dann auf Friedewald. Fordernd, bestimmt, unnachgiebig. So, wie es sonst gar nicht die Art der Herrin von Rodaschquell war.

Der Lützeltaler nahm seinen Weinbecher und trank einen tiefen Schluck. Dann stellte er den Becher wieder vor sich und wischte sich die Lippen trocken. “Ihr mögt Recht mit Eurem Ärger haben, Euer Hochgeboren. Doch klagt Ihr Euer Leid dem Falschen. Auch ich gehöre nicht dem Kreis der Eingeweihten an. Auch ich weiß kaum mehr, als im Greifenspiegel zu lesen war. Doch, wie gesagt, mein Sohn gehört zu jenem Kreis. Und immer wieder warnte er, dass insbesondere jene in höchster Gefahr seien, die sich dem Paktierer entgegenstellen – und deren Familien und Angehörigen. Vielleicht ist auch das der Grund, warum eher im Verborgenen ermittelt wird.”

Da öffnete sich die Tür vom Salon und die Edle Tsalinde von Kalterbaum betrat den Saal.

Friedewald blickte sie zufrieden an. “Ist die Besprechung da drinnen nun endlich fertig?” fragte er erwartungsvoll, was Tsalinde nur verneinte.

Im Geist der Baroness von Kaldenberg hatten sich bei Friedewalds Erklärung mehrere Mosaikstücke, die bisher lose herumgelegen waren, jäh zu einem Bild gefügt. Gudekar hatte also zu Lares’ Gruppe gehört? Wer noch, fragte sie sich. Mehr und mehr machte sich in ihr Ärger breit, dass man sie im Kampf gegen den Bäckerpruch außen vor gelassen hatte.

Während der Edle von Lützeltal vom Neuankömmling abgelenkt war, wandte sich Arda an die Baronin: “Wenn es Euch tröstet, Hochgeboren” - die steile Falte auf der Stirn der Baroness strafte ihre Worte Lügen, sie sah keineswegs so aus, als wollte sie jemandem Trost spenden - “auch in Kaldenberg ist man nicht über diese Dinge auf dem Laufenden gehalten worden. Dabei war ich nicht unwesentlich an der Enttarnung des Paktierers beteiligt.” Sie zog verärgert einen Mundwinkel nach oben: “Es sind übrigens deutlich mehr als zwei Jahre. Jast-Brin von Pruch - der jetzt ‘Bäckerpruch’ genannt wird - ist spätestens seit seiner unehrenhaften Entlassung aus der Flussgarde… vom rechten Weg abgekommen. Das war im Jahre 1041. Wann genau er seine Seele verschachert hat, weiß wohl nur er selbst. Sein Wirken in der Baronie Hlutharswacht blieb lange Zeit unerkannt, weil der Baron ein Herumtreiber und Abenteurer ist, der seine eigenen Lande nicht im Griff hat.”

Sie holte tief Luft. “Aus Rücksicht auf die guten Sitten will ich es Euch ersparen aufzuzählen, welche bestialischen Taten der Bäckerpruch unbehelligt vollbrachte, ehe ihm das Handwerk gelegt wurde. Nicht etwa von seinem Lehnsherrn, sondern durch UNS!” Wer dieses ‘uns’ war, ließ die Baroness offen. Finster blickte sie sich unter den Anwesenden um, als warte sie nur darauf, dass irgendjemand wagte, Partei für den Baron von Hlutharswacht zu ergreifen.

“Dann hast du den Pruch erwischt?”, fragte der Tsa-Novize überrascht die Kaldenbergerin ohne auf jegliche Form und Etikette zu achten. Er hatte das Gespräch der hochgeborenen Damen mitgehört.

Miranda schüttelte betreten den Kopf. Leise Tränen rannen über ihre Wangen. Ganz offenbar war es das, worüber Lares die letzten Monde immer und immer wieder gesprochen hatte. Eine gewaltige Bedrohung. Für ihn, für seine Familie, die ihm über alles ging. Für die junge Dame von Eisenstein, die er wohl ins Herz geschlossen hatte. Für seine junge Pagin, für die er die Verantwortung trug. Sie hatten seine Warnungen nicht ernst genommen - nicht ernst genug jedenfalls.

Nachdem Friedewald von Tsalinde erfahren hatte, dass die anderen ihr Gespräch doch noch immer nicht beendet hatten, wartete der Edle geduldig, dass auch die hohen Gäste ihr zwischenzeitlich begonnenes Gespräch beendet hatten. Er war froh, dass sich die Baronin, die Baroness und die anderen Gäste mit einander austauschten. Es nahm den Druck von ihm selbst, das Gespräch zur Überbrückung führen zu müssen.

Währenddessen verengte die Baroness von Kaldenberg ihre Augen zu Schlitzen, durch die sie ihren Blick bedrohlich lange auf den Novizen der jungen Göttin ruhen ließ. Schließlich antwortete sie: "Wenn dem so wäre, würden wir jetzt nicht hier sitzen." Nach einem Seufzer ergänzte sie: "Nein, er ist vor uns geflohen. Mittels dämonischer Hilfe."

“Gleich, ob - und wenn ja, welche - Fehler auch gemacht sein mögen. Wir sind offenkundig hier, um gemeinsam zu erörtern, wie wir diesem … wie nennt Ihr ihn? Bäckerpruch? - entgegentreten und ihm das Handwerk legen können.” Die Stimme der Rodaschquellerin klang sanft, ruhig, versöhnlich - und doch auch bestimmt.

“Diejenigen, die ihn schon seit geraumer Zeit zu jagen scheinen, haben für sich erkannt, dass sie weitere Hilfe dabei benötigen. Wir wollten ihnen diese Hilfe gewähren, um dieser Bedrohung nun ein Ende zu bereiten.”

Vorsichtig legte sie ihre zarte Hand auf die Schulter Mirandas. Als wäre es ein Rettungsanker griff sie danach.

Arda unterdrückte mit Mühen eine Replik. ‘Es ist gut so, wie es sich gerade entwickelt', sagte sie sich.

„Herr Friedewald, treibt dieser Bäckerpruch nun hier sein Unwesen? Ist mein Bruder ihm heute begegnet?“, frug die junge Frau mit brüchiger Stimme.

Der Edle schüttelte den Kopf. “Nicht dass ich wüsste. Zumindest noch nicht. Doch bestehen Befürchtungen, der Paktierer könnte hier erscheinen. Und deshalb habe ich diese Versammlung einberufen, zu der hoffentlich auch die anderen bald kommen werden. Wir müssen beraten, wie groß die Gefahr für diese Gesellschaft, für das Dorf sein könnte und wie wir uns und vor allem meine Tochter schützen können.”

Liana schaute kurz von der Seite zu Miranda. Es tat gut, zu spüren, dass sie der jungen von Mersingen ein wenig Trost zu geben vermochte.

Das Verhältnis zwischen dem Baronssitz Rodaschquell und dem darin gelegenen Junkergut Rosenhain war nicht immer einfach - dessen war sich Liana wohl bewusst. Steuerrecht, Verwaltung, Zollrecht, Abgaben … seit vielen Jahren hatte es immer wieder einmal Zank und Streit gegeben zwischen dem Vogt von Rodaschquell, Bernhelm Korninger, und dem alten Junker von Rosenhain, Ernbrecht von Mersingen. Streit, den sie nicht immer hatte beilegen können. Doch sie mochte die Familie, und ihr war daran gelegen, ein gutes Verhältnis zu haben, weswegen sie Vogt Korninger hier und da um Zurückhaltung ersuchte.

Ihr war klar, dass nun, seit der alte Junker sich zurückgezogen hatte, viel Verantwortung auf Lares lag. Und dass Miranda daher umso mehr voller Sorge um ihren Bruder sein musste.

“Ihr dürft auf meine Unterstützung zählen, wann immer Ihr derer bedürft”, sagte sie leise zu Miranda. Das beantwortete die junge Frau, indem sie sich förmlich an die Hand schmiegte, die ihr dargeboten wurde.

Rahjel von Altenberg, Rahjageweihter und Mitglied des Vierschwesternordens war still. Eigentlich war er hier, um seinen guten Freund Lares von Mersingen zu sehen … und zu helfen. Doch er war nicht erschienen, doch bevor er wieder kehrt machen wollte, rissen ihn die Nachrichten über diesen ´Pruch´ in das jetzige Geschehen. Immer wieder hatte er von diesem Schurken in letzter Zeit gehört, ja sogar in Herzogenfurt hatte dieser sein Unwesen getrieben. Leute waren gestorben oder von ihm ´verführt´ worden. Konnte es sein, dass er wieder diesem Frevler näher kam? Seine Neugierde, aber auch seine Pflicht als Diener einer der Zwölf Götter ließen ihn nicht gehen. “Im Travia 1043 BF, bei der Hochzeit der Baronin von Schweinsfold, war dieser Schurke in einer anderen Gestalt unterwegs. Er hatte einen Novizen der Travia ermordet und sein Erscheinungsbild angenommen. Er könnte unter uns sein”, sagte er zum ersten Mal in die Runde. “Meinen Verwandten, Vater Winrich von Altenberg-Sturmfels hat er entführt. Nur die Götter wissen, ob der gute Vater noch lebt.”

Mit einem Mal war durch die Tür zum Salon deutlich Merles Stimme zu vernehmen.

"Du verfluchter Scheißkerl!" schrie Merle. "Du willst alle Brücken abbrechen? Gut, tu das! Geh fort! Viel Spaß bei deinem neuen Frevlerleben!"

Die folgenden Worte waren jedoch nur bruchstückhaft zu verstehen.

“… leidest und elendig krepierst, du verfickter Arsch! Ich hab' dir zehn Jahre meines Lebens geopfert, für nichts und wieder nichts. … mit aller Grausamkeit strafen, …"

~ * ~

Saubere Kleider für die Tänzerin II

Nachdem Doratrava nach Wiltrud geklingelt hatte, kam die Magd auch alsbald in den kleinen Waschraum im Obergeschoss. Über dem Arm trug sie einige Kleider, auch wenn das nicht Doratravas eigene waren.

“Harka ist noch nicht zurück, doch ich habe schnell ein paar Sachen zusammen gesucht. Schaut, dieses Kleid ist von der jungen Dame Mika.” Wiltrud hielt ein gutes, aber schlichtes Kleid hoch. Es hatte zwar die richtige Länge, waren Mika und Dorotrava doch etwa gleich groß. Doch Mika war kräftiger gebaut als die äußerst zierliche Tänzerin, und so war das Kleid offensichtlich zu weit geschnitten. Allerdings hatte die Magd auch eine Leinenhose und ein einfaches Schnürhemd ihrer Tochter über dem Arm, die zwar von der einfachen Machart einer Magd waren, dafür deutlich besser passten. Auch an ein Paar trockener brauner Lederschuhe hatte Wiltrud gedacht. Es waren vergleichsweise vornehme Schuhe, die vermutlich aus Mikas Kleidertruhe stammten. “Der Herr hatte diese Schuhe für Mika in Auftrag gegeben, doch sie wollte sie nie tragen, weil sie immer lieber in ihren Reitstiefeln blieb.” Dabei waren die Schuhe äußerst bequem, wie Doratrava bemerkte.

Doratrava verzog kurz das Gesicht, als die Magd nicht mit ihren eigenen Kleidungsstücken kam, aber als sie die Sachen begutachtete, glättete sich ihre Miene. “Ich nehme Hemd und Hose, und die Schuhe auch”, erklärte sie Wiltrud dann. “Kannst du dafür sorgen, dass meine Stiefel gesäubert werden? Und diese Sachen hier”, sie deutete auf den unordentlichen Haufen auf einer Ablage, “gehören Tsalinde von Kalterbaum, diese müssten auch gesäubert und ihr zurückgegeben werden. Bis auf meinen Mantel.” Sie zerrte diesen aus dem Haufen und hängte ihn sich mangels anderer Möglichkeiten über den Arm, dann sah sie die Magd auffordernd an.

“Sehr wohl, Edle Dame!” bestätigte Wiltrud. Eigentlich hätte sie ihren Sohn Marno die Stiefel putzen lassen, darin war er sehr geschickt. Doch der war ja zusammen mit Bernhelm und den Pferden verschwunden. Also würde sie es wohl selbst tun müssen. Hoffentlich kam Harka bald wieder. Sie musste sich doch um das Essen für das Abendgelage kümmern. “Soll ich Euren Mantel nicht auch zum Trocknen neben die Feuerstelle hängen? Ich könnte Euch solange einen anderen Umhang bringen, falls Euch kalt wird.”

Kurz zögerte Doratrava, aber dann reichte sie den Mantel Wiltrud. “Das .. ist vielleicht besser, ja. Dann würde ich den Umhang nehmen. Und … hab vielen Dank.” Sie lächelte schwach, bei genauem Hinsehen war nicht zu verkennen, dass sie ziemlich aufgelöst war.

Wiltrud wollte den kleinen Raum gerade mit dem Bündel Kleider verlassen, als sie stehen blieb und stutzte. Sie war sich nicht sicher, ob es angebracht war, die Dame anzusprechen, oder ob die Etikette von ihr verlangte, die offensichtlichen Probleme der Dame zu ignorieren. In der Familie Weissenquell, das wusste sie, war es immer willkommen, wenn sich Wiltrud die Sorgen der Kinder – gut, eigentlich waren sie alle keine Kinder mehr, für Wiltrud blieben die Weissenquellsprösslinge aber immer ihre lieben Kleinen – anhörte. Irgendwie war sie der Mutterersatz, seit Rotrude nicht mehr da war. Schließlich fasst sie sich ein Herz und drehte sich zu Doratrava um. “Ist alles in Ordnung mit Euch, Edle Dame?”

Überrascht sah Doratrava auf, in ihren feuchten, blassblauen, geröteten Augen spiegelte sich Schmerz, bei genauem Hinsehen waren Spuren von Tränen in ihrem Gesicht zu erkennen. Ihr intensiver Blick traf sich mit dem Wiltruds und hielt ihn einige Augenblicke. “Nein”, antwortete Doratrava schließlich hart. Es sah aus, als wolle sie noch etwas hinzufügen, doch dann schwieg sie und schaute Wiltrud weiter an. Da sie gänzlich nackt war, hätte man sie in diesem Moment für eine Marmorstatue halten können, wenn ihre Augen nicht gewesen wären, in denen ein kaum gebändigtes Feuer brannte.

Wiltrud sah Doratrava einen Moment mitleidig an, dann nahm sie ein großes Leinentuch und legte es der Gauklerin um die Schultern. Mütterlich nahm sie Doratrava in den Arm und sprach tröstend auf sie ein. “Es wird schon wieder gut! Es ist ein Kerl, habe ich recht? Er hat Euch verletzt, nehme ich an? Glaubt mir, Edle Dame, so sehr es momentan schmerzt, Ihr kommt darüber hinweg! Die Kerle sind es einfach nicht wert, sich ihretwegen das Herz einschrumpeln zu lassen.”

Kurz war Doratrava versucht, sich in die Umarmung fallen zu lassen, aber dann straffte sie sich ein wenig. Ja, es ging auch um einen Kerl, aber nicht so, wie Wiltrud dachte. Doch das würde sie der Magd jetzt nicht erklären können, mal abgesehen davon, dass sie sie nicht kannte und ihr daher auch nicht einfach so alles erzählen wollte, was sie bedrückte.

“Wie gut kennst du Gudekar?”, fragte sie plötzlich aus einem Impuls heraus. Gleichzeitig löste sie sich sanft aus der Umarmung und begann, sich anzukleiden.

‘Gudekar?’ fragte sich Wiltrud. War es Gudekar, für den die Dame sich verzehrte, den sie jedoch nicht haben konnte, da er ja bereits im Bund mit Merle stand? “Gudekar? Ja, ich kenne ihn schon seit seiner Geburt. Damals war ich noch eine junge Magd und meine Mutter stand in der Küche. Warum fragt Ihr, Edle Dame?”

“Hat er sich irgendwie … verändert, seit er bei der Hochzeit in Schweinsfold war?”, fragte sie weiter, ohne auf ihre Frage direkt einzugehen. “Das war die Hochzeit im Travia von zwei Jahren”, setzte sie noch erklärend hinzu und musterte die Magd aufmerksam.

„Ihr meint, seit seinem Fehltritt?“ fragte die Magd frei heraus.

“J…ja”, bestätigte Doratrava etwas überrascht über die Offenheit Wiltruds. Seinen Fehltritten, dachte sie dabei, ohne es auszusprechen. Wenn es denn Fehltritte im Sinne von unbeabsichtigten ‘Unfällen’ waren …

„Eigentlich war der gelehrte Herr in den letzten beiden Jahren viel zu selten hier, hat er doch so viel zu tun mit seiner Mission. Aber wenn Ihr den Bund mit der jungen Dame meint, ja, die hat wohl schon etwas gelitten wegen der Angelegenheit. Jedenfalls wohnt die junge Dame seit gut einem Götterlauf hier auf dem Gut. Und in der Zeit hat der gelehrte Herr sie nur einmal besucht. Das war vor einem Jahr zum Tag der Heimkehr. Aber da schien alles ganz normal zu sein.“

“Weißt du, ob er Merle Briefe geschrieben hat? Oder anderen Familienmitgliedern?”, fragte Doratrava weiter, wobei sie völlig selbstverständlich Gudekars Frau beim Vornamen nannte.

Wiltrud nickte. „Ab und an kamen wohl Briefe, aber die habe ich nicht gesehen. Für die Korrespondenz ist eher Bernhelm zuständig. Das ist auch besser so.“

“Aber haben sie nicht über den Inhalt der Briefe ab und zu gesprochen?”, wunderte sich Doratrava. “Und was meinst du damit, die Briefe sind bei Bernhelm besser aufgehoben?” Wer war jetzt Bernhelm nochmal?

“Na, Bernhelm kann lesen und schreiben”, lachte Wiltrud.

“Häh?”, machte Doratrava verständnislos. “Aber Merle, Gwenn, der Herr Friedewald, Gudekars Bruder … die können doch sicher auch lesen und schreiben?”

“Natürlich können die mit den Zeichen umgehen.” Wiltrud war verwundert über diese eigenartige Frage.

“Ja, aber warum kümmert sich dann Bernhelm um ihre Briefe? Wer ist das überhaupt?”

“Unser Bernhelm? Das ist Friede… Seiner Wohlgeboren rechte Hand”, erklärte Wiltrud eifrig. “Unser Knecht und Verwalter. Der macht hier alles, wo man eine starke Hand braucht. Oder einen klaren Verstand. Natürlich liest der nicht die privaten Briefe der hohen Herrschaften, aber wenn ein Bote kommt, nimmt er die Briefe entgegen und bringt sie dann den Herrschaften. Und wenn eine Depesche weg muss, dann bringt er sie einem Bauern, der als nächstes in die Stadt auf den Markt fährt.” Dann hielt sie den Handrücken vor den Mund und flüsterte Doratrava zu: “Außerdem ist er der beste Kumpel seiner Wohlgeboren. Abends gehen die oft runter in den Weinkeller die Vorräte inspizieren.”

“Ach so”, gab Doratrava zurück und einer ihrer Mundwinkel hob sich leicht. Aber ihre Stimmung war zu gründlich verdorben, um echte Freude zu empfinden, daher blieb es bei dieser Regung.

Aber so kam sie nicht weiter. Zum Glück war Wiltrud offenbar eine Seele von Mensch, dass sie sich all ihre Fragen gefallen ließ. Sie versuchte es nun mit einer anderen: “Hast du eigentlich diese Beschützerin von Gudekar gesehen, die er mitgebracht hat? Weißt du was über die?”

“Diese Ritterin?” Wiltrud rümpfte die Nase. “Die ist ganz schön eingebildet von sich, glaube ich. Dafür, dass sie seine Beschützerin ist, hat sie sich aufgeführt, als würde sie zur Familie gehören. Nicht so zurückhaltend wie die Dame von Kranickau, die sich stets bedeckt im Hintergrund hält.”

“Ja, das ist mir auch schon aufgefallen”, gab sich Doratrava solidarisch. Wobei Meta tatsächlich alles andere war als zurückhaltend. Und eingebildet war sie wohl auch. Bestimmt lag das daran, dass sie eine ganze Weile mit Linnart vom Traurigen Stein herumgezogen war, der sowieso jeden unter seinem Stand zu verachten schien und als Bannstrahler alles, was nur entfernt mit Magie zu tun hatte, sowieso. Wie sie selbst.

“Aber sonst ist dir nichts über sie zu Ohren gekommen?” Die Gauklerin beugte sich vertraulich vor, obwohl niemand sie beobachtete. “Hast du von dem Rahjaschrein im Brauhaus gehört? Da soll sie drin gewesen sein!” Vielleicht war das jetzt ein klitzekleines Bisschen gemein, aber Meta war ihr gegenüber auch schon mal ein klitzekleines bisschen gemein gewesen.

“Ja”, überlegte Wiltrud, “die Ritterin hat ihr Zimmer im Brauhaus. Vielleicht war sie dann auch im Rahjaschrein. Das würde ja nahe liegen. Also, ich hätte mir das sicher mal angeschaut, wenn ich Zeit dafür hätte. Aber mit den ganzen Vorbereitungen für die Feier bin ich so beschäftigt. Und wenn alles vorbei ist, haben die Geweihten den Schrein bestimmt schon wieder abgebaut.” Die dickliche Magd schien enttäuscht zu sein, auch wenn sie sich alle Mühe gab, sich das nicht anmerken zu lassen.

Mit einem Mal war aus dem Kaminschacht deutlich Merles Stimme zu vernehmen.

"Du verfluchter Scheißkerl!" schrie Merle. "Du willst alle Brücken abbrechen? Gut, tu das! Geh fort! Viel Spaß bei deinem neuen Frevlerleben!"

Die folgenden Worte waren jedoch nur bruchstückhaft zu verstehen.

“… leidest und elendig krepierst, du verfickter Arsch! Ich hab' dir zehn Jahre meines Lebens geopfert, für nichts und wieder nichts. … mit aller Grausamkeit strafen, …"

Wiltrud schaute erschrocken zwischen Lüftungsschacht und Doratrava hin und her.

Die Gauklerin schaute mindestens ebenso erschrocken zurück, dann ärgerlich, dann wütend, dann lief ihr eine neue Träne aus dem Auge, als sie sich vorstellte, wie Merle sich fühlen musste. Sie hatte jetzt zwar offenbar einen Teil des Gesprächs verpasst, aber was Merle da von sich gab, war eindeutig.

“Ich muss da runter”, murmelte sie dann halb erstickt, während sie in fliegender Hast die Schuhe anzog, dann drückte sie sich an Wiltrud vorbei, diese hörte nur noch ein schwaches “‘Tschuldigung und danke”, dann polterte Doratrava die Treppe hinunter. Dass sie noch einen Umhang hätte bekommen sollen, hatte sie vergessen.

Wiltrud blieb völlig entgeistert zurück.

~ * ~

Der Eklat

Mit einem Mal war durch die Tür zum Salon deutlich Merles Stimme zu vernehmen.

"Du verfluchter Scheißkerl!" schrie Merle. "Du willst alle Brücken abbrechen? Gut, tu das! Geh fort! Viel Spaß bei deinem neuen Frevlerleben!"

Die folgenden Worte waren jedoch nur bruchstückhaft zu verstehen.

“… leidest und elendig krepierst, du verfickter Arsch! Ich hab' dir zehn Jahre meines Lebens geopfert, für nichts und wieder nichts. … mit aller Grausamkeit strafen, …"

Friedewald stockte der Atem. Völlig entgeistert blickte er auf die Tür.

´Ist das nicht Merle?´ Rahjel rollte mit seinen Augen. ”Oh, Gudekar, das lief wohl doch nicht so gut, wie du dir das vorgestellt hattest”, murmelte er vor sich hin. Ohne abzuwarten griff er sein geweihtes Rahjatuch fester und machte sich auf, um zu schauen, ob er Merle beruhigen konnte.

Die Elfe weitete ihre Augen, als sie diese harten Worte vernahm. Sie kannte Merle nur kaum, doch dass diese zu einem derart heftigen Gefühlsausbruch neigen und sich dermaßen darin verlieren könnte, hätte sie nicht vermutet.

Was in aller Welt war da vorgefallen?

Es ging sie nichts an…

Indes: in dieser von Friedewald, dem Hausherrn, einberufenen Runde war es ein deutlicher Affront. Aber vermutlich war Merle dies in diesem Augenblick vollkommen einerlei.

Liana schaute bestürzt in Richtung des Tumults und erhob sich.

Auffällig neugierig reckte Eoinbaiste seinen Kopf und versuchte mitzubekommen, von woher und von wem denn diese deutlichen Worte kamen.

In starkem Kontrast zur Baronin von Rodaschquell lehnte sich die Kaldenberger Baroness in ihren Sessel zurück. Sie wirkte nicht bestürzt, sondern amüsiert. “Könnte es sein, dass Euer Sohn in viel größerer Gefahr ist als Eure Tochter?”, fragte sie süffisant in Richtung Friedewald.

Arda empfand Genugtuung über die stattfindende Demütigung Gudekars. Sie neidete ihm, dass er beim Kampf gegen den Bäckerpruch an vorderster Front stand - und sie, Arda, nicht oder nicht mehr. Doch auch ohne diesen Balsam auf den heißen Schmerz ihrer Eifersucht fühlte sie sich durch die Szene, die sich hier entspann, bestens unterhalten.

Im Hinterkopf hallte eine Frage nach: nämlich die, was der Edle mit der Bemerkung über seine Tochter und die Gefahr, in welcher sie steckte, wohl gemeint haben mochte.

Auf die Worte Ardas hin wandte Liana sich ihr zu. Langsam neigte sie ihr Haupt zur Seite und blickte die Baroness an. Ausdruckslos, aber nicht kalt. Suchend. Ergründend.

"Welch' seltsame Freude Ihr daran findet, Euch an dem Leid anderer zu ergötzen."

Es klang nicht vorwurfsvoll. Oder belehrend. Es war eine Feststellung.

Dann wurde ihre Stimme wärmer. Einfühlsamer. Ja, mitfühlend.

"Man muss Euch einst sehr tief verletzt haben, dass eine stolze Frau wie Ihr so empfindet."

“Ergötzen?” echote die Baroness. Sie hob die Augenbrauen in gespielter Empörung. “Als sei ich aus freien Stücken Zeugin dieses… Spektakels geworden.”

Lianas Blick blieb unnachgiebig. Bohrend. Beharrlich. Doch frei von jeglichem Urteil.

"Nein, das seid Ihr ebensowenig wie alle anderen, wohl wahr", antwortete sie Arda.

"Doch seid Ihr diejenige, die mit ihren Worten offenbart, dass sie Freude daran empfindet."

“Tu’ ich das?” fragte Arda mit einem streitlustigen Unterton. Sie hob ihr Kinn. Ihre Augen begegneten dem Blick der Elfe selbstbewusst zu einem Duell des Geistes. Sie senkte ihre Stimme weit genug, um die Baronin als vorrangige Adressatin der nächsten Worte zu kennzeichnen: “Lasst Euch gesagt sein, Hochgeboren: Spott kann bisweilen gnädiger sein als Mitgefühl.” Mit einer dezenten Seitneigung ihres Kopfes deutete sie in Richtung des Hausherrn, der noch mit der Fassung rang.

Die Elfe hielt dem Blick stand. Ja, mehr noch: ihre Augen schienen irgendwie ... sanfter, voller Anteilnahme.

"Unbeugsamer und überheblicher Stolz verletzt wie ein Schwert. Und in der Regel diejenige, die ihn in sich trägt.", sagte sie dann in ihrer leisen, melodiösen Stimme.

"Eure harschen Worte sind daher kaum hilfreich. Weder für seine Wohlgeboren, was Ihr nur zu gut wusstet. Aber noch weniger für Euch selbst - was Euch womöglich nicht bewusst war."

Erneut war keinerlei Hochmut oder belehrender Spott in Lianas Worten.

Auch Arda senkte ihre Stimme weiter: “Wenn Ihr der Meinung seid, dem Hausherrn mit Eurem betonten Mitgefühl helfen zu können - was hält Euch auf?” Sie hob den Arm zu einer einladenden Geste. “Doch, mit Verlaub, Euer Hochgeboren: Selbst wenn man sein eigenes Verhalten für gut und richtig hält - ist es nicht ebenfalls ein Zeichen von Stolz und Überheblichkeit, zu glauben, dass das eigene Verhalten das Maß aller Dinge ist?”

Sie lächelte dünn: “Und fühlt Euch bitte nicht verpflichtet, die Erkenntnisse aus Euren phantasievollen Charakterstudien mit mir zu teilen. Wenn Ihr tatsächlich wüsstet, wovon Ihr redet, wüsstet Ihr auch, dass Eure Worte an mir verschwendet sind.”

“Ich empfinde keinerlei Verpflichtung Euch gegenüber”, antwortete die Rodaschquellerin - und abermals völlig nüchtern, ohne eine Spur von Verärgerung.

“Ich bedauere lediglich den Panzer aus Dornen, in den Ihr Euch hüllt, und der verhindert, dass Ihr selbst erkennt, was Ihr anrichtet.”

Miranda blickte zwischen den beiden Frauen hin und her. Ihr schwirrte der Kopf und sie verstand beim besten Willen nicht, wie man sich in dieser Situation über Befindlichkeiten unterhalten konnte. Schließlich war ihr Bruder in Gefahr, dort hinter verschlossener Tür musste irgendetwas schief gegangen sein und vielleicht war dieser Herr Gudekar der Frevler in verkleideter Gestalt?! „Lasst doch bitte das Zanken“, versuchte die junge Frau mit zarter Stimme zu schlichten. „Meint Ihr nicht auch, dass es wichtiger wäre, zu erfahren, was dieser Herr Gudekar so falsch gemacht haben könnte? Nicht, dass der Herr Rahjel recht hat?“ Miranda und Rahjel kannten sich seit seinem Besuch in Rosenhain, doch wählte sie eine förmliche Anrede in dieser illustren Runde.

Liana wandte sich ihr zu.

Ein Zank? Nun, so musste es der jungen Mersingerin vorkommen.

Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Züge, und sie hob beschwichtigend ihre Hand.

“Ihr habt Recht. Und es gäbe ohnehin nichts mehr zu sagen.” Damit wandte sie sich der Tür zu.

Die Kaldenbergerin hielt ihr Kinn noch hoch erhoben und hatte die Arme verschränkt, während sie der Baronin hinterhersah.

Nachdem er sich gefangen hatte, und auf die süffisante Frage der Baroness hin stürmte Friedewald zur Tür zum Salon und riss diese auf. Er erblickte Merle, die weinend und zitternd vor Kummer vor dem Kamin hockte. Sein Sohn Gudekar stand an einem Fenster und blickte hinaus.

„Was ist denn hier los?“ platzte es mit einer Mischung aus Ärger und Sorge aus ihm heraus.

Merle barg ihr heißes, tränennasses Gesicht in den Händen; ihre rechte Handfläche brannte noch von der Ohrfeige, die sie ihrem Mann versetzt hatte. Doch viel mehr schmerzte ihr Brustkorb, aus dem Gudekar endgültig das Herz herausgerissen hatte. In gekrümmter Haltung hatte die junge Frau die Arme um den eigenen bebenden Oberkörper geschlungen, den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen und schluchzte leise, aber bitterlich vor sich hin, ohne zu beachten, was um sie herum vorging.

Der Tsageweihte war neben Merle auf die Knie gegangen und versuchte ihr Halt zu geben und sie zu trösten. Besorgt blickte er Gudekars Gemahlin an.

Nivard stand etwas verloren direkt neben den beiden und blickte Friedewald aus fassungslosen Augen entgegen.

Sie reagierte weder auf den Geweihten neben sich noch die anderen Menschen um sich herum. In ihrem Kopf kreiste als einziger Gedanke, dass nun alles vorbei war, jede Hoffnung vergebens. Merle wollte nicht mehr aufstehen, nicht mehr reden, nicht mehr kämpfen.

Rahjel war unschlüssig. Er hatte gewusst, dass es noch Streit geben würde, aber so schnell? Aber fast wie von selbst trugen ihn seine Füße in das benachbarte Kaminzimmer, um im Zweifelsfall seine Hilfe anzubieten.

Er atmete tief durch. ´Rahja, du machst es mir auch nicht leicht. Zu viel Liebe, in zu vielen Herzen. ́ Abwartend schaute er, ob der Tsageweihte sie beruhigen konnte. Sollte er sich um Gudekar kümmern?

Es dauerte nicht lange, da stürmte auch Doratrava mit übernatürlicher Geschwindigkeit aus dem Treppenhaus in den Saal und rannte direkt in das angrenzende Kaminzimmer.

Die Gauklerin, nun mit Hemd (dessen Schnürung nur sehr provisorisch ausgefallen war), Hose und flachen Schuhen zwar nicht üppig, aber sauber gekleidet, hatte nur einen flüchtigen Blick für die Leute im Saal übrig und stürmte sofort weiter durch die offene Tür und dort auf Merle zu, und zwar so schnell, dass ihre Umrisse vor den Zusehenden zu verschwimmen schienen. Auch hier hatte sie keinen Blick für die anderen Anwesenden, nicht einmal für Gudekar, sondern stürzte neben Merle nieder und zog sie in eine heftige Umarmung, wobei sie keine Rücksicht auf Rionn nahm und diesen rüde zur Seite drückte.

Als er das sah, fasste der Albenholzer den Griff um den Knauf noch fester. Seine Augen verdüsterten sich.

“Woher …”, sagte Rahjel überrascht.

“Ich würde jetzt ‘alles wird gut’ sagen, aber das wäre eine Lüge”, flüsterte Doratrava so leise, dass hoffentlich nur ihre Freundin sie hören konnte. An Rionn dachte sie gerade nicht, der ja immer noch direkt neben ihnen war. Weitere Worte sparte sie für den Moment, sie hoffte, dass wenigstens ihre körperliche Nähe Merle genug Halt geben konnte, dass sie sich wieder fing.

Als Doratrava heranstürzte und ihn zur Seite drückte, ließ Rionn Merle los und rutsche auf seinen Knien soweit zurück, damit Doratrava und Merle genug Raum hatten für ihre Umarmung. Er blieb jedoch hocken in Sorge um Merle und beobachtete wie sie auf Doratrava reagierte und ob sie sich von ihr nun helfen ließ.

Friedewald war überrumpelt von dem Verhalten der Gauklerin. Die Respektlosigkeit gegen den Geweihten blieb von ihm nicht unbemerkt. Doch da dieser selbst nichts sagte und Friedewald auch ahnte, warum seine Schwiegertochter derart aufgewühlt war, sagte auch er erst einmal nichts zu diesem Affront. Denn scheinbar wusste die Gauklerin Merle zu beruhigen, besser als er es gekonnt hätte. Und das mochte gerade das Wichtigere sein.

Mehr instinktiv als bewusst ließ Merle sich von Doratrava umarmen, klammerte sich an dieser fest und drückte ihr Gesicht gegen die Schulter ihrer Freundin, während sie die Tränen ungebremst fließen ließ und unter immer neuen Schluchzern erzitterte.

Sanft streichelte Doratrava über Merles bebenden Rücken, während sie ihre Freundin ganz fest hielt. Es dauerte einige Augenblicke, dann richtete sie den brennenden Blick ihrer schwarzen Augen in stummem Vorwurf auf die anderen Anwesenden, nur Friedewald sparte sie aus. Den wie unbeteiligt mit dem Rücken zu ihnen stehenden Gudekar traf ein besonders mörderischer Blick. Auch sie selbst konnte nicht verhindern, dass ihre Tränen flossen, doch gab es nichts, was sie mit Worten der stummen Anklage hinzufügen wollte und konnte.

Der Tsageweihte rückte ein wenig beruhigt noch ein weiteres Stück von den beiden ab, als er merkte, dass Doratrava vermochte zu Merle durchzudringen und sie in ihren Armen Trost zu finden schien.

Dem Albenholzer unterdies war das gesamte Schauspiel zu viel. "Friedewald, Gudekar,..." Kurz blickte er die beiden Herren an. Dann verließ er den Raum.

Während Friedewald so wie Miranda vollkommen sprachlos zwischen den Beteiligten hin und her blickte, drehte sich Gudekar um. Mit gesenktem Haupt ging er halb an dem Edlen vorbei und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. "Entschuldige mich bitte, Vater.” Dann verließ auch der Magier den Saal und folgte seinem Freund Eoban eilenden Schrittes. Auch diese Respektlosigkeit ließ Friedewald vollkommen perplex geschehen. Erst als Gudekar bereits draußen war, schalt sich der Edle einen Narren, seinen Sohn nicht sofort zur Rede gestellt zu haben. Doch vielleicht war es besser, den Streit nicht vor den versammelten Gästen weiter eskalieren zu lassen.

Der Rahjageweihte versuchte immer noch zu verstehen, was hier passierte. Kurz schüttelte er sich, denn noch immer spürte er die leichte Entrückung, die Nähe seiner Göttin. Eines wusste er jedoch, Merle konnte er jetzt nicht alleine lassen.

Arda musste sich schier den Hals verrenken, um von ihrem Sitzplatz aus ins Innere des Kaminzimmers blicken zu können - und sie nahm diese Mühen schamlos auf sich.

Als sie die Gattin Gudekars in den Armen Doratravas sah, staunte sie nicht schlecht. Sie hatte genug vom Leben gesehen, um zu erahnen, dass zwischen der Gauklerin und dieser Merle mehr war als nur freundschaftliche Zuneigung.

Jäh kippte ihre Stimmung, als Gudekar und der Albenholzer den Raum verließen. Sie hatte nennenswerte Teile des Tages damit verbracht, dem Anconiter hinterher zu eilen. Und dabei hatte sie nicht mal geahnt, dass er über Wissen bezüglich des Bäckerpruchs verfügte, an welchem sie nur zu gerne teilhaben wollte. Es war fraglich, ob das Treffen hier noch nennenswerte Erkenntnisse hervorbringen würde, solange nicht aus erster Hand über die Aktivitäten des verfluchten Paktierers berichtet wurde.

Die Baroness folgte einem Impuls. Ohne die Anwesenden mit Erklärungen zu behelligen, stand sie auf und folgte den beiden Männern nach draußen.

Der Tsa-Novize beobachtete das Geschehen mit Interesse und Erstaunen. Hier war richtig was los, dachte er. Innerlich war er unsicher, ob er sich darüber freuen durfte, oder ob das alles hier dafür zu schrecklich war.

Vermutlich würde es jetzt keinen Sinn mehr ergeben, zu versuchen, mit der Unterredung fortzufahren, zu der Friedewald geladen hatte.

Eine Spur von Verärgerung umwehte Lianas Gemüt.

Eine Unterredung, die der Sicherheit dieser Lande dienen sollte. Eine Unterredung, die noch nicht einmal richtig begonnen hatte, weil ...

Ach ... es änderte ja nichts!

Langsam ging sie zu Friedewald hinüber.

"Ich denke, es wäre am besten, wenn man die beiden nun alleine lässt", sagte sie leise und mit einem sanften Blick zu der aufgelösten, schluchzenden Merle.

"Ich ersuche Euch, die anderen Gäste zu bitten, den Nebenraum zu verlassen und am besten die Tür zu schließen. Möglicherweise werden wir zu einem anderen Zeitpunkt die Gelegenheit haben, die Angelegenheit zu erörtern, wegen derer Ihr Euch an uns gewandt habt. Wenn die Versammlung ein wenig ... gefasster ist."

Sie schaute sie noch einmal um.

"Sollte dies zu naher Zeit nicht der Fall sein, bitte ich Euch, mir bald zu sagen, was Ihr wisst. Denn die Angelegenheit scheint mir zu wichtig, als dass sie länger warten sollte als unbedingt nötig."

Friedewald nickte zu Lianas Worten. Der Edle schaute zu seiner Schwiegertochter und ihrer Freundin. Er konnte sich denken, nein, er wusste es, warum Merle diesen Ausbruch gezeigt hat. Doch wusste er nicht, was er nun am besten für sie tun konnte. Vermutlich war es eine Freundin, die momentan am Besten für Merle war. “Doratrava”, sprach er die Tänzerin mit eisiger Stimme an, “würdet Ihr Euch um meine Tochter kümmern und sie etwas beruhigen? Wir reden später darüber, Merle.” Zu ihr wirkte der Edle väterlich besorgt.  

Doratrava schaute auf, als sie ihren Namen hörte, ohne den Griff um Merle im Mindesten zu lockern. Obwohl die Iriden ihrer Augen vollständig schwarz waren, schien dahinter ein unheimliches Feuer zu brennen, das konnten sowohl Friedewald als auch Liana sehen. Gleichzeitig spiegelten sich tiefe Sorge und nicht minder tiefe Verzweiflung in ihrem tränenüberströmten Gesicht wider, während kontrastierend dazu ein harter Zug ihren Mund umspielte. Sie nickte wortlos.

Einen kurzen Moment trafen sich die Blicke. Die tiefschwarzen Augen schauten in die makellosen, leuchtenden, blauvioletten Amethyste.

Aufgewühlt, wie die Gauklerin es war, mochte Doratrava vielleicht nicht vollumfänglich erkennen, was in der Herrin von Rodaschquell vor sich ging. Doch jenseits jeglichen Zweifels war ein Gefühl, das Liana zur Gänze ausstrahlte: Besorgnis.

Merle kniff kurz die Augen zusammen und schaute wie paralysiert in Richtung ihres Schwiegervaters, als würde sie mit ihren geröteten Augen durch ihn hindurch blicken. Was gab es zu reden, wenn ihr Gemahl sich von Rahja geküsst und von seiner eigenen Frau an die Kette gelegt fühlte? Was hatte noch einen Sinn, wenn ihr Traviabund nicht mehr war als eine hohle Farce?

Dann wandte sich der Edle den anderen zu. “Ich stimme Ihrer Hochgeboren zu, wir sollten die beiden erst einmal in Ruhe lassen.” Er deutete den Gästen an, den Salon zu verlassen.

Rionn stand auf, es machte ihm ein wenig Mühe, sich aus der knienden Haltung aufzurichten. “Doratrava, Merle”, sagte er zu den beiden in einem sanften, leisen Ton, “soll ich bleiben oder möchtet ihr lieber, dass ich gehe?”

Nun traf der schwarz flammende Blick der Gauklerin Rionn. Irgendetwas sagte ihm, dass es nur noch eines falschen Wortes bedurfte, und dann würde etwas passieren, das sie alle bereuen würden. Selbst Merle konnte spüren, dass von ihr eine seltsame Hitze ausging, die gleichzeitig kalt und beunruhigend war. Da ihr Kopf an Doratravas Brust lag, konnte sie deren Herzschlag hören - tief und viel zu laut, nachhallend wie in einem viel zu großen Raum. Irgendwie hatte Merle den Eindruck, der Abstand zwischen den Schlägen sei viel zu groß, als dehne sich die Zeit.

Doratrava konnte im Moment nicht sprechen, sie schüttelte stumm den Kopf und deutete mit dem Kinn nach draußen.

Der Tsageweihte nickte nur wortlos und verließ den Raum. Trotz des sehr befremdlichen Auftretens und Erscheinens der Gauklerin spürte Rionn tief in seinem Innern, dass er ihr vertrauen konnte. Als er durch die offene Tür gegangen war blieb er stehen und schaute sorgenvoll, wie es Friedewald ging.

Rahjel spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Die Stimmung wurde schlimmer, doch konnte er nicht einschätzen, was geschehen war. ´Der Pruch? Der Ruf Belkelels sogar? Eine magische Besessenheit? Oder nur ein eifersüchtiges Herz?´ Die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Wie es schien, war er nicht der einzige, der Merle und Doratrava nicht allein lassen wollte, als er die Haltung des Tannenfelsers sah. Im Moment stand Rahjel schräg hinter Doratrava und Merle, vor allem erstere schien sich seiner Anwesenheit gar nicht bewusst zu sein. Etwas sagte ihm, dass es besser so blieb.

Merle hob leicht den Blick, als sie merkte, dass irgendetwas seltsam war mit Doratrava. Doch war sie zu sehr in ihrem eigenen Schmerz und Gefühlschaos gefangen, um darüber auch nur nachzudenken.

Nivard stand noch immer unschlüssig neben Merle und nun Doratrava. Einerseits sollte er der Aufforderung Friedewalds Folge leisten, und den Raum verlassen. Andererseits wollte er Merle jetzt nicht alleine lassen - weder ganz noch mit Doratrava. Und ach, erst recht nicht mit Rahjel, dessen stille Anwesenheit ihm erst jetzt, da sich der Raum geleert hatte, gewahr wurde. Der Altenberger hatte diesen verdammten Rahjabund zugelassen, nein, sogar die Zeremonie als Geweihter begleitet.

In Nivard regte sich die leise und inzwischen wahrscheinlich lächerliche Furcht, dass die Dinge, wenn auch er selbst noch ging, eine Eigendynamik entwickeln könnten, nach der dann wirklich alles verloren war... 'Verdammt, wahrscheinlich war es das ohnehin schon längst. Trotzdem...!'

"Komm, ich helf Dir auf, Merle!" erbot sich der Krieger leise. "Lass uns zusammen hinsetzen! Hilfst Du mit, Doratrava?”

Mit verlorenem, leeren Blick schaute Merle in Nivards Richtung, ohne jedoch seinen Augen direkt zu begegnen. Abwehrend zog sie die Knie an ihren Oberkörper und umschlang die Beine mit den Armen. "Es ist alles vorbei", murmelte sie kaum hörbar zu sich selbst, während sie weiter abwesend ins Feuer starrte.

Nun drehte Doratrava ihren Kopf langsam in Nivards Richtung, und die volle Intensität ihres schwarzlodernden Blickes traf nun ihn. Einen Moment verharrte sie so, ihr tränenüberströmt Gesicht deutete noch immer das Chaos der Gefühle in ihrem Inneren an, doch schien langsam das Leben daraus zu weichen. Dann schüttelte sie wie vorher bei Rionn den Kopf und deutete mit dem Kinn nach draußen. Allerdings wirkte die Bewegung anders als vorher so, als wäre sie dabei, einzufrieren und müsste dagegen ankämpfen.

Nicht zum ersten Mal wurde Nivard Zeuge, welch mannigfaltige und merkwürdige Farbtöne Doratravas Augen anzunehmen vermochten. So hatte er sie allerdings noch nie gesehen. Irgendetwas stimmt auch mit ihr offensichtlich überhaupt nicht. Nein, jetzt würde er erst Recht nicht gehen. Nicht, ehe er wusste, dass Merle und Doratrava sicher waren - auch vor sich selbst. Langsam und mit weit geöffneten Augen die Gauklerin ansehend schüttelte er nun seinerseits entschieden den Kopf, um dann selbst mit dem Kinn und einem fragendem Blick auf Doratrava zu deuten. Rahjel hatte er in diesem Augenblick vollkommen vergessen.

Instinktiv nahm Rahjel seinen geweihten, roten Schleier in die Hände und hielt ihn vor seinen Bauch. Obwohl er das Gesicht Doratravas nicht sehen konnte, sagte ihm Nivards Miene, dass etwas nicht stimmte. Bis jetzt war die Gauklerin eine Gefährtin Rahjas gewesen und hat für viel Freude gesorgt. Seit dem Unfall im Herzogenfurter Weinkeller wusste er, dass sie mehr als eine einfache Gauklerin war. Eine Geweihte des Namenlosen hatte sie ausgeschaltet, doch waren sie auch mit dem unheiligen Erbe des Feindes der Zwölfe in Berührung gekommen. Hatte vielleicht ihre Seele dadurch gelitten? Er war sich nun sicher. Er musste versuchen, die Frauen zu retten. Vorsichtig schritt er von hinten auf die Gauklerin zu, als sie sich auf Nivard konzentrierte.

Als nun fast alle den kleinen Salon verlassen hatten und nur noch Merle, Doratrava, Nivard und der Rahjageweihte zurück geblieben waren, blickte Friedewald noch einmal zurück zu Merle und sprach verständnisvoll: “Ich werde dir beistehen, Kind! Wir sind deine Familie.” Vielleicht konnten die Gauklerin und die beiden Männer Merle wirklich beruhigen. Mit seinem Neffen Rahjel war zumindest auch ein Geweihter bei ihr, der ihr hoffentlich Seelenfrieden schenken konnte. Vorsichtig, aber mit einem unguten Gefühl schloss er hinter sich die Tür.

Matt und resigniert nickte Merle ihrem Schwiegervater hinterher, dann legte sie wieder ihren Kopf an Doratravas Schulter, die weiter unendlich sanft ihren Rücken streichelte.

Die schlimme Nachricht

Friedewald lehnte sich an die Tür und atmete mit geschlossenen Augen tief durch. Als er die Augen wieder öffnete, fiel ihm auf, dass die Blicke der verbliebenen auf ihm ruhten.

Es waren deutlich weniger von denen geblieben, die zu der Unterredung geladen waren: die Baronin von Rodaschquell, die Edle von Kalterbaum, Miranda von Mersingen, der Ritter Rondrard von Storchenflug, sowie der Geweihte Rionn, letzterer begleitet von seinem Novizen Eoinbaiste.

Der Edle von Lützeltal fasste sich und fing an zu sprechen. “Ich weiß, es scheint nicht der richtige Moment für eine Unterredung zu sein, zumal viele der Personen, die an dieser Runde beteiligt sein sollten, nun nicht hier sind. Dennoch ist die Nachricht, die ich mitzuteilen habe, zu bedeutsam, um die Besprechung zu vertagen.”

Die Rodaschquellerin hob ihr Haupt und schaute ihn erwartungsvoll an. Ein kaum merkliches Nicken folgte daraufhin.

Der Tsageweihte hatte großen Respekt vor Friedewald, der in dieser angespannten und bedrängenden Situation seiner Familie sich soviel Gelassenheit bewahren konnte und sich nun sogar der Versammlung zuwendete - zumindest dem, was davon übrig war. Doch Rionn sorgte sich auch um Friedewald, konnte er doch die Last erahnen, die gerade auf ihn drückte. Rionn machte sich Sorgen um Merle. Er machte sich auch Sorgen um Gudekar. Und er war traurig, dass es nicht gelungen war, das vorangegangene Gespräch im Frieden zu einem Ziel zu führen.

“Wo war ich vorhin stehen geblieben? Ach so, ja. Also, uns haben Nachrichten aus Flusswacht erreicht, die sehr beunruhigend sind. Ein Freund der Familie, ein getreuer Kamerad von einigen der Anwesenden, schickte eine schreckliche Nachricht. Es handelt sich um Radulf von Grundelsee, der ebenfalls zur morgigen Feier geladen war. Er selbst wollte am gestrigen Tag seinen eigenen Traviabund feiern, doch dazu kam es nicht, denn es ist ein grausames Unglück vorgefallen. Tabea von Flusswacht ist tot. Uns erreichte heute folgender Brief”, der Edle zog ein Pergament aus seiner Tasche und entfaltete es. “Genaugenommen richtete sich der Brief an meinen Sohn, doch durch gewisse Umstände, durch eine Verwechslung, fiel er mir in die Hände.” Friedewald von Weissenquell räusperte sich und blickte sich noch einmal um.

Ohje!, dachte Rionn erschrocken. Das Entsetzen konnte man ihm von seinem Gesicht ablesen. Noch mehr schlechte Nachrichten! Er schluckte. Erneut sandte er ein Stoßgebet zur Ewigjungen.

Liana schaute ihm mitfühlend in die Augen. Die Last, die auf Friedewalds Schultern ruhte, musste sehr groß sein.

“Wollt Ihr uns mitteilen, was darin steht?”

„Ja, natürlich!“ Friedewald räusperte sich noch einmal, dann las er vor.

Werter Gudekar,

die Dinge überschlagen sich.

Traurige Kunde aus Hlutarswacht. Verzeiht, das ich nicht die Kraft habe die richtigen Worte zu finde und einen wohlformulierten Brief aufzusetzen.

In tiefer Trauer muss ich euch leider mitteilen, das die Vermählung zwischen Tabea und mir am Tag der Treue nicht stattfinden wird.

Die Umstände machen mir Angst ...

er ...

Ihr wisst wen ich meine, treibt noch immer sein Unwesen ...

und er hat zugeschlagen ... und hat getroffen ...

meine Zukünftige wurde sein Opfer. Mein Schwiegervater Gundeland hat Tabea gefunden ...

Sie lag tot am Fuß des Bergfried, außerhalb der Burg ...

... die Federn, man hat gebrochene Gänsefedern unter ihrem gebrochenen Körper gefunden ...

Und zwei Tage später noch eine Magd der Familie ... tot.

Steht zusammen und achtet auf euch.

Radulf von Grundelsee

Flusswacht, 11. Travia

Friedewald setzte sich kraftlos auf einen Stuhl und überließ den Gästen zunächst das Reden.

Liana blickte betreten zu Boden. Und Gab Friedewald einen Augenblick.

“Ich bedauere den Verlust Tabeas und den Kummer des Herrn von Grundelsee”, sagte sie leise.

“Umso wichtiger ist es, dem Treiben des Verblendeten alsbald Einhalt zu gebieten.” Es lag ein Drängen in ihrer Stimme. Und so hart die Frage auch sein mochte, sie musste dennoch gestellt werden.

“Ist bekannt, auf welche Art die Dame den Tod fand?”

„Nein“, musste Friedewald eingestehen. „Mehr als in diesen Zeilen steht, weiß ich auch nicht.“

Das Erschrecken in Rionns Gesicht war noch gewachsen, als Friedewald den Brief vorlas. “Ohje”, murmelte er entsetzt. “Der arme Radulf.” Der Tsageweihte schüttelte traurig den Kopf. “Was wird dieser zwölfgötterverdammte Bäckergeselle noch alles anrichten?”

“Der Brief war also an Gudekar gerichtet, und nicht an Euch?”, fragte Liana.

“Es stellt sich die Frage, was der Grund dafür ist. Weiß Herr Gudekar bereits davon?”

Friedewald schüttelte den Kopf. “Wie ich schon sagte, durch eine – ähm – Verwechslung ist der Brief in meinen anstatt in Gudekars Händen gelandet. Ich wollte ihn darüber auf dieser Versammlung informieren, doch nun ist er scheinbar seiner Verantwortung davongelaufen.” Friedewald wirkte äußerst ärgerlich über das Verhalten seines Sohnes.

Als Friedewald seine Worte gesprochen hatte, drang plötzlich ein kreischendes Klirren aus dem Kaminzimmer, als ob Glasscherben zerbarsten oder eine kostbare Vase auf einem Marmorboden zerschellte.

Erschrocken drehte sich Friedewald um und schaute zu der Tür. Etwas stimmte dort nicht. Schnell stand er auf und eilte in den Nebenraum, um nach dem Rechten zu sehen.

Auch der Tsageweihte war nicht minder erschrocken. Besorgt eilte er Friedewald hinterher, um zu schauen, was Doratrava, Merle, Nivard und Rahjel passiert war. Innerlich machte er sich Selbstvorwürfe, ob es richtig gewesen sei, dass er sich von Doratrava des Raumes verweisen ließ und ihrer Anweisung gefolgt war.

Der Tsa-Novize hingegen folgte dem alternden Tsageweihten ohne Zögern, aber eher aus Neugier mit unangemessener Unbefangenheit.

Die Elfe wartete ebenfalls nicht und ging den anderen rasch nach.

Miranda wandte sich hin und her, innerlich zerrissen von der Überforderung. Diese Situation war absurd, falsch! „Lares. Lares!“, war das Einzige, was die junge Frau von sich geben konnte. Sie packte ihre Rockschöße und rannte hinauf zu den Gemächern, in denen sich ihr Bruder aufhielt.

~ * ~

Dem Albenholzer hinterher

Nach Merles unkontrolliertem Gefühlsausbruch hatte Eoban von Albenholz eiligen Schrittes das Herrenhaus des Edlen verlassen. All das untravianische Gehabe, die wiederholten Affronts gegen die Gastfreundschaft, die ihnen vom Edlen Friedewald hier gewährt wurden. War ihm all das endgültig zu viel? Er hatte eine Entscheidung getroffen. Gudekar von Weissenquell, um dessen Verfehlungen es in der Diskussion hauptsächlich gegangen war, folgte seinem Freund. Im Hof sah er Eoban, der gerade dabei war, das Tor zu verlassen.

“Eoban”, rief der Anconiter verzweifelt, warte! Ich muss mit Euch reden!”

Kurz nach Gudekar betrat auch die Baroness von Kaldenberg den Hof vor dem Herrenhaus. Sie hatte vor dem Portal ihren Schritt verlangsamt und war auf leisen Sohlen die Treppenstufen herabgeschlichen. Sie hielt sich am Rande des Geviert und hatte die Hoffnung, das Gespräch der beiden Männer ungesehen belauschen zu können.

Der Albenholzer hielt und drehte sich zu Gudekar um. Er blickte ihm schweigend entgegen. Was gab es hier noch zu bereden?

“Es tut mir leid!” Gudekar hob beschwichtigend die Arme. “Ich hätte Euch einweihen sollen. Ich hatte nur Sorge, Ihr würdet es falsch verstehen!”

Eoban kniff kurz die Augen zusammen. "Einweihen?... Einweihen in was?"

Gudekar schaute den Ritter verblüfft an. „Na, in meine Liebe zu Meta, natürlich. Doch ich wusste, wie Ihr zu der Sache stehen würdet. Und so hatte ich Angst.“

Eoban schaute kurz mit zusammengepressten Lippen zu Boden. "Das ist… nachvollziehbar… Aber Gudekar, ich bin nicht blind. In all den Monaten unserer Unternehmungen ist mir klar geworden, dass das Band zwischen Euch und Merle sehr dünn ist. Das ist nicht im Sinne Travias… Aber was soll ich machen. Diesen Umstand müsst Ihr vor der Göttin und Eurer Familie klären… Und zugleich habe ich bemerkt, dass Euch viel Unrecht getan wurde. Das ist nicht richtig…" Eoban überlegte kurz. "Umso mehr Bedeutung hat es, dass Ihr Euch nach wie vor für diese Gemeinschaft opfert. Vielleicht kann diese Hingabe einiges aufwiegen… Aus Euren Worten hörte ich Ehrlichkeit. Ihr habt die Karten auf den Tisch gelegt. Und Ihr scheint wahrhaftig zu lieben. Ich kenne mindestens eine Göttin, die das gutheißen kann… Ich bin sicher, Ihr werdet Euren Weg finden. Und ich hoffe, eines Tages zu uns zurückfinden… Aber zunächst müssen wir verstehen, wie Merle so schnell abgleiten konnte. Und das beenden. Ich werde versuchen, Vater Reginbald zu finden und kehre in der Nacht zurück. Mit oder ohne ihn."

“Aber…”, Gudekar blieb vor Verwunderung der Mund offen stehen. Er hatte mit allem gerechnet, doch nicht mit dieser Reaktion seines Freundes. Der Anconiter war so verwundert, dass er fast sich selbst der Traviafrevelei in seiner Beziehung zu Meta bezichtigt hätte. Denn das war es, was er von Eoban erwartet hatte. Doch dieser zeigte Verständnis und Mitgefühl. Eoban war also tatsächlich ein wahrer Freund. Ein Freund, auf den man sich verlassen konnte. Doch Gudekar besann sich. Er wollte Eoban nicht selbst darauf bringen, wie schlimm seine Verfehlungen waren. Doch dass sein Freund nun auch noch Merle angriff, stimmte Gudekar bedrückt. “Gebt bitte nicht Merle die Schuld! Was ich ihr angetan habe, mag ihr Verhalten erklären. Ich verzeihe ihr ihren Ausbruch. Tut bitte dasselbe. Sie wurde von anderen angestachelt.” Wen er damit meinte, ließ Gudekar jedoch offen.

"Ich will Merle keine Schuld geben. Aber was sie da sagte… Zehn Jahre geopfert? Durch den Traviabund?... Und viele weitere unsagbare Dinge. Mir ist das Blut in den Adern gefroren. Kein göttinnenfürchtiger Mensch würde das sagen können. Etwas muss ihre Seele berührt haben. So wie viele andere auch - hier, vor unseren Augen. Denn der Widersacher ist kein Wesen von Geduld… Es wäre schlimm, seine Gefolgsleute unter uns zu finden. Aber vielleicht wird genau das immer deutlicher… Ich sollte aufbrechen."

“Mutter Liudbirg und Vater Reginbald werden sich sicher um Merles Seelenheil kümmern, sobald sie hier sind. Ich denke, sie sind bereits unterwegs, sollen sie doch morgen die Zeremonie zu Gwenns Vermählung durchführen. Sie werden sich gewiss ihrer Tochter annehmen und sie auf den rechten Weg zurückführen. Merle hat heute Dinge gesagt bekommen, die wohl zuviel für sie und ihre zerbrechliche Seele waren.” Welche Dinge es aber genau waren, die ihre Seele angriffen, behielt Gudekar dann aber doch lieber für sich.

"Sicher ist das Hohe PTempelpaar auf dem Weg eingekehrt. Wisst Ihr, wo das sein könnte? Ich kann mir nicht vorstellen, dass unter den Worten von heute morgen geheiratet werden kann. Dieser Schatten muss zunächst getilgt und jede weitere Gefahr ausgeschlossen werden."

Gudekars Augen weiteten sich erschrocken. Gwenn wäre nicht amüsiert, würde Eoban oder sonst jemand versuchen, ihre Hochzeit zu verhindern oder auch nur zu verschieben. Nein, das durfte nicht geschehen. Noch war jedoch Zeit, das zu verhindern. Aber wie? “Eoban, lass dies bitte die Dreifelds entscheiden, ob die Hochzeit wie geplant stattfinden kann, bitte. Sie werden dies wohl besser als jeder von uns einschätzen können.” Gudekar überlegte kurz. “Ich denke, sie könnten auf Gut Darrenbruck einkehren. Es liegt auf halbem Weg von Albenhus. Und sie könnten dabei gleich nach Reto schauen. Wollt Ihr tatsächlich alleine durch die Nacht reiten, wo die beiden doch eh auf dem Weg sind? Ist das nicht viel zu gefährlich in diesen Zeiten?”

Der Gedanke war dem Ritter nicht fremd. Er blickte zur Seite, um die Risiken des Unterfangens nochmals abzuwägen. Prüfend blickte er auch in den Himmel.

Der Sturm hatte sich verzogen, die Wolken lockerten auf und einige späte, goldene Sonnenstrahlen schauten an diesem Herbstnachmittag hindurch.

"Ich bin Eurer Meinung. Die Dreifelds sollten dies entscheiden. Und genau aus diesem Grund sollten sie wissen, was sie hier erwartet. Es wird nicht nur die Hochzeit sein, die sie morgen fordert. Sondern auch die Risse in unserer Gemeinschaft… Nur ungern bin ich heute Nacht nicht bei meiner Familie. Aber es muss sein. Ich werde meinen Knappen bei ihnen lassen… Ich will eilen, sonst wird es noch später. Die gütige Mutter mit Euch." Damit drehte der Albenholzer wieder in Richtung des Weges und ging schnellen Schrittes davon.

“Viel Glück und gute Reise!” war das einzige, was Gudekar seinem Freund noch hinterherrufen konnte. Er wusste, er würde Eoban nicht mehr umstimmen können. Resigniert setzte sich Gudekar auf eine Bank, die vor dem Herrenhaus stand, und atmete tief durch. Was hatte das alles nur zu bedeuten? Was würde wohl als nächstes geschehen? Welche Überraschungen hielt dieser Tag noch bereit? Der Anconiter genoss die plötzliche Ruhe um ihn herum. Ruhe. Einfach nur noch Ruhe. Das war es, was er nach diesem Tag wohl am meisten brauchte.

Doch jene Ruhe wurde ihm verwehrt: Mit einem Räuspern machte die Kaldenbergerin auf sich aufmerksam. Sie hatte sich mit der Schulter lässig gegen die Wand des Gutshauses gelehnt, um zu verdeutlichen, dass sie nicht erst seit kurzem an jener Stelle stand und daher wohl das Gespräch mitbekommen haben musste.

Gudekar erschrak, als er die Baroness bemerkte. Es war sicher nicht Sinn der Sache, dass andere Personen sein Gespräch mit Eoban angehört hatten. Aber was war schon schlimmer, als das, was die Baroness zuvor mitbekommen haben musste?

Arda bemühte sich, ihre Miene neutral zu halten, höchstens ein feines ironisches Lächeln war in ihrem Gesicht zu erkennen.

Als Gudekar sich zu ihr umdrehte, löste sie sich von der Wand und ihre Arme aus der Verschränkung. Sie machte eine einladende Geste in Richtung des Portals des Gutshauses, als sei sie hier zuhause und nicht ihr Gegenüber. “Kommt, hochgelehrter Herr! Euer Vater möchte gerne schlimme Kunde verbreiten, und die Anwesenden dürsten darauf, Schauergeschichten vom bösen Bäckerpruch aus erster Hand zu hören!” Mehr als nur eine Prise Spott durchzog die Worte der Baroness.

Ohne sich von der Bank zu erheben, blickte der Anconiter zu Arda. “Euer Wohlgeboren. Verzeiht meinen Widerspruch. Aber was für schlimme Kunde könnte mich dort drinnen nun noch erwarten? Erspart mir die Schmach, mich den gaffenden Blicken der Neugierigen stellen zu müssen und dabei auch noch die strafenden Worte meines Vaters anhören zu müssen.” Doch dann stutzte Gudekar. “Schauergeschichten vom Pruch? Wisst Ihr etwas davon, was mein Vater besprechen wollte?”

“Mir scheint, Ihr habt Euch diese Suppe eingebrockt - was lamentiert Ihr nun, da Ihr sie auslöffeln müsst?” konstatierte die Baroness mitleidlos. “Euer Vater deutete lediglich an, dass er dramatische Nachrichten aus Flusswacht erhalten habe. Weiter kamen wir bislang nicht, wegen eines gewissen ‘verfickten Arschs’.” Arda sprach die letzten Worte so beiläufig aus, als handele es sich nicht um einen derben Kraftausdruck, sondern lediglich um eine drollige Redewendung, doch ihre Augen leuchteten dabei amüsiert auf.

„Aus Flusswacht.“ wiederholte Gudekar. Denn musste der Brief von Radulf stammen. Oder über ihn handeln. Das wäre noch schlimmer. „Radulf von Grundelsee sollte aus Flusswacht hierher reisen“, berichtete er emotionslos. „Bisher ist er noch nicht gekommen.“

Arda verzog das Gesicht. Sie war, glaubte sie zumindest, jenem Radulf schonmal begegnet - wenn auch unter Umständen, die ihr nicht angenehm in Erinnerung geblieben waren. “Dann haben wohl an seiner statt jene Nachrichten den Weg in dieses Nes…, äh, Lützeltal gefunden.”

Sie ging ein paar Schritt auf den Magier zu: “Fühlt Ihr Euch dem Herrn von Grundelsee nicht verbunden genug? Wollt Ihr gar nicht erfahren, was ihn aufgehalten hat? Zumal Euer Vater einen Zusammenhang zwischen der Nachricht und dem Wirken des Bäckerpruchs zu sehen scheint…" Die Kaldenbergerin sprach, als dächte sie laut, doch der wahre Adressat war Gudekar, dessen Interesse - oder zumindest Sorge - sie zu wecken hoffte.

Gudekar schaute die Kaldenbergerin an. “Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt wissen möchte. Was kann es schon für eine Nachricht sein, wenn deshalb ein Rat einberufen wird? Ich fürchte, für mehr schlechte Nachrichten reichen meine Kräfte heute nicht mehr.”

“Es täte mir leid, wenn ich…” die Baroness zögerte kurz, “...mich derart in Euch getäuscht hätte.” Anhand von Ardas Mimik wurde ersichtlich, wie nah die Gefühle von Mitleid und von Verachtung beieinander lagen. ‘Saftlose Mirhamionette!’ schalt die Baroness den Anconiter in Gedanken.

Nun war Gudekar verwundert. “Was meint Ihr, Ihr hättet Euch in mir getäuscht, Euer Wohlgeboren? In was getäuscht?”

“Ich dachte nur… Ich möchte Euch nicht zu nahe treten.” Die Baroness schien mit sich zu ringen. Schließlich sagte sie frei heraus: “Ich habe Euch für einen Mann gehalten, der seine Prioritäten richtig einordnen kann.” Sie atmete aus, als ob die Aussage sie von einer Last befreit hätte. “Und nun… ist Euer Heim gefährdet, und Ihr dafür habt keine Kraft, weil Ihr Euch mit Eurem… ‘kleinen Anconiter’ in einer Frau verirrt habt, die nicht die Eurige ist?”  

“Eure Argumentation hat einen gravierenden Fehler.” Gudekar hatte die Anspielung durchaus verstanden, doch wollte er nicht direkt darauf eingehen. So zog er sich in eine emotionslose Kälte zurück. “Dies hier ist nicht länger mein Heim.”

“Bitte ärgert mich nicht mit semantischen Spitzfindigkeiten.” Die Baroness klang etwas verärgert. “Dies ist das Haus Eures Vaters und vermutlich auch Euer Geburtsort. Das Heim, das in Gefahr ist, ist nicht nur dieses Haus, es ist das alles - die Nordmarken. Ihr wisst schon - das Herz der Nordmarken!” Arda machte eine unbestimmte, umfassende Geste und betonte den letzten Ausdruck besonders, auch wenn sie nicht wusste, was genau damit gemeint war. Nein, WEIL sie nicht wusste, was damit gemeint war! Sie wollte endlich erfahren, was es damit auf sich hatte, und der Mann vor ihr war der einzige Anwesende, der das womöglich konnte.

Beflügelt durch diese Gedanken, drängte sie: “Sagt mir, dass Ihr gebrochen habt mit Eurer Herkunft, mit Eurem Vater, mit dem Herzogtum, mit den Prinzipien von Heimat und Familie - und ich werde Euch nicht weiter behelligen!” Sie seufzte: “Gleichwohl werde ich Euch wohl zum Abschied wüst beschimpfen und Euch empfehlen, Euch in die Niederhöllen zu scheren.” Nun hob sie den Zeigefinger: “Wenn Ihr das nicht sagen könnt, dann schwingt gefälligst Euren Allerwertesten in den Saal” - der erhobene Zeigefinger richtete sich auf das Portal des Herrenhauses - “und beteiligt Euch mit all Eurer Kraft daran, diesen Ort und die Leute darin vor dem Bäckerpruch zu schützen!” Sie zog die Augenbrauen zusammen: “Danach könnt Ihr meinetwegen nach Herzenslust Trübsal blasen und Gänseblümchen zerzupfen oder auf anderem Wege Euer Liebesleben ordnen!”

Gudekar holte tief Luft. Die Baroness hatte es geschafft, den Magier aus seiner Lethargie zu locken, doch ob dies gerade förderlich für ihr Ansinnen war, war wohl mehr als fraglich. “Was bildet Ihr Euch eigentlich ein, Euer Wohlgeboren? Ob ich mich in die Niederhöllen schere oder nicht, liegt wohl kaum in Eurer Entscheidungsgewalt!”

Als Gudekar weiter vor sich hin schimpfen wollte, drang plötzlich ein kreischendes Klirren aus dem Herrenhaus, als wenn tausend Glasscherben zerbarsten. Dann herrschte wieder Stille. Nichts im Hof hatte sich verändert, und auch das Herrenhaus schien von außen gesehen unversehrt zu sein. Dennoch hatten Arda und Gudekar ein ungutes Gefühl.

Die Kaldenbergerin konnte an Gudekars erschrecktem Gesicht ablesen, dass nicht nur sie das gefühlt hatte, was sie gefühlt hatte. Sie fühlte sich für einen Moment fahrig, obwohl genau das eingetreten war, was sie insgeheim befürchtet und auch erwartet hatte.

Ihr betonter Blick sagte dem Magus: ‘Hab ich es Euch nicht gesagt!’ - doch die junge Adelige konnte nicht anders und schob es nochmal ausdrücklich verbalisiert hinterher: “Hab ich es Euch nicht gesagt?!” Mit einem frustrierten Schrei sprang sie auf, mit der Linken schürzte sie ihr Reitkleid, mit der rechten zog sie das Jagdrapier an ihrer Hüfte.

Ohne zu warten, ob der Anconiter ihr folgte, rannte Arda so schnell sie konnte zurück in Richtung des Portals zum Herrenhaus.

Auch Gudekar folgte ihr erschrocken eiligen Schrittes. Es klang, als musste etwas Furchtbares passiert sein.

~ * ~

Kummer im Kaminzimmer

Friedewald hatte die Tür zum Salon hinter sich geschlossen. Zurück blieben nur Merle, Doratrava, Nivard und der Rahjageweihte Rahjel. Es herrschte auf einmal Stille in dem kleinen Kaminzimmer. Lediglich das Kaminfeuer knisterte unregelmäßig. Doch die Wärme, die es ausstrahlte, vermochte nicht, die Kälte zu vertreiben, die Gudekars Offenbarung hinterlassen hatte. Rahjel stand hinter Doratrava und Merle und war von ihnen noch nicht bemerkt.

Noch immer ruhte Nivards fragender Blick auf Doratrava.

Diese senkte ihren Blick kurz und langsam zurück auf Merle, dann hob sie ihn erneut zu Nivard, als dieser keine Anstalten machte, den Raum zu verlassen. Fast hatte jener den Eindruck, als zuckten ihre schwarzen Iriden, wollten sich über die gesamten Augen ausbreiten, aber das musste eine Täuschung sein. Nivard hatte das unbestimmte Gefühl, sich der unausgesprochenen letzten Aufforderung gegenüberzusehen, JETZT zu gehen ...

Wieder schüttelte Nivard langsam den Kopf. “Ich lasse Euch beide nicht alleine.” sprach er mit ruhiger Stimme. “Nicht in Eurem Zustand. Nicht so, wie Du mich gerade anschaust.”

Doratravas Nähe war wunderschön und tröstlich, doch nahm Merle auch in ihrem aufgelösten Zustand wahr, dass ihre Freundin mehr von ihr wollte… etwas, das sie im Moment eher überforderte als dass es sie berührte. Und irgendetwas an Doratrava war anders, seltsam, sie konnte es nicht einordnen… Nivard hingegen strahlte eine warme, ausgeglichene Präsenz aus, die keine eigenen Wünsche und Sehnsüchte an sie richtete, sondern einfach da war. Sie verspürte den Wunsch, er möge hierbleiben, auch wenn sie diesen nicht in Worte zu fassen vermochte.

Wieder schien Doratrava zu warten ... schien Nivard die Gelegenheit zu geben, sich zu entfernen. Ihre Blicke maßen sich, der der Gauklerin hatte nun definitiv etwas Unheimliches, farbige Schlieren von Rot und Gelb und Purpur schienen sich in das Schwarz zu mischen, aber immer nur so kurz, so flüchtig, dass der Krieger sich nie sicher sein konnte, das tatsächlich gesehen zu haben. Zudem fühlte es sich an, als werde die Luft im Zimmer dicker, zäher, der Rand von Nivards Gesichtsfeld schien zu verschwimmen. Als er stur darauf beharrte, seinen Platz nicht zu räumen, öffnete sich plötzlich Doratravas Mund zu einem lautlosen Schrei ... und dann zerbrach die Welt um den Krieger herum. Seine Ohren wurden von einem schrecklichen, kreischenden Klirren gepeinigt, das Bild, das seine Augen lieferten, zerschmetterte in tausend, zehntausend, Millionen Stücke, als hätte er die Szene die ganze Zeit lediglich durch eine perfekte, makellose, unsichtbare Glasscheibe betrachtet, welche nun zerbarst, er fühlte, wie Splitter ihn durchbohrten und zerrissen, während ein schwarzes Wabern ihn zu verschlingen drohte ... und dann war nichts mehr.

Rahjel hatte die Gelegenheit ergriffen, sich zu nähern, als der Blick der Gauklerin auf Nivard gerichtet war. Nun spürte er Lares’ mutiges Herz in sich schlagen, Gefühle, die ihn und den Mersinger verbanden. So schnell er konnte, warf er das geweihte Tuch der Rahja über den Kopf Doratravas … zumindest hoffte er, gut gezielt zu haben. “Rahja, steh uns bei!”

~ * ~

Wachen auf dem Dorfplatz

Eoban von Albenholz hastete vom Gutshof des Edlen in Richtung des Hofs, auf dem seine Familie untergekommen war. Er wollte heute noch abreisen, dem Albenhuser Traviageweihtenpaar Luidbirg und Reginbald Dreifeld entgegen reiten, um sie bereits vorab über die traviaungefälligen Umtriebe in Lützeltal in Kenntnis zu setzen. Insbesondere die plötzliche Wandlung ihrer Tochter Merle machte dem Albenholzer Sorgen. Doch zunächst musste er sich von seiner Frau Margalin verabschieden und das Pferd satteln.

Als Eoban über den Dorfplatz eilte, fiel ihm eine kleine Versammlung von drei Leuten vor dem Haus des Praiogrimm Waldgrun auf, die dort eifrig diskutierten. Dies wäre vermutlich nichts Ungewöhnliches mitten am Nachmittag. Doch der Mann und die Frau, die neben dem Dorfschulzen standen, waren offensichtlich zwei Dorfwächter. Seit seiner Ankunft hier in Lützeltal waren Eoban bis auf die Plötzbognerin, die zum Schutz der Braut Gwenn abgestellt war und diese wie ein Schatten begleitete, keine bewaffneten Wachen aufgefallen. Diese hielten sich scheinbar bisher bedeckt im Hintergrund, um die feierliche Stimmung nicht zu stören. Doch nun standen Hadelin Borkmund und Nerek Bertenschlag bewaffnet und voll gerüstet mitten auf dem Dorfplatz. Über ihren Kettenhemden trugen die beiden einen Überwurf mit dem lützeltaler Wappen, in der Linken hielten sie jeweils eine Fackel, die rechte bereit, jederzeit das Schwert zu ziehen.

Beim Näherkommen konnte Eoban die Befehle mit anhören, die Praiogrimm den beiden Wachen gab. “... nur beobachten! Wir wissen nicht, ob es überhaupt Übergriffe geben wird, und falls ja, von wo aus die Gefahr droht. Solange wir nichts Genaueres wissen, wollen wir die Nachbarn und vor allem die Gäste nicht beunruhigen. Also, seid wachsam und versucht, die hohen Herrschaften im Blick zu behalten, damit niemandem etwas zustößt!”

“Sehr wohl, Praiogrimm! Aber sollte man die Gäste nicht besser Informieren?” fragte Nerek nach.

“Seine Wohlgeboren hat just zu dieser Stunde einige vertrauenswürdige Gäste zu sich ins Gutshaus geladen, um sie über die Gefahr zu informieren. Andere sind auf der Brautentführung und werden vom Jungen Herren begleitet. Diese sind wohl noch nicht in Kenntnis gesetzt. Doch Herr Friedewald trug mir auf, das Ende der Beratungen abzuwarten. Er hoffte, so die Suche nach der Jungen Dame nicht zu stören.”

Als Ritter am Hofe der Liepensteiner Baronin hatte Eoban gelernt, seine Neugier zu zügeln. Doch bei dieser Szene rang er mit sich.

In den letzten zwei Jahren spürte er eine ständige Bedrohung durch den Pruch. Eoban war sich sicher: Er war hier, in diesen Landen, und wartete auf seinen Moment. Daher übernahm Eoban zusätzliche Wachaufgaben, um die Sicherheit der Gäste auf dieser Zusammenkunft zu gewährleisten. Mit seiner geplanten Reise würde er mit dieser Aufgabe brechen - keine Frage. Doch zu einem höheren Zweck: Sie brauchten Hilfe des Tempelpaares aus Albenhus.

Aber den Worten des Dorfschulzen nach zu urteilen, war etwas vorgefallen.  

Eoban wurde langsamer und ging auf die Gruppe zu.

"Bitte entschuldigt die Unterbrechung… Was ist vorgefallen?"

Praiogrimm und die beiden Wachen blickten zu dem neugierigen Ankömmling. Der Dorfschulze schien einen Moment zu überlegen, dann erkannte er den Ritter. „Ah, Ihr seid Eoban von Albenholz, hoher Herr? Richtig? Ihr und Eure Gemahlin habt gestern auch den Treueschwur erneuert.“ Sein Gesicht hellte sich auf.

"Ja, das ist richtig.", antwortete der Ritter knapp.

Praiogrimm schien abzuwägen, wie viel er dem Ritter erzählen durfte. Doch war dieser Mann wohl ein guter Freund des Hauses. Und ein Mann, der öffentlich den Treueschwur zu seiner Frau spricht, ist ein vertrauenswürdiger Mann.

„Seine Wohlgeboren hat eine Nachricht aus Flusswacht erhalten und sorgt sich nun, dass auch unsere Feier in Gefahr sein könnte“, berichtete er schließlich.

Eoban kniff kurz die Augen zusammen. "Auch in Gefahr sein könnte? Ist etwas in Flusswacht geschehen?"

“Ja”, bestätigte der Dorfschulze. “Tabea von Flusswacht wurde vor ihrer Hochzeit ermordet.”

~ * ~

Spurlos verschwunden

Der Edle Friedewald von Weissenquell riss die Tür zum Kaminzimmer auf, aus dem gerade eben ein Geräusch wie eine zerschellende Vase oder zerberstende Glasscheiben gedrungen war. Sein Blick fiel sofort auf den bewusstlos am Boden liegenden Krieger Nivard von Tannenfels. Ansonsten war der Raum leer. Keine Merle. Keine Doratrava. Kein Rahjel. Im Kamin war das Feuer erloschen, lediglich von einem der Holzscheite stieg eine kleine Rauchfahne auf.

Friedewald lief sofort zu dem Bewusstlosen und überprüfte seinen Atmen. Sein sich auf- und abhebender Brustkorb zeigte, dass Nivard nicht tot war. “Schnell, wir brauchen einen Heiler!”

Hinter Friedewald standen Liana Morgenrot und Rionn mit seinem Novizen.

Liana kniete sich neben dem Hausherrn auf den Boden, um nach Nivard zu sehen.

Sie untersuchte den Körper des Kriegers nach offenkundigen Verletzungen. Möglicherweise am Kopf oder im Rücken? Doch es waren keine äußerlichen Verletzungen zu sehen.

Der Tsageweihte kniete sich ebenfalls hin und versuchte zu erkennen, was möglicherweise zu Nivards Bewusstlosigkeit geführt haben konnte. Eine Vergiftung konnte Rionn zwar nicht ausschließen, doch gab es keine der von den meisten ihm bekannten Giften verursachten Symptome. Rionn vermutete, dass es entweder eine seelische oder eine magische Ursache haben musste, dass Nivard seine Präsenz im Hier und Jetzt verloren hatte.

Der Tsa-Novize drängte sich nur neugierig in den Raum, um zu sehen, was denn geschehen war.

“Kannst du ihn wecken?”, sprach Rionn die Elfe an. “Meinst du, es war ein Zauber?”


Kurz nachdem Friedewald sich neben Nivard gekniet hatte und Liana und Rionn erste Untersuchungen an Nivard vorgenommen hatten, stürmte die Baroness Ardare von Kaldenberg in den Besprechungssaal. Kurz hinter ihr folgte der Anconiter Gudekar von Weissenquell.

„Was ist denn hier los?“ fragte der Anconiter.

Erstaunt, aber auch erfreut darüber, dass Gudekar zurückgekommen war, antwortete Rionn ihm: “Gudekar! Gut, dass du da bist. Nivard ist bewusstlos. Äußerlich scheinen keine Verletzungen erkennbar zu sein. Ob es Gift ist? Ich bezweifle es. Vielleicht war es Magie. Kannst du etwas machen?”

Erschrocken schaute Gudekar auf seinen am Boden liegenden Gefährten. Da bereits Liana sich um Nivard kümmerte, hielt er sich jedoch zunächst zurück. Insbesondere nach dem Streit von eben hatte er Sorge, könne er Nivard nicht helfen, würde ihm sein möglicher Tod angelastet werden, was auch immer die eigentliche Ursache sein mochte. Doch bei Liana war Nivard wohl in besten Händen. Ihr würde er sein eigenes Leben anvertrauen. So blickte er nur zu Rionn und zuckte mit den Schultern.

Die Baroness von Kaldenberg stand schräg hinter dem Anconiter und besah sich die dargebotene Szene.

Bereits beim Durchschreiten des Saals war ihr aufgefallen, dass Lares' Schwester nicht unter den Anwesenden war.

Doch zunächst widmete sie ihre Aufmerksamkeit dem am Boden Liegenden. Auch sie machte sich Gedanken darüber, was ihm zugestoßen sein mag.

"Ist er da auch einer der Jäger nach dem Herz der Nordmarken?", fragte sie den Anconiter aufs Geratewohl.

Gudekar drehte den Kopf zu Arda und raunte ihr zu: „Ja, er ist mir auf der Queste ein guter Freund geworden.“

“Sein Atem scheint ruhig, und eine Verletzung kann ich nicht ausmachen, deswegen wäre auch ein Gift eher auszuschließen, denke ich. Möglicherweise liegt ein Schlaf auf ihm.”

So, wie Liana es sagte, war den Kundigen klar, was sie meinte: dass Nivard womöglich verzaubert worden war.

Sie fasste ihn an der Schulter und schüttelte ihn etwas unsanft - wissend, dass ein einfacher Schlafzauber dadurch aufgehoben würde, auch ohne dass es eines Gegenzaubers bedurfte.

Da Nivard auch durch das sanfte Rütteln nicht erwachte, bemerkte Gudekar: “Euer Hochgeboren, vielleicht würde ein Psychostabilis seinem Geiste helfen, so Ihr denn eine solche Melodie in Eurem Repertoire habt.”

Liana nickte kurz. Sie legte Nivard wieder sanft ab, berührte seine Schläfen und begann eine fremde Melodie zu singen.

Kurze Zeit später erwachte Nivard aus seiner Bewusstlosigkeit.

Gudekar blickte sich suchend um. “Wo ist denn Merle?” fragte er besorgt.

Rionn fiel jedenfalls schon einmal ein großer Stein vom Herzen, als Nivard erwachte. Er machte sich unheimliche Vorwürfe, dass er Merle, Nivard und Rahjel mit Doratrava allein in dem Raum gelassen, Dortravas Weisung gefolgt war und den Raum verlassen hatte. Durch Gudekars Frage wurde er aber sofort wieder zurückgeworfen in tiefe Sorge und Selbstvorwürfe. “... und Rahjel und Doratrava?”, ergänzte er die Frage des Anconiters, der sich danach noch einmal genau umschaute. „Und die Mersingerin?“ fiel ihm dann noch auf.

"Ich gehe nach den Mersingern sehen…" verkündete Arda. Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und eilte in Richtung der Treppe.

Es kostete Nivard Mühe, seine Augen aufzuschlagen. Einige Herzschläge lang lag er ruhig, wie benommen da, und betrachtete die über ihn gebeugte Elfe, die er wie durch einen Nebelschleier hindurch wahrnahm. Sie wirkte so… friedlich. So gut. Von ihr ging eine Stimmung der Sicherheit und Geborgenheit aus, die ihm zunächst ganz selbstverständlich und natürlich vorkam.

Erst langsam begannen sich die Schwaden aufzulösen, und seine Sicht wurde klarer. Nein - da mischten sich dunkle Schlieren in das Wabern! Was geschah hier? Auf einmal konnte er es wieder hören, erst leise, doch schwoll es in Bruchteilen eines Augenblickes an wie eine Explosion, bis es geradezu irrsinnig in seinem Kopf kreischte und klirrte. Und mit dieser Kakophonie jagten die Erinnerungen zurück in sein Bewusstsein, und sie taten es mit einer Wucht, die ihn schier zu zerreißen drohte..

Mit einem gellenden Schrei fuhr Nivard hoch. Erst hielt er sich schmerzverzerrt seine Ohren zu, dann fuhren seine Hände über seinen Leib. Unversehrt... wie konnte das sein? Er war doch zerfetzt worden! Warum war er noch am Leben?

Nivards Blick fuhr wild herum, über die Gesichter der Umstehenden, als suche er panisch nach jemandem, den er aber offenbar nicht finden konnte. Schließlich griff er mit beiden Händen nach Lianas Unterarm, klammerte sich an diesen, als sei dieser sein rettender Anker. "Wo ist Merle?” fragte er, hektisch und mit verzweifelter Stimme. “Wo Doratrava? Sind sie auch hier? Sagt schon, wo ist Merle?"

“Wir hatten gehofft, Ihr könntet uns das beantworten, Herr von Tannenfels”, entgegnete ihm Friedewald sorgenvoll. “Die beiden sind genauso von dannen wie seine Gnaden Rahjel, mein Neffe. Ihr wart zuletzt mit ihnen zusammen in diesem Zimmer.”

Liana hingegen sorgte sich mehr um Nivards Wohlergehen. “Geht es Euch gut? Wie fühlt Ihr Euch?”

“Das ist doch im Moment nebensächlich”, warf Gudekar entgegen. “Offensichtlich ist er unversehrt und wieder bei Sinnen, aber wo sind Merle und die anderen? Sprecht, Nivard!”

Für einen Augenblick fuhr die Rodaschquellerin zur Seite und machte Gudekar mit einem einzigen scharfen Blick klar, dass sie seine Meinung diesbezüglich ganz und gar nicht teilte.

Nivard sammelte seinen Geist gerade für eine Antwort, da…

“Mit Verlaub”, ertönte die grollende Stimme des Storchenflugers, “könnte mir jemand erklären, was hier vor sich geht? Die Ereignisse dieses Tages lassen mich zu dem Schluss kommen, dass es nötig ist, die Bannstrahler zu informieren.”

Der Tsageweihte hatte sorgenvoll den Tannenfelser betrachtet und war dem kurzen Dialog gefolgt. Dann erwiderte er Rondrard: “Bestimmt ist es nicht verkehrt, die Bannstrahler hinzuzuziehen. Aber bis diese hier sind, sollten wir uns selbst bemühen, Merle, Doratrava und Rahjel zu finden.” Dann schaute Rionn den Anconiter an: “Gudekar! Kann das irgendein Zauber sein, der die drei von hier weggebracht hat? Oder ist es wieder so ein Tor in dem Limbus, das sich hier geöffnet hat?”

“Also zunächst einmal lassen wir bitte die Bannstrahler aus dem Spiel. Dies kann für keinen hier von Interesse sein, diese zu rufen”, beschwerte sich Gudekar. "Wenn es gewünscht wird, könnte ich den Raum auf magisches Wirken untersuchen. Aber nur, falls meinem Urteil Vertrauen geschenkt wird!” Gudekars empörter Blick wanderte zwischen Nivard und Rionn hin und her.

Liana schaute abwartend, was wohl zu Gudekars Angebot gesagt würde.

“Ein Tor?! In den Limbus? Sagt, Wohlgeboren", wandte der Storchenpfluger sich an Friedewald, “muss ich Hesindiard sagen, dass wir seinen kleinen Bruder verbrennen müssen, anstatt ihn nach Hause zu bringen und anständig zu bestatten, wegen möglicher dämonischer Umtriebe?”

Friedewald schüttelte den Kopf. “Wünscht Ihr denn eine Übergabe seines Körpers an die Flammen? Oder welcher Boronritus ist bei Euch der übliche, Hoher Herr?”

“Yendan stand dem Herrn Firun näher, als der Herrin Rondra, daher möchte ich ihn nach Hause bringen und dort auf dem Boronanger bestatten, wie es sich gehört.”

“Das ist gut so!” bestätigte Friedewald. “Noch kam ich nicht dazu, aber ich lasse nach der Unterredung sofort nach Walram schicken, er soll einen Eichensarg für den Transport anfertigen. Ich denke nicht, dass das Verschwinden meiner Schwiegertochter und Neffen eine Gefahr für Yendans Leichnam bedeutet.” Hoffte der Edle.

Nivard brummte der Schädel. Was hatte Yendan jetzt mit Doratravas, Merles und… ja… auch Rahjels Verschwinden zu tun? Warum war dessen Sarg jetzt wichtiger als das Schicksal der Lebenden? War der Kopf der anderen etwa ein genauso schmerzender Brei wie der seine in diesem Moment?

“Habt Dank. Familie Zerf wird sich sicher irgendwie erkenntlich zeigen. Ich glaube auch nicht, dass das Verschwinden das Problem ist. Aber hier wurde so einiges getuschelt und der Brief, den Ihr vorgelesen habt, ist beunruhigend. Wer ist “ER” von dem dort die Rede war? Ist “ER” vielleicht auch für den Jagdunfall verantwortlich, oder was hier sonst noch so geschah? Hängt das alles zusammen, oder nicht? Ist vielleicht nur alles ein blöder Zufall?”

Rionn blickte den Storchenfluger an und musterte ihn. Wusste er denn gar nichts? Warum war er denn zum Rat hinzugezogen worden? “ER”, erklärte Rionn mit gesenktem und bewußt betontem Tonfall, “ist sicherlich der übelste Paktierer, den die Nordmarken in den zurückliegenden dutzend Götterläufen erlebt haben…”

“Doch scheint sich Pruch mehr für die Seelen der Lebenden zu interessieren als für die Körper der Toten”, wandte Gudekar ein. “Wie ist es nun? Ist mein Können erwünscht?

Der Tsageweihte sah den Anconiter fast erbost an und erwiderte in einem harschen Ton: “Wenn du etwas tun kannst, dann mach es, Gudekar!”

Der Magier konzentrierte sich auf seine Umgebung und sprach dann eine Formel. Nach einigen Augenblicken kommentierte er. “Hier ist eine starke Magie geflossen.” Nivard schien in seinen Augen von einem starken roten Schimmer umgeben zu sein, was Gudekar nicht wunderte, hatte doch Liana den Krieger gerade erst vor Kurzem mittels ihres Mandras aus der Bewusstlosigkeit gerufen. Doch auch bei Nivard waren noch andere, bläuliche Kraftlinien zu sehen. “Welche Kräfte hier wirkten, mag ich so jedoch nicht erahnen.”

Rondrard versuchte gar nicht erst, seine Abscheu zu verbergen, als er das Wirken des Magiers beobachtete. Er sagte aber nichts.

Es tat dem Tsageweihten leid, dass er Gudekar so angefahren hatte. Aber auch Rionn konnte nicht mehr gut an sich halten und ruhig bleiben, nachdem, was alles an diesem Tage hier geschah. Seine Sorge paarte sich mit seinem Zorn über den Paktierer Pruch. “Danke Gudekar”, versuchte er in einem ruhigen Ton zu sagen. “Kannst du sagen, ob es eine Spur oder einen Hinweis gibt, wo wir Merle, Doratrava und Rahjel suchen könnten?”

“Nein, das kann ich nicht”, gab Gudekar zu. “Aber die Astralkräfte sind ungewöhnlich und haben nicht nur Nivards Geist umströmt.”

Konsterniert ließ sich Nivard wieder zurück auf den Rücken sacken. "ER hat sie geholt. ER muss es gewesen sein. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie sie verschwunden sind. Und gehört. Und gefühlt" sagte er leise. "Falls es jemanden interessiert." Er sah dabei Liana an. Die einzige, die noch bei Vernunft schien.

Liana musterte Nivard intensiv. Sie sah ihm an, dass er etwas Schreckliches erlebt haben musste. Zumindest etwas, das schrecklich für ihn war.

Friedewald knietete sich vor Nivard und legte seine Hände auf die Schultern des Kriegers. “Wer war es? Wer hat meine Tochter geholt?” fragte der Edle auffordernd. Seine Sorge um Merle war enorm. “Wo sind sie hin?”

Gehört? Gefühlt? Die Worte Nivards irritierten die Herrin von Rodaschquell zunächst. Aber er benötigte etwas Raum, um überhaupt erst zu Sinnen kommen zu können.

Sanft legte sie Friedewald nun selbst eine Hand auf die Schulter.

“Ich bitte Euch, Euer Wohlgeboren, gebt ihm etwas Luft. Ich verstehe Euren Drang, mehr zu erfahren, das wollen wir alle. Doch er muss erst wieder zu sich finden. Lasst mich ihm dabei helfen.”

Sie wartete eine Antwort erst gar nicht mehr ab und wandte sich gleich Nivard zu - wohl wissend, dass die Zeit drängte. Nur: Mit unbedachter Hast würden sie nichts erfahren, befürchtete sie.

Sanft drangen ihre Worte in seine Ohren, als sie das Wort wieder an Nivard richtete:

“Ihr seid nun sicher, Nivard, denn wir sind bei Euch. Sammelt Euch.”

Es mischten sich fast unweigerlich einige elfische Worte in den hypnotischen, melodiösen Klang ihrer Stimme.

“Du kannst nicht fallen - denn ich halte dich.”

Friedewald ließ Liana handeln, wie sie für richtig hielt. Es war nicht an ihn, der Baronin zu widersprechen. Dennoch blieb er aufgewühlt und lief nervös auf und ab. „Nun ist es wohl passiert, nun ist er wohl doch hier“, murmelte der Edle verzweifelt vor sich hin.

Mit tiefer Dankbarkeit nahm Rionn wahr, dass die Elfe sich zu kümmern schien und mit ihrem elfischen Zauber zu Nivard durchdrang. Erinnerungssplitter drängten sich in sein Bewusstsein und ein längst vergessenes Gefühl der Geborgenheit schwang sich an die Oberfläche. War er als Kind von einer Elfe gerettet worden? Der Tsageweihte sah das Gesicht einer Auelfin und dann war es auch schon wieder weg. Kurze Zeit verließ sein Verstand das Hier und Jetzt - doch Rionn rang darum, wieder zurückzugelangen. Hier ging es doch um etwas und er konnte es sich nicht leisten, in eine seiner Nachhallerinnerungen abzudriften.

Rondrard ging zu Friedewald und legte ihm eine Hand auf die Schulter. “Kommt, setzen wir uns. Wir können hier gerade eh nichts ausrichten. Aber, wir können anfangen zu planen. Einen Suchtrupp zusammenstellen. Wem vertraut Ihr? Wer kann Eurer Meinung nach mit dieser Angelegenheit betraut werden, ohne dass er alles ausplaudert? Was bräuchten wir für so eine Exkursion? Das sind die Dinge, um die wir uns bereits kümmern können, bis wir weitere Erkenntnisse erhalten.”

Friedewald folgte der Aufforderung des Ritters. „Einen Suchtrupp? Aber wo sollte man denn suchen, wenn sie einfach so… verschwunden sind?“

“Vielleicht bekommen wir diese Information noch von dem Krieger. Aber auch Magier oder Paktierer sind nur Menschen. Sie können nicht alles. Also wäre es möglich, dass sie nicht weit gekommen sind und wir sie einholen können. Bis dahin bereiten wir vor, was wir können, um Zeit zu sparen.”

„Gut“, straffte sich der Edle. „Wem ich meisten vertraue? Zunächst natürlich meinem Sohn, Kalman. Und natürlich Bernhelm auch. Aber die sind beide durch Gwenns glorreiche Brautentführung gebunden.“

“Dann, fürchte ich, müssen wir auf Gäste ausweichen.”

“Bis vor wenigen Tagen”, überlegte Friedewald, “hätte ich dem Edlen von Rosenhain, Lares von Mersingen, bedingungslos vertraut…” Friedewald schüttelte verständnislos den Kopf. “Auf alle Fälle vertraue ich den Albenholzern, sowohl seiner Gnaden als auch seinem Neffen. Und Euch natürlich, hoher Herr von Storchenflug.”

"Habt Dank, ich werde Euer Vertrauen nicht enttäuschen. Was den Mersinger angeht, so fürchte ich, solltet Ihr nach einem Boroni schicken. Wir sollten Proviant besorgen und die Pferde satteln, damit wir aufbrechen können, sobald wir mehr erfahren haben. Ich denke, ich könnte zwei meiner Begleiter mitnehmen. Allerdings würde ich meine Knappen in Eurer Obhut lassen. Für dämonische Gegner sind sie noch zu jung."

„Ja, was den Mersinger angeht, gebe ich Euch Recht. Morgen zur Trauung kommt das Tempelpaar aus dem Traviatempel in Albenhus. Ich werde sie bitten, sich Lares anzunehmen und ihn in Albenhus den Boronis anzuvertrauen“, schlug der Lützeltaler vor. „Doch wohin wollt Ihr jetzt aufbrechen? Haben wir denn einen Hinweis, wo wir die verschwundenen suchen sollten? Wir sollten aber wohl über den Schutz des Dorfes und der Gäste reden.“

"Ich hoffe, der Krieger kann uns entsprechende Hinweise liefern. Was das Dorf angeht, wäre der beste Schutz ein Tempel, oder zumindest die Anwesenheit von Geweihten. So schwer es auch ist, denke ich, wir müssen den Zusammenhalt stärken und Zuversicht verbreiten, indem wir mit der Hochzeit fortfahren. Und falls dann doch widernatürliche Wesenheiten und finstere Paktierer aufkreuzen, müssen alle, die kämpfen können, mit Waffen bereitstehen. Lasst alle in Paraderüstung oder -uniform anwesend sein. Dann geltet ihr zwar vielleicht als prunksüchtig, weil das hier keine Grafenhochzeit ist, aber wir können sofort reagieren, wenn was passiert."

Friedewald nickte zufrieden. “Einen Tempel haben wir im Dorf zwar nicht, aber wir sollten die Geweihten, die anwesend sind, um einen Schutzsegen für das Dorf bitten. Zumindest diejenigen, die noch nicht vom Feind geholt wurden.” Ein resigniertes Stöhnen begleitete seine sarkastische Bemerkung. “Ja, Ihr habt weise gesprochen, hoher Herr, auch wenn der Traviabund ein Fest des Friedens sein sollte, wäre es in der Situation angebracht, alle, die eine Rüstung tragen und ein Schwert führen können, diese anlegen zu lassen.”

***

War es Lianas Lied alleine oder dieses gemeinsam mit dem Gehör, das die Elfe Nivard schenkte, während alle anderen in seiner Wahrnehmung wild durcheinander quasselten? - Jedenfalls verfehlte es seine Wirkung nicht. Der Krieger wurde ruhiger und fand langsam wieder seine Mitte, fügte die in seinem Kopf rotierenden Erinnerungsfragmente zusammen. Dankbar sah er Liana an, dann fing er, stockend zunächst, aber zusehends sicherer, jedoch sehr leise, zu erzählen an.

"Es muss Pruch gewesen sein." Nivard machte eine Pause. "Auch wenn ich ihn selbst nicht gesehen habe, und es anders war als sonst, wenn er erschienen oder verschwunden ist. Aber anders kann ich mir nicht erklären, was geschehen ist. Alles hat sich auf einmal um uns herum verändert. Erst ist es furchtbar kalt und die Luft ganz dick, richtiggehend zähflüssig geworden. Doratrava muss es auch gespürt haben, jedenfalls haben sich ihre Augen merkwürdig verfärbt, viel merkwürdiger als sonst." Liana wusste diese Aussage einzuordnen, dessen war er sich sicher, sie kannte Doratrava offenbar recht gut.

"Und dann, noch ehe ich etwas tun konnte, ist die Welt... wie soll ich es beschreiben... in Myriaden von Stücken, nein Splitter, zerrissen, und ein ohrenbetäubendes Klirren und Kreischen ist über uns… mich… hereingebrochen... ehe die Splitter mich scheinbar zerfetzt haben." Seinen Augen war das Grauen anzusehen, das er durchlebt hatte. "Dann ist es schwarz um mich herum geworden. Doratrava muss es auch durchlitten haben, so wie sie geschrien hat... nur Merle wirkte... so merkwürdig ruhig." Nivard grübelte. "Irgendetwas Böses war in dem Raum. Dämonisch. Ich weiß nur nicht, warum es mich nicht auch geholt hat, nur die anderen drei..."

Nivard stockte. Eine Erkenntnis schien ihm schmerzhaft gekommen zu sein.

"Falls es nicht Pruch gewesen sein sollte, dann sein erzdämonischer Herr selbst. Vielleicht waren es all der Travia-Frevel, der hier geschehen ist, und die allzu leichtfertige Weise, wie sein unheiliger Name schon mehrfach am heutigen Tage ausgesprochen wurde, die ihn herbeigerufen haben..." Nivard warf Gudekar einen finsteren Blick zu. Er versuchte dagegen anzukämpfen, welch schrecklicher Verdacht in ihm aufkeimte.

“Wollt Ihr etwa behaupten, ich persönlich hätte Lolgramoth herbeigerufen”, empörte sich Gudekar, “um Merle holen zu lassen?” Das Blut fing vor Ärger in Gudekars Adern zu pulsieren. “Nivard, Ihr solltet mich besser kennen! Ich würde Merle so etwas nie antun! Ich kämpfe gegen das Böse und nicht gegen die Menschen.”

Rionn zuckte merklich zusammen, als Gudekar erneut den Namen der Widersacherin der Gütigen Mutter offen und unbefangen aussprach.

Liana wandte sich ab, schloss ihre Augen und zog ihre schmalen, sanft geschwungenen Brauen zusammen. So, als habe sie einen falschen Ton in einem ansonsten makellosen Lied gehört.

“Ich behaupte gar nichts.” erwiderte Nivard zunächst unwirsch, auch, da er sich in seinen unterschwelligen Gedanken, Gedanken, die er sich selbst am liebsten verbieten würde, erwischt fühlte. “Aber schon wieder habt Ihr es getan. Leichtfertig den Namen im Munde geführt, der nicht ausgesprochen werden sollte. Und dass die Geschehnisse heute, Eure Taten und auch Eure Worte Merle gegenüber traviagefällig waren, darauf wollt Ihr gewiss nicht beharren. Ich will nicht glauben, dass Ihr Travias Widersacher absichtlich heraufbeschworen habt. Aber dass er von allem, was hier geschah, angelockt worden ist, das kann ich mir tatsächlich vorstellen.”

Gudekar schüttelte den Kopf. Langsam beruhigte er sich wieder. Nivard hatte seine Worte vielleicht unbedacht, aber sicher nicht böswillig gewählt. “Nein, Nivard, Ihr irrt. Die Präsenz, die ich sah, ich will nicht glauben, dass sie dämonischen Ursprungs war.“ Doch seine Stimme wirkte unsicher. Er hatte eine solche Form von astralen Fäden noch nie gesehen, allerdings hatte er auch noch nie dämonisches Wirken untersucht. Die bisherigen Male, bei denen er Pruchs Reisen durch den Limbus erlebt hatte, war das dämonische Wirken derart offensichtlich, allein durch die schlichte Anwesenheit von Dämonen, dass eine astrale Exploration nicht von Bedeutung schien. Nun schalt Gudekar sich einen Narren, damals nicht daran gedacht zu haben. Es wäre eine Gelegenheit gewesen, die astrale Strukturen, die eine dämonische Präsenz hinterließ, zu analysieren und daraus zu lernen. Er nahm sich vor, bei seiner nächsten Begegnung mit einem Dämon diesen Fehler zu revidieren und genügend Astralkraft in sich zurückzuhalten, um diese Analyse nachzuholen.

“Ihr habt… eine Präsenz… gesehen… wollt aber nicht glauben…?” wiederholte Nivard murmelnd, während er Gudekar zweifelnd ansah. Wer wusste, wie ungetrübt Gudekars Blick, selbst beim besten Willen, noch war. “Was sonst als dämonisch soll sie denn gewesen sein? Ich habe noch nie eine solche Kälte, noch nie solchen Schmerz gespürt! Und was ist mit der widernatürlichen Veränderung der Luft?” Der Krieger schüttelte den Kopf.

“Habt Ihr diese Präsenz denn auch wahrgenommen?” wollte er von Liana wissen.

Die Elfe schloss ihre Augen. Ließ sich ein auf die Umgebung, den Raum, die Stimmung. Ein Hauch von Furcht und Ekel machte sich in ihr breit, schon allein angesichts der Ahnung, dass dämonische Mächte hier möglicherweise am Werk gewesen sein mochten …

“Verschiedene Art von Zauberei wurde hier gewirkt”, gab die Elfe schließlich zur Antwort.

"Waren auch dämonische darunter?" fragte Nivard leise nach, darauf hoffend, Liana hierdurch nicht in ihrer Konzentration zu stören. "Oder lässt sich das nicht so genau sagen?" Er erinnerte sich an die sehr exakten oder wenigstens so klingenden Analysen, die er aus dem Munde der Circe ter Greven vernommen hatte - auch wenn er davon, falls es hochkam, allenfalls die Hälfte verstanden hatte.

Dämonisch? Rionn lauschte mit großer Anspannung. War das ein Anschlag des Bäckergesellen? Der Tsageweihte konzentrierte sich. Ob es hilfreich war, diesen Ort auf dämonische Präsenz hin zu untersuchen?

Die Elfe zögerte einen Moment. Schien in sich gekehrt. So, als bemühe sie sich, aus einem unangenehmen Traum zu erwachen.

Sie öffnete ihre Augen wieder und sah Nivard gleichermaßen gütig wie auch besorgt an.

“Ja”, sagte sie dann schlicht.

Ja, schwer zu sagen, oder ja, dämonisch? Nivard tat sich zunächst schwer mit der wortkargen Antwort der Baronin. Der Blick in ihre Augen, in denen echte Sorge schwang, überzeugte ihn jedoch rasch von der schlimmeren Variante. "Grundgütige Mutter!" entfuhr es ihm. "Also tatsächlich dämonisch...."

Daraufhin begann der Tsageweihte leise die Gebete zu sprechen und die Ewigjunge um die Erkenntnis zu bitten, ob hier das übernatürliche Wirken einer nicht aus dieser Sphäre stammenden Entität zu spüren war.

Doch schnell merkte Rionn, dass zu viel Unruhe im Raum war und er sich nicht gut auf das Ritual konzentrieren konnte. “Hchm”; räusperte er sich und sprach deshalb die Anwesenden vorsichtig an. “Möchtet ihr hier noch etwas untersuchen oder vielleicht mit Nivard nach nebenan gehen? Ich würde mir diesen Ort gerne etwas genauer anschauen. Dafür brauche ich aber Ruhe für die Meditation und für das Gebet.” Der Tsageweihte schaute die anderen erwartungsvoll an.

"Wenn es der Sache zuträglich ist, gehe ich sofort rüber..." bekundete Nivard. Er konnte bei der Untersuchung ohnehin nicht helfen, und so hielt ihn nicht viel am Ort seiner Pein. Ächzend begann er sich aufzurappeln und zu erheben.

“Was genau habt Ihr vor, Euer Gnaden?”, wollte Gudekar wissen.

“Ich möchte die Ewigjunge und die anderen der Zwölfe bitten”, antwortete Rionn dem Anconiter, “mir zu weisen, welche Macht hier gewirkt hat. Für das Ritual benötige ich allerdings etwas mehr Ruhe… und auch Zeit.”

„Ja!“ Gudekar wirkte verstört. Leise sprach er mehr zu sich als zu den anderen. „Travia, bewahre, dass Pruch sich meine Merle geholt hat!“ Der Magier wandte sich an Rionn: „Bitte verschaffe mir Gewissheit!“ Gudekar wirkte verzweifelt und schockiert. Trotz all der Probleme, die er mit Merle hatte, die er selbst herbeigeführt hatte, dass der Paktierer womöglich Merle geholt haben könnte, das wäre das Schlimmste, was Gudekar sich gerade vorstellen konnte. Und dies war in seinem Gesicht abzulesen.

'Meine Merle'?, dachte Rionn irritiert. Er musterte Gudekar. Der Weissenquell schien aufrichtig besorgt und verzweifelt zu sein. Dieses Hin-und-Hergerissen-Sein des Anconiters weckten wieder die alten Fragen: War es nur ein menschliches Dilemma? War es ein äußerer, übler Einfluss? Aber jetzt ging es hier erst einmal darum, Merle, Doratrava und Rahjel wiederzufinden und eventuell zu retten.

Nivard beäugte Gudekar misstrauisch. Wie auch Rionn irritierte ihn die Art, wie der Anconiter von 'seiner Merle' sprach. Der Merle, von der er sich heute auf die mieseste, ja perfideste Weise losgesagt hatte, die Nivard sich nur vorstellen konnte. Ein Teil von ihm hoffte, dass dieser Schockmoment Gudekar vielleicht doch wachgerüttelt haben und - so betete er, nicht zu spät - auf den Pfad der Tugend zurückführen könnte. Ein anderer aber fürchtete, dass Gudekar nur sein Spiel weitertrieb, um sein Gesicht zu wahren, oder sie gar hinters Licht zu führen. Sein Gesichtsausdruck wirkte allerdings aufrichtig…

“Ich möchte mich jedenfalls darum bemühen”, erwiderte der Tsageweihte und blickte Gudekar dabei in die Augen, “mehr herauszufinden, in der Hoffnung, eine weitere Spur zu finden, was Merle und den beiden anderen zugestoßen ist. Ob der Bäckergeselle hier gewirkt hat? Mmh. Wir müssen das herausfinden. Möchtest Du dich mit Liana um Nivard kümmern? Vielleicht kann er sich ja doch an etwas erinnern.”

„Ja, Rionn, sehr gerne. Ich hoffe, Ihr findet etwas heraus, das uns hilft, Merle zurückzuholen.“ Gudekar wandte sich an Nivard und Liana. „Lasst uns nach nebenan gehen.“

Die Elfe nickte sacht.

“Eines noch”, sagte sie dann.

“Was ich erkennen konnte, ist auch in gewisser Weise … seltsam. Von dem, was ich sah, würde ich schließen, dass eine daimonische Präsenz anwesend war, aber wenig greifbar. Dann ist dort eine Magie, die Euch Menschen meist eher fremd ist. Vielleicht hat die Gauklerin sie bewirkt.” Sie schaute noch einmal sanft zu Nivard. “Ich vermute, dass sie vielleicht instinktiv etwas … getan hat. Etwas, das nicht direkt Euch galt. Aber das Euch dennoch … gestreift hat.”

Vielleicht hat die Gauklerin die Magie bewirkt? Dieser Gedanke gab dem Tsageweihten weitere Rätsel auf. “Danke”, sagte er zu der Elfe und nickte.

"Ihr meint, dass sie mir die Schmerzen zugefügt hat, beim Versuch, sich gegen den Paktierer oder einen Dämon zu verteidigen?" Nivard grübelte. War das vielleicht der Grund, warum er nicht entführt worden war? Weil er einen Fehlschlag von Doratrava abgekommen hatte und der Feind ihn für tot oder wenigstens ausgeschaltet hielt? Langsam fügten sich die Teile zu einem ganzen. Ob es das richtige war?

“Ja, das halte ich durchaus für denkbar”, sagte Liana. “Es ist daher bedeutsam, mehr darüber zu erfahren, was Euch widerfahren ist. Auch wenn die Erinnerung daran die Schmerzen, die Ihr erdulden musstet, möglicherweise wieder auflodern lässt wie ein Feuer im Wind.” Sie schaute zu Rionn. “Doch sollten wir seine Gnaden tun lassen, was er für richtig hält, um auf seine Weise Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Kommt, lasst uns wieder in den Hauptsaal gehen.”

"Die Rettung meiner Freunde wiegt schwerer als jeder Schmerz. Ich werde versuchen, mich an jedes Detail zu erinnern und dieses mit Euch zu teilen." Nivard stand inzwischen, doch war es seiner Körperhaltung deutlich anzusehen, dass er noch nicht wieder in der vollen Blüte seines Wohlergehens stand. Er deutete auf die Tür in den Hauptsaal. "Ich komme mit rüber. Möge Tsa Dich erleuchten, Rionn."

***

Die Auraprüfung

Als Rionn endlich allein in dem kleinen Salon war, aus dem Merle, Doratrava und Rahjel plötzlich spurlos verschwunden waren, begann er seine Konzentration, seine Meditation und seine Gebete.

Der Tsageweihte nahm einen Leuchter vom Sims, stellte diesen in die Mitte des Raums auf den Boden und zündete die Kerze an. Danach hockte er sich in den Schneidersitz vor dem Leuchter und holte das Prisma hervor, wog es in seiner linken Hand. Er legte seine Hände auf die Knie, die Handflächen offen nach oben, in der Linken lag das Prisma. So blieb Rionn eine Zeitlang, vielleicht fünf, vielleicht zehn Minuten in Stille sitzen. Seine Augen waren geschlossen und er empfand in der stillen Meditation die schöpferische Lebenskraft der Ewigjungen im Ein- und Ausströmen seines Atems nach. Dann summte er den Lobpreis Simias vor sich hin, mehrere Minuten, bis er die Augen öffnete und die Arme ausstreckte. Die Hände trafen sich, die rechte legte sich unter seine Linke. Das Licht des Leuchters strahlte durch das Prisma und brach sich in das Spektrum, das dieses künstliche Licht zu erzeugen vermochte. Der Tsageweihte betrachtete das gebrochene Licht eine Weile still. Dann betete er:

“O Friedvolle, o Lebenspendende, o Liebliche, o Jugendliche,

dein Geist, o Freiheitsliebende, durchströmt die Welt.

Du erspürst, o Grenzenlose, was das Leben einschränken möge.

Schenke mir die Einsicht in die Zusammenhänge der Welt,

der Gegenwart, der Umgebung.

Lass mich erkennen, ob die Widersacherinnen und Widersacher

deiner Geschwister oder gar deine Widersacherin daselbst

an diesem Orte gewirkt haben oder durch andere Wirkung

an diesen Ort gebracht haben.”

Dann schwieg Rionn wieder und betrachtete das gebrochene Licht. So verstrich die Zeit. Niemand vermochte zu sagen, wie lang der Tsageweihte noch dort gesessen haben mochte.

***

Ratlos im Ratssaal

Gudekar führte Nivard und Liana in den großen Saal, in dem nur noch sein Vater Friedewald mit dem Ritter Rondrard von Storchenflug und der Edlen Tsalinde von Kalterbaum übrig geblieben waren, um über Möglichkeiten zu reden.

Gudekar nahm zwei Becher und füllte sie mit Wein. Einen davon reichte er Nivard. „Hier, trinkt! Das beruhigt. Und dann versucht Euch bitte genau zu erinnern, was geschehen ist. Jedes Detail ist wichtig. Ich MUSS wissen, was mit Merle geschehen ist. Wenn ER es war, wenn ER Merle etwas antut, dann wird er dafür bezahlen!“

Ratlos hörte Nivard Gudekars Worte. Sprach Wahrhaftigkeit aus ihnen oder waren sie innen hohl? Warum erinnerte der Anconiter sich seiner Liebe erst, da Merle weg war? Hörte er den Ausdruck von Sorge, oder nur den verletzten Stolz eines bestohlenen Besitzers?

Eigentlich hätte der Novize beim alternden Tsageweihten bleiben sollen, um von ihm etwas über außergewöhnliche und besondere Rituale und Liturgien lernen zu können. Doch er zog es vor, nicht mit dem alten grauen Mann in dem kleinen Kaminzimmer zu bleiben, wo nichts offensichtliches mehr zu sehen war. Eoinbaiste fand es spannender, mitzubekommen, was die Elfenbaronin und der Magier von Nivard noch erfahren würden - und ob Friedewald und Rondrard einen guten Plan hatten. Neugierig stellte er sich direkt hinter Nivard, um jedes Wort mitzubekommen, das nun gesprochen wurde.

Liana ließ sich auf einem der bequemen Stühle nieder und legte ihre Arme auf die Lehnen. Die langen Ärmel ihres leichten Kleides hingen links und rechts die Lehnen hinab.

Sie wartete, bis alle sich gesetzt hatten und musterte Nivard dabei auffällig.

“Wie fühlt Ihr Euch?”, fragte sie dann, als Nivard bemerkte, dass die Baronin ihn betrachtete.

"Danke für Eure Hilfe und Eure Fürsorge." Nivard rang sich - wider seinen inneren Schmerz - ein aufrichtig dankbares Lächeln ab. "Inzwischen geht es mir am Leibe wieder ganz gut, und auch das Kopfweh lässt nach. Dafür wiegt der Schmerz umso schwerer, die drei verloren zu haben und als einziger zurückgelassen worden zu sein, statt an der Seite der anderen zu bleiben."

„Nun, am Ende mögt ihr froh sein, nicht das Schicksal der anderen teilen zu müssen“, sprach Gudekar mit verzweifelter Stimme. „Doch ich hoffe noch immer, dass unsere Sorgen unbegründet sind.“ Doch glaubte er daran? Konnte er daran glauben? Gab es einen letzten Strohhalm der Hoffnung, dass Merle noch nicht verloren war?

Friedewald blickte abwägend zwischen Nivard und seinem Sohn hin und her. Es fiel ihm immer schwerer, einschätzen zu können, wem er hier noch vertrauen konnte und wer vielleicht ein falsches Spiel spielte und vielleicht für Merles Verschwinden mitverantwortlich war. “Gudekar”, fragte er schließlich, “gibt es denn nichts, was du tun kannst, um Merle zu finden?”

Sein Sohn schüttelte jedoch den Kopf. “Die Formen der Magie, die dafür notwendig wären, liegen leider nicht im Bereich meiner Fähigkeiten.” Er schluckte und machte dabei eine kurze Pause. Dann wiederholte er: “Leider!”

Eoinbaiste war in einer Welt voller Magie aufgewachsen. Sein Vater Galahan war Gildenmagier, sein Bruder Fionnuisce schickte sich an, einer zu werden. Der junge Rechklamm hatte eine elfische Großmutter. Im Noviziat hatte er im Aal Bösch, dem Wald in dem der Eisensteiner Tsa-Tempel verborgen lag, den Kobold Luch Halbschuh kennengelernt. Der ganze Wald war voll von Koboldzauber und vielleicht sogar mehr als das. Allerdings hatte der Novize nie gelernt, all diese Formen von Magie zu unterscheiden. Darum runzelte er fragend die Stirn, als Gudekar ausführte, dass diese Form der Magie nicht im Bereich der Fähigkeit des Weißmagiers lagen. Doch er sagte nichts. Eoinbaiste wartete ab, wie die anderen darauf reagieren würden.

“Wir wissen noch zu wenig”, sagte Liana nachdenklich. “War es nun Merle, an der der Pruch interessiert war? Und wenn ja, warum? Oder war es Doratrava?”

“Ich vermute, Pruch hat seinen Rachefeldzug gestartet.” Gudekar war sich sicher, die Motivation hinter Pruchs Handeln zu verstehen. “Mit dem Angriff auf Merle versuchte er mich zu treffen, so wie er es in Flusswacht auf Radulf abgesehen haben wird. … Was genau ist eigentlich in Flusswacht vorgefallen?“

“Dieser Bäckergeselle hat Tabea”, plapperte der Tsa-Novize ungefragt sein Wissen mitten hinein in die Runde, “die Braut von Raudulf, sowie wenige Tage später auch eine Magd der Familie ermordet.”

Gudekar schluckte. „Dann übt er tatsächlich an uns Rache. Und Merle als meine Frau war sein Ziel, um mich zu treffen. Da Doratrava, soweit ich weiß, keinen Liebsten hat, zu dem sie eine innige Bindung hat, hat er sie wohl selbst geholt. Aber warum er Euch, Herr von Tannenfels, verschont und statt Eurer meinen Vetter geholt hat, bleibt mir ein Rätsel.”

Liana wandte sich wieder Nivard zu. Bislang hatten sie noch nicht wirklich die Gelegenheit gehabt, ihm zuzuhören. Sie hoffte, dass der Krieger nun wieder bei Kräften war und womöglich etwas mehr Licht in die Angelegenheit zu bringen vermochte. “Es ist daher ungemein wichtig, mehr zu erfahren. Bitte, erinnert Euch! Was genau ist vorgefallen? Was habt Ihr gesehen und gehört? Jedes kleine Bisschen mag hilfreich sein.”

"Gut, ich versuche es." Nivard konzentrierte sich, gab sein Bestes, sich genau an die Details des furchtbaren Geschehens zu erinnern. Er wunderte sich, wie sehr sich sein Unterbewusstsein gegen die Macht seines Willens sträubte, nicht mehr zurück wollte in jene unglückseligen Augenblicke. Aber Feigheit vor dem Feinde galt für einen Krieger nicht - weder auf dem Felde noch in der eigenen Erinnerung. Der junge Ambelmunder Burgoffizier zwang seinen Geist zurück in die Sekunden unmittelbar vor der Entführung seiner Gefährten, versuchte jedes Detail wahrzunehmen, zu fassen und zu bewerten.

"Ich kann es nicht sagen, auf wen der Frevler es abgesehen hatte." presste er angestrengt hervor. "Die Veränderungen... sie scheinen... ja, ich würde sagen,... sie scheinen von Doratrava ausgegangen zu sein. Merle war vollkommen aufgelöst und zugleich ganz ruhig, aber sie hat sich nicht merkwürdig verhalten oder gewirkt, als nehme sie irgendetwas... andersartiges wahr. Ganz im Gegensatz zu Doratrava. Sie schien mit einem Male wie verändert. Ihre Augen. Da waren Schlieren drin. Ganz kurz nur. Rot. Gelb. Schwarz. Wieder rot. Und... purpur, ja purpur. So habe ich sie noch nie gesehen. Richtig unheimlich. Ich dachte erst, sie will, dass ich gehe. Aber ich bin nicht gewichen. Und auf einmal, da hat sie ihren Mund geöffnet, als wolle sie etwas sagen... nein schreien. Aber es kam kein Schrei. Stattdessen wurde es kalt, und alles um mich herum, die ganze Realität. ist ganz plötzlich mit einem kreischenden Klirren in abertausende Stück zerbrochen. An mehr erinnere ich mich nicht mehr." Waren das jetzt mehr Details als vorhin? Irgendetwas hilfreiches mehr?

Erneut konsterniert davon, dass er nichts zur Rettung hatte tun können, dachte Nivard weiter laut nach. "Es kann sein, dass er es auf Doratrava abgesehen hatte und Merle als Beifang mitgerissen hat, weil sie ihr zu nahe war. Dagegen spricht aber, dass seine Gnaden von Altenberg auch mitentführt wurde, obgleich er weiter von den beiden weg stand als ich." Er schüttelte den Kopf. Nein, diese Theorie klang nicht überzeugend. "Auf den ersten Blick könnte man genauso gut glauben, Doratrava selbst wäre die Missetäterin, die die beiden entführt hat. Sie wirkte aber auf mich nicht, als ob sie gewollt hätte, was geschah. Es könnte allenfalls sein, dass sie unfreiwillig zum Werkzeug Pruchs, zur Trägerin oder wenigstens zum Fokus seiner Magie geworden ist. Wenn der Zauber von ihr oder über sie ausgegangen sein sollte, dann muss es so gewesen sein. Dann hat diese Entführung doch Merle und Rahjel von Altenberg gegolten.” Irgendwie war auch das nicht völlig überzeugend in seinen Augen. “Und die dritte Möglichkeit wäre, dass Pruch oder sein Dämon einfach so in diesen Raum gekommen ist und Doratrava es nur als einzige bemerkt hat, aber nichts dagegen tun konnte. Was meint Ihr? Sagen Euch meine Beschreibungen irgendetwas? Etwas, das uns weiterbringt?"

Eoinbaiste versuchte angestrengt Nivards Ausführungen und laut ausgesprochenen Überlegungen zu folgen. Er verstand nicht alles. Ihm wurde aber mehr und mehr klar, dass hier etwas sehr Ungeheuerliches geschehen war. Instinktiv begann er, leise, kaum vernehmlich, zur Ewigjungen zu beten.

Bestürzt, betreten, besorgt … die Gefühle Lianas waren greifbar. Doch noch bevor sie etwas sagte, ging ihr Blick zur Tür.

Während Nivard seine Gedanken äußerte, öffnete sich die Tür zum Saal und Eoban trat wieder ein. Eigentlich hatte der Ritter vorgehabt, dem albenhuser Tempelpaar entgegenzureiten, doch hatte er auf dem Dorfplatz (für ihn) neue Informationen gehört, die den Albenholzer dazu veranlassten, doch zuerst noch einmal zur Unterredung zurückzukehren. So konnte er den größten Teil von Nivards Ausführungen mitanhören.

“Das ergibt für mich alles keinen Sinn.” Der Edle von Lützeltal hatte sich während Nivards Erzählung mit den Handflächen auf die Tischplatte gestützt und ihm aufmerksam zugehört. Nun schüttelte Friedewald den Kopf. “Warum sollte es der Paktierer auf die Tänzerin abgesehen haben? Und warum auf meinen Neffen? Was hat dieser mit der Geschichte zu tun? Ihr, Herr von Tannenfels, mit Verlaub, wäret doch ein passendes Ziel für den Paktierer.”

Bei dieser Bemerkung verdüsterte sich der Blick des Albenholzers.

Friedewald fuhr fort: “Und warum übt er seine Rache an dir, Gudekar, indem er Merle entführt? Warum holt er nicht dich selbst?”

Der Blick des Albenholzers wurde noch düsterer...

Der Edle ging nun im Raum auf und ab. “Dieser Pruch hätte doch auch einen Dämon hier erscheinen lassen können, der uns alle niedermetzelt.”

Der Albenholzer vergrub sein Gesicht in seiner linken Hand.

“Warum holt er nur einige? Das scheint mir alles so sinnlos.” Friedewald schüttelte ratlos den Kopf.

Gudekar sah das anders. “Nun, ganz so einfach dürfte es für Pruch auch wieder nicht sein, einen Dämon erscheinen zu lassen. Er ist zwar ein Paktierer, doch kein Beschwörer, soweit ich weiß. Mir ist selbst noch immer ein Rätsel, wie er es schafft, solche Macht ohne eine versierte arkane Ausbildung auszuüben. Ich vermute, wenn er Dämonen zu Hilfe rufen will, muss er seiner Herrin etwas Interessantes als Gegenleistung anzubieten haben. In Schweinsfold waren dies die Trauringe, in Albenhus die Steintafel. Doch beide Male hat er versagt. In Schweinsfold lieferte er nur einen der beiden Ringe, die Steintafel konnten wir retten. Vielleicht verliert er langsam seine Macht, weil er am versagen ist."

Eoban lugte mit einem Auge kritisch hinter seiner Hand hervor und beobachtete Gudekar.

"Vielleicht werden deshalb nun seine Taten verzweifelter. An uns selbst, an Radulf, an Nivard, an mich, an all unsere Gefährten traut er sich vielleicht nicht heran. Aber wenn er mehr oder weniger wahllos Menschen aus unserem Umkreis holt, dann schürt er Ängste und stiftet Unfrieden. Das dürfte seiner Herrin, deren Namen ich ja nicht nennen soll, gefallen.”

"Und das dürfte auch die Antwort sein, warum seine Gnaden Rahjel entführt wurde. Er steigt sicherlich in ihrer Gunst, wenn er einen Geweihten opfert. Auch, wenn es kein Travia-Geweihter ist”, sagte Rondrard trocken und mit düsterer Miene.

"Dann könnte er aber irgendeinen Geweihten entführen." grübelte Nivard. "Selbst wenn es für ihn und seinen Herrn nicht nur von Bedeutung ist, wer entführt wird, sondern auch wo und wann dies geschieht, es also eine Hochzeit im Traviamond sein muss, hätte er in den Nordmarken immer noch mehr als genügend und weitaus leichter zu übertölpelnde Auswahl als unsere Nächsten und Liebsten. Er schlägt aber, so fühlt es sich an, immer wieder dort zu, wo wir stecken - jedoch ohne einen oder eine aus unserem Kreise selbst zu rauben oder zu töten. Warum?"

Der Krieger wurde bleich, als sich in seinem Geist die Antwort auf die eigenen Fragen bildeten. Mit leiser Stimme führte er seine Überlegung zu Ende. "Was, wenn er das nicht tut, weil er zu schwach für uns ist und sich nur an die vermeintlich leichten Gegner herantraut, die zugleich einen hohen Wert für seinen niederhöllischen Herrn darstellen? Was, wenn auch die Opferbarkeit der Entführten gar nicht sein Hauptkriterium ist? Was, wenn er all das nur macht, um uns zu veranlassen, weiter gegen ihn vorzugehen?”

Nivard rieb sich das Kinn. “Was aber hätte er davon? Reine Freude am sadistischen Spiel kann ich mir nicht vorstellen, nicht als alleinigen Antrieb. Was, wenn er uns mit seinen Taten zu lenken versucht? Dorthin, wo wir glauben, ihm schaden zu können, in Wirklichkeit aber nur, ohne es zu wollen und zu ahnen, seinen perfiden Plan erfüllen, welcher auch immer das sein mag?"

“Und was schlagt Ihr dann vor, wenn dem so wäre?” wollte Gudekar wissen. “Sollten wir deshalb die Jagd nach Pruch beenden, um ihm seinen Plan zu vereiteln?” Gudekars Worte trieften förmlich vor Sarkasmus.

“Was ich eigentlich sagen wollte, war, dass seine Gnaden Rahjel eher zufällig mitgenommen wurde, an Eurer statt. Und weil er der einzige Geweihte im Raum war. Als Opfergabe ist er wertvoller als Ihr.”

"Da habt Ihr gewiss Recht." pflichtete Nivard Rondrard bei, ehe er Gudekar in schärferem Ton erwiderte: "Und Ihr Gudekar - seid nicht so sarkastisch. Nichts zu tun, ist selbstverständlich keine Alternative. Natürlich werden wir den Paktierer weiter verfolgen, alleine schon, um Merle, um Doratrava, Rahjel und Winrich zu retten, und zu heilen, was Pruch verwundet hat. Aber wir sollten dennoch jeden unserer Schritte noch peinlicher hinterfragen. Wir müssen dabei auch schauen, warum und wie er es immer wieder schafft, genau dort aufzutauchen und Unheil anzurichten, wo wir stecken, egal, ob auf einer Hochzeit oder bei nahezu jeder wichtigen Entdeckung, die wir machen.”

Gudekars Stimme wurde wieder versöhnlicher. “Natürlich werde ich nicht aufgeben, Merle zu retten zu versuchen. Und die anderen. Solange es nur um den Raub der verschiedenen Artefakte ging, hätte Pruchs Auftauchen, dort wo wir sind, auch stets ein Zufall sein können. Schließlich sucht er nach eben jenen Dingen, die wir zu schützen gedenken. Und hätten wir einen Verräter unter uns, so hätte Pruch bereits beim Auffinden der ersten drei Steintafeln in Aktion treten können. Im Gegenteil, der versuchte Raub der Tafel im Albenhuser Efferdtempel muss länger geplant gewesen sein, als dass wir von der Existenz gewusst hatten. Und was den Angriff auf unsere Liebsten angeht: Ich vermute eher, dass Pruch uns im Visier hat. Dass Radulf und Gwenn heiraten wollten, ist nun auch kein Geheimnis. Beide Feiern waren markante Ereignisse, bei denen Pruch uns ganz im Sinne seiner Herrin Lol..., verzeiht, seiner Herrin am schwersten treffen konnte, und das auch noch vor prominenter Bühne.” Gudekar blickte nun zu Eoban, dessen Rückkehr er inzwischen bemerkt hatte. “Eoban, nanu, Ihr seid noch gar nicht losgeritten? Sagt, wie seht Ihr dies?”

Der Albenholzer antwortete mit ruhiger Stimme: "Die Widersacherin der Travia ist kein Wesen von Geduld und Planung. Insofern kann ich die These nicht unterstützen, dass ihre Taten langfristig geplant waren. Vielmehr spontan. Aus dem Affekt. Das spricht dafür, dass sie uns begleitet oder beobachtet. Wenn vielleicht auch nicht von Beginn unseres Unterfangens an… Und können wir ausschließen, dass nur wir Verluste erleiden? Wie geht es anderen Familien, den Zwergen oder dem Flussvolk?... Ich gehe davon aus, sie will uns behindern. Und dabei ist ihr sicher die Zwietracht und der Keil in unserer Gemeinschaft ein Genuss… Aber kann bitte nochmal ausgeführt werden, was hier passiert ist?"

“Ach ja”, Gudekar fiel ein, dass Eoban ja gar nicht mehr mitbekommen hatte, was im kleinen Salon geschehen war. “Kaum hattet Ihr uns verlassen, um aufzubrechen”, erklärte er, “gab es im kleinen Salon einen Angriff auf unsere Versammlung, bei der Merle, Doratrava und mein Vetter Rahjel in andere Sphären verschwunden sind. Lediglich unser Freund Nivard”, Gudekar legte seine Hand auf die Schulter des Kriegers, “wurde bewusstlos zurückgelassen.”  

Eoban blickte stumm, prüfend von einer Person im Raum zur anderen. Dabei hatte er seine Hand am Schwertknauf.

"Was denn für Steintafeln?", fragte Rondrard. "Und welche Artefakte? Was genau geht hier eigentlich vor?" Ihm war Eobans Haltung nicht entgangen.

Gudekar blickte hilfesuchend zwischen Eoban, Nivard und Tsalinde hin und her. Hatte er zu viel verraten? Konnte man dem Ritter trauen? Sollte man ihn ins Vertrauen ziehen? Der Magier war sich nicht sicher.

"Hoher Herr von Storchenflug, ich verstehe, dass Ihr Fragen habt. Entscheidend ist vor allem, dass wir nicht das erste Mal das Wirken des Pruchs erleben. Aber lasst uns ansonsten bitte auf das Hier und Jetzt konzentrieren", antwortete Eoban entschieden.

"Wie Ihr meint. Aber vergessen werde ich meine Fragen nicht. Und da mir Informationen fehlen, kann ich mein Wissen der Kriegskunst nicht voll ausschöpfen. Das müsst ihr dann selbst übernehmen."

Der Ritter nickte streng. "Friedewald, glaubt Ihr, dass wir unter diesen Zeichen die Hochzeit noch halten können..." Eobans Betonung ließ durchblicken, dass er dies nicht als Frage meinte. "Habt Ihr die Brautsuche bereits abgebrochen?"

Friedewald schüttelte verzweifelt den Kopf. “Ich denke, nach Feiern ist uns heute nicht mehr zumute. Ich denke, den Tanz heute Abend in der Zehntscheuer sollten wir absagen. Auch wenn es eine Enttäuschung für das Volk sein wird und ich nicht sicher bin, ob wir nicht gerade damit den Willen des Paktierers treffen. Doch ob die Trauung morgen durchgeführt werden kann, das sollten wir das Tempelpaar entscheiden lassen. Denn gerade in Zeiten wie diesen sollten wir Travias Gebote achten. Eine abgesagte Trauung stärkt auch eher die Widersacherin der Gütigen Mutter. Doch zunächst muss Gwenn gefunden werden. Aber im Moment wüsste ich nicht, wo wir sie suchen sollen. Da ist die Gruppe um Kalman und dem Herren Herrenfels sicher schon weiter.”

"Aber sicher habt Ihr doch eine Alarmglocke in der Siedlung... Ohne hier als Spielverderber dastehen zu wollen: Ich glaube, die Sicherheit sollte jetzt über diesen Spaß gestellt werden. Wenn die Braut zurück ist, können umso mehr nach den Vermissten suchen und für Schutz sorgen… Gudekar, gehe ich recht in der Annahme, dass alles, was in die Sphären entschwindet, auch wieder zurückkommen muss? Wenn auch an anderer Stelle?"

Die Herrin von Rodaschquell hatte all das schweigend und aufmerksam verfolgt.

All diese Spekulationen schienen ihr müßig.

“Was wissen wir schon von dem verwirrten Verstand eines Verlorenen, der seine Sache einer Wesenheit verschrieben hat, die wir nicht erfassen können, ja, nicht erfassen wollen?”, fragte sie.

“Und was wissen wir von den Möglichkeiten, über die er verfügt? Offenkundig war die … Präsenz … ja in der Lage, hier unerkannt einzudringen.”

Sie dachte einen Moment nach… schien in Gedanken verloren.

"Er ist bereits an ganz andere Orte vorgedrungen - mindestens ebenso, wenn nicht noch überraschendere Stellen in dieser Welt, und jenseits davon." bemerkte Nivard düster. "Immer ganz plötzlich, so wie er auch schnell wieder verschwunden war. Aber dazu hat er sich immer dämonischer Hilfe bedient, die für uns sichtbar in Erscheinung getreten ist. Das war diesmal anders. Vielleicht habe ich aber auch nur zu früh das Bewusstsein verloren... Außerdem vermag er, wie Ihr ja auch wisst, die Gestalt anderer anzunehmen. Ich kann nur beten, dass in dem Raum vorhin alle tatsächlich diejenigen gewesen sind, die sie vorgaben zu sein."

“Es ist wohl müßig, darüber zu lamentieren, was Pruch kann und was er nicht kann.” Gudekar schwirrte langsam der Kopf von all diesen Spekulationen. “Tatsache ist, irgendjemand oder irgendetwas ist hier in das Haus meines Vaters vorgedrungen und hat meine Merle geholt. Wie schon bei all den Zusammentreffen zuvor mit dem Paktierer, wissen wir aber noch immer nicht, wie wir ihm folgen können und wo wir die Verschwundenen suchen sollen. Oder hat jemand eine konstruktive Idee?”

“`Limbusbreitenverschiebung´”, warf der Tsa-Novize unvermittelt ein. Der junge Rechklamm hatte den Erwachsenen aufmerksam zugehört. Gerade Nivards Ausführungen hatten ihn zuletzt auf diesen Gedanken gestoßen, den er nun leichtfertig laut aussprach.

“Wie bitte?” fragte Gudekar nach.

“Ja… äh…”, stammelte der Novize, “... das hat Rionn erzählt.” Eoinbaiste schaute den Anconiter erschrocken an. Er wusste nicht ganz, ob er gerade irgendwelche Geheimnisse ausplapperte. Da wurde er leicht verlegen und erzählte vorsichtig weiter: “Rionn war mit Tsalinde und Corwyn und seiner Pagin und mit der Ritterin Ira und meiner Schwester in den Ingrakuppen bei Moosgau. Da haben sie diesen Rickenbacher gesucht, den Sternengucker… Vielleicht kennst du den? Und der hat ihnen erklärt, wie das so geht mit der `Limbusbreitenverschiebung´.”

“Und wie geht das, so?” Nivard war hellhörig geworden.  Wusste der Novize vielleicht etwas, das ihnen helfen würde, ihre verschollenen Freunde wiederzufinden?

“Naja…”, stotterte der junge Rechklamm erneut, “soweit ich das verstanden habe, hat der Rickenbach-Sternengucker eine Karte angefertigt. Diese zeigt, wo der Limbus zeitweilig besonders dünn und durchlässig wird. So könne dort leicht ein Tor geöffnet werden, meint er. Und diese Stellen springen an verschiedene Stellen in den Nordmarken besonders häufig: Elenvina, Schweinsfold, Albenhus, Lützeltal…”

Eoban überlegte noch, wie zielführend er das Thema fand, als… "Könnt Ihr das noch weiter eingrenzen? Auf eine Siedlung wie diese oder ein Gebäude? Die Siedler haben ihre Tempel und Türme nicht zufällig platziert. Und zu der Zeit gab es auch ein anderes Verhältnis zur Magie… Ich frage mich, ob wir in diesem Haus besonders anfällig sind…"

“Ähm…” Der Novize schien durch diese Frage und die Erklärung des Albenholzers  verunsichert. “Wenn ich Rionn richtig verstanden habe, ist das alles ganz aufwändig zu berechnen für den Rickenbacher Sternengucker. Rionn meint aber, dass der Bäckergeselle die Fähigkeit hat, an bestimmten Orten immer wieder ein solches Tor zu öffnen. So konnte er vielleicht auch hier nebenan in das Kaminzimmer gelangen…”

"Also heißt das, ein Ort, an dem einmal ein Tor geöffnet wurde, kann immer wieder dazu genutzt werden? Das hieße, wir sind in diesem Haus nicht sicher!"

Eoinbaiste hob die Schultern, legte den Kopf schief und hob die Augenbrauen. “Womöglich”, war das einzige, was er auf Eobans Anmerkung zu sagen wusste.

"Womöglich?... Eoinbaiste,... oder Gudekar, könnt Ihr da konkreter werden?"

"Das heißt aber auch, dass es gar nicht so unwahrscheinlich ist, dass Pruch schon in diesem Haus gewesen ist, richtig?” warf Nivard ein. “Oh gütige Mutter!" Nivard sah Eoban mehr als nur besorgt an.

Gudekar schaute den Novizen mit großen, erschrockenen Augen an. Dann schüttelte er den Kopf. “So genau kenne ich mich mit den Reisen durch den Limbus nicht aus. Ich denke nicht, dass diese Durchlässigkeiten in den Limbus, so es solche gibt, so punktgenau zu bestimmen sind. Ich vermute, wenn die Barriere zwischen unserer Sphäre und dem Limbus hier tatsächlich anfälliger sein sollte als anderen Orten, so bezieht sich dies nicht allein auf das Kaminzimmer, sondern auf das Lützeltal als Ganzes.” Gudekar dachte, nach dem, was sie am Vorabend erlebt hatten, könnte vielleicht die weiße Quelle ein Ort sein, an dem eine solche Limbusreise besonders leicht möglich wäre und dies bis hierher ausstrahlte. Doch behielt er diese Gedanken für sich. Zu groß war die Gefahr, dass die Inquisition sich sonst für diesen Ort interessieren könnte. “Dass Pruch genau ins Kaminzimmer eingedrungen ist, liegt vermutlich eher daran, dass wir uns hier aufhalten. Ich denke, er hat unsere Nähe gesucht, um zuzuschlagen. Wenn wir uns woanders im Lützeltal aufhalten, könnte er vermutlich auch an anderer Stelle auftreten.”

Gudekar holte gerade Luft, um noch einen Einwand zu äußern, als sein Vater das Wort ergriff. “Vielleicht sollten wir einfach auf das Urteil seiner Gnaden warten, der ja das Kaminzimmer untersucht, bevor wir weiter in Spekulationen verfallen. Vielleicht findet er ja etwas darüber heraus.” Gudekar verschränkte daraufhin beleidigt die Arme vor der Brust.

***

Derweil hatte der Edle von Lützeltal in Ruhe über Eobans Worte nachgedacht, die Glocke läuten zu lassen. “Ich möchte noch einmal auf Euren Vorschlag, mit der Glocke alle zusammenzurufen, zurückkommen, Eoban von Albenholz. Auf den ersten Blick scheint dieser durchaus weise. Natürlich haben wir eine Glocke, unsere Sturmglocke, Ihr habt sie heute Mittag vermutlich selbst vernommen. Und das Läuten dieser Glocke klingt zunächst nach einem vernünftigen Rat, wenn es dazu führt, dass alle – sowohl Gwenn und ihre Begleiter als auch die Suchenden um Rhodan und Kalman – ihr Geläut vernehmen und sofort umkehren. Doch bin ich mir nicht sicher, dass dies der Fall ist. Gwenn scheint ihr Spielchen bereits während des Sturmes begonnen zu haben und hat auch dort wohl nicht auf das Läuten geachtet. Wenn sie sich außerhalb des Dorfes aufhält, was ich durchaus zu vermuten wage, kann sie das Geläut im schlimmsten Falle nicht vernehmen. Kehren dann Kalman und die anderen jedoch zurück ins Dorf, so könnte Gwenn ungeschützt zurückbleiben, wo auch immer ihr Spiel sie hingeführt haben mag. Bedenket: Gwenn und Bernhelm haben die Pferde mitgenommen, fünf an der Zahl, für jeden ihrer Begleiter ein eigenes. Darüber hinaus könnte nach dem mittäglichen Sturmgeläut und dem Erschallen des Horns nach dem Jagdunglück ein erneutes Läuten eine Panik im Dorf auslösen, die es wohl eher zu vermeiden gilt.”

"Friedewald, drei Eurer Gäste sind verschwunden. Es wird müßig darüber diskutiert, ob ein Paktierer hier unter uns weilt. Die Braut unseres Freundes wurde jüngst ermordet. Und es gibt weitere Verluste unter den Gästen. Ganz offensichtlich hat unsere bisherige Vorgehensweise versagt. Was soll noch passieren, bevor die Personen dieser Gemeinschaft zusammengerufen werden und den nötigen Schutz erfahren?"

“Aber genau deshalb werde ich nicht riskieren, meine Tochter schutzlos irgendwo im Tal zurückzulassen. Gerne können wir einen Boten den Suchenden hinterherschicken, der sie warnt und ihnen die Anweisung gibt, sofort zurückzukehren, sobald Gwenn gefunden wurde. Doch zunächst müssen Gwenn und ihre Begleiter gefunden werden.” Friedewalds immer größer werdende Sorge um seine Tochter begann sich in Ärger Luft zu machen.

"Bitte entschuldigt, ich weiß sehr wohl, dass das gegen die Regeln der Höflichkeit verstößt, aber: Gäste, darunter ein Geweihter, sind in diesem Raum", Eoban deutete auf das Zimmer, "verschwunden. Und niemand der hier Anwesenden konnte scheinbar etwas tun, nur eine Tür weiter… Wie sicher glaubt Ihr ist Eure Tochter im Tal?... Ich bitte Euch darum, brecht dieses Spiel ab."

Friedewald schüttelte den Kopf. “Bei aller Freundschaft. Ich lasse Gwenn nicht ungeschützt zurück in der Hoffnung, dass sie irgendwann die Lust am Versteckspiel verliert, wenn niemand kommt, um sie zu suchen. Weder Marno noch Bernhelm wären in der Lage, sich dem Paktierer ernsthaft entgegenzustellen, wenn sie angegriffen werden. Lediglich die Dame von Kranickau ist in jener Gruppe wehrhaft.”

Nun schaltete sich auch Gudekar in den Disput ein. “Eoban, Vater hat Recht, Gwenn muss gefunden werden. Ich werde losgehen und meinem Bruder folgen. Sobald wir Gwenn gefunden haben, kommen wir gemeinsam zurück.”

Mit dunkler Miene schaute Eoban in die Runde. "Ich verstehe. Dann bitte sagt mir, was wir tun können. Oder ob unsere Hilfe dann nötig ist. Ansonsten würde ich auch zu meiner Familie gehen, die der hier diskutierten Thesen nach ja gleichermaßen in Gefahr ist."

Friedewald nickte. “Ja, Eoban von Albenholz, vielleicht bringt Ihr Eure Familie am besten hierher. Wir können zwar nicht das gesamte Dorf im Herrenhaus aufnehmen, aber ich sehe, dass die Familien Eurer Gefährten besonderen Schutz bedürfen. Gudekar, du gehst Kalman und Gwenn suchen, während Eoban seine Familie holt.”

"Blödsinn! Gudekar, Du bleibst hier. Ich gehe Gwenn holen. Mich kennt der Pruch nicht und unter diesen Umständen sollte die Gemeinschaft besser zusammen bleiben, anstatt ständig neu aufgefasert zu werden."

"Ihr seid hier. Auf dieser Feier. In diesem Raum. Jetzt kennt er Euch. Wir haben ihm unsere neuen Verbündeten offenbart … Wir sollten uns nur noch in Gruppen bewegen. Holen wir doch erst einmal gefährdete Personen ins Herrenhaus, dann suchen wir die Sucher. Sind die hier Anwesenden mit Familie angereist?"

"Ich bin mit meiner Lanze angereist, die man als Familie betrachten könnte. Einer liegt bereits tot dort drüben", er wies in die Richtung des Raumes, in der Yendan aufgebahrt wurde, "und als 'Verbündeter' wüsste ich gern: warum." Rondrard atmete tief durch. "Ansonsten bin ich alleinstehend. Meine Geschwister sind nicht hier."

Friedewald blickte zu Tsalinde. “Eure Familie sollte auch hierher geholt werden, Euer Wohlgeboren. Sie sind noch auf Hof Wohlgedei?”

"Ich bin alleine hier. Meine Familie weilt zu Hause, in Sicherheit." Nivard waren die Zweifel an letzterer Einschätzung im Gesicht abzulesen. "Ich kann Euch gerne helfen, Eure Familie hierherzuholen, Eoban." erbot er sich. "Auch Euch, Tsalinde. Oder wo auch immer ich sonst gebraucht werde." Egal was ihm zugestoßen war, oder wie es ihm ging: hier herumzusitzen und zu warten, würde ihm innerlich mehr Schmerzen bereiten, als sich mit den anderen gemeinsam anzustrengen.

"Friedewald, was gedenkt Ihr zu tun, um die Sicherheit der Lützeltaler zu gewährleisten? Ganz sicher kommt Unruhe auf, wenn sich einige Familien ins Herrenhaus zurückziehen. Und es wäre auch nicht richtig, die Euren geringer zu schützen. Könnten wir vielleicht angereiste Krieger zu einem Wachdienst einteilen?", mit der Frage blickte Eoban auch zu Rondrard. "Friedewald, Ihr solltet mit Euren Leuten sprechen."

In den nun bald 50 Jahren, die Friedewald die Geschicke des Edlengut leitete, war Lützeltal stets ein Ort des Friedens und der Ruhe gewesen. An eine vergleichbare Gefahr für die Bewohner des Dorfes, wie sie nun über dem Tal schwebte, konnte sich Friedewald nicht erinnern. Und zu gerne hätte er auch seine letzten Jahre weiter in Ruhe und Frieden verbracht. Wie sollte das Dorf nun geschützt werden? Friedewald wusste es einfach nicht. Mit einem äußeren Feind - dem Angriff eines rivalisierenden Nachbarn oder einer Horde marodierender Orks - hätte er umzugehen gewusst. Er hätte alle Kämpfer und alle waffenfähigen Männer und Frauen des Dorfes zusammengerufen und den Feind in einem Angriff zurückgeschlagen. Doch dieser Feind kam aus dem Inneren. Er konnte zu jeder Zeit und an jedem Ort zuschlagen. Wie sollte man das Dorf davor schützen? Selbst mit den Gästen waren nicht genügend Krieger vorort, um immer überall Wache halten zu können. Und wenn man alle Bewohner zusammenrief? Wie lange sollte man sie eingepfercht lassen? Und konnte der Feind dann nicht noch leichter seine Beute finden? Würde das Volk nicht in Panik verfallen, wenn man ihm von der Gefahr erzählte? Der Edle war verzweifelt. Egal, welche Entscheidung er traf, sie konnte dem Feind erst recht in die Karten spielen. Friedewald hoffte, dass der Paktierer es nur auf seine Häscher - und ihre Angehörigen - abgesehen hatte. Dann wäre das Volk weniger in Gefahr.

"Natürlich können meine Lanze und ich Wache halten. Doch trotz, oder gerade wegen, der gegebenen Umstände werde ich Yendan auf seiner letzten Reise nicht allein lassen. Die Totenwache bleibt bestehen. Allerdings werde ich die Anzahl derjenigen, die wachen, und derjenigen, die sich von der Wacht erholen, reduzieren und zum Schutz des Dorfes einteilen. Stellt sich nur die Frage: Wie schützt man ein Dorf vor einem übermenschlichen Paktierer, der jederzeit aus dem Nichts auftauchen und wieder verschwinden kann, der dabei sogar Gruppen von Menschen mitnehmen kann und sein Aussehen verändern kann? Ohne Geweihte und Magier wird das äußerst schwierig. Ihr scheint ihn ja schon länger zu verfolgen. Hat er denn keine Schwachstellen?"

Eoban wartete noch einen Moment auf eine Antwort Friedewalds. War er von der Situation überfordert? Ein Heer ohne Führung konnte keinen Sieg erringen, war dem Untergang geweiht. Dann antwortete Eoban Rondrard: "Ihr habt Recht, wir können vermutlich nicht verhindern, dass Pruch dieser Gemeinschaft und unseren Familien Schaden zufügt. Aber wir können ihm Steine in den Weg legen. Und noch wichtiger: Unseren Familien ein Gefühl von Geborgenheit geben." Er machte eine kurze Pause. "Wir müssen vor allem die Nacht überstehen. Morgen kommt das Geweihtenpaar Dreifelder aus Albenhus. Wir warten auch noch auf die Ankunft von Adelchis von Pfaffengrund, Weißmagier aus Elenvina. Bis dahin kann uns ein Travia-gefälliges Mahl und ein gemeinsames Gebet helfen. Das bringt den Mut zurück in die Herzen und holt die Göttin zu uns. Aber wir sollten nicht naiv sein. Das verschafft uns nur eine Pause. Von nun an ist der Paktierer für Euch und Eure Gemeinschaft eine ständige Bedrohung - bis er und seine Schergen gefasst sind."

"In dem Fall möchte ich doch darum bitten, mich über diesen Pruch aufzuklären und wer wie mit ihm in Kontakt kam. Oder anders gesagt, wer auf unserer Seite ist."

"Ihr lest doch sicher den Greifenspiegel. Sagt bitte, was wisst Ihr über ihn. Dann können wir Eure Lücken schließen."

“Jast-Brin von Pruch, Vater: Marbulf von Limmburg“

„… der von seinem eigenen Sohn ermordet wurde“, ergänzte Gudekar, mehr zu sich selbst sprechend.

„Mutter: Eduina von Pruch, Traviaakoluthin, wurde ebenfalls von ihm ermordet. Unehrenhaft aus der Flussgarde entlassen. Sein Onkel mütterlicherseits war Harduin von Pruch, gefallen im Haffax-Feldzug und Edler zu Talwacht, verheiratet mit Cassandra von Aarberg. Dessen Sohn Willard war mit Vitus von Finstertann befreundet, der aus eben genanntem Feldzug schwer verwundet zurückkehrte. Laut einer Sonderausgabe des Greifenspiegels, in der mein Junker Aureus von Altenwein interviewt wurde, gab es mit den Finstertanns einen `Vorfall`, was zur Bluthochzeit führte. Aber, das habe ich mir nicht so genau gemerkt. Jast-Brin wurde als Paktierer enttarnt und soll wohl an der Entführung des Elenviner Tempelvaters beteiligt gewesen sein. Aber, was das mit irgendwelchen Steintafeln und Artefakten zu tun hat, weiß ich nicht. Zu mehr Artikeln erinnere ich mich nicht, da sie keinen Bezug zu mir oder meiner Heimat hatten.”

Mit zunehmend blinzelnden Augen folgte Eoban dem Vortrag Rondrards. "Jaa,... ah, das ist umfassend,... , also ich habe den Eindruck, Ihr lest den Greifenspiegel… ausführlich. Und vielleicht noch den einen oder anderen Bericht. …" Eoban blinzelte noch einmal. "Also, Ihr wisst, Pruch hat bereits viel Übel über uns gebracht. Und Ihr könnt Euch sicher sein, dass sehr viele tapfere Nordmärker versuchen und versucht haben, ihn aufzuhalten. Und seine Taten aufzuklären. Pruch wiederum scheint diejenigen zu verfolgen und ihre Gemeinschaft zu zersetzen. Ihr scheint nun eher zufällig mit ihm in Kontakt geraten zu sein. Doch viele andere wurden beauftragt. Bitte verzeiht, wenn ich Euch jetzt keine weiteren Namen und Aufträge nenne. Vielleicht hilft es Euch zu wissen, dass die Kirchen eingebunden sind. Sein Wirken konntet Ihr teils selbst erleben. Er erscheint auch mit Wesen aus anderen Sphären. Darüber hinaus scheint er ein umfangreiches Netzwerk zu haben. An seiner Seite stehen auch Krieger und Magier. Einige der hier Anwesenden standen ihm bereits im Kampf gegenüber. Ich glaube, dass sollte für den Moment alles sein, was Ihr wissen müsst."

Aufmerksam und neugierig hatte der Tsa-Novize zugehört und unterdrückte nun den Impuls, sein eigenes Halbwissen beizusteuern, was er aus den Erzählungen Rionns zusammengetragen hatte. Eoinbaiste musterte stattdessen die Anwesenden und fragte sich selbst gespannt, wie das wohl gelingen könnte, sich gegen den Bäckergesellen zu schützen und die Entführten zu befreien.

Gudekar hatte zu den Berichten bestätigend genickt. “Ja, Pruch hat bereits einiges getan, was furchtbar ist. Doch plant er wohl weitaus Schlimmeres, um Unfrieden in die Nordmarken zu bringen. Es geht um das Herz der Nordmarken. Dies ist ein sehr altes, bedeutendes Artefakt, von dessen Existenz jedoch bisher kaum ein Mensch mehr zu wissen schien.” Bei diesen Ausführungen verdüsterte sich Eobans Blick. “Es steht für den Frieden und das Miteinander der Völker in unseren Landen. Es ist Pruch gelungen, dieses Artefakt zu zerstören. Wir versuchen herauszufinden, wie es von Neuem erschaffen werden kann. Das ist der Kern unserer Mission. Und diese Steintafeln, die ich ebenfalls erwähnte, geben Hinweise, wie dies möglich ist. Insofern sind, auch wenn dies weitgehend unbekannt ist und auch so bleiben sollte, um Panik im Land zu vermeiden, durchaus alle Teile unserer Heimat in Bezug zu unserer Mission, denn sollten wir scheitern und Pruch seine Pläne verwirklichen können, so droht vielleicht ein Krieg zwischen den Völkern unseres Landes, den Menschen, den Zwergen, dem Flussvolk und den wenigen verbliebenen Elfen.”

“Hmmm, ich verstehe! Auch, wenn es mir widerstrebt, aber… eine Zofe in Amleth ist mit einem Hesindegeweihten verwandt, der kennt einen Magier, der wohl schon dreimal studiert hat, oder so. Keine Ahnung was genau das bedeutet, scheint aber in der magischen Welt was ganz Wichtiges zu sein. Vielleicht kennt der sich ja mit Limbus, Steintafeln und Dämonenabwehr aus. Ich meine, wer dreimal zur Schule geht, ist entweder ganz schlau oder besonders blöd. Wenn ihr ihn zu Rate ziehen wollt, kann ich ihn kontaktieren. Und wenn dieser Geweihte dabei ist. Der wird ihn schon unter Kontrolle halten.”

"Das Tempelpaar... reist es mit Bedeckung an, oder alleine?" flüsterte Nivard Eoban während der Ausführungen Rondrards ins Ohr. "Gudekars Schwiegereltern würden auch in sein Beuteschema passen, meint Ihr nicht auch?"

Eoban lauschte angestrengt den Ausführungen Rondrards und konnte Nivards Fragen kaum verstehen.

“Habt Dank, für das überaus freundliche Angebot, Hoher Herr”, entgegnete Gudekar an Rondrard gewandt. "Sollten wir das Gefühl haben, dass wir weitere Unterstützung in diese Richtung benötigen, werden wir uns sicherlich an Eure Verbindungen erinnern. Bis dahin werden wir versuchen, die Zahl der Eingeweihten weiter möglichst gering zu halten”, was Eoban kopfschüttelnd kommentierte, “und erst einmal zusammentragen, welche Erkenntnisse in unserer Gruppe inzwischen angefallen sind.“ Bei den letzten Worten wanderte Gudekars Blick zwischen Eoban, Nivard und – stellvertretend für Rionn, der noch immer mit seinem Ritual beschäftigt zu sein schien – Eoinbaiste hin und her.

Worte. Magietheorie. Spekulationen. Es schwirrte in Lianas Gedanken. Man klammerte sich an das Wenige, das man zu wissen glaubte. Doch war das ein Wunder? Was konnte man schon tun gegen einen Gegner, der mit daimonischer Macht wohl aus dem Nichts zu kommen schien?

Wo war er nun? Was eigentlich hatte er noch vor?

Die Dame Morgenrot wartete, bis sich die Gelegenheit ergab, etwas einzuwerfen.

“Wenn er doch das Herz schon zerstört hat, müsste man dann nicht glauben, dass er bereits am Ziel ist?”

Sie blickte der Reihe nach in die Runde.

“Dass er nun weiter agiert, legt doch die Vermutung nahe, dass auch er etwas fürchtet. Was mag das sein?”

Gudekar räusperte sich. „Nun, da kann ich nur Vermutungen aufstellen“, behauptete er. „Er hatte versucht, das Herz zu stehlen, hat wohl auch zwei der vier Teile unter Kontrolle. Außerdem hat er versucht, die Steintafeln zu bekommen, also zumindest eine davon. Entweder er versucht zu verhindern, dass wir den Kristall neu erschaffen, oder er selbst möchte so etwas tun, vielleicht in der Hoffnung, mit dem vollständigen Artefakt den Frieden zwischen den Völker zu kontrollieren, zu manipulieren. Aber wie gesagt, dies sind Mutmaßungen.“ Eobans Gesicht begann, rot anzulaufen. Gudekar machte eine Pause, während der er Liana anblickte. „Wer weiß schon, was ein Paktierer wie er wirklich will?“

Gudekar hielt eine Weile inne, bevor er weiter redete. “Was mich jedoch noch irritiert: Bisher hat Pruch stets sehr schlagkräftig zugeschlagen, wenn er durch den Limbus gereist ist und versucht hat, ein Artefakt zu stehlen. Das war wohl, wenn ich die Berichte recht verstanden habe, in Elenvina so, als er das Herz der Nordmarken zerstört hat.” Die Person neben Eoban konnte ein lautstarkes Schnaufen hören. “Das war die beiden Male in Schweinsfold und Albenhus so, als ich ihm begegnet bin. Dort hat er jeweils Dämonen mit aus dem Limbus gerufen, um für Chaos zu sorgen. Warum schlägt er hier nur so, ähm, zaghaft zu, entführt lediglich drei, nun, eher unbedeutende Personen, wo er doch, hätte er uns einen leibhaftigen Dämon ins Haus gesetzt, mitten in unsere Gesprächsrunde, weitaus größeren Schaden hätte anrichten können. Das passt für mich noch immer nicht zusammen. Ist dies nur ein Ablenkungsmanöver?“

"Seinen eigenen Vater hat er weit diskreter getötet." wandte Nivard ein. Bei diesem Kommentar klappte Eoban der Mund auf. "Ich glaube, er geht den aufwendigen Weg nur, wenn er muss. Ans Herz der Nordmarken konnte er nur, weil seine Getreue Rhialla von Ulenau mit uns”, Eoban schüttelte entgeistert den Kopf, “in den Reihen der Flussgardisten, mitgekommen war und ihm so durch ein Artefakt den Weg weisen konnte. Durch diese wusste er gewiss ebenfalls, dass er auf massive Gegenwehr stoßen würde, also schlug er ebenso massiv zu. Auch in Schweinsfold musste er mit Widerstand rechnen, waren doch Ringe und Winrich stets wohlbehütet. Also hat er seinen letzten Schlag dort auch mit großer Kraft geführt. Davor war er aber wieder sehr viel unauffälliger zu Gange.

Heute hat er einen überraschenden Moment abgewartet, um zuzuschlagen. Sicher hätte er mit mehr dämonischer Unterstützung auch sehr leicht viel mehr Chaos stiften oder noch namhaftere Personen entführen oder verletzen können. Und genau deswegen glaube ich, dass er es tatsächlich auf die Personen im Raum abgesehen hatte - weil er sie tatsächlich als Hauptbeute haben wollte oder für etwas anderes großes braucht. Auf keinen Fall ist es ein zufällig gesetztes Ablenkungsmanöver, nein, daran glaube ich nicht. Die Frage ist, was er mit den dreien - oder wenigstens der Hauptperson aus deren Kreis - genau vorhat."

“Wobei…”, kramte der Novize wieder im Halbwissen seiner Informationen, die er von Rionn erzählt bekommen hatte, und dachte laut: “Der Kerl mit der Ogerschelle… den hat der Bäckergeselle doch auch aus dem Kerker in Albenhus geholt, oder? Dabei hat er doch kein Artefakt mitgenommen, sondern nur diesen Kerl, … oder?”  

"Ich weiß nicht, ob er das selber war, oder nur sein niederhöllischer Herr und Meister, der sich eine Seele, die bereits zu tief in seinen Fängen steckte, nicht mehr entgehen lassen wollte..." gab Nivard zu bedenken. "Davon abgesehen denken wir aber in dieselbe Richtung. Es ging Pruch hier um Merle, Doratrava oder Rahjel. Oder alle drei."

‘Die Zeit verstrich wie im Fluge. Satinav lässt es den Menschen manchmal sehr lang werden, obwohl nur wenige Stundengläser verronnen waren, und andererseits versucht man den Moment zu greifen und er ist bereits vorbei gezogen’ - Sautama Tsafried 523 BF.

Zaghaft öffnete der Tsageweihte die Tür zum großen Saal. Dabei kniff er die Augen zu, weil es hier viel heller war als im Kaminzimmer. Als er sich ein wenig an das Licht gewöhnt hatte, lugte er mit seinem Kopf durch den Türspalt hindurch und lauschte der für ihn zunächst einmal verworren scheinenden Diskussion. Dann schob er auch seinen Körper hinein in den Saal, schloss die Türe hinter sich, blieb dann aber erst einmal ruhig davor stehen und beobachtete, wie die Leute reagierten und wie die Stimmung war. Rionn wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, daher hatte er auch keine Ahnung, was alles in der Zwischenzeit geschehen sein mochte.

Mit lauter Stimme und sichtlich erbost unterbrach Eoban die Ausführungen seiner Gefährten und des Novizen: "Gudekar, Nivard und Eoinbaiste, könnten wir uns bitte vorher abstimmen, bevor Ihr noch weitere Details unserer Aufgaben und der Ereignisse im Raum verteilt."

Eoinbaiste zuckte merklich zusammen, als der Albenholzer erbost laut wurde und sich in seinem Groll unter anderem auch an ihn wandte. Der Novize war es aus seiner Zeit im Eisensteiner Tsa-Tempel nicht gewohnt, dass man sich in einem solchen Ton anging und maßregelte. Glöckchen und die anderen gingen miteinander und mit Gästen stets mit großer Freundlichkeit und Friedfertigkeit um. Es wurde nie gestritten und Meinungsverschiedenheiten wurden sanft mit viel Verständnis und Einfühlungsvermögen erörtert. Einzig, wenn es um Ungerechtigkeiten ging, die der lokale Adel über die Menschen brachte, konnte Glöckchen energisch und manchmal auch zornig werden.

Gudekar verdrehte die Augen. “Nun, ich glaube, die jüngsten Ereignisse haben dafür gesorgt, dass der Kreis der Betroffenen und Eingeweihten ein wenig gewachsen ist. Und wie sollen die Baronin und der Herr von Storchenflug uns sinnvoll helfen, das Dorf und die Gemeinschaft gegen mögliche weitere Angriffe zu schützen, wenn wir sie nicht ausreichend einweihen? Ich vertraue beiden. Im Übrigen wurde, wie Ihr wisst, Ihre Hochgeboren bereits vor etwa einem Jahr über die Vorkommnisse von unseren Gefährten in Kenntnis gesetzt. Und auch meinem Vater vertraue ich, auch er kennt gewisse Details. Also, was ist Eure Sorge?”

"Viele dieser äußerst sensiblen Details sind mehr als unnötig, um das Dorf zu beschützen. Ihr verratet hier Informationen, bei denen Ihr geschworen habt, sie nicht weiterzugeben. Damit erhöht Ihr auch die Bedrohung für andere, nicht nur in diesem Raum anwesende, über die Maße. Gudekar, ich will Dich nur an Elenvina und unseren Kameraden erinnern. Und auch meine Zweifel an vergangenen Entscheidungen, die heute ganz offensichtlich in der Katastrophe gemündet haben."

“Ich denke, die Gefahr für die anderen Personen ist größer, wenn wir hier weitere Probleme bekommen und sie nicht wissen, was sie erwartet”, entgegnete Gudekar ärgerlich. “Es ist in dieser Runde, wie gesagt, lediglich der Herr von Storchenflug, für den diese Erkenntnisse neu sein dürften. Und wir wurden auch aufgefordert, uns vertrauenswürdige Unterstützer zu suchen. Und für genau so einen halte ich den hohen Herren, mit Verlaub! So, und welche der vergangenen Entscheidungen waren Eurer Meinung nach derart falsch?”

"Das werde ich hier nicht weiter erläutern. Ich wundere mich aber sehr, wie freizügig mit diesen sensiblen Informationen umgegangen wird, die uns heute kaum helfen werden, - Ihr selbst habt eben gesagt, das sollte unbekannt bleiben - und gleichzeitig werden grundlegende Warnungen für die Menschen, welche unmittelbar bedroht sind, vor Ort zurückgehalten. Das passt für mich nicht zusammen. … Es ist das eine, um Unterstützung zu bitten, und etwas anderes, Geheimnisse zu verraten."

“Hoher Herr von Albenholz, ich bat um diese Informationen, da ich mich nicht gerne als Drachenfutter in einem Admiral-Vikos-Sieg benutzen lasse. Und so, wie das klingt, wäre es vielleicht sogar besser, weitere ausgewählte Personen einzuweihen, um die Möglichkeiten eines Sieges über diesen Paktierer zu vergrößern. Geheimhaltung, ob gerechtfertigt oder nicht, schürt immer auch Misstrauen und das spielt doch dem Eidbrecher in die dämonischen Hände, oder nicht? Aber, ich verstehe Euch. Während wir hier reden, könnten bereits Menschen sterben oder gar vom Paktierer verzaubert und zu Dingen gezwungen, die ihre Seele verderben. Für den Moment werde ich meinen Wissensdurst bändigen und stattdessen handeln. Euer Wohlgeboren”, wandte er sich an Friedewald, “wir brauchen eine Entscheidung! Gebt Befehl und wir handeln.”

Eoban wandte sich sichtlich erbost an Gudekar, Nivard und Eonbaiste: “Das ist genau das, was ich meinte. Es wird sich verselbstständigen. Wie wollt Ihr dann noch vermeiden, dass die Information in falsche Hände gerät …” Dann zu Rondrard: “Bitte entschuldigt, dass ich das hier vor Euch diskutiere. Ich glaube, ja, bin mir sicher, ich werde nie alle Geheimnisse der Nordmarken lüften können. Und dennoch kann ich für das Richtige streiten. Auch wenn es noch so hoffnungslos aussieht und der Preis hoch sein wird. Und das erwarte ich auch von allen anderen in unserer Runde. Drachenfutter… Damit habt Ihr die Mühen und alle Opfer unseres Unterfangens diskreditiert und Euch offenbart. Wissensdurst stillen?! Seid Euch sicher, ganz andere Stellen haben uns  …”

“Eoban”, fiel Gudekar seinem Freund ins Wort, “Ihr habt wohl die Worte des hohen Herren von Storchenflug nicht richtig vernommen. Er sagte ausdrücklich, dass er nur zu helfen bereit sei, wenn er auch weiß, wofür er sein Leben und das seiner Männer riskiert. Und das zu Recht! Außerdem, wer könnte das größte Interesse daran haben, dass diese Infor…”

"Nehmt das zurück", knurrte Rondrard nun Eoban an.

“WIE ICH BEREITS SAGTE”, setzte auch Friedewald nun mit lauter und entschlossener Stimme an und unterbrach damit Eobans, Gudekars und Rondrards Einwände energisch, “lege ich zunächst Wert auf das Urteil seiner Gnaden Rionn.” Der Edle blickte zu dem Geweihten, der sich kurz zuvor zurück in den Saal geschlichen hatte. “Insofern seid Ihr genau zur rechten Zeit fertig geworden, Euer Gnaden. Was haben Eure Untersuchungen gebracht?”

Mit eiserner Miene sah Eoban Gudekar und Rondrard an.

Die Gemüter waren erhitzt, dazu benötigte es keiner besonderen Menschenkenntnis. Die Baronin von Rodaschquell wartete auf einen kleinen Moment der Ruhe, ehe sie das Wort an Eoban richtete:

“Ich verstehe Euren Wunsch nach Vorsicht. Doch vielleicht ist es angeraten, zu bedenken, dass die Geheimnisse unseres Feindes nur so lange Macht besitzen, solange sie Geheimnisse sind. Und ich zweifle nicht daran, dass alle, die sich in diesem Raum aufhalten, denselben Wunsch hegen: nämlich, diese Gefahr von den Marken abzuwenden. Von daher sollten wir unsere Kräfte bündeln, um dem Feind gemeinsam und entschlossen entgegenzutreten. Denn Zwietracht hilft ihm, nicht aber uns. Daher bitte ich Euch, all denjenigen, die bereit sind, das Ihrige zu tun, um zu helfen, ein wenig Eures Vertrauens zu schenken.”

Der Albenholzer antwortete mit ruhiger Stimme: “Habt Dank für Eure Worte, Euer Hochgeboren. Das ist das, was ich selbst will. Aber nach zwei Götterläufen muss ich einfach bemerken, dass wir es mit Vertrauen alleine nicht geschafft haben. Unsere Freunde sterben, und andere unserer Gemeinschaft tanzen auf den Tischen, als wäre nichts geschehen, bringen sich in Gefahr, bringen uns in Gefahr. Die Mutter ist gütig, aber sie weiß auch, dass sie ihren Kindern Regeln aufsetzen muss. Und strafen muss, wo Regeln wieder und wieder gebrochen werden.”

“Regeln welcher Art?”, fragte die Rodaschquellerin schlicht, und fügte gleich hinzu:

“Wenn Misstrauen und Furcht, die … Falschen … einzuweihen das Handeln bestimmen, dann werden wir zweifellos nichts erreichen können.”

“So sagt mir doch, warum warnen wir nicht das einfache Volk?”

“Das einfache Volk? Die, die Ihr hier versammelt seht, sind wohl kaum das, was Ihr “das einfache Volk” nennt. Es sind zum Teil jene, die, soweit ich weiß, ernannt wurden, über die Geschicke dieser Lande zu wachen.” Sie machte einen Schritt auf ihn zu.

“Umgekehrt wäre zu fragen: Wer sollte denn Eurer Ansicht nach eingeweiht werden, und wer nicht? Nur jene, die den Schwur auf die Kirche des Sonnengottes geleistet haben vielleicht?”

Es lag keine Schärfe in ihrer Stimme. Eher eine gewisse Bekümmertheit.

“Diejenigen, die hilfreich sein können, sollten von der Gefahr wissen, anstatt dass einige wenige, die sich über alle anderen erhaben fühlen, dies allein entscheiden. Dies ist meine feste Überzeugung.”

Der Albenholzer schielte kurz zu dem Tsageweihten und überlegte, ob dieser etwas sagen wollte. Nach einer kurzen Pause antwortete er der Baronin: “Ihr habt Recht. Diejenigen, die hilfreich sein können … Ich habe erlebt, wie Gefährten Gesundheit und Leben der Gemeinschaft riskieren, nur um selbst nicht kämpfen zu müssen. Ich habe erlebt, wie Gefährten in den seelischen Abgrund gefallen sind, während andere feierten und soffen. Ihr habt vollkommen Recht: Diejenigen, die hilfreich sein können. Die, die sich nicht vor die Schutzlosen stellen wollen, die ihre Bedürfnisse nach Rausch über die Sicherheit der Gemeinschaft stellen, die die Gebote der Travia mit Füßen treten, die sich selbst, ihre Gefährten und das Vorhaben ohne Verstand riskieren, die sind bei diesem Unterfangen nicht richtig. Ihr seht, was passiert. Meine Gefährten sterben. Vertrauen allein reicht nicht mehr. Ich habe mich getäuscht… Wir bauen Mauern, um uns zu schützen. Und wir halten Wissen zurück, damit es nicht in falsche Hände gelangt. So wie ich keine Räuber in mein Heim lasse, werde ich kein gefährliches Wissen mit denen teilen, die damit nicht umgehen können, werde ich mit niemanden mehr kämpfen, der sich nicht vor die Schwachen stellen will, werde ich niemanden in meine Gemeinschaft aufnehmen, der sie mit Füßen tritt.”

Aufmerksam hörte die Baronin ihm zu und nickte bisweilen vorsichtig. Dann sah sie Eoban unverwandt an, und ihre Stimme klang sanft, als sie ihm antwortete. “Die Verbitterung, die aus Euren Worten spricht, zeugt von großer Enttäuschung, die Ihr habt erleben müssen. Und dies bedauere ich zutiefst”, sagte sie gleichermaßen traurig wie auch verständnisvoll.

“Doch wenn Ihr nur Mauern um Euch errichtet und nicht mehr auf das Urteil anderer vertraut, die darum wissen, ob es Helferinnen und Helfer gibt, die genauso wie Ihr einem gemeinsamen Feind die Stirn bieten wollen … wenn Ihr nur noch Euch selbst und einigen wenigen, die in Euren Augen würdig scheinen, die Möglichkeit geben wollt, anderen in diesem Kampf beizustehen, dann schwächt es unser Ansinnen und stärkt unseren Feind.”

Sie machte einen Schritt auf ihn zu und fuhr fort.

“Es mag sein, dass Ihr auch in Zukunft enttäuscht werdet. Dass es Streiterinnen und Streiter geben wird, die sich Eures Vertrauens nicht als würdig erweisen mögen. Doch wie wollt Ihr erkennen, wer würdig ist, wenn Ihr es nicht zulasst? Und noch viel wichtiger: Wollt Ihr allein Eure Sicht als Maßstab für alle nehmen? Wenn jene, die helfen könnten und wollen, nicht wissen, wie sie der Gefahr begegnen können, dann nehmen wir Ihnen die Möglichkeit, etwas zu tun. Und wir berauben uns vielleicht selbst der Möglichkeit, den daimonischen Umtrieben etwas entgegenzusetzen, das deren Untergang womöglich schneller herbeizuführen vermocht hätte.”

Noch ein wenig näher trat sie an ihn heran. Leise war ihre Stimme. Musikalisch. Einladend.

“Unser Feind dient der Rastlosigkeit, und Rastlosigkeit will er auch unter uns verbreiten. Wenn wir dies zulassen, hilft es seinem Ansinnen. Sind wir jedoch geeint, so stehen wir fest im Wind. Und war dies nicht schon immer etwas, das die Nordmarken und die Bewohner dieser Lande verband? Dass sie in Zeiten der Not auch bei noch so viel innerem Zwist zusammenzustehen wissen, um einem gemeinsamen Feind die Stirn zu bieten?”

Der Albenholzer blieb an seinem Platz stehen, seine Miene aber wurde eisern. “Ich verstehe, was Ihr mir sagen wollt. Ich spreche von meinem Heim und meiner Familie. Hier habe ich meine Wahl getroffen. Ich löse mich von denen, die der Gemeinschaft schaden. Und ich prüfe strenger die, die anklopfen. Ein fauler Apfel muss aussortiert werden, bevor er die anderen ansteckt. Denn zu oft kommt die Bedrohung nicht von außen, sondern von innen. Unsere eigenen niederen Bedürfnisse zu überwinden, das ist vielleicht die größte Prüfung. Und wenn ich an die letzten zwei Götterläufe zurückdenke, auch die Prüfung, an der wir scheitern … und damit die Tore aufstoßen für den Feind von außen. Die Güte treibt mich an, aber ich werde nicht mehr zögern zu strafen, da wo die Gemeinschaft leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird.”

Einmal mehr nickte die Elfe vorsichtig. “Es ist gut, wenn Ihr prüft, wer an die Tür klopft. Solange dies bedeutet, dass diese Tür sich auch zu öffnen vermag.”

Sie neigte nun ihr Haupt ein wenig.

“Ich danke Euch für Eure offenen Worte.”

Was zu sagen war, war gesagt worden. Was daraus erwuchs, musste die Zeit offenbaren.

„Könnten wir nun bitte endlich seine Gnaden über das Ergebnis seiner Untersuchungen berichten lassen?“ versuchte Friedewald sich erneut Gehör zu verschaffen. „Ich bin diese ständigen Dispute langsam leid! Wir sind alle hier um zu helfen. Und um zu handeln, die richtigen Entscheidungen zu treffen, bedarf es Informationen. Euer Gnaden, bitte berichtet nun!“

Rionn, der nach der Meditation noch immer von einem tiefen Frieden und einer tsagefälligen Gelassenheit erfüllt war, reagierte nur sehr langsam und zögerlich auf Friedewalds Frage. Er schien sich in der Aura des Saales und der Menschen hier erst einfinden zu müssen. “Ich habe nicht untersucht”, erwiderte er in einem sanften Tonfall und fuhr erst nach einer langen Atempause fort, “ich habe die Ewigjunge und ihre Geschwister gebeten, mir Einsicht zu gewähren.” Rionn schloss die Augen und atmete konzentriert ein und wieder aus. Dann öffnete er seine Augen wieder, blickte Friedewald an und sagte: “Im Kaminzimmer selbst hat es in jüngerer Zeit kein Wirken eines Wesens aus den Niederhöllen gegeben…”

“Sehr gut!” fiel ihm Gudekar sofort ins Wort. “Dann besteht hier im Haus keine besondere Gefahr!” Bevor Gudekar weiterreden konnte, hob sein Vater abwehrend die Hand und bedeutete dem Anconiter zu schweigen.

Erneut atmete der Geweihte ein und aus. “Es war also allem Anschein nach kein Tor in die Sphäre der Dämonen. Jedoch…” Nun schloss er wieder die Augen und verharrte. Es dauerte … bis er dann wieder die Augen öffnete und in Friedewalds fragendes Gesicht blickte. “Was?”

“Was?” fragte auch Friedewald, der nicht verstand, warum Rionn seinen Bericht an dieser Stelle unterbrach.

Rionn blickte dem alten Herrn immer noch in die Augen. Tiefenentspannt brauchte es wieder eine Weile, bis er weitersprach: “Aber in der Nähe, in der Umgebung.” Wieder atmete er ein und aus. Weiterhin den Blick zu Friedewald gewandt fuhr er fort: “Es gab das Wirken… leichtes Wirken… aus…” Erneut schloss Rionn seine Augen und es dauerte schon wieder unerträglich lang.

“Aus…?” fragte Friedewald schließlich ungeduldig nach. Auch Gudekar schaute Rionn erwartungsvoll an.

"Also es gibt schon leichte Anzeichen dafür, dass hier in der Umgebung des Gutshofes mit Hilfe von Dämonen gewirkt wurde oder hier jemand war, der unterstützt  wurde, …”, versuchte Rionn zu erklären, “... zumindest mit leichter Unterstützung, vielleicht ein Paktierer, der hier durchgekommen ist, sich kurz aufgehalten hat…”

“Das kann ja alles bedeuten!” warf Gudekar ein.

“Tja”, fragte Friedewald nach, “aber dies war nicht direkt hier im Inneren des Hauses, zumindest nicht im Kaminzimmer?”

Rionn nickte nur bestätigend auf Friedewalds Frage.

„Gut“, setzte Friedewald an, „dann sind wir uns erst einmal einig, dass uns hier im Haus nicht mehr und nicht weniger Gefahr droht, …“

„Eines verstehe ich dann aber noch nicht“, fiel ihm Gudekar ins Wort. „Wenn es im Kaminzimmer keine Spuren gab, wie konnte dann Pruch dann Merle von dort holen?“

Friedewald blickte erbost zu Gudekar, dass dieser ihn erneut unterbrochen hatte. Doch da Gudekars Frage durchaus berechtigt war, sagte er nichts. Dieses Mal.

“Vielleicht war es dann gar nicht der Bäckergeselle”, plapperte Eoinbaiste hinein. Der Novize hatte sich inzwischen davon erholt, dass Eoban ihn so heftig gemaßregelt hatte. Er hatte seine Unbefangenheit wiedergewonnen und beteiligte sich an den Spekulationen der Herrschaften. “Vielleicht hatte das Verschwinden der drei dann also eine andere Ursache…”

“Haltlose Mutmaßungen!” schimpfte Gudekar. “Wer sonst sollte ein Interesse daran haben, Merle zu entführen?”

“Nicht so schnell, Gudekar”, pflichtete der alternde Tsageweihte dem jungen Novizen bei. “Vielleicht hat Eoinbaiste recht. Es war Lianas letzter Hinweis, bevor ich die Auraprüfung begann: möglicherweise hat Doratrava das Geschehen ausgelöst.”

"Verstehe… wer holt den Praiosgeweihten? Wir sollten seine Gnaden in Trackental schnellstmöglich kontaktieren. Und Onkel Firumar."

“Eoban!” Gudekar schaute den Albenholzer mit erschrockenen Augen an. “Was soll das bringen? Bis Trackental sind es eineinhalb Tagesläufe, vielleicht einer, wenn ein schneller Reiter sich eilt. Es geht um das Jetzt und Hier. Und außerdem, sollte tatsächlich nicht Pruch hinter der Entführung stehen, dann gibt es Hoffnung, dann ist Merle nicht verloren. Wozu brauchen wir dann die Praioten im Dorf? Wir wissen überhaupt nichts. Ich wäre dankbar, wenn Rionn Recht hat. Dann irren wir uns vielleicht und Pruch ist gar nicht an Gwenns Hochzeit interessiert.”

“In dem Fall steht immer noch eine Entführung mit magischen Mitteln im Raum und ein magischer  Angriff auf einen Krieger. Vermutlich sogar das Verwenden von verbotener Magie und diese Doratrava sah mir nicht danach aus, als würde sie einer Gilde angehören. Ich denke schon, dass das die Praioten interessieren dürfte. Auch, wenn wir das nicht sofort regeln müssen, da… Moment, wenn die Entführung nichts mit dem Pruch zu tun hat, besteht dann überhaupt noch eine akute Gefahr?”

Liana drehte ihren Kopf zur Seite und blickte ihn unverwandt an. Ungewohnt scharf waren die Worte der Herrin von Rodaschquell. “Auch ich bin nicht Teil einer Gilde der menschlichen Magier. Ist mein Wunsch, den daimonischen Kräften Einhalt zu gebieten, deswegen weniger legitim?”

Etwas versöhnlicher fügte sie hinzu: “Und ob und in welcher Form die Entführung dem Pruch nutzt oder nicht, wissen wir noch nicht.”

“Ihr seid aber auch noch hier und ward nicht in einem Raum, aus dem drei Personen spurlos verschwunden sind und eine vierte magisch angegriffen wurde. Deshalb vermute ich Doratrava als Schuldige und nicht Euch.”

“Ausgelöst”, wandte der Tsageweihte ein. “Ich sagte `ausgelöst´. Ich habe nicht gesagt, Doratrava habe irgendeinen unheilvollen Zauber gewirkt.”

“Das habe ich ebensowenig. Ich sprach von Verwendung. Ob diese absichtlich, durch aktives Zaubern, geschah oder unabsichtlich, weil sie etwas ausgelöst hat, was sich dann im Raum befunden haben muss oder von ihr mitgebracht wurde, müssen die Praioten entscheiden.”

Der Albenholzer wartete einen Moment, bis er zu Gudekar sprach: “Ganz meine Meinung, Gudekar, es geht um das Hier und Jetzt. Nicht das Herz der Nordmarken, nicht die Ereignisse in Schweinsfold oder Elenvina. Es geht um das Hier und Jetzt. Und gerade haben wir gehört, etwas oder jemand mit Bezug zu Wesen der anderen Sphäre war hier. Und drei Personen wurden entführt. Einer davon ein Priester. Eine Person wurde angegriffen. Eine andere ist nicht mehr ansprechbar. … Ich verstehe Eure Abneigung gegen die Kirche des Herrn Praios. Aber hier ist ein Verbrechen geschehen. Mehrere. Und es muss aufgeklärt werden. … Das letzte Mal, als ich eine Person traf, die Geweihte entführte, wurde diese enthauptet. Von der Gräfin persönlich. Und es ist nicht das erste Mal, dass Entscheidungen Doratravas zu Toten geführt haben. Tote Geweihte, um genau zu sein. Ob Dummheit oder Plan, zu viel ist zu viel. Wenn wir morgen früh losreiten, sind wir in 3 Tagen mit seiner Hochwürden Karolan vor Ort.”

“Tote Geweihte?” fragte Friedewald erschrocken. “Das sind schwere Anschuldigungen. Seid Ihr sicher, Herr von Albenholz, dass die Gauklerin dafür verantwortlich zu zeichnen ist?”

“Ich habe gesagt, dass ihre Entscheidungen Folgen hatten. Die Kirche soll klären, ob es ihre Verantwortung war.”

“Werter Freund”, mischte sich Gudekar ein, “es scheint mir, dass Ihr Informationen über ein Mitglied unserer Gemeinschaft habt, die zumindest mir unbekannt sind. Erklärt mir dies genauer, ich möchte wissen, wem ich mein Leben anvertraut habe. Welche Entscheidungen Doratravas sollen unter Umständen eventuell in Euren Hirngespinnsten zum Tod welcher Geweihten geführt haben?”

Erstaunt blickte Eoban Gudekar an. Dann sprach er mit ruhiger Stimme: “Das werde ich erklären. Morgen. Bei einer Befragung durch Vater Reginbald. Oder bei einer Befragung durch seine Hochwürden Karolan in drei Tagen.”

“Ich denke, die Kirchen werden rein gar nichts klären können, solange die Entführten nicht gefunden worden sind. Unser Hauptaugenmerk sollte daher dem Versuch gelten, eine Spur zu finden.”

“Wohl gesprochen, Euer Hochgeboren!” stimmte Friedewald zu.

Die Elfe schloss ihre Augen. Sie wirkte betreten, ja, fast ein wenig müde.

Als sie sie wieder öffnete, schien sie gleichermaßen gefasst wie auch bestimmt.

“Wir stochern im Nebel. Vielleicht vermag ich es, ihn etwas zu lichten. Vielleicht …”

“Vielleicht was?” hakte der Edle nach. “Was wolltet Ihr vorschlagen?”

“Mein Vielleicht bezog sich darauf, dass ich nichts garantieren, nichts versprechen kann.”

Ihre sanfte Stimme klang beherrscht, ja, geradezu zielstrebig.

“So, wie ich es im Augenblick wahrnehme, haben wir nur wenig Anhaltspunkte. Nur wenige Möglichkeiten. Ich kenne einen Weg, der Hilfe zu geben vermag. Doch ist er selten eindeutig und klar. Aber er vermag mir Eindrücke und Ahnungen zukommen lassen.”

Gudekar hob eine Augenbraue. Während seiner Ausbildung in Donnerbach hatte er von legendären Elfenliedern gehört, die teilweise wie Zauberformeln der Akademiemagier wirken konnten. Eines dieser Lieder sollte wohl eine ähnliche Wirkung haben, wie das, was die Baronin hier gerade beschrieb. Wollte die Elfe hier ein Lied anstimmen? Es würde Gudekar erfreuen, dieses zu vernehmen. “Wollt Ihr diesen Weg beschreiten, Euer Hochgeboren? Wie kann ich Euch dabei unterstützen?” fragte der Anconiter.

Sie schaute freundlich in seine Richtung, in gewisser Weise hoffnungsvoll. Dann sprach sie in der Stimme ihres Volkes:

“Bist du mit den Melodien vertraut? Wenn ja, so mag es mir, nein, so mag es uns helfen, wenn du mich begleitest.”

In leicht gebrochenem Isdira antwortete der Magier. “Wenig weiß ich über die Lieder deines Volkes. Doch vernommen habe ich davon. Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, dann bin ich dazu bereit.”

Sie nickte, und eine Woge von Dankbarkeit lag in ihrem Blick. Sie antwortete ihm auf Garethi, damit auch die anderen es verstanden. “Dann muss ich mich zurückziehen und einen Ort der Ruhe finden. Nur, wer die alten Lieder kennt, vermag es, der Stimme des Windes zu lauschen und eins mit ihr zu werden. Aber Eure Verbundenheit und Euer Angebot allein geben mir Zuversicht und Stärke.” In den Blick mischte sich ein Lächeln, das umso wärmer wirkte, wenn man bedachte, dass eine Weile auch Misstrauen in dieser Runde herrschte - etwas, das hier und da womöglich noch immer der Fall sein mochte.

“Wenn du magst”, entgegnete Gudekar der Elfe noch immer im Isdira, “könnte ich dich begleiten und dir einen geeigneten Ort suchen helfen.”

Rionn freute sich, den Worten Gudekars im Isdira zu lauschen. Sicherlich war es nicht so schön, als wenn die Elfin selbst gesprochen hätte. Mit ihren beiden melodischen, singenden Stimmen klang das Isdira einfach um Äonen schöner und harmonischer. Rionn wusste nicht, warum er ausgerechnet die Elfensprache so gut beherrschte. Er konnte sich nicht erinnern.

Liana nickte erneut. “Ich würde mich sehr über deine Gesellschaft und Hilfe bei der Suche freuen. Und es wäre gut, jemanden in der Nähe zu wissen, der auf mich Acht gibt, wenn ich mich konzentriere, und Störungen fernhält."

Gudekar lächelte zufrieden und wechselte zurück ins Garethi. “Gut, dann werde ich Euch begleiten, Euer Hochgeboren. Am besten brechen wir gleich auf, damit wir zurück sind, bevor es dunkel wird.”

“Habt Dank, Gudekar. Lasst uns aufbrechen.” Sie drehte sich noch einmal um und schaute in die Runde.

Auch Gudekar machte sich auf, um Liana zu folgen. “Vater, wir sehen uns, wenn wir wissen, ob Ihre Hochgeboren Hinweise auf Merle und die anderen erspüren kann.”

Eoban sah den beiden hinterher. “Einen Augenblick, wo können wir Euch finden? Es klingt nicht so, als ob Ihr Euch ins Kaminzimmer begeben wollt … Und wäre es nicht sinnvoll, dass Euch jemand kampferprobtes begleitet?”

„Ihre Hochgeboren braucht absolute Ruhe für ihren… ihre Meditation“, erklärte der Anconiter. „Da würde ein zeternder Ochse nur stören. Wir suchen einen abgelegenen Ort.“

Eoban schaute etwas finster. “Hatten wir nicht eben noch von einer Bedrohung für uns alle gesprochen? Ich sorge mich um Eure Sicherheit.”

„Das ist sehr aufmerksam von Euch, werter Freund. Doch wir hatten auch festgestellt, dass es keine Anzeichen dafür gibt, dass Pruch hier in Lützeltal sein Unwesen treibt.“ Gudekar schnaufte verzweifelt aus.

Als Gudekar vom zeternden Ochsen sprach, warf Liana ihm nur einen kurzen, knappen Seitenblick zu, sagte jedoch nichts.

Es galt, gemeinsam zu agieren, und die letzte Bemerkung Eobans wertete sie in gewisser Weise als eine Hand, die er reichte.

Sie sah ihn freundlich an. “Ich danke Euch für Eure Sorge um uns. Für gewöhnlich begleitet mich mein Ritter. Doch er ist unterwegs mit den anderen. Wenn Ihr es wünscht, so mögt Ihr uns begleiten. Es ist jedoch in der Tat wichtig, dass ich in Abgeschiedenheit und Ruhe verbleibe.”

“Mir scheint, Eure Eingaben werden die Grundlage für unsere nächsten Schritte sein. Ich begleite Euch, zu Eurer Sicherheit. … Friedewald, wäre es für Euch möglich, den Umzug der Familien in dieses Haus in der Zeit voranzubringen? Mein Knappe, Wichard, wird Euch helfen können. Er weilt bei meiner Frau und den Kindern. Und könnten wir im Anschluss eine traviagefällige Andacht abhalten und eine gemeinsame Speise einnehmen?”

Gudekar schnappte nach Luft und verdrehte die Augen. Da die Einladung an Eoban aber direkt von Liana ausging, verkniff er sich jedwede weitere Bemerkung. Stattdessen drehte er sich um und verließ den Saal.

Friedewald nickte hingegen Eoban zu. “Ja, das werde ich veranlassen.”

“Habt Dank.”, antwortete Eoban und folgte Gudekar und der Baronin.

Der Blick, den Liana Eoban zuwarf, und ihr Lächeln, waren eine Woge von Dankbarkeit und freundlicher Zuneigung, ja Zufriedenheit. Sie mochte eine Brücke gebaut haben, ja. Aber er hatte den schwierigeren Part übernommen: nämlich, den ersten Schritt zu tun.

Sie blickte auch Gudekar noch einmal dankbar an und nickte ihm zu, dann verließ sie den Saal.

***

Währenddessen wandte sich Rondrard an Friedewald. “Wenn Ihr erlaubt, Wohlgeboren, würde ich gern Eure Schreibstube nutzen, solange wir auf das Ende dieser Meditation warten. Meine Schreibutensilien sind derzeit auf dem Wagen verstaut.”

„Sehr wohl, hoher Herr“, stimmte Friedewald zu. Ich werde nach Wiltrud läuten, dass Sie Euch den Weg zeigt.“ “Habt Dank”, antwortete der Ritter ungewöhnlich ernst und nachdenklich.

Friedewald zog die Klingelschnur und gab der kurz darauf erscheinenden Harka die Anweisung, den Ritter in seine Schreibstube im Obergeschoss zu führen, was diese pflichtbewusst erfüllte.

***

Nachdem sich der Saal weiter geleert hatte, schaute sich Friedewald um und zuckte schließlich mit den Schultern. Dann läutete er erneut nach Wiltrud und gab ihr Anweisungen, nach den Dorfbütteln schicken zu lassen, um die Familien der Gäste zu rufen, und anschließend ein Travia gefälliges Abendmahl für alle vorzubereiten. Wiltrud schimpfte, woher sie so plötzlich Speisen für so viele Gäste im Haus organisieren sollte, war doch lediglich ein Mahl mit wenigen ausgesuchten Gästen vorgesehen und kein Gelage mit den halben Nordmarken, doch Friedewald lachte nur und redete ihr gut zu, er sei gewiss, dass sie das schon hinbekäme.

Dann wandte sich Friedewald an die verbliebenen Gäste, Nivard von Tannenfels, Rionn und seinen Novizen, sowie Tsalinde von Kalterbaum. “Und nun?”

“Ich denke, alles, was wir tun können”, erwiderte Eoinbaiste unbefangen als erster, ohne überhaupt ein Gefühl dafür zu haben, die Älteren oder Höhergestellten Vorrang zu gewähren, “ist hier sitzen und warten.”

Der Tsageweihte schüttelte den Kopf. “Sicher kann es nicht verkehrt sein, wenn wir die Zeit nutzen und uns im Gebet an die Ewigjunge und an die Gütige Mutter zu wenden, uns in dieser Bedrängnis beizustehen.” Rionn ahnte bereits, dass er einst Teil des Dreischwestern-Ordens gewesen sein musste und so sein enger Bezug zu Travia und Peraine herrühren musste.

"Bevor wir uns an die Götter wenden, sollten wir noch sehen, was wir selbst tun können, ja müssen. Euer Wohlgeboren, habt Ihr bereits nach Eurer Enkeltochter geschickt? Sie sollte als allererstes in den Schoß dieses Ortes und der dort versammelten Gemeinschaft geholt werden." Nivard war verwundert, dass Gudekar sich selbst gar nicht um die Sicherheit seiner Tochter besorgt gezeigt hatte. Schwang darin eine Aussage? Und wenn ja, welche?

“Sicherlich, Nivard”, bestätigte Rionn, “du hast recht. Holen wir erst die Menschen zusammen und hierher, damit wir ihnen einen größtmöglichen Schutz gewähren können.” Dann wandte sich der Tsageweihte an den alten Herrn von Lützeltal. “Kannst du die Leute zusammenrufen, Friedwald?”

“Nun, Herr von Tannenfels”, zeigte sich Friedewald verwundert, “wie Ihr Euch erinnern solltet, sind Madalin und Liudbirg zusammen mit meiner Schwiegertochter Ciala nebenan unter dem Schutz der Lanze des hohen Herren von Storchenflug. Ich bin mir sicher, besser können sie kaum bewacht sein. Aber die anderen Familien, die noch unbedarft auf den Gehöften verweilen, dies sind die, um die ich mich tatsächlich sorge. Aber, wenn wir gemeinsam beten wollen, mag es dennoch keine schlechte Idee sein, sie zu uns zu rufen.”

Nivard verzog das Gesicht. Stimmt, so wie Friedewald es sagte, war es, jetzt kam es ihm wieder. Die Erinnerungen an die zurückliegenden Stunden waren teils noch immer getrübt. "Verzeiht, ich bin noch nicht wieder ganz auf der Höhe. Zusammenrufen sollten wir die Leute aber auf jeden Fall."

“Ja”, stimmte der Tsageweihte zu, “wir sollten sie hier zusammenbringen und gemeinsam mit ihnen die Gütige Mutter und die Ewigjunge um ihren Schutz bitten für die Menschen hier.”

„Ja“, stimmte der Edle zu. „Holen wir Ciala und die Kinder hier rüber und beten zu Travia, bis die anderen Gefährten und die Gastfamilien zurück sind. Ich gehe und rufe Ciala.“ Friedewald ging zur Tür und verschwand im Fang.

Rionn nickte bestätigend.

“So sei es!” willigte auch Nivard bei.

~ * ~

In Lares’ Gemächern

Auch in den Gemächern von Lares von Mersingen war aus dem unteren Stockwerk plötzlich ein schrilles Geräusch zu hören. Ein Geräusch wie eine auf dem Marmorboden zerschellende Vase oder von zerberstenden Glasscheiben.

Kurz darauf stürmte Lares’ Schwester Miranda aus dem Saal, in dem der Edle Friedewald zuvor die schlechten Nachrichten verkündet hatte. Sie wollte nach ihrem Bruder Lares sehen, der sich in ihren Gemächern von seinem Schock während der Jagd zu erholen versuchte. Auf dem Weg in sein Zimmer lief Miranda der Magd Wiltrud über den Weg, die die Waschkammer gegenüber trocknen wollte.

„Was war das denn?“ hörte Miranda die Magd rufen.

Miranda war in Panik. Sie hatte quasi die Flucht angetreten, quasi wollte sie die Retterin ihres Bruders sein. Doch fiel es ihr schwer, in dem Kleid zu laufen und ihr invalides Bein machte ihr dabei schwer zu schaffen. Wie oft wurde sie schon davor gewarnt, es zu sehr zu belasten? Sie war schon an der Magd vorbeigerauscht, die sie kaum wahrgenommen hatte, als sie überraschend angesprochen wurde. Die junge Dame fuhr herum und entgegnete die Frage Wiltruds mit einem verwirrten: „Was? Äh…irgendwas ist zu Bruch…es herrscht Gefahr. Schließ dich ein und warte!“

“Oh nein!” rief Wiltrud aus. “Zu Bruch gegangen? Dann muss ich gleich schauen, ob ich etwas aufräumen muss!” Die Magd legte die nassen Tücher und Kleider ab und lief zur Treppe nach unten.

Der Magd entgegen eilte jedoch Ardare von Kaldenberg, die wiederum besorgt (?) nach Lares von Mersingen und seinem Gefolge schauen wollte. Hastig erreichte sie dessen Gemächer im ersten Stock.

Ohne zu klopfen, platzte Arda - die Waffe noch immer gezogen - in das Zimmer. Dort saß Lares und wippte auf seinem Stuhl von vorne nach hinten. Miranda hatte ihre Hände auf seine Schultern gelegt und redete auf ihn ein. Sie berichtete in einem Wortschwall, was sie unten erlebt hatte. Immer wieder fiel das Wort „Bäckerpruch“. Doch Lares regte sich nicht, sondern wippte nur auf und ab.

Die Anspannung löste sich aus den Gliedern der Kaldenbergerin. Sie steckte das Jagdrapier weg, wirkte geradezu enttäuscht vom unveränderten Zustand des Mersingers.

Lares regte sich nicht - sah man von dem ständigen Wippen ab. Erst nach einer Weile merkte Miranda, dass Ardare den Raum betreten hatte. „Baroness, so tut doch was?! Seht Ihr, er…ist…er…“, stammelte die junge Frau. Dann, ganz plötzlich, schrie sie aus vollem Halse: „Ihr müsst doch was tun!“

Arda war drauf und dran, ebenso laut zu antworten, besann sich jedoch eines Besseren. Es war Zeit, Lares einer wirklich gründlichen Untersuchung zu unterziehen.

Harka war gerade die Treppe hochgekommen mit dem Arm voll der Kleider von Doratrava, die sie von Hof Wohlgedei geholt hatte. Sie hatte von der Aufregung im Herrenhaus nichts mitbekommen, doch nun hörte sie einen schrillen Schrei aus den Gemächern des Mersingers. Vor Schreck ließ sie die Kleider fallen und lief zu dem Zimmer. “Euer Wohlgeboren, was ist denn geschehen, fragte sie, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. “Benötigt jemand Hilfe?”

Die Baroness hob die Hand, ohne sich umzusehen. Stattdessen musterte sie den Ritter lange von oben bis unten.

Die tränenüberströmte Miranda stand neben ihrem Bruder und schüttelte mit zusammengepressten Augen den Kopf. Doch zu sprechen war sie nicht in der Lage.

Arda nickte verstehend und fasste den Mann an den Schultern. Vordergründig tat sie dies, um ihn sanft zu schütteln. In Wirklichkeit jedoch vollführte sie jene Gesten, die zu einem Zauber gehörten, welche ihrem Gegenüber Linderung verschaffen sollten. Doch anstatt aus seinem katatonischen Zustand zu erwachen, hörte der Mersinger nur auf, vor und zurück zu schwanken. Stattdessen troff nun ein Faden zähen, weißlichen Speichels aus seinem Mundwinkel. Wenigstens wich der gepeinigte, verzerrte Ausdruck von seinem Gesicht. “Baroness, was ist mit ihm? Was ist mit meinem Bruder?”, flehte Miranda herzerweichend.

"Im Moment ist er ein sabbernder Idiot", sprach Arda das Offensichtliche aus. Ihr Ton war jedoch mitfühlend.

"Aber ich glaube, verborgen hinter der Angst und dem Wahn, dem er anheimgefallen ist, verbirgt er sich noch - der wahre Lares. Wir müssen… dahinter kommen, hinter die Angst. Oder vielmehr er. Er muss die Angst überwinden. Ich glaube nach wie vor, dass es Magie war, die ihm so übel mitgespielt hat." Die Kaldenbergerin blickte Miranda aus klaren Augen an. "Wir können - nein, wir müssen ihm helfen!"

Der jungen Mersingen lief ein Wechselbad der Gefühle über das runde, hübsche Gesicht. Ein sabbernder Idiot? Ihr Bruder? Aber ja, die Kaldenbergerin hatte recht. Angst hatte Lares sonst auch keine! Irgendwas war grundlegend falsch - und dabei spielte Zauberei sicherlich eine wichtige Rolle. „Ich tue alles, um ihm zu helfen!“, bestätigte die Braunhaarige willfährig. „Was können wir tun?“

Ja, was? Das fragte sich die Baroness ebenfalls. Ihr fiel nur eine Möglichkeit ein. "Ihr kennt meine Einschätzung. Verbringt ihn in den nächsten Praiostempel. Wenn Ihr keine Kutsche habt, nehmt meine." „Ja, ja, das… ist vernünftig. Das würde er auch wollen“, bestätigte Miranda. „Lassen wir ihn heute Nacht noch hier schlafen, dann kann er sich ausruhen. Eure Kutsche, Baroness, würde ihm diese schwere Reise erleichtern.“

"Gut. Morgen früh gleich. Ich werde ihm meine Bedeckung mitgeben. Vermutlich werdet Ihr auch dorthin reisen? Meine Kutsche bräuchte ich jedoch bald wieder, ich reise von hier direkt weiter nach Punin." Arda war nun ganz geschäftsmäßig und versuchte, die Wendung der Ereignisse in ihre Reiseplanungen einzuarbeiten.

In eigener Person beim Tempel vorzusprechen kam ihr übrigens nicht in den Sinn.

~ * ~

Gebet zu Travia

Nachdem sich die Beratschlagung im großen Saal des Herrenhauses ergebnislos größtenteils aufgelöst hatte, rief der Edle von Lützeltal diejenigen seiner Familie in den Saal, die sich gerade im Gutshaus aufhielten. Dies waren seine Schwiegertochter Ciala und deren Tochter Madalin, seine Enkelin Liudbirg, die Tochter von Gudekar und Merle, die von Ciala auf dem Arm getragen wurde (obwohl Lulu mit ihren eineinhalb Jahren durchaus schon gut laufen konnte), sowie Cialas Sohn Lukardis, der Knappe beim Ritter Rondrard von Storchenflug war. Auch Rondrard selbst kehrte in den Saal zurück. Gemeinsam wollte man mit den verbliebenen Gästen Nivard von Tannenfels, Tsalinde von Kalterbaum sowie dem Tsageweihten Rionn und dem Tsa-Novizen Eoinbaiste die guten Göttinnen um Beistand und das Wohl aller im Tal bitten, während man auf die Rückkehr der restlichen Gemeinschaft und ihrer Familien wartete.

Auch die Baroness Ardare von Kaldenberg und das Gefolge um den Ritter Lares von Mersingen waren zum Gebet geladen worden und erschienen.

Miranda von Mersingen ließ es sich nicht nehmen, für das Seelenheil ihres Bruders zu beten, das von einem Paktierer des Widersachers der Herrin TRAvia bedroht und geschädigt wurde. Die junge Frau in ihrem zerknüllten Kleid mit dicken, roten Tränenspuren auf ihren blassen Wangen machte einen erbärmlichen Gesamteindruck.

Der Tsageweihte und der Novize hatten sich hingekniet. Rionn hatte das Prisma auf ein kleines, buntes Tüchlein vor sich gelegt. Er begann zu sprechen:

“Die Gütige Mutter und die Hüterin des Lebens und die lebenspendende Ewigjunge sind sich als göttliche Schwestern sehr nahe. Sie möchten das Leben schützen und bewahren. Wenn das Leben und die Gemeinschaft in Bedrängnis kommen, ist es angemessen und recht, die göttlichen Geschwister um ihren Beistand und Schutz zu bitten.”

Auch Nivard kniete sich nieder und schloss zunächst einige Momente lang die Augen, um innerlich zur Ruhe zu kommen. Dies und die beruhigende Stimme Rionns, der - mutmaßlich Tsas Segen geschuldet - wie kein anderer aus ihrer Gemeinschaft - ironischerweise wie ein beständiger Fels in der Brandung - stets so vortrefflich den Stürmen des Widersachers Travias trotzte - erreichten tatsächlich, dass sich Nivard bald voll und ganz auf das Gebet konzentrieren und den guten Göttinnen öffnen konnte. Er wollte Doratrava und Merle, Rahjel und die jüngst so grausam Gestorbenen, aber auch die Lieben zu Hause, um die er sich sehr sorgte, in seine Gebete einschließen.

Die junge Mersingen hatte dennoch Schwierigkeiten, mit den Gedanken und Worten bei dem Gebet zu bleiben. Wie sollte sie auch, stand das Schicksal ihres Bruders und damit ihrer ganzen Familie auf dem Spiel. Zwar lebte Ernbrecht, ihr Vater noch. Aber…

Ciala war schnell von Friedewald grob über die Ereignisse in Kenntnis gesetzt worden und daraufhin war ihr Gesicht erbleicht. Ernst blickte sie in die Runde, die Kinder bei sich, Lulu auf dem Arm. Deutlich konnte man sehen, wie sie die Familie schützen wollte. Das Gebet beruhigte Ciala. Kurz schloss sie die Augen. Es tat weh, Merle in Gefahr zu wissen. Wie eine frische Wunde pochte der Schmerz in ihrer Seele.

Die Baroness von Kaldenberg hatte sich beim Gebet in den rückwärtigen Bereich des Saals zurückgezogen, nachdem sie Miranda in den Saal begleitet hatte. Sie war, wie bereits bei der Firunsandacht, für devote Götterfrömmelei nicht zu gewinnen.

Die Tür zum Saal wurde aufgerissen, als Rionn gerade mit seinem Gebet geendet hatte, und ein junger, braunhaariger Mann in den einfachen Kleidern eines Bauern stürzte abgehetzt hinein. Als er die kleine Versammlung der hohen Herrschaften sah, wich er erschrocken zurück und verbeugte sich ehrerbietig.

Friedewald schaute ihn fragend an. „Jorgast Borkmund, wenn ich mich nicht irre“, fragte er streng. „Was stürmt er hier so hektisch hinein, ohne den Anstand zu wahren?“

„Bitte, verzeiht mir mein Benehmen, Euer Wohlgeboren. Es war niemand da, um mich anzukündigen. Ist Meister Gudekar hier? Es ist dringend.“ Seine Stimme zitterte. „Es geht um Isfried, meine Frau. Ihre Niederkunft. Perainhulda ist bei ihr. Sie schickt mich.“ Der Mann brach in Tränen aus. „Sie sagt, es steht nicht gut. Isfried wird die Nacht vermutlich nicht überstehen!“ Tränenüberströmt sank der Mann auf die Knie und vergrub das Gesicht in seinen Händen.

“Nein, Gudekar ist zur Zeit nicht im Haus.” Friedewald blickte erschrocken zu Rionn.

“Lukardis, geh und hol Hesindiard. Er muss seine Trauer unterbrechen und hier helfen.” “Ja, Herr!”, der Knappe nickte und rannte los. Rondrard wandte sich an die Umstehenden: “Nach dem Tode Yendans ist Hesindiard der beste Heilkundige meiner Lanze. Mehr kann ich nicht tun.”

Auch die Baroness von Kaldenberg konnte die panisch geschrienen Worte des jungen Bauern hören.

Seufzend trat sie vor und berührte den Bauern an der Schulter. "Ich bin zwar nicht der Heilzauberei mächtig." log sie, - wenn auch nur halb, denn sie hatte sich gerade an dem Mersinger leer gezaubert und hatte keine Lust, für ein Bauernweib die Verbotenen Pforten zu öffnen. "Doch ich verstehe mich auf Anatomie und Heilkunde. Na los, führe mich zu Deinem Weib. Bis Gudekar aufgefunden ist, will ich ihr gerne helfen." Das verdrießliche Gesicht, das sie dabei zog, strafte auch diese Worte Lügen.

“Ich glaube, … äh… ich kenne mich mit Geburten aus”, stammelte Rionn, der sich noch aus der Meditation des Gebetes zurückkämpfen musste in die Wirklichkeit, die jäh durch den Bauern unterbrochen wurde. Tatsächlich konnte er sich nicht konkret erinnern, ob er in seinem früheren Leben bei Geburten geholfen hatte. Doch waren da verschiedene Gedächtnissplitter, die zumindest darauf hinwiesen. Waren es seine eigenen Kinder? War es seine eigene Frau? Aber da waren verschiedene Frauen? Er hatte doch nicht mehrere Gemahlinnen gehabt, oder? Oder waren es Frauen in dem Dorf oder in der Stadt, wo er einmal gelebt haben könnte? In Tobrien? In Ysilia? Oder wo war das? Dass sein Gedächtnis ausgelöscht war, quälte ihn sehr. Doch jetzt musste er sich konkret um die Not der Menschen hier kümmern. Die von ihm hier gewirkte `Aura des Regenbogens´ würde nun die Menschen hier eine Weile unter den Schutz der Ewigjungen und ihrer Geschwister stellen. So konnte er nun guten Gewissens die Kaldenbergerin begleiten und der werdenden Mutter helfen. “Ich bin auch in Heilkunde bewandert", fügte er hinzu. “Und zur Not kann ich auch noch beten”, ergänzte der Tsageweihte mit einem Blick auf Ardare, von deren distanzierter und abwertender Haltung gegenüber dem vorangegangenen  Gebet er durchaus gewahr geworden war. Auch spürte er irgendwie, dass hinter der Fassade der Kaldenbergerin mehr verborgen war. Warum auch immer, er hatte ein Gespür dafür. Rionn erinnerte sich nicht, warum. Er erhob sich etwas mühsam aus seiner knienden Gebetshaltung - mittlerweile merkte er schon sein Alter - und fasste den Novizen an seiner Schulter. “Komm, Eoinbaiste, wir gehen mit.”

Der junge Rechklamm nickte einwilligend, sprang behende von den Knien auf und folgte dem Geweihten und der Baroness von Kaldenberg.

“Oh, habt Dank, Euer Gnaden, edle Dame, edler Herr!” Jorgast verbeugte sich. “Beten wir zu Tsa, dass sie Isfried beisteht und sie und das Kind errettet!” Dann stand er auf, wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen und wollte die Herrschaften durch die Tür aus dem Haus führen.

„Jorgast, bring bitte deine zwei Kinder zu uns. Hier sind sie abgelenkt und ihr habt mehr Ruhe.“ Ciala war aufgestanden und zu dem Bauern gegangen. „Mögen die Götter mit Isfried sein. Die Baroness wird euch so gut es geht helfen.“ Sie konnte es versuchen, dachte Ciala. Leider waren sich bei einer Geburt Tsa und Boron oft so nah wie nie.

Jorgast drehte sich noch einmal zu Ciala um. “Sehr wohl hohe Dame, habt vielen Dank. Ich werde die Kinder hierher bringen lassen.” Erneut verbeugte er sich zum Dank und verließ nun das Haus, um den Geweihten mit seinem Novizen sowie die beiden anderen Heilkundigen, Ardare von Kaldenberg und Hesindiard Zerf, zu seinem Hof zu führen.

Schon wieder ein Leben in Gefahr? Eine Katastrophe jagte hier tatsächlich die nächste - wenigstens klang diese hier zur Ausnahme mal nicht nach dem Wirken des vermaledeiten Pruchs. Sicher konnten sie natürlich nicht sein, dass es sich dabei nicht doch um ein Manöver ihres Feindes handelte. Das war allerdings kein Grund, der armen Frau nicht sofort zur Hilfe zu eilen.

Als Nivard sah, dass sich sowohl Rionn als auch die Kaldenbergerin samt dem Heilkundigen aus der Lanze des Storchenflugers sogleich auf den Weg machten, beschloss er jedoch, auch im Eindruck seiner eigenen still-brütenden Überlegungen, zunächst zu verweilen und hier zum Schutz und der Sicherheit beizutragen.

"Der Segen der guten Göttinnen sei mit Euch!" rief er den dreien hinterher, ehe er sich fürs erste wieder zum Gebet wandte. Er würde Isfried in dieses einschließen.

Miranda dagegen war erneut in Tränen ausgebrochen. Diese Situation überforderte sie - vollends. Ihr Bruder, Menschen in Gefahr, der Sturm?! Das sollte eine Hochzeitsfeier werden. "Eine Hochzeit! Bei allen guten Göttern, das ist doch keine Hochzeit!”, kreischte sie, während die Tränen von ihren Wangen spritzten.

~ * ~

Windgeflüster

Liana Morgenrot von Rodaschquell und Gudekar von Weissenquell hatten den Ratssaal und das Herrenhaus verlassen, gefolgt von Eoban von Albenholz. Gudekar wollte die Elfe zu einem Ort führen, an dem sie ungestört das Lied des Windgeflüsters singen konnte. Der Magier hoffte, dass Eoban sie dabei nicht stören würde, denn der Anconiter erhoffte sich von Lianas Lied eine Erkenntnis darüber, was mit seiner Frau Merle geschehen war oder wo sie sich vielleicht nun aufhielt. Eoban hingegen fühlte sich verpflichtet, der Baronin und dem Magier mit seinem Schwert Schutz zu bieten und war schließlich von ihr zum Mitkommen eingeladen worden. Dem Anconiter war dies gar nicht recht.

Der Regen hatte längst aufgehört und auch der Wind war zu einem seichten, kühlen Herbstlüftchen zurückgegangen. Die Sonne, die sich inzwischen wieder einen Weg durch die Wolken gebahnt hatte, stand jedoch an diesem Traviatag bereits tief, denn der Nachmittag war inzwischen fortgeschritten. Aber noch war genug Zeit, das Ritual durchzuführen und bei Tageslicht zurückzukehren.

Gudekar führte die kleine Gemeinschaft zunächst die Straße nordwärts in Richtung Hart, bog aber bald hinter dem letzten Gehöft, wo die lichten Ausläufer des Haderholzes begannen, nach rechts ab und folgte einem schmalen Waldpfad.

Das sich durch Bäume und Büsche einen Weg bahnende Licht der tief stehenden Sonne mochte Liana besonders gern. Eigentlich wollte sie mehr auf den Weg achten, überließ dies jedoch zunehmend Gudekar und Eoban, während sie selbst bereits begann, sich mehr und mehr von dem Spiel der Blätter in der ein oder anderen kleinen, leichten Brise einnehmen zu lassen und das goldorangene Licht zu genießen. Was vor ihr lag, erforderte schließlich einen klaren, reinen Geist. Einen Geist, frei von all dem Hader, all dem Misstrauen, all der Sorge - kurzum: all jenem, das in den vergangenen Stunden an den Gästen und Gastgebern in Lützeltal gezehrt hatte.

“Es ist ein guter Abend”, sagte sie irgendwann beiläufig. “Ein guter Abend, um zu hören, wie der Wind spricht.”

Eoban ging ruhigen, behutsamen Schrittes hinter den beiden anderen, mit etwas Abstand, über den Weg. Die Blicke immer wieder nach links und rechts schweifend, auf Geräusche im Wald achtend. Er war still und kommentierte die Bemerkung der Elfe nicht.

***

Nach wenigen Minuten erreichten sie eine Anhöhe, auf der die Bäume lichter standen als im umgebenden Wald. Die Hügelkuppel war mit Gras überwachsen. An einigen Stellen blühten kleine Büsche von Travia-Astern. Am Rande der Anhöhe entsprang ein kleiner Fließ dem Erdboden, nicht viel mehr als ein Rinnsal, der später in den Lützelbach fließen würde.

“Ist dies eine geeignete Stelle für dich?” fragte Gudekar die Baronin in seinem gebrochenen Isdira.

Liana hielt inne und blickte sich um. Betrachtete die Travia-Astern, die frischen Büsche und die dahinter liegenden Bäume. Anmutig kniete sie sich nieder und tauchte einen Augenblick ihre Hand in das Wasser. Schloss ihre Augen. Es war wichtig, diesen Ort mit allen Sinnen zu erfahren. Sich auf ihn einzulassen. Ja, Teil von ihm zu werden.

Sie hörte vereinzelte Tiere. Hier und da das Knacken in Ästen. Leichtes Rauschen in den Blättern.

Und vor allen Dingen schien das wichtigste Merkmal erfüllt: Die kleine Gruppe war … allein.

Sie erhob sich wieder. Öffnete ihre Augen, und sah abwechselnd Eoban und Gudekar an.

“Dieser Ort ist sehr schön. Und er ist ruhig.” Sie lächelte angetan. “Ja, ich bin sicher.” Sie sprach auf Garethi.

Ihr Blick blieb freundlich, doch zugleich wurde er etwas ernster, ja, fast ein wenig feierlicher.

“Ich danke Euch, Herr von Weissenquell, und ich danke Euch, Herr von Albenholz, dass Ihr mich begleitet und mir Euren Schutz angedeihen lassen wollt.”

Dass sie so wehrlos, wie sie in den Augen mancher Menschen vielleicht schien, nicht war, behielt sie für sich. Und die beiden mochten dabei helfen, sie abzuschirmen, falls sich doch jemand hierher verirren sollte. Sie freute sich ehrlich und offen darüber, dass die beiden bereit waren, ihr zu helfen.

“Es hilft mir ungemein, wenn ihr beide darauf achtet, dass sich nichts hierher begibt, das die Ruhe und den Frieden dieses Ortes stört. Nichts und niemand. Darf ich darauf hoffen, dass Ihr diese Bitte erfüllt?”

Gudekar nickte verständnisvoll. “Natürlich”, antwortete er in Garethi, “werden wir darauf achten, dass Eure Ruhe, der Frieden nicht gestört wird, während Ihr Euch auf das konzentriert, was Ihr zu tun gedenkt, Euer Hochgeboren!” Der Blick des Magiers wanderte zu Eoban und wurde dabei eindringlich. Um die Wichtigkeit und Unumstößlichkeit dieser Aufforderung zu unterstreichen, streckte Gudekar den Ellenbogen seines rechten Arms durch, mit dem er seinen auf den Boden gestützten Magierstab hielt, so dass das obere Ende des Stabes leicht in Richtung Eoban wies.

Eoban, mit etwas Abstand zu den anderen, sah den Magier nicht an. Er ließ offen, was er von dieser Geste Gudekars hielt. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Schweigend nickte er in Richtung der Elfe. Dann drehte er sich um und verschwand fast geräuschlos im Holz.

Gudekar folgte mit seinen Augen Eoban. Er wollte sicher sein, dass sich der Ritter tatsächlich nur zur Bewachung von Liana in die Bäume schlug und nicht die Gelegenheit nutzte, sich von dannen zu machen.

Da Eoban bereits im Unterholz entschwunden war, blickte die Herrin von Rodaschquell noch einmal den Anconiter an. Sie schaute kurz in die Richtung, in die Eoban sich aufgemacht hatte, ehe ihre Augen langsam wieder Gudekars Blick suchten.

Sie sagte nichts mit Worten, doch ihr Ausdruck schien in gewisser Weise klar: Auch er ist hier, um zu helfen. Dies quittierte der Anconiter mit einem Augenverdrehen.

Ein letztes Mal nickte sie, wandte sich dann um und ging einige Schritt in Richtung Waldrand.

An einer Stelle, die ihr bequem schien, ließ sie sich nieder und blickte in den Himmel. Verfolgte den Zug der Wolken, die im Blau dahin trieben, geführt vom Wind.

Sie spürte ihn in ihren Kleidern. Sie hörte ihn in den Bäumen. Sie … fühlte seine Präsenz. Wie einen alten Freund, über dessen Besuch man sich freut.

Und langsam und leise erinnerte sie sich an die Melodie, die ihn gewogen machte. Die ihn rief. Die ihn flüstern ließ.

Ein wortloser Gesang war es. Zart und klar. Eine Melodie, die dahin trieb wie die Brise und sich verlor in den Gräsern, über die der Wind strich, und in den Wipfeln der Bäume, die er streifte …

Und dann schien es, als ob der Wind begann, ihr zu antworten. Die Luft begann sich zu bewegen. Doch nicht wie am Mittag, als sich der Sturm erhob, nein, es war eher, als würde sie anfangen zu tanzen. Die Blätter an den Bäumen wedelten seicht hin und her, während das eine oder andere den Zweig, an dem es hing, verließ. Doch nicht, um zu Boden zu fallen, sondern um sich fröhlich durch die Lüfte zu bewegen. Und der Wind brachte Töne mit sich, die sich in die Melodie, die von Liana ausging, einfügten, eins mit ihr wurden. Es waren Töne von Wasser, fließendes Wasser. Wasser, das einen Felsen hinunter fällt, sich in einen See ergießt, dann weiter fließt. Wasser, das plätschert, durch Kinderfüße in alle Richtungen spritzt. Das fröhliche Lachen von Kindern. Kinder, die in dem Wasser eintauchen, sich fallen lassen. Menschen, die in dem Wasser baden, Frauen, die in das Wasser eintauchen, drei Frauen. Das Mondlicht strahlt auf sie. Lässt das Wasser in silbrigem Glanz erstrahlen, in weißem Glanz. Weiß wie das Reh, das die Badenden beobachtet. So weiß, wie das Haar, das der einen Frau einem Wasserfall gleich vom Haupte fällt, gleich dem Wasserfall, der das Wasser aus einem weißen Felsen in den See fallen lässt, wie die Haarsträhnen der Frau. Das weiße Haar der zierlichen, spitzohrigen Frau vermengt sich mit dem hüftlangen dunkelblonden Haar der anderen Frau, so wie sich das Wasser des Wasserfalls mit dem Wasser des Sees vermengt. Es wird Eins. Die Augen des weißen Rehs leuchten rot in Madas Schein. Rot sind auch die Lippen der beiden Frauen, die sich küssen, rot wie das Blut, das aus ihren feinen Wunden tritt, einem Rinnsal gleich, sich mit dem Wasser vermengt. Rotes Blut fließt in das Wasser. Es fließt aus der Wunde, die der Dolch zugefügt hat. Blut, das aus dem Rücken des Körpers fließt. Das Blut, das aus dem Bein fließt, aus dem aufgeschlitzen Oberschenkel pulsierend quillt, die weißen Hauer rot färbt. Das rote Blut vermengt sich mit Wasser, wird verdünnt, löst sich auf. Wasser, das vom Himmel fällt. Das rote Blut, das aus dem zerschlagenen Fass quillt, vermengt sich mit Wasser, wird verdünnt, löst sich auf. Wasser, das vom Himmel fällt. Wasser, das aus dem Felsen quillt. Wasser, das den Bach entlang fließt. Wasser, das in den Boden sickert. Der Wind ließ Lianas Haar sacht wehen.

Blut. Angriffe. Qual? Nachdem die Bilder so angenehm waren am Anfang und Erinnerungen an den See wach riefen, wurden sie nun bedrückender. Doch sie war darauf vorbereitet. Bei dem, wonach sie suchte, war sie darauf gefasst, auch solches zu sehen, was sie nicht wirklich wünschte. Der Wind kannte kein Gut oder Böse. Es war ihm einerlei.

Viel stärker empfand Liana die Verbindung. Empfand Freude darüber, so dass sie sich stärker fokussieren musste. Es war so leicht, den Wind zu rufen. Und ebenso leicht, sich in ihn zu verlieren und die eigenen Gedanken schweifen zu lassen.

Gudekar hatte Eoban aus den Augen verloren. Doch er wollte die Konzentration der Baronin nicht stören, so hatte auch er sich etwas weiter abseits auf den Boden der Lichtung gesetzt, so dass er Liana und die Umgebung hinter ihr im Blick behalten konnte. Er hatte sich erhofft, in ihrer Miene etwas lesen zu können. Waren es freudige Bilder, die sie empfing? Waren es Schreckensbilder? Gudekar hoffte nicht. Doch Liana schien in tiefster Trance in ihrem Lied aufzugehen und der Magier konnte keinerlei Gefühlsregungen bei ihr feststellen.

Eoban beobachtete mit Abstand die Szene auf der Lichtung und suchte mit seinen Sinnen nach Ungewöhnlichem im Wald.

Der Wind tanzte um Liana herum. Er hob Blätter vom Boden, ließ sie tanzen, muntere Kreise ziehen, bevor sie sich erschöpft wieder auf das Moos legten. So wie das Tuch, ein rotes Tuch. Rot wie das Blut. Rot wie die Lippen. Verziert mit goldenen Ornamenten. Golden wie das Praiosmal, das durch die Bäume scheint und das Tuch besonders faszinierend glitzern lässt. Das rote Tuch mit den goldenen Ornamenten vollführt einen sachten Tanz durch die Luft, auffordernd, mitzutanzen, sich anzuschmiegen, sich ebenfalls zu drehen, den eigenen Körper rahjagefällig in Wellen zu bewegen, so wie das Tuch sich bewegt. Das rote Tuch mit den goldenen Ornamenten gleitet langsam nach unten, legt sich sanft auf einen Busch. Deckt ihn zu, wie eine Mutter ihr schlafendes Kind zudeckt. Schlaf. Ein schlafender Leib. Ein filigraner, schlafender Leib. Das Gesicht verdeckt von silbernem Haar. Die Ohren schauen durch das silberne Haar. Spitze Ohren. Das silberne Haar legt sich über die Haut. Nackte Haut. Zerschundene Haut. Zerschnittene Haut. Von tausenden Splittern zerschnittene, weiße Haut. Das linke Bein. Rot. Rot vom Blut. Die Haut aufgerissen, vom Oberschenkel nach unten bis zu den Füßen. Viele Risse, fingerbreit der Abstand zwischen ihnen, Blut fließt. Die nackte Frau schläft. Das Blut läuft hinab. Vermengt sich mit dem Wasser, das das Blut wegwäscht. Gadapp gadapp. Gadapp gadapp. Gadapp gadapp. Hufgetrappel vertreibt die Stille des Windes. Hasen, die auf dem Weg sitzen, hüpfen davon, als die Pferde sich ihnen nähern. Ein Pferd stürzt. Der Reiter fällt. Zwei Pferde reiten weiter. Zwei Pferde halten. Ein Schwert fährt nieder. Der Bolzen verlässt die Armbrust. Fliegt. Trifft sein Ziel. Das Schwein quiekt vor Schreck auf, grunzt noch einmal. Bricht dann zusammen. Fällt. Der alte Edle lädt seine Armbrust nach. Das Schwert durchstößt die Brust des gestürzten Reiters. Vögel schrecken auf, als der ersterbende Schrei des Mannes ertönt. Die Schreie der schlafenden Frau mit dem Silberhaar waren nur noch eine Erinnerung. Wie aus einem Traum. Nicht in dieser Welt geschrien. Und dennoch erinnerte sich das Wasser an ihren Schrei. Der Wind erinnerte sich. Der Schrei des Gestürzten war hier, wurde vom Wind an Lianas Ohr getragen. Vögel fliegen los, in den Wind. Ihre Flügel schlagen im Wind. Der Wind umwehte Lianas Gesicht und kühlte den Schweiß auf ihrer Stirn.

Vielseitig und diffus wirkten die Eindrücke auf Liana. Schnell. Ineinander fließend. So, wie der Wind wehte. Mal hierhin, mal dorthin. Dieses Lied zu singen war stets gleichsam faszinierend wie auch irritierend.

Der See, ja. Ein Angriff auf Doratrava - offenkundig. Dann ein weiterer Angriff. Ein Verrat? Doch wann? Davor? Danach? Ein Echo? Eine Warnung? Nein … der Wind warnte nicht. Er zeigte. Oder?

Unnahbar war er in seiner Flüchtigkeit. Und doch: Er war ein Sog, dem hinzugeben sich lohnte. Schon allein aus dem Gefühl der Verbundenheit heraus - ganz gleich, welches Spiel der Wind auch immer treiben mochte.

Und so zog die Stimme der Nachtigall durch die Luft, durch die Bäume. Sanft und leise, wenn der Wind von sich legenden Blättern sprach. Verführerisch. Einfühlsam.

Hoch, klar und rein, wenn er vom sirrenden Bolzen kündete, vom Schwert, das niedersauste.

Eoban suchte sich einen Platz und beobachtete aus der Hocke weiter seine Umgebung.

Gudekars Aufmerksamkeit lag nun voll auf Liana, die Umgebung um ihn herum war vergessen. Eoban war vergessen. Der Magier hätte gerne teilgehabt an dem Lied der Elfe, hätte gerne auch gesehen, was Liana gerade sah. Doch er wusste nicht, wie. Es gab keinen Weg. Oder gab es einen?

Es kostete Liana Kraft. Kraft, das Lied zu singen. Kraft, das Mandra fließen zu lassen. Und mehr als das: Kraft, die schwirrenden und wechselnden Eindrücke, die von Dunklem sprachen, zu ertragen.

Doch sie war - und blieb - stark.

Der Wind war voller Kraft. Er zeugte von Stärke. Kling - klong. Kling - klong. Stahl. Stahl auf Stahl. Die Töne klingen kraftvoll. Kraftvolle Schläge, wenn das Schwert auf das Schwert trifft. Ein junger Mann, der Rücken eines jungen Mannes. Der Rücken eines Knechts, vielleicht eines Stalljungen. Er spricht. Worte sind nicht zu verstehen. Er spricht mit einem Mann. Das Gesicht des Mannes ist nicht zu sehen. Sie reichen sich die Hand. Gadapp gadapp. Gadapp gadapp. Gadapp gadapp. Hufgetrappel. Zwei reiten weg. Ein Mann. Eine Frau. Zwei bleiben zurück. Ein Mann. Eine Frau. Kling - klong. Kling - klong. Sie kämpfen. Sie verteidigen sich. Das rote Tuch. Goldene Ornamente. Das rote Tuch liegt über dem Busch. Zwei Personen laufen durch den Wald. Ein Mann. Eine Frau. Rot ist das Gewand des Mannes. Das Gewand eines Rahjageweihten. Grau ist das Kleid. Das einfache Kleid einer Magd. Das Arbeitskleid einer einfachen Frau. Hüftlanges dunkelblondes Haar. Das Gewand und das Kleid sind zerschlissen. Wie von scharfen Klingen zerfetzt. Wie von scharfen Scherben zerfetzt. Sie gehen an dem Tuch vorbei, heben es auf. Der Mann nimmt es an sich. Sie gehen weiter. Sie reiten weiter. Sie eilen. Alle. Als würden sie jemanden verfolgen. Viele. Männer. Frauen. Ritter. Edelleute. Jagdhelfer. Geweihte. Ein vertrautes Gesicht. Ein Ritter ist Liana gut vertraut. Darian. Sie reiten den Weg entlang. Eilen. Sind voll Hoffnung. Sind voll Sorge. Ein Pferd. Ein Pferd ohne Reiter läuft ihnen entgegen. Gadapp gadapp. Gadapp gadapp. Gadapp gadapp. Das Hufgetrappel wird leiser, entfernt sich von Liana. Der Wind brachte Stille. Er wehte sanft. Streichelte Liana zärtlich über das Gesicht.

Näher, tiefer, eindringlicher und auch klarer wurden die Bilder. Und dennoch auch verwirrender. Sich zu konzentrieren war die größte Herausforderung. Der Wind spielte. Er versprach, er flüsterte, er verhieß. Er zeigte. Es war so leicht, sich ihm hinzugeben. Sich in ihm zu verlieren.

Ein schmaler Grad war es, das Lied zu singen. Je mehr sie sich auf den Wind einließ, desto mehr zeigte er ihr. Doch ließ sie sich zu sehr ein, würde sie sich in ihm verlieren. Unzählige Eindrücke, Bilder, Visionen. Sie würde nichts erfahren, weil sie alles erfuhr.

Sie musste sich fokussieren, um zu erfahren, um zu verstehen. Doch gleichsam musste sie offen bleiben für das, was er ihr zeigte. Würde sie sich zu sehr fokussieren, mochte es sein, dass sie nichts mehr sah. Würde sie sich einfach treiben lassen, galt dies jedoch ebenso.

Ein schwieriges Spiel. Und gleichsam eines, das so verlockend war.

Ein Bild war sehr stark.

Ihr Ritter, Darian. Teurer Darian! Seit vielen Jahren unermüdlich an ihrer Seite. Loyal. Tapfer.

Unweigerlich griff sie dieses Bild auf …

Gudekar und Eoban beobachteten - nein, vernahmen dieses Schauspiel.

Nur selten hörte man die Herrin von Rodaschquell singen. Denn ihre Lieder waren nicht vergleichbar mit dem, was Barden und Sängerinnen auf Festen sangen. Sie waren von einer Tiefe, in der Klang und Mandra eins wurden. Wer empfänglich dafür war, konnte sich dem kaum entziehen, noch sah er dies überhaupt als erstrebenswert an. Liana wusste, dass ihre Lieder Menschen gleichermaßen verzückten und dann irgendwann aus einem Traum erwachen ließen, wenn das Lied verklang. Doch hier, am Waldesrand, und in der Hoffnung, mehr zu erfahren, da sang sie. Und die zarte Stimme der Nachtigall war unvergleichlich schon allein aufgrund ihres Zweiklangs. Als würden zwei Elfinnen zugleich dasselbe Lied singen, einander ergänzen und es so zu noch mehr Schönheit führen.

Noch immer lauschte Gudekar gebannt Lianas Lied. Noch immer wirkte Lianas Stimme benebelnd auf seinen Geist. Noch immer wollte er teilhaben an den Eindrücken, die die Elfe durch ihren Gesang gewann. Wie in Trance fokussierte sich der Magier auf die Elfe, stimmte seinen Geist auf Lianas Gesang ein, brachte sein Innerstes in Einklang mit ihrem Lied, bis auch er etwas sah, etwas spürte. Keine Bilder oder Klänge, die der Wind mit sich trug, sondern Gefühle, die von der Elfe ausgingen. Gudekar, der Anconiter, drang in Lianas Gefühlsebene ein und sog diese in sich auf.

Der Ritter konzentrierte sich auf seine Umgebung. Er hoffte, der Anconiter würde das Gleiche tun.

Es war ein seltsames Gemisch an Eindrücken, das Gudekar auffing, als er sich auf den Zauber und damit auf das Iama Lianas einließ - das, was Menschen am ehesten als “Seele” bezeichnen würden.

Sorge war darin zu spüren. Gleichzeitig Neugier, aber auch Distanz. Eine Art Drängen, ein Suchen. Der Wunsch, mehr zu wissen, mehr zu erfahren, überdies jedoch auch Vorsicht. Vorsicht, sich nicht gehenzulassen.

Doch über allem spürte er Ergriffenheit. Die Freude über den Einklang, den sie erfuhr. Ein Gefühl, das sich nur schwer für einen Menschen fassen ließ. Am ehesten war es vergleichbar mit einem Gefühl, das er selbst verspürte, wenn ihm ein besonders schwieriger Zauber gelungen war. Nur, dass dieses Gefühl bei Liana nicht abebbte - und zugleich auch in gewisser Weise der Quell für ihre Vorsicht war. Denn nur zu leicht konnte man sich darin verlieren …

Der Anconiter war enttäuscht. Zwar hatte sein Zauber gewirkt, doch war er nun auch kaum schlauer als zuvor. Doch was hatte er erwartet? Die Schwingungen, die er spürte, waren Lianas Empfindungen. Mehr konnte der Zauber nicht liefern. Doch so wusste der Magier noch immer genauso wenig, was der Wind Liana erzählte, wie zuvor. Gudekar war enttäuscht.  

Gadapp gadapp. Gadapp Gadapp. Gadapp Gadapp. Darian reitet. Er reitet inmitten einer Gruppe. Eine junge Frau an seiner Seite. Eine Geweihte des Schmiedegottes. Kling-klong. Sie eilen, sie suchen, sie folgen. Sie finden. Tot. Drei Männer. Gadapp gadapp. Die Suche ist noch nicht beendet. Der junge Knecht, der Stallbursche. Er spricht mit dem Mann. Sie reichen sich die Hand. Der andere Mann lädt zur Umarmung. Sie umarmen sich. Ein Dolch fährt in den Rücken des jungen Knechts. Der Mann in dem roten Gewand. Die Frau in dem grauen Kleid. Die Kleider zerfetzt. Sie kommen an den See. Ein bleicher Körper liegt dort. Das Bein zerschunden. Silbernes Haar. Sie schläft. Sie wecken sie auf, versuchen es zumindest. Kling - klong. Kling - klong. Sie kämpfen. Ein Mann. Eine Frau. Sie verteidigen sich. Der Mann hat kein Schwert. Ein kleines Fass. Um die Schläge abzuwehren. Das Fass zerbirst. Rotes Blut läuft aus dem Fass, vermengt sich mit dem Wasser. Das Blut läuft aus seinem Körper, aus seinem Mund, vermengt sich mit dem Wasser. Sickert in die Erde. Das Schwert wird aus seinem Körper gezogen. Aus seinem toten Körper. Das Gesicht kommt Liana vertraut vor. Sie hat es bereits gesehen, hier in Lützeltal. Gestern. Es fröstelt Liana. Der Wind schneidet scharf. Scharf wie ein Schwert. Mitten in ihr Herz. Kälte. Ein kalter Wind. Wie Firuns Begleiter. Wie Borons Bote.

Deutlich war nun zu spüren - auf magische wie auch auf sichtbare Weise -, dass die Elfe irritiert war. Sorge und auch ein Hauch von Furcht zeichneten ihr schönes Antlitz. Doch sie hielt ihren Zauber aufrecht und ließ sich leiten vom Wind. Oder besser: Erlaubte ihren Gedanken, sich von ihm weiterführen zu lassen.

Auch Gudekar geriet nun aufgrund Lianas Sorge langsam in Unruhe. Was war es, das der Wind ihr zeigte?

Alles drehte sich um eine Figur in einem roten Gewand und goldenen Ornamenten. Der Diener der Rahja vielleicht? War er letztlich der, den alle suchten? War er es, der den Dolch in den Rücken des Knechts gestoßen hatte?

Sie wusste, dass die anderen unterwegs waren, um die Braut zu finden. Offenkundig waren sie in Gefahr. Oder mehr noch die Braut selbst.

Wer waren die Toten?

Wer die Gestalten am See, die kämpften?

Die Gauklerin wieder. Verletzt. Gefunden.

Liana merkte auf. Zuviel! Dachte sie bei sich. Sie musste Acht geben. Die Eindrücke drohten, sie mitzureißen. Ein Strudel, ein Wirrwarr.

Schwieriger und schwieriger wurde es, den Zauber zu halten, und er zeigte mehr und mehr. Doch wenn es ihr gelang, sich noch stärker zu fokussieren…

Wenn es ihr gelang, sich nicht mitreißen zu lassen und unzählige Eindrücke zu gewinnen, sondern sich auf das zu besinnen, was ihr helfen mochte, herauszufinden, wo der üble Knecht der Daimonen wirkte …

Gleichzeitig fürchtete sie sich vor diesem Gedanken. Denn das, was der Wind ihr dann zeigen mochte, waren womöglich die Eindrücke von schlimmstem Taubra.

Und der Wind besann sich auf Liana. Wie ein Strudel, wie eine Windhose wirbelten die Bilder und Töne, die er mit sich trug, um Liana herum. Doch dann fokussierte er sich. Die Bilder ordneten sich wieder. Der junge Knecht sinkt zu Boden, als der Dolch aus seinem Rücken gezogen wird. Der Mann, der ihn umarmt, der ihm den Dolch in den Rücken gerammt hatte, lässt ihn sacht zu Boden gleiten. Nun ist der Mann zu sehen. Er lächelt zufrieden. Es ist der junge Knecht, der den Dolch an der Kleidung seines toten Ichs abwischt. Gadapp gadapp. Gadapp gadapp. Gadapp gadapp. Es ist der junge Knecht, der sein Pferd antreibt, weiterzureiten. Es ist der junge Knecht, der Gwenn, die Braut, mit der Liana am Abend zuvor im Jagdschlösschen gefeiert hatte, antreibt, sie von dem Hinterhalt fort führt, weiter hinein in den Wald. Der Reiter, der gestürzt ist, wird von einem Angreifer erstochen. Dann wendet sich der Mörder, offensichtlich ein Krieger, dem Mann auf dem Pferd zu, zerrt am Zügel, so dass auch dieses Pferd strauchelt und der Mann aus dem Sattel gleitet. Auch ein Holzfass löst sich vom Sattel. Der ältere Mann greift sich das Fass und hält es zum Schutz vor sich, während sein Angreifer mit dem Schwert in seine Richtung einschlägt, bis das Fass zerbirst und sein Inhalt sich vergießt. Mit dem nächsten Schlag trifft das Schwert den Bauch des Mannes. Es ist der Knecht des Edlen, der die Nachtwanderung gestern begleitet hatte, der nun tödlich getroffen zu Boden geht. Ein zweiter Angreifer, ein bulliger, heruntergekommener Kerl, versucht derweil, die Kriegerin aus dem Sattel zu holen. Sein Speer trifft sie in die Seite, dicht neben den goldenen Fisch auf ihrem Wappenrock. Doch sie strauchelt nicht. Sie nimmt ihre Kraft zusammen und schlägt ihr Schwert auf den Strolch, trifft ihn. Er sinkt zu Boden. Ein zweiter Hieb fällt den ersten Angreifer. Die Kriegerin treibt ihr Pferd an, eilt Gwenn hinterher. Ihr Wappenrock färbt sich rot. Gadapp gadapp. Gadapp Gadapp. Gadapp Gadapp. Darian reitet. Darian und die anderen Reiter kommen den Waldweg entlang. Sie eilen sich. Sie halten an, als sie die Leichen sehen. Ein Pferd und vier Männer. Tot. Sie sind schockiert. Der Wind pfiff eine traurige Melodie.

Flüstern. Kichern. Brüllen. Säuseln.

Mal drohend und verlangend. Mal verführerisch und einfühlsam.

Stärker und stärker wurde der Sog.

Immer drängender, verlockender und unnachgiebiger wurde die Stimme des Windes, die mehr und mehr einem Zerren glich, einem unnachgiebigen Verlangen, einem Wunsch, sich fallen zu lassen - ganz und gar. Um zu sehen, zu spüren, zu entdecken, was nur der Wind zu offenbaren wusste. Immer schwieriger wurde es, sich dem Sog zu entziehen - gleichsam verheißungsvoller. Denn umso deutlicher sah Liana, was geschah. Und offenbar deutlich denjenigen, der das Ziel war. Die Gestalt des Stallknechts also hatte er angenommen?

Und er war nicht allein? Er hatte Helfer? Oder erneut eine andere Gestalt angenommen?

Nein … es mussten noch weitere da sein, denn da war die Kriegerin, die mit dem heruntergekommenen Kerl focht.

Der Wind war in ihren Ohren - in ihrem Empfinden mehr und mehr ein Kichern von Windsbräuten und Tosen von Sturmriesen.

Schwerer und schwerer wurde es, bei Sinnen zu bleiben, die Gedanken beisammen zu halten.

Und doch wurden die Bilder gleichsam klarer und klarer, je mehr sie sich fallen ließ in dem Spiel aus Gesang und Mandra, mit dem sie gerufen hatte, was sie nun beseelte …

Ihr Ritter erschien ihr in den Bildern. Immer wieder. Und die junge Geweihte an seiner Seite.

Und all diese Toten!

Unweigerlich fühlte sie dem nach. Einen Knecht der Daimonen zu suchen, das war das Eine. Doch Sorge um einen ihr teuren Menschen das andere. Es war ein so viel stärkerer Impuls …

Obgleich nur eine Brise, hatte sie mehr und mehr den Eindruck, dass der Wind an ihr zehrte. Sie fortreißen wollte.

So vieles hatte er ihr noch zu zeigen, nun, da die Verbindung stärker und stärker wurde!

So viele Verlockungen …

Einmal mehr riss sie sich zusammen.

Einmal mehr entsann sie sich der alten Melodie. Sie gab ihr Halt. Bald schon, bald, würde sie das Lied beenden. Nicht mehr länger würde dann ihre hohe, zarte, klare Stimme vom Wind durch die Wipfel getragen werden. Der Rausch der Eindrücke, Bilder und Visionen, er würde verebben.

Aber noch nicht! Noch hatte sie genug Macht und Willen in sich, sich ein letztes Mal zu stellen. Nein, sich hinzugeben.

Der Wind umwehte Liana. Der Wind kicherte. Der Wind lachte. Lachte die Elfe aus. Ein Mann lacht. Ein Mann liegt am Boden und lacht aus. Ein gehässiges Lachen. “Der Herr wird sich freuen!” Ein gehässiges Lachen. “Wir hatten euch gewarnt!” Ein gehässiges Lachen. “Hört auf zu schnüffeln, sonst holen wir den nächsten!” Ein gehässiges Lachen. Das Lachen erstirbt. Der Wind blies noch einmal, als holte er ein letztes Mal Luft. Der Wind wirbelte um Lianas Gesicht. Der Mann steht am Rand einer Lichtung. Hinter ihm ein See. Ein kleiner Wasserfall. Die Quelle. Er wartet. Er hält eine Kiste in der Hand. Die Kiste ist verschlossen. Er wartet. Gadapp gadapp. Gadapp gadapp. Gadapp gadapp. Zwei Pferde laufen auf ihn zu. Ein Elenviner und ein Warunker. Eine Frau und ein Mann reiten auf ihn zu. Gwenn und der Stallbursche reiten auf ihn zu. Der Stallbursche führt Gwenn. Der Mann greift nach den Zügeln von Gwenns Pferd. Gwenn stürzt. Der Stallbursche zieht sie hoch, zieht sie vorwärts, weg von dem Mann. Der Stallbursche und Gwenn laufen auf den See zu. Ein weiteres Pferd galoppiert auf den Mann zu. In seinem Sattel eine Kriegerin. Sie blutet. Die Plötze ist blutrot gefärbt. Die Frau springt aus dem Sattel. Kling - klong. Kling - klong. Kling - klong. Sie kämpft. Kämpft gegen den Mann. Der Mann kämpft gegen die Kriegerin. Ein Blitz. Die Kriegerin ist geblendet. Der Mann sticht zu, durchbohrt den Leib der Kriegerin. Sie steht noch, kämpft weiter, die Kräfte schwinden. Sie trifft. Trifft den Mann. Dieser geht zu Boden. Er lacht. Ein gehässiges Lachen. Er hält die Kiste in der Linken, lässt das Schwert aus der Rechten fallen. Die Kriegerin läuft hinter Gwenn und dem Stallburschen her. Schleicht. Schleppt sich voran. Der Mann zieht ein Messer aus dem Stiefel. Wirft. Das Messer fliegt. Trifft. Die Kriegerin fällt vornüber ins hohe Gras. Der Mann lacht. Ein gehässiges Lachen. Ein Spalt öffnet sich im See. Der Stallbursche zerrt Gwenn hindurch. Der Spalt schließt sich. Ein Knall. Ein Klirren. Tausende Glasscheiben scheinen zu zerspringen. Doratrava liegt am Ufer des Sees. Blut. Rot. Rot ist das Blut, das aus ihren feinen Wunden tritt, einem Rinnsal gleich, sich mit dem Wasser vermengt. Rot. Der Wind bäumte sich noch einmal auf. Dann erstarb er. Zurück ließ er Leere. Stille. Es war still. Still.

Sie liebte dieses Lied. Diesen … “Zauber”, wie Menschen sagen würden. Sie liebte die mitreißenden, berauschenden, innigen Gefühle und Eindrücke, die es mit sich brachte. Liebte die Freude an der eigenen Stimme, das Fließen lassen der Gedanken und des Mandras. All das war … erfüllend.

Und doch fürchtete sie es auch. So, wie an Tagen wie diesem. Wenn ihre Gedanken von Sorge, Zweifeln und einer drängenden Suche geprägt waren. Und wenn der Wind ihr Dinge zeigte, die sie im Grunde nicht wirklich sehen wollte.

Der Wind. Sie wusste, dass er keine Gottheit war, wie die Menschen sie anbeteten. So, wie es vor Jahrtausenden auch ihre eigenen Vorfahren getan hatten. Er war keine Persönlichkeit. Kein Geist oder Daimon, den man rufen konnte. Aber es bot in gewisser Weise Halt, ihn als eine manifestierte Gestalt zu betrachten. Wenn Mandra und Geist erfüllt wurden von den Visionen und Bildern, den Worten und Eindrücken.

All das, was Liana hier nun gesehen und erlebt hatte, war zu viel, als dass der eigene Geist es in so kurzer Zeit erfassen konnte.

Ihre sanften Gesänge, die so manches Mal in dem vergangenen halben Stundenglas leuchtend, kraftvoll, eindringlich und hoch waren, wenn sie durch den Wald glitten und die Ohren und Herzen jener erfüllten, denen es vergönnt war, sie zu hören - sie wurden nun leiser. Liana musste zu einem Ende kommen, auch wenn der Wind kein Ende kannte.

Langsam ließ sie das Lied ohne Ende ausklingen. Nicht plötzlich. Sondern wie eine Woge, die gegen einen flachen Deich läuft. So lange, bis ihre Stimme, der sie so viel abverlangt hatte, den letzten Part beendete.

Ruhe. Frieden.

Dies war nicht mehr die Zeit, um über all das zu grübeln, was sie gesehen und gespürt hatte.

Dies war die Zeit, dass ihr einsamer Geist zur Ruhe kam, um all das Viele wirken zu lassen und ordnen zu können.

Langsam - und noch immer erfüllt von dem Erlebnis - ließ die Herrin von Rodaschquell sich zu Boden sinken. Ihre Augen waren geschlossen. So, wie ihr Mund, auf dem ein leichtes Lächeln lag, als sie sich dem Schlaf hingab …

Gudekar erschrak, als Liana plötzlich zu Boden sank. Mit einem kurzen Ausruf des Schrecks sprang er auf und eilte zu Liana, um zu prüfen, ob es ihr gut ging. “Eoban, was ist…?” rief er dabei. Doch als der Magier die Elfe erreichte und ihre zufriedenen Gesichtszüge sah, entspannte er sich. Dennoch fühlte er nach ihrem Puls und ihrem Atem.

Der Albenholzer erhob sich zügig, als er den Schrei Gudekars hörte. Er setzte sich in Bewegung und suchte dabei die Umgebung mit den Augen nach einem Hinterhalt ab, den er vielleicht doch übersehen hatte. Zielgerichtet, aber kampfbereit ging er in die Richtung der Baronin.

“Es ist alles gut”, sagte Gudekar zu dem heranstürmenden Eoban. “Sie ist wohl vor Erschöpfung eingeschlafen.”

Doch die Neugier trieb Gudekar an zu versuchen, Liana zu wecken. Sacht fasste er ihre Schultern und rüttelte sie leicht. “Euer Hochgeboren! Es ist alles in Ordnung. Ihr solltet wieder erwachen! Hier ist nicht der richtige Ort, Euch zu erholen.”

Bei der Szene angekommen kniete sich Eoban neben die beiden, immer noch den Blick auf die Umgebung. "Was ist geschehen?"

„Es muss sie überwältigt haben, die Bilder, die der Wind ihr zugetragen hat“, erklärte Gudekar. „Ich habe von so etwas schon einmal gehört. Manchmal verliert sich ein Seher in den Bildern, die ihm zugetragen. Wenn man sich dann in den Sog der Visionen hineinziehen lässt, kann man von ihnen mitgerissen werden, bis es den Geist überwältigt. Aber ich denke, ihr Geist hat die Verbindung rechtzeitig getrennt.“ Zumindest hoffte der Anconiter dies. Dass er schon davon gehört hatte, dass in einzelnen Fällen so die Seele aus dem Körper gerissen worden sein soll, behielt der Magier für sich. Er hatte Sorge, dies könnte Eoban wieder einmal in Panik verfallen lassen. „Vielleicht sollte ich ihr helfen, wieder zu sich zu finden?“

"Am besten bringen wir sie zu einer Person, die sich mit Heilkunde auskennt."

„Humor war nie eine Eigenschaft, die ich mit Eurem Namen in Verbindung gebracht habe“, entgegnete Gudekar mit scharfem Blick. „Und, wenn ich offen sein darf, werter Freund, Ihr solltet Euch nicht darin versuchen.“

Eoban blickte erschrocken zu dem Anconiter. "... Seelenheilkunde, wollte ich sagen." Er beäugte ihn noch einen Moment kritisch. "Irgendetwas stimmt nicht mit Euch… Es macht mir Sorgen. Ich bete zur Gütigen Göttin, dass es nur der Eindruck der Ereignisse ist." Gudekar schüttelte verwundert den Kopf.

Eoban zog seine Kleider zurecht, beugte sich zu Boden und hob die Baronin vorsichtig auf zwei Händen hoch.

„Aha, ja. Wenn Ihr die Baronin bis ins Dorf tragen wollt“, kommentierte Gudekar.

Solange er nicht wusste, was mit Gudekar nicht stimmte, würde er den Anconiter nicht mehr herumpfuschen lassen.

So nahmen sie den Rückweg auf. Gudekar lief vorneweg, Eoban folgte, die Baronin tragend.

Als der Abstand zwischen den beiden etwas größer wurde, hielt Gudekar an und drehte sich zu Eoban. „Wenn Ihr es wünscht, könnte ich Euch den Weg erleichtern.“

Eoban sah den dürren Knochen von Magier skeptisch an. "Habt Dank, aber ich bin mir nicht sicher, ob Ihr die Baronin tragen könnt… Also ich meine, sie ist leicht wie eine Feder, aber…" Eoban musterte den Mann von Kopf bis Fuß. "Die Waffe trage ich lieber selbst. Ich habe Angst, Ihr könntet Euch verletzen… Was ich sagen will - Ihr seid ja der einzige Heiler vor Ort…"

Gudekar schüttelte den Kopf. “Ich sprach nicht davon, dass ICH ihre Hochgeboren tragen würde. Aber ich könnte Eure Kräfte mehren.” Er machte eine Pause. “Oder die Dame aufzuwecken versuchen.”

"Ist schon Recht. Schont Eure Kräfte lieber", sagte der Ritter keuchend.

„Ihr seid unvernünftig, mein Freund“, betonte der Anconiter. „Kommt aber am Ende nicht zu mir, wenn Euch das Kreuz schmerzt!“ Gudekar ärgerte sich, dass er nicht schnell einen Psychostabilis auf die Elfe gewirkt hatte, bevor Eoban sie hochhob.

Doch Gudekars Sorge um seinen Freund war unbegründet, da die Dame Morgenrot schon bald darauf wieder erwachte und sich wunderte, warum sie von dem Ritter über der Schulter getragen wurde.

Es dauerte einen Moment, bis Liana ihre Sinne wieder halbwegs beisammen hatte. Und bis ihr klar war, was hier vor sich ging.

“Ich danke Euch für Eure Hilfe, Herr Eoban. Ihr könnt mich nun wieder absetzen”, sagte sie nach einer Weile sanft, noch immer die wirbelnden, säuselnden, kichernden, tosenden und wehenden Eindrücke in sich spürend.

Die Füchsin in der Quelle

Anfangs hatte sich Caltesa von Immergrün bei der vermeintlich lustigen Suche nach Gwenn bei der Brautentführung beteiligt. Doch als sich der Suchtrupp aus dem Brauhaus verabschiedete, um die verlorene Braut per Pferd weiter zu suchen, nutzte Caltesa die Gelegenheit, sich klammheimlich von der Gruppe zu trennen, hatte sie zu Recht keine Lust auf einen ungemütlichen Ausritt, insbesondere an einem Tag wie diesem. Unbemerkt schlich sie sich über die Straße in ihr Zimmer zurück. Dort legte sie ihre Kleidung, Korsett und Perücke ab und ging zu ihrer Kleiderkiste. Schnell hatte sie einen grünen Hut, wie ihn Edelmänner tragen, ergriffen und einen Satz edler Männerkleidung. Mit geschickten Griffen band sie sich ihren großen Busen mit einem Leinenband ab und kleidete sich an. Mit einem schelmischen Grinsen betrachtete sie sich im Spiegel. “Ei, das wird ein Spass. Alles sitzt … bis auf das Gesicht. Es ist mir eine Ehre, Herr Herrenfels!” Dann zog sie eine Goldmünze aus einem Säckchen und schnippte sie in die Höhe. “Phex, Herr der Diebe, Meister der Heimlichkeit. Einen Raubzug in deinem Namen, das ist es, was dich erhört. Phex stehe mir bei!” Dann legte sie ihre Hände vor ihr Gesicht. Die Goldmünze fiel nie.

Geschwind und ohne ein Humpeln ging Calteasa ins Gasthaus zur Weißen Quelle. Der Gastraum, der mittags noch als Lazarett gedient hatte, war nur weitestgehend geleert und die Wirtsfamilie war eifrig dabei, die Tische für Feierlichkeiten am Abend herzurichten. Es roch verführerisch nach gebratenem Fleisch, denn auf einem Tisch war ein Berg aus Spießen mit gebratenen Fleischbrocken, Zwiebeln, Steckrüben und Speckscheiben aufgetürmt. Daneben standen ein Bierfass und ein kleineres Fässchen, genau so ein gleiches, wie das, das im Brauhaus vermisst wurde. In etwa ein Dutzend Humpen war bereits frisches Bier gezapft worden. Vorsichtig schaute sie sich um und wartete darauf, wie die Leute reagieren würden. In feinster Kleidung eines Edlen stand sie da, doch sahen konnten sie nur einen Mann. Phex hat sie erhört und ein neues Antlitz verliehen, das Gesicht von Kalman von Weissenquell!”

“Ah, hoher Herr, kommt die Gesellschaft um den glücklichen Bräutigam nun endlich?” fragte Hagunald Bachschenk, der Wirt des Gasthauses. “Das Bier wird schon langsam schal und die Fleischspieße werden kalt. Und am Ende heißt es dann, in der Quelle stimmt die Qualität nicht. Und wenn die Klagen an das Ohr seiner Wohlgeboren, Eures guten Herrn Vater, gelangen, welch Schmach wäre dies für mich.”

Phex hatte ihr Kalmans Gesicht verliehen, doch nicht seine Stimme. Im Imitieren war sie gut, dennoch ging sie auf Nummer sicher und hustete. “Na, das wird noch ein wenig dauern. Dieser Sturm …. mein Hals ist ganz rau. Kannst du mir etwas Warmes zu trinken bringen? Ich bin auch hier, um etwas für den Bräutigam zu besorgen. Oben, nicht wahr? Ich bin gleich wieder unten.”

“Sehr wohl, hoher Herr, ich werde Euch heißes Bier mit Honig bereiten, während Ihr holt, was der Herr Herrenfels sucht. Es ist Zimmer sieben. Ihr braucht noch den Schlüssel”, bemerkte Hagunald und lief dem Sohn seines Lehnsherren hinterher.

Caltesa in ihrem Kalman-Kostüm nahm den Schlüssel und ging die Treppe nach oben, um schließlich das gesuchte Zimmer zu betreten.

Vorsichtig schloss sie auf. Erst ließ sie ihren Blick in den Raum schweifen, bevor sie ihn betrat.

Das Zimmer war ein - für einen Dorfgasthof - vergleichsweise gehoben ausgestattetes Zimmer. Der Boden war mit einem groben Webteppich bedacht, sodass auch in kühlen Nächten keine Kälte nach oben kroch. An den weißgetünchten Wänden hingen Bilder mit Motiven einer Waldlandschaft, vermutlich der Gegend um die Bachquelle. Das große Doppelbett wirkte bequem, das Daunenbettzeug hielt vermutlich gemütlich warm. Obwohl das Bett ordentlich gemacht worden war, konnte Caltesa erkennen, dass nur eine Bettseite genutzt worden war. Das Zimmer war aufgeräumt, nur eine benutzte Hose und ein Hemd hingen über der Lehne eines Stuhls. Alles andere schien in dem Kleiderschrank und der Kommode verstaut worden zu sein. Auf einem kleinen Tisch lag ein Stapel unbenutzten Pergaments und gute Schreibwerkzeuge, ein Kohlegriffel, eine Schreibfeder und ein Tintenfässchen. Daneben verbarg sich ein Vinsalter Zeitmesser in goldener Fassung. Das kleine, aber feine Meisterwerk der Feinmechanik tickte leise aber stetig vor sich hin. Wer nicht aufmerksam hinhörte, übersah das wertvolle Stück. Auf einem Waschtisch stand eine große Schale, daneben eine Wasserkanne und ein Stapel frischer Tücher. Ein Nachttopf war unter das Bett geschoben worden. Die Tür zum Nebenzimmer stand einen Spalt offen.

“Wo hat der alte Gauner seine wertvollen Sachen?”, murmelte Caltesa vor sich hin. Geschickt ging sie zur Tür des Nebenzimmers und wagte einen Blick hinein.

Das Nachbarzimmer war etwas kleiner, doch nicht minder einladend – abgesehen von der Unordnung, die hier herrschte. Ziemlich durcheinander lagen hier verschiedene Frauenkleider herum. Dinge waren nur teilweise in die Schubladen der Kommode eingeräumt, auf deren Oberseite Schmink- und Frisierutensilien aufgereiht waren. Es schien, dass die Bewohnerin dieses Zimmers es sonst gewohnt war, jemanden um sich zu haben, die oder der hinter ihr aufräumte.

Unbeeindruckt lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf den ersten Raum. Die Füchsin, Geweihte des Phex, öffnete die Kommode und ließ ihre Hände geschickt ihre Arbeit tun.

In der Kommode waren verschiedene Kleidungsstücke aus kostbarem Stoff ordentlich gefaltet zusammengelegt. Hosen, vornehme Hemden, Socken, Unterkleider. In der untersten Schublade befand sich ein lederner Koffer. Darin bewahrte der Händler die Phiolen mit Rosenöl auf, die er als Proben überall hin mitführte.

Bei der Untersuchung der Schublade vernahm Caltesa jedoch ein leises, verlockendes Geräusch, das aus Richtung des Schreibtischchens kam: tick-tack, tick-tack, tick-tack…

Ruckartig zog sie ihre Hände aus der Kommode und drehte sich um. ´Ah, danke dir, Herr Phex!´, dachte sie mit einem breiten Grinsen bei sich. Flugs ging sie zum Schreibpult und betrachtete sich das Schmuckstück, das solch verheißungsvolle Geräusche von sich gab.

Und jetzt sah Caltesa das kleine Wunderwerk, halb verborgen unter einem Stück Pergament. Eine Taschenuhr aus Vinsalter Meisterhand, wie sie in den Nordmarken wohl nur selten zu finden war. In das goldene Gehäuse waren kunstvolle Verzierungen eingraviert. Die Geschwister an Satinavs Seite blickten dem Betrachter auf beiden Seiten der Uhr entgegen, wie eine Mahnung, dass die Uhr nur das Jetzt, nie aber die Vergangenheit oder die Zukunft zeigen konnte. Einladend lag sie da, einsam, zurückgelassen, als wartete sie nur darauf, einer neuen Liebhaberin Freude zu bereiten.

“Ach du armes Ding. Eine Schönheit wie dich einfach so allein gelassen. Doch du hast Glück, Caltesa wird dich retten”, sagte sie zu der Uhr und steckte sie ein. Dann zog sie einen Handschuh hervor und ein Säcklein, das mit Kohlenstaub gefüllt war. Geschickt zog sie den Handschuh an und zeichnete mit dem Staub eine Fuchspfote auf dem Schreibpult. „Der Listige hat zu danken!“ sagte sie fröhlich zu sich, verstaute ihr Diebesgut, Handschuh und Säckelchen in ihrer Kleidung und verließ das Zimmer.

***

Langsam ging Caltesa zur Treppe, die hinunter zum Gastraum führte, als sie die Stimme des Wirts und einer anderen Person hörte, die sich unten unterhielten.

“Heute schon? Aber sie sollte doch erst morgen eintreffen, zur Trauung”, sprach die unbekannte Stimme. “Bist du ganz sicher?”

“Ja, Limrog!” antwortete der Wirt. “Ich habe es vorhin gehört. Der Herr von Dürenwald, dieser Barde, hat es selbst zu seiner Knappin gesagt, als er sie zum Edlen mit einer Botschaft schickte.”

“Hm, das wird Friedewald weniger schmecken”, dachte Limrog laut nach. “Noch eine Aufregung mehr an diesem Tag. Und das nach dem Sturm und der Sache mit dem Jagdunfall. Da kann ein zu früh angereister, hoher Gast nur noch mehr Unruhe bringen. Das wäre dann sehr bedauerlich.” Limrog machte eine Pause. “Bring mir erstmal noch einen Humpen von dem Wasser, das ihr Bier nennt! Wäre ja ärgerlich, wenn es das letzte bisschen Schaum auch noch verliert.”

Kalman, alias Caltesa, lief extra laut die Treppen runter und betrat den Gastraum. Noch einmal hustete sie. “Wer kommt früher?” stellte sie die Frage in den Raum.

Als Caltesa die Treppe herunterkam, sah sie, dass der Wirt mit einem zwergischen Schmied im Gespräch war. Beide drehten sich zu der Person, die wie Kalman aussah. “Die gräfliche Vögtin”, erklärte Hagunald. “Sie kommt wohl heute bereits.”

Limrog Kupferblatt schaute skeptisch zu dem Mann, der die Treppe hinunterkam. “Alles in Ordnung, hoher Herr Kalman? Ihr klingt nicht… gut”, fragte der Angroscho, der die Familie des Edlen recht gut kannte.

“Der Sturm … wohl etwas unterkühlt”, sagte sie mit tiefer Stimme. “Aber natürlich, die Gräfin.” Ihre Enttäuschung konnte sie fast nicht verbergen. “Ich werde zu den Gästen zurückkehren. Und ihr kümmert euch um die Vorbereitungen.” Schnellen Schrittes machte sie sich auf in die Richtung des Ausganges.

“Wartet, Herr Kalman”, rief der Wirt ihr hinterher. “Was ist nun mit der Gesellschaft, die Gwenn suchen soll? Wird sie noch kommen? Oder was soll ich mit dem ganzen Essen machen, was ich vorbereitet habe? Soll ich es ins Herrenhaus bringen?”

Limrog blickte den Edlensohn noch immer misstrauisch an. Wieso verwechselte Kalman die Gräfin und ihre Vögtin?

Kurz blieb Kalman stehen. “Ins Herrenhaus. Und das Bier auf mein Zimmer. Bis gleich!” ´Kurz und knapp, das sollte reichen´, dachte die Geweihte bei sich. Dann ging sie, er, hinaus.

Verärgert blickte Hagunald dem Edlensohn hinterher. „Warum können die Herrschaften nicht rechtzeitig Bescheid geben, wenn sie ihre Pläne ändern?“

„Warte!“ forderte Limrog den Wirt auf, der anfangen wollte, die Platten mit dem Gebratenen zusammenzureimen. Spätestens bei der Aufforderung, das Bier auf Kalmans Zimmer zu bringen, war sich der Zwerg sicher, dass irgendetwas nicht stimmte. „Was soll das Bier in Kalmans Gemächern? Dort ist doch der Herr von Mersingen mit seinem Gefolge untergebracht, und im Herrenhaus gibt es genügend Bier. Irgendetwas stimmt mit Kalman nicht! Ich muss mit Praiogrimm sprechen.“ Mit diesen Worten verließ auch Limrog das Gasthaus.