LH2-Für Hesinde

2. Akt: Für Hesinde – Im Schein des Madamals

(12. Travia 1045 BF, abends zur Phexstunde)

  • Hier geht es los mit der Nachtwanderung.

Ein Kapitel der Lützeltaler Hochzeit

Teilnehmer:

  1. Bernhelm Lützelfisch, 49, Knecht und engster Vertrauter von Friedewald (NSC, Andreas)
  2. Wulfhelm Häsler, 25, Sohn des Forstmeisters und sein Nachfolger. Ein Spielgefährte der Braut in Kindertagen. (NSC, Andreas)
  3. Gudekar von Weissenquell, 31, Bruder der Braut, Anconiter aus Albenhus (Andreas)
  4. Morgan von Weissenquell, 14, Neffe von Gudekar, Scholar an der Magierakademie in Elenvina (Andreas)
  5. Meta Croy, 23, frisch ernannte Ritterin und Leibwache von Gudekar (Evi)
  6. Merle Dreifelder, 26, Gudekars Ehefrau (Nadine)
  7. Ihre Gnaden Rajalind, Rahja-Geweihte  (Tanja)
  8. Tsalinde von Kalterbaum (Marion)
  9. Lys von Kargenstein, ihr Ehemann (Marion)
  10. Rondrard Ingeras von Storchenflug, 27, Schwertvater von Lukardis v.W. (Hendrik)
  11. Vinja Rankmann, Rahjaakolutin (Simon)
  12. Imelda von Hadingen, 22, Ingrageweihte auf Walz, (David)
  13. Lucilla von Galebfurten, Junkerin von Galebfurten und Quellpass (Stefan)
  14. Lûthardt Anselm von Galebfurten, Ritter, Bedeckung der Erbvögtin (Stefan)
  15. Nivard von Tannenfels, 25, Krieger, Burghauptmann der Baronin von Ambelmund (Michael)
  16. Baroness Ardare von Kaldenberg mit Hündin (Niklas)
  17. Baronin Liana Alyandéra Morgenrot von Rodaschquell (Mario)
  18. Doratrava, Gauklerin (Jürgen)
  19. Murloschtaxa groscha Mokloscha, Gemahlin des Bergvogts, (Frank)
  20. Corwyn von Dürenwald, Ritter und Barde (Kirstin)

Abmarsch an der Brücke

Die Dunkelheit der Nacht hatte sich über das Tal gelegt. Brachte der Tag durch Praios‘ Strahlen noch Wärme über das Tal, so kroch mit dem Einzug der Nacht eine Kälte aus den Wäldern den Bachlauf entlang. Der Himmel hatte sich zugezogen und verdeckte das volle Madamal fast vollständig. Ein frischer Windzug wehte den Weg entlang.

Vom Dorfplatz drang gedämpft die Musik und das Gemurmel der feiernden Lützeltaler zur Brücke über den Bach hinüber. Große Wachslichter waren angezündet und erleuchteten den Weg, der vom Dorf über die Brücke hin zum „Jagdschloss“, der einfachen Jagdhütte des Edlen, führte. Rechts und links neben dem Übergang zur Brücke standen zwei große geflochtene Weidenköbe. In dem einen Korb steckten zwei Dutzend Wachsfackeln. Der andere Korb war überhäuft mit warmen Wollumhängen und Decken in den Farben dunkelgrün, beige oder braun.

Gudekar von Weissenquell schaute skeptisch gen Himmel, wo die aufgezogenen Wolken die Sterne und das Madamal verdeckten. “Meinst du, Bernhelm, dass uns die weise Göttin hold sein wird?”

“Keine Sorge, Meister Gudekar”, beruhigte Berhelm Lützelfisch den Magier, “das Wetter wird stabil bleiben.”

“Das mag sein, aber ob sich das Madamal tatsächlich zeigen wird?” Der Magier war noch nicht überzeugt.

“Wir werden sehen“, entgegnete der Knecht.

Als sich die Gäste an der Brücke eingefunden hatten, die an der Wanderung teilnehmen wollten, ergriff Bernhelm das Wort. “Seid gegrüßt, hohe Herrschaften, werte Gäste. Mein Name ist Bernhelm Lützelfisch und ich bin die rechte Hand des Edlen Friedewald.”

“Und Großvaters linke!” warf Morgan von Weissenquell ein, wofür er einen leichten Hieb gegen seinen Knöchel durch Gudekars Magierstab erntete.

Lachend nahm Bernhelm den Einwurf auf. “Und manchmal auch dessen Linke, jawohl! Wir werden nun den Weg bis zur Jagdhütte folgen. Ab dort wird uns Wulfhelm Häsler den Pfad bis zur Quelle des Lützelbachs entlangführen. Wenn Hesinde es gut mit uns meint, werden wir die Pracht des funkelnden Wassers im vollen Madamal bestaunen können.”

Werte Gäste, ich bitte Euch, dass sich eine Jede und ein Jeder eine Fackel aus jenem Korb nimmt. Der Weg bis zur Jagdhütte ist zwar beleuchtet, danach wird es jedoch dunkel. Wen es fröstelt, der nehme sich bitte einen Mantel oder eine Decke zum Überhängen aus dem anderen Korb. Die Nachtluft ist feucht und kühl im Traviamond in den Wäldern des Lützeltals. Und dann folgt mir!”

Als sich alle Gäste ausgestattet hatten, schlug Bernhelm den Weg über die Brücke ein und folgte dem Licht der Wachskerzen, das die Dunkelheit über dem Tal zerteilte.

Neben Bernhelm lief Morgan von Weissenquell, der Magier-Scholar. Er hatte sich eine Fackel genommen, war aber davon überzeugt, dass sein Umhang ihn ausreichend warm halten würde.

Das Gleiche galt für Gudekar, der allerdings keine Fackel benötigte, würde doch sein Stab das nötige Licht abstrahlen. Der Anconiter übernahm die Nachhut der Gruppe. Vom Ende der Gruppe, hoffte er, konnte er besser überblicken, wenn es in der Gruppe Ärger gab. Und Gudekar befürchtete das Schlimmste, denn hier waren Merle, Tsalinde, Meta und Imelda auf einem Haufen. Das konnte nicht gut gehen.

~*~

Merle Dreifelder von Weissenquell freute sich, einmal aus dem Dorf rauszukommen. Während der letzten zwei Götterläufe hatte sie zwar längere Zeiträume in Lützeltal verbracht, doch viel von der Umgebung des Dorfes hatte sie nicht gesehen. Auch wenn sie gespannt auf die Wanderung war, fühlte sie sich doch unwohl in der großen Gruppe Adliger, von denen sie die meisten nicht näher kannte. So stapfte sie etwas verloren in ihrem dicken rotbraunen Mantel und ihrer Kaninchenfellmütze den Weg entlang, mit etwas Abstand zu den Leuten vor und nach sich; ihr dunkelblondes Haar hatte sie zu zwei dicken Zöpfen gebunden, die ihr beidseits über die Schultern fielen. Sollte sie sich zu Gudekar zurückfallen lassen, der die Nachhut bildete? Doch wollte sie nicht, dass er dachte, sie würde ihn die ganze Zeit bedrängen und sich zu sehr an ihn klammern. Jetzt beim Wandern unter so vielen Fremden war ohnehin nicht der Ort für ein richtiges Gespräch. Unschlüssig schaute sie sich um. Tsalinde und Lys wollten bestimmt unter sich sein, da mochte sie nicht dazwischenplatzen, den freundlichen Tannenfelser hatte sie heute schon viel zu lange in Beschlag genommen. Und sich einfach so bei unbekannten Leuten ins Gespräch drängen konnte sie ja auch nicht.

Vinja Rankmann fiel auf, dass die Dame von Weissenquell einsam und verloren herumstand. Die junge Gärtnerin aus Rosenhain hatte sofort Mitleid mit ihr. Sie kannte das Gefühl, außen vor gelassen zu sein, umso mehr wünschte sie es anderen nicht. Mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen tauchte sie direkt neben Merle auf. An ihrem hochgewachsenen Leib hing ein dicker Wintermantel, in dem sich die schmale Erscheinung verlor. Vinja mümmelte sich eng in den Mantel ein, doch schien ihr Kälte den Spaß nicht auch nur im Ansatz zu verderben. Schon den ganzen Tag war sie hibbelig gewesen - eine Nachtwanderung klang nach einem großen Abenteuer! Dementsprechend aufgedreht war die junge Frau. Ihre Wangen glühten rot, die langen hellbraunen Haare hatten sich im Stoff des Mantels verfangen und wickelten sich deswegen um ihren schmalen Hals. Schwungvoll packte sie eine Fackel und erklärte feierlich: “Schön Euch kennen zu lernen! Mein Name ist Vinja Rankmann. Seid Ihr warm genug angezogen? So wie es aussieht, könnte es ziemlich frisch werden!”

Überrascht, plötzlich angesprochen zu werden, zuckte Merle leicht zusammen, nickte der netten jungen Frau aber mit einem erst verlegenen, dann herzlichen Lächeln zu. "Sehr erfreut, Merle Dreifelder", stellte sie sich fast automatisch ohne den adligen Namen ihres Mannes vor, den sie beim Dienst im Anconiterkloster ohnehin nie zu gebrauchen pflegte. "Und habt Dank, aber mir ist warm genug, glaube ich. Im Moment fast noch ein bisschen zu warm", sie blickte an ihrem dicken Mantel, den warmen Beinlingen und pelzbesetzten Stiefeln herunter und rückte die Kaninchenfellmütze über ihren langen Zöpfen zurecht, "...aber man merkt schon, wie frisch es um die Jahreszeit wird, wenn die Praiosscheibe erst einmal untergegangen ist, was? In der Tasche hab ich noch Handschuhe für den Notfall..." Neugierig blickte sie Vinja in das hübsche, strahlende Gesicht. "Ihr seid aus dem Gefolge des Herrn Rhodan, nehme ich an?"

“Ach, Gefolge, so ein großes Wort. Aber ja, wir sind gemeinsam mit dem jungen Herrn von Mersingen aus Rosenhain als Rhodans Gäste angereist.” Vinja lächelte freundlich und drückte die Jacke fest an ihre flache Brust. “Brr. Also ich muss schon sagen, jetzt ist es ja nicht so weit zwischen Rosenhain und hier, aber der Temperaturunterschied ist gräulich. Vielleicht habe ich mich auch an die wundervolle Wärme gewöhnt. Die Rosen sprießen wunderbar deswegen.”

"Mhm, Rosenhain..." Mit einem schwärmerischen Seufzen ließ sich Merle den Klang des Wortes auf der Zunge zergehen und betrachtete verträumt die unzähligen Wachslichter, die den Weg so wunderschön erleuchteten. "Ich liebe Rosen ohnehin... Aber bei euch muss es ja eine so unvergleichliche Pracht sein!" Das ließ Vinjas Brust vor Stolz schwellen - was jedoch zugleich den zu dünnen Stoff näher an die Haut presste. Als sie sah, wie Vinja zu frösteln schien, kramte Merle in der großen Ledertasche herum, die sie um die Schulter trug und zog ein paar dicke pelzbesetzte Lederfäustlinge und einen langen graublauen Wollschal heraus. "Hier, Vinja, wenn Ihr mögt?" bot sie die Sachen der jungen Frau an. "Ich glaube, Ihr braucht die im Moment mehr als ich." Dann zeigte sie auf die Fellkappe, die sie selbst auf dem Kopf trug. "Die Mütze könnte ich Euch auch leihen! Nicht, dass Ihr Euch noch verkühlt und das schöne Fest dann nicht genießen könnt."

„Ach, das ist ja so freundlich! Bitte, behaltet die Mütze auf. Es ist schließlich Eure. Ich finde schon einen Weg, mich aufzuwärmen. Wenn nötig, dann laufe ich etwas herum und erschrecke die Angsthasen auf dieser Wanderung“, witzelte die junge Dame. „Besucht uns doch in Rosenhain und werdet Zeuge der Blütenpracht. Dieses Jahr sind sie schon besonders groß und prächtig. Die Witterung könnte auch nicht besser sein. Ich brauche fast nichts zu machen und schon treiben sie aus.“

"Oh, das will ich gern sehen, wie Ihr 'Buh!' brüllt und aus dem Gebüsch platzt!" Merle musste so schallend lachen, dass sie sich die Hand vor den Mund hielt. "Und Eure Rosen auch! Wisst Ihr was, das werde ich machen. Ich werde nach Rosenhain kommen und meiner kleinen Tochter dieses Wunder zeigen!" Voller Entschlossenheit und Tatendrang nickte Merle der so mitreißend lebendigen Akoluthin zu, innerlich selbst erstaunt über sich. Das war schon wieder ein Plan, den sie einfach so für sich selbst machte, ohne Gudekar oder die Familie Weissenquell zu fragen! Aber wenn er einfach über ihren Kopf hinweg entscheiden konnte, fortzugehen, erwartete er, dass sie hier beim Warten auf ihn versauerte? Das Gespräch mit Tsalinde hatte ihr Mut gemacht, ihr Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen - und das war ein fast berauschendes, prickelndes Gefühl. "Was meint Ihr; ist es diesen Herbst noch möglich, die Rosen zu sehen? Oder werden sie bald verblüht sein?"

„Ach die halten noch ein wenig. Aber du musst Herrn Rhodan fragen: Nicht, dass er schon bald zur Ernte übergehen will. Naja, die meisten treiben sogar mehrmals aus. Dieses Jahr können wir ziemlich sicher zwei- bis dreimal Knospen lesen. Am Besten, du schließt dich uns gleich auf dem Rückweg an. Dann passt Herr Lares auch auf dich auf und dir geschieht nichts.“

Nachdenklich wog Merle den Kopf hin und her. Eigentlich hatte sie sich vorgestellt, ihre spontanen Reisepläne erst umzusetzen, nachdem Gudekar in diese grässliche Rabenmark aufgebrochen war. Aber wenn sie gleich nach der Hochzeit mit den Rosenhainern mitging, würde es natürlich nicht vor ihm verborgen bleiben… Es würde Streit geben. Trotzig schnippte sie einen ihrer Zöpfe auf den Rücken. Nun, wenn er seine Entscheidungen über ihren Kopf hinweg traf, dann sollte er ruhig mal merken, wie es war, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. "Sehr gern!" nickte sie Vinja kurzerhand zu. "Also natürlich nur, falls der Herr Lares damit einverstanden ist... Und ich würde mich selbstverständlich auch nützlich machen wollen", sie lächelte die junge Akoluthin gedankenverloren an, "...vielleicht könnte ich ja bei der Rosenernte helfen? Wenn du mich an deine wertvollen Lieblinge ran lässt?"

„Ach, der hat da nichts dagegen. So kann er den Schwiegereltern seines Kontormeisters einen Gefallen tun: Das ist ganz nach seinem Geschmack. Rosenblüten sind weit weniger zerbrechlich als man glaubt. Mit ein, zwei Tricks kommst du mit ihnen sicher ausgezeichnet klar!“

Für die Nachtwanderung hatte Doratrava ihre normale Straßenkleidung angezogen: eine grüne Bluse aus dickerem Stoff, eine Lederhose und feste Stiefel, um die Hüften lag ein breiter Ledergürtel mit einem Langdolch und im Rücken ein paar Wurfdolchen. Das war aber nicht ohne weiteres zu sehen, denn die Gauklerin trug der Witterung wegen auch einen langen, grauen Kapuzenmantel, der ihre schlanke Gestalt weitgehend verhüllte.

Ohne Waffen wollte Doratrava nicht auf eine Nachtwanderung gehen, wenn sie auch selbst nicht sonderlich wachsam war, sondern eher in Gedanken. Es waren ja genug Ritter und Krieger anwesend, die würden schon aufpassen. Außerdem konnte ja nicht bei jedem Fest irgendetwas passieren.

Mit diesen Überlegungen fand sie sich dann plötzlich hinter zwei Frauen wieder, die sie nicht kannte, aber sie merkte auf, als sie über Rosen sprachen, denn dabei ging ihr ein schmerzlicher Gedanke an Cupida durch den Kopf, der Gärtnerin aus Herzogenfurt. Wie es ihr wohl ergangen war seit ... damals?

Als Merle bemerkte, dass eine weitere zierliche junge Frau sich ihr und Vinja genähert hatte, drehte sie sich mit einem schüchternen Lächeln zu dieser um. "Kann ich Euch vielleicht mit einem Ersatz-Schal oder Handschuhen aushelfen?" fragte sie freundlich. "Ich hab eine ganze Menge warmer Sachen extra dabei."

Überrascht schaute Doratrava auf, mit einem solchen Angebot hatte sie nicht gerechnet. Aber schon erhellte ein Lächeln ihr Gesicht und sie schüttelte den Kopf. “Alles gut, ich bin nicht sonderlich kälteempfindlich”, gab sie zurück. “Aber danke. Ich bin übrigens Doratrava. Und … Ihr?” Das kurze Zögern war der Tatsache geschuldet, dass die beiden Frauen vor ihr nicht gerade hochherrschaftlich wirken und die Gauklerin daher fast gewohnheitsmäßig ins ‘Du’ verfallen wäre, aber da sie selbst mir ‘Ihr’ angesprochen worden war, antwortete sie lieber auf dieselbe Weise.

"Merle Dreifelder", nickte Merle Doratrava herzlich zu. "Also, gerne nur Merle." Sie blickte kurz zu Vinja, damit dieses sah, dass sie sie ebenfalls sehr gern beim Vornamen anreden sollte. Ich bin die Frau von Gudekar", erklärte sie und wies mit dem Blick unbestimmt in Richtung der Nachhut, dann riss sie plötzlich die Augen auf und musterte Doratravas blasses Antlitz mit forschendem Blick. "Oh! Du… Ihr seid, ähm, du bist”, sie schaute kurz um Bestätigung bittend in Doratravas Augen, “...du bist die berühmte Gauklerin, von der alle reden, oder? Und ich habe dummerweise deine beiden Auftritte verpasst…" Sichtlich enttäuscht verzog Merle das Gesicht. "Ach, Mensch, schade!"

„Aber nein, das ist ja wirklich bitter! Sie macht so ganz faszinierende Kunststücke. Ich bin im Übrigen Vinja“, ergänzte die hagere Frau und lächelte. „Eine Privatvorstellung? Bei Nacht im Fackelschein, na, was meinst du?“ Vinja wirkte hibbelig. Die Idee, die förmlich aus ihr herausgeplatzt war, begeisterte sie.

Doratrava las echtes Bedauern in Merles Gesicht und fühlte sich gleichermaßen geschmeichelt wie auch betroffen. Gleichzeitig überrumpelte die energiegeladene Vinja sie geradezu mit ihrem Vorschlag und sie musste auflachen. "Also", sprach sie daraufhin zuerst Merle an, "das tut mir ja wirklich leid, dass du mich gar nicht erleben durftest." Doratrava signalisierte damit, dass sie das 'Du' gerne annahm, außerdem sprach sie ohne Arroganz oder Spott, sie drückte tatsächlich echtes Mitgefühl aus. Ihre nächsten Worte galten dann beiden jungen Damen: "Ich bin einer Privatvorstellung nicht grundsätzlich abgeneigt, aber meine Möglichkeiten sind hier bei dieser Nachtwanderung beschränkt. Meine Füße sind in diesen Stiefeln eingezwängt", sie hob demonstrativ ein Bein, "und ich trage die falsche und zu viel Kleidung", hier breitete sie die Arme aus, so dass ihr dunkler Umhang fast so wirkte, als trüge sie Fledermausflügel. "Und Musik haben wir leider auch keine. Aber das heißt nicht, dass ich gar nichts machen könnte!" Und schon ergriff sie Vinja bei den Händen, wirbelte sie mehrfach in unterschiedliche Richtungen herum, während ihre Füße zu imaginären Klängen tanzten, - was der Akoluthin ein begeistertes „Hui!“ entlockte - wechselte dann zu Merle und ließ ihr lachend die gleiche Behandlung angedeihen. Dann löste sie sich mit einem letzten Wirbel auch von ihr, breitete erneut in einer schnellen Bewegung die Arme aus, und plötzlich flatterte ihr Umhang davon, während die Gauklerin rückwärts in die Luft sprang, ihren Körper in einem perfekten Bogen mit einer Hand kurz den Boden berühren ließ, um sich federnd wieder abzustoßen und, den Schwung des Sprunges nutzend, mit einem Salto wieder auf den Beinen aufzukommen, um sich gleich darauf in einer fließenden Bewegung bühnenreif zu verbeugen.

"So viel dazu", meinte Doratrava dann etwas unbestimmt, aber mit einem erwartungsvollen Lächeln zu den beiden Damen, während sie ihren Mantel aufhob und sich wieder um die Schultern warf.

Merle juchzte entzückt auf, als Doratrava sie und Vinja plötzlich so wild herumwirbelte und drehte, dann beobachtete sie mit großen, staunenden Augen, wie die Gauklerin auf der Stelle ein so gekonntes, verblüffendes Kunststück aus dem Ärmel schüttelte. Strahlend hüpfte Merle vor Begeisterung auf der Stelle und klatschte applaudierend in die Hände. Es tat so gut, einfach nur unbeschwert zu lachen und fröhlich zu sein, ohne an morgen zu denken; fast, als wäre all’ die Traurigkeit und Sorge der letzten zwei Götterläufe mit einem Windstoß weggeblasen. “Jetzt weiß ich, dass ich deine Auftritte auf gar keinen Fall mehr verpassen darf, Doratrava!” jubelte sie enthusiastisch, umarmte die Gauklerin impulsiv und voller Dankbarkeit. “Das war einfach unglaublich!”

„Ich will das auch lernen! Wer bringt einem das bei? Wie übt man das? Also das macht sicher unheimlich Spaß!“, schloss sich Vinja im Taumel der Begeisterung an.

Aufgekratzt, mit geröteten Wangen und vom Grinsen tiefen Grübchen, strahlte Merle die beiden jungen Frauen an. “Das dauert sicher viele, viele Götterläufe, sowas zu lernen, oder? Und dazu muss man vermutlich ein Naturtalent sein…” Herausfordernd schaute sie der Gauklerin in die Augen. “Oder gibt es einen Trick, den du uns auf der Stelle beibringen kannst, Doratrava?”

Doratrava freute sich an der Begeisterung der beiden jungen Frauen, wurde aber bei Vinjas Fragen etwas ernster. "In der Tat muss man viel und lange üben", stimmte sie Merles Ansicht zu. "Es erfordert Hartnäckigkeit und Willenskraft ... und vielleicht ein wenig Glück, sich bei einem verunglückten Sprung nicht so schwer zu verletzten, dass man sich ein anderes Metier suchen muss." Sie lächelte ein wenig selbstironisch, um der Bemerkung die Spitze zu nehmen, auch wenn diese durchaus ein Körnchen Wahrheit enthielt. "Hm, und was einen 'Trick' angeht, den ich euch beibringen könnte ... ich verwende keine 'Tricks' bei meiner Kunst an sich, außer man möchte die eine oder andere alchimistische Spielerei so nennen, für mich ist das aber eher schmückendes Beiwerk zur Steigerung von Stimmung und Atmosphäre. Letztlich baut vieles aufeinander auf, man muss erst einfache, langsame Bewegungen und Kunststücke lernen, um sie später, mit mehr Übung, zu schnelleren und komplexeren zusammensetzen und variieren zu können." Doratrava legte sinnierend einen Finger an die Lippen und schaute sich um. "Vielleicht kann ich euch auf die Schnelle eine ganz einfache Übung beibringen." Sie zeigte auf einen Baum, von dessen Stamm ein nicht allzu dicker Ast in etwas über zwei Schritt Höhe über dem Boden fast genau waagrecht abstand. "Schaut mal", rief sie Merle und Vinja zu, schlüpfte erneut aus ihrem Umhang und drückte ihn letzterer in die Hand. Spätestens jetzt fielen den beiden Damen auch die vier Wurfdolche auf, welche die Gauklerin am Rücken im Gürtel trug.

Dann trat Doratrava an den Ast, streckte die Arme nach oben, ging kurz in die Knie und sprang, um sich dann mit den Händen an dem Ast festzuhalten, so dass sie frei nach unten hing. "Jetzt schaukeln", erklärte die Gauklerin und begann langsam vor und zurück zu schwingen. "Und jetzt im Schwung nach vorne die Beine schnell nach oben bringen und dann nach unten schlagen!" Sie tat, was sie beschrieb, und der Schwung sorgte dafür, dass sie nun nicht mehr unter dem Ast hing, sondern plötzlich mit den Armen auf ihn gestützt mit der Hüfte an ihm klebte.

Dann stieß sich Doratrava plötzlich mit Wucht nach hinten von dem Ast ab, schwang mit gestreckten Armen unter dem Ast hindurch nach vorne, ließ am höchsten Punkt der Bewegung los und krümmte sich zu einer Kugel zusammen, die sich zweimal um sich selbst drehte, bevor die Gauklerin genau rechtzeitig die Beine wieder ausfuhr um sicher und mit ausgebreiteten Armen wieder auf dem Boden zu landen. "Das gehört natürlich nicht mehr zu der einfachen Übung", lachte sie Merle und Vinja an, "aber mir war einfach danach. - Will es denn eine von euch versuchen? Aber nur, wenn ihr es euch zutraut. Ich werde natürlich helfen und aufpassen, dass ihr nicht vom Ast fallt."

Mit großem Interesse und fast kindlich leuchtenden Augen hing Merle an Doratravas Lippen, als diese von ihrer Gauklerkunst erzählte. Sichtlich beeindruckt musterte sie die zartgliedrige junge Frau, die außergewöhnliches, schier übermenschliches mit ihrem Körper anstellen konnte. Als die Gauklerin federleicht um den Ast schwang und dann mit einem ebenso furiosen Abgang wieder hinunterwirbelte, klatschte Merle erneut Applaus und jubelte lauthals: "Bravo!!!" Dann sprang sie kurzerhand vor, zog schnell ihren Mantel aus und legte diesen zusammen mit ihrer Umhängetasche und ihrer Fellmütze zur Seite.  "Doratrava, ich probier's!" verkündete sie grinsend und knotete ihre zwei seitlichen langen Zöpfe hinter dem Kopf zusammen, damit diese nicht im Weg waren. Mutig stellte sie sich vor den waagerechten Ast und drehte fragend den Kopf zu Doratrava. "Wie fang ich an?"

Mit einem kleinen, positiv überraschten Lächeln sah Doratrava Merle an. “Stell’ dich unter den Ast, ja so”, dirigierte Doratrava. “Dann spring’ hoch und halte dich an dem Ast fest.” Merle folgte ihrer Aufforderung. Der Ast war wirklich bequem zu erreichen, so dass der Sprung und das Festhalten keine große Herausforderung darstellte. “Ja, sehr gut”, kommentierte die Gauklerin. “Und jetzt Schwung holen, vor und zurück! Und Festhalten nicht vergessen!” Gleichzeitig stellte sie sich neben Merle und streckte ihre Arme aus, um ihren Schwungbewegungen zu folgen, aber ohne sie zu berühren. Doch sollte sie fallen, konnte sie schnell zugreifen.

Folgsam begann Merle, mit den Beinen vor und zurück zu schwingen, um Schwung zu holen, aber das mit dem Festhalten hatte sie wohl nicht gehört. Gut, Doratrava musste auch zugeben, dass die sich abendlich abkühlende Luft einen feinen Feuchtigkeitsfilm auf dem Ast hinterlassen hatte, was es nicht unbedingt einfacher machte. Jedenfalls rutschte Merle mit einem leisen Aufschrei plötzlich ab, als sie nach vorne ausschwang. Doch genau dafür folgte Doratrava ja jeder ihrer Bewegungen mit den Händen. Sofort griff sie zu und fing sie auf, drückte sie schnell an sich, damit sie nicht beim Stolpern auf die Knie fiel.

“Nicht schlimm, ich sagte ja, es braucht alles ein wenig Übung”, sprach Doratrava mit beruhigender, sanfter Stimme. “Willst du es nochmal versuchen? Wenn du diesmal die Daumen unterhalb des Astes platzierst, klappt es bestimmt besser.”

Auch Vinja hatte nach der fallenden Merle gegriffen, war allerdings nicht schnell genug und fasste deshalb ins Leere. Von den anderen beiden zunächst unbemerkt landete sie deshalb gestreckt auf der Nase. Mit einem zaghaften „Uff“ rappelte sie sich wieder auf und musste den Dreck vom Mantel klopfen.

Doratrava warf Vinja einen halb besorgten, halb entschuldigenden Blick zu, konnte ihr aber nicht aufhelfen, da sie gerade Merle hielt. Aber sie war erleichtert, dass Vinja offensichtlich nichts passiert war.

Gudekar hatte vom Ende der Wandergruppe das Treiben beobachtet und einen kurzen Schreck bekommen, als Merle vom Ast abrutschte. Doch er war beruhigt, als es sah, dass Doratrava sie erfolgreich auffing. So ignorierte er die Szene, zumal auch der anderen jungen Frau, die gestrauchelt war, nichts passiert zu sein schien.

Als Merle mit einem schrillen Quieken abrutschte und von Doratrava abgefangen wurde, blickte sie erst verdutzt um sich, dann brach sie in ein schallendes Lachen aus. "Hui, das ging gehörig in die Hose!" kicherte sie und drückte dankbar lächelnd Doratravas Schulter. "Danke, dass du mich aufgefangen hast!" Nun bemerkte sie, dass Vinja beim Versuch, nach ihr zu greifen, auf den Boden gefallen war. "Bei dir auch alles in Ordnung, Vinja?" fragte sie besorgt, eilte zu ihr und half der Akoluthin dabei, den Schmutz vom Mantel zu klopfen. "Tut mir leid! Vinja, wenn du nicht darauf bestehst, jetzt den Vortritt zu kriegen, probiere ich's gleich noch mal!" Keck wischte sich Merle eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht und stellte sich wild entschlossen wieder unter den Ast. Sie vergewisserte sich, dass Doratrava in der Nähe bereit stand und atmete ein paarmal tief durch, sprang zu dem Ast und konzentrierte sich diesmal besonders darauf, sich festzuhalten. Doch schon nachdem sie ein wenig hin- und hergeschwungen war, merkte sie, wie ihre Finger langsam aber sicher von dem feuchten Holz abrutschten und ihre Kräfte sie verließen. Erneut landete sie laut über sich selbst lachend in Doratravas Armen. "Oje, oje, ich bin ja eine tolle Artistin - erst große Reden schwingen und dann runterfliegen wie ein nasser Sack! Nicht nur einmal, sondern zweimal! Mein Mann muss denken, ich hab nicht mehr alle Nadeln in der Tanne!" Sie warf einen schnellen Blick zu Gudekar, der das Geschehen scheinbar sehr skeptisch beobachtete und zuckte mit den Schultern. Sollte er doch schauen. Sie wollte Spaß haben auf dieser Feier, egal was er davon hielt. "So, liebe Vinja, vielleicht kannst du noch unsere Ehre retten?"

Auch Doratrava folgte kurz Merles Blick und sah Gudekar, der sie scheinbar teilnahmslos beobachtete, soweit man das aus der Ferne und den Lichtverhältnissen beurteilen konnte. Sie ließ sich davon aber nicht stören, sondern freute sich an Merles Begeisterung und Entschlossenheit, wenn auch der zweite Versuch ebenso danebenging. “Alles gut”, kommentierte sie Merles Fehlversuch freundlich, “aller Anfang ist schwer, so sagt man ja nicht zu Unrecht.” Sie senkte ein wenig die Stimme: “Gudekar darf später die Nadeln in deiner Tanne zählen, hauptsache du erfreust dich an dem, was wir hier tun.”

Dann wandte sie sich Vinja zu. “Und, bereit, eure Ehre zu verteidigen?”, fragte sie mit einem schelmischen Lächeln.

Merle nickte stumm und drückte Doratrava noch einmal dankbar an sich. Sie war in einer seltsamen Stimmung, aufgekratzt und mutwillig und erstaunlich wach, nachdem sie so lange Zeit in banger, betäubter Lethargie auf jedes kleine Fünkchen Zuneigung von Gudekar gewartet hatte. Jetzt merkte sie, dass ihr langsam, aber sicher der Geduldsfaden riss. “Darauf kannst du Gift nehmen, dass ich mich an allem erfreue, was heute hier geboten wird!” verkündete sie mit einem fast scharf klingenden Unterton. Dann lächelte sie wieder und nickte Vinja aufmunternd zu. “Na los, meine Liebe, ich drück’ die Daumen!”

Doratrava spürte eine Schwingung in Merle, die ihr seltsam vertraut vorkam und die sie fast dazu veranlasste, eine Dummheit zu begehen. Aber da sie hier nicht allein waren und Gudekar sie weiterhin im Blick behielt, beherrschte sie sich und nickte nur, um sich wieder Vinja zuzuwenden.

Diese hatte sich zwischenzeitlich wieder aufgerappelt und zurechtgemacht, auch wenn ein paar Grashalme in ihren langen hellbraunen Haaren hängengeblieben waren. „Tja, ähm, Ehre, ja…“, murmelte sie entschuldigend und klaubte sich das Grünzeug vom Haar. „Also jetzt zeig mir nochmal wie das gehen soll, bevor ich den Boden küssen muss.“

Kurz kniff Doratrava die Augen zusammen und überlegte, ob Vinja einen Scherz machte oder nur nicht zugeschaut hatte oder … egal. Auch Vinja hatte vermutlich noch nie mehr mit einem Baum getan als hochzuklettern und wieder runter. Wenn überhaupt. Sie wollte nichts Schlechtes annehmen, dazu bestand überhaupt kein Grund. Also stellte sie sich geduldig unter den Ast und führte die Übung nochmals vor.

“Aaaalso … abspringen - festhalten - schwingen …”, gleichzeitig tat die Gauklerin genau das: sie sprang nach oben, hielt sich am Ast fest und schwang mit größer werdendem Schwung vor und zurück.

“Aus dem Rückschwung Beine nach oben stechen und mit den Armen die Hüfte am Ast halten, dann Beine schnell nach vorne und unten schlagen …”. Doratrava setzte ihre eigenen Anweisungen um, und als sie die Beine nach unten schlug, schwang ihr Körper automatisch in den Stütz. Bei ihr sah das alles so elegant und einfach aus, als müsse das jedes Kind beherrschen, aber sie wusste natürlich, dass dem nicht so war - wie man an Merle vorher schon gesehen hatte. Trotzdem war das eine einfache Anfänger-Übung und die einzige, die ihr gerade eingefallen war, um sie jemandem völlig Ungeübten beizubringen.

“Alles klar?”, fragte sie freundlich von oben, dann ließ sie sich diesmal einfach unspektakulär nach unten fallen. Sie wollte nicht angeben und Vinja nicht einschüchtern, sondern sie ermutigen. “Ich passe wie bei Merle auf, dass du nicht fällst, du brauchst also keine Angst zu haben!”

"Ich passe auch auf!" versicherte Merle ermutigend.

“Alles klar!”, erklärte Vinja jetzt deutlich überzeugter, nahm ein wenig Anlauf und hüpfte, um den Ast zu erreichen. Mit einer Hand bekam sie den Baum zu fassen, schwang die zweite hinterher und bemühte sich um Schwung. Zu ihrer eigenen Überraschung gelang es: Wie eine Schaukel bewegte sie sich um den Ast. Immer schneller wurde der Schwung von einer zur anderen Seite. Doch der jungen Frau schien die Kraft in den Armen auszugehen, fingen diese leicht das Zittern an.

"Jetzt, Vinja!" feuerte Merle, die gespannt mitfieberte, sie an. "Schnell, schlag die Beine nach unten!"

“Beim Schwung nach vorne die Beine nach oben stechen und dann nach unten schlagen!”, korrigierte Doratrava, allerdings schwang Vinja schon zu lange, daher bereitete sie sich schon mal auf das Auffangen vor.

“Du schaffst es”, rief Merle, immer noch optimistisch.

Vinja bot ihre letzte Kraft auf und folgte den Anweisungen der jungen Gauklerin. Mit einem vergleichsweise eleganten Schwung streckte sie ihre Beine aus, dann schlug sie sie unten durch und ließ den Ast los. Vergleichsweise grazil kam sie auf ihren langen Beinen zum stehen. “Wouh”, seufzte sie lautstark und wischte sich über die schweißnasse Stirn.

“Na, nicht ganz das, was ich vorgemacht habe, aber auch gar nicht so schlecht”, lachte Doratrava, dann wandte sie sich beiden Frauen zu. “Noch mehr? Oder soll es jetzt erstmal genug sein?”

Merle schüttelte laut lachend den Kopf. "Also, ich für meinen Teil zieh’ mich erstmal aus dem Akrobaten-Gewerbe zurück. Für heute." Sie drückte Doratrava kurz an sich. "Aber hab Dank, Doratrava, das hat wirklich, wirklich Laune gemacht!" Freundschaftlich klopfte sie dann Vinja auf die Schulter. "Bei dir sah's schon wesentlich eleganter aus als bei mir… Wagst du vielleicht noch einen Versuch?"

“Nein, mir genügt das für’s Erste”, lachte sie, während ihre Oberarme noch immer zitterten.

Merle nickte verstehend und schaute, wo die anderen Wanderer waren. Die Gruppe war inzwischen deutlich auseinandergedriftet. "Ja, wir sollten den Verkehr nicht allzu lange aufhalten", meinte sie mit einem Schulterzucken und zwinkerte den anderen zu. "Nicht, dass wir vom Imbiss am Forsthaus nichts mehr abkriegen..."

~*~

Die junge Geweihte der Rahja war schon gleich mit Mantel über ihren nackten Schultern erschienen. Noch aber streckte sie die Arme durch die beiden Schlitze in ihrem dunkelroten Filzumhang. Sie trug ein kleines Körbchen mit jenen Leckereien mit sich, die sie auch am Rahjaschrein anbot. Mit schnellen Schritten hatte sie sich an die Fersen des Führers gehängt, den sie nun ohne Scheu fragte: “Heißt ihr wirklich Lützelfisch? Ja, wirklich? Ich meine, Lützeltal, Lützelfisch - das klingt nach einer unterhaltsamen Geschichte!”

Auch Nivard trug einen Mantel - da er privat hier war, war es ein dunkelgrüner, der von einer bronzenen Fibel in Gestalt eines Hirschhaupts zusammengehalten wurde. Die Kapuze lag auf den Schultern, so dass sein schmales Gesicht gut zu sehen waren - im Gegensatz dazu hatte der junge Krieger den Mantel vorne so zugezogen, dass nicht sofort auffiel, dass er darunter seinen Gambeson angelegt und sein Schwert gegürtet hatte. Die Andeutungen Merles hatten bereits ausgereicht, ihn wieder in einen Zustand grundsätzlicher Alarmbereitschaft zu versetzen. Eine nächtliche Wandergruppe, unter denen viele Adlige und Familienmitglieder der Feinde Pruchs waren, mochte ein allzu lohnendes Ziel für diesen Frevler sein.

Hinzu kam, dass ihn Lares von Mersingen während des Tages mehrfach - man könnte sagen penetrant - darauf angesprochen hatte, wie man nur angesichts der lauernden Gefahr so verrückt sein konnte, eine Nachtwanderung zu organisieren. Er insistierte vehement, dieses Unternehmen abzublasen. Als Nivard berechtigterweise frug, ob der Mersinger angesichts der Gefahr den Zug begleitete, wurde Lares schroff und erklärte alle, die sich dem Zug anschlossen, für selbst Schuld. So hatte der junge Tannenfelser den kleinen, schwarzhaarigen Ritter noch nie erlebt. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er gesagt: Lares von Mersingen hatte panische Angst.

Sein erster, schweigender Blick ins Rund der Gäste diente der Abschätzung, wie viele des Kampfes Fähige darunter sein mochten. Das Verhältnis zwischen Schutzbedürftigen und deren möglicher Bedeckung gefiel ihm nicht. Also mussten sich die Kämpfer wenigstens gleichmäßig auf den Zug verteilen.

Vorne reihte sich bereits neben ihrem heutigen Führer ein Magier-Scholar und Rajalind ein - alles andere als ein wehrhafter Beginn. Nivard beschloss, das Angenehme mit dem strategisch Sinnvollen zu kombinieren und sich auf ein Pläuschchen zu der jungen Rahjageweihten zu gesellen, die als Geleitschützer zu begleiten er vor drei Götterläufen die ausführliche Ehre gehabt hatte, unmittelbar, nachdem sie gemeinsam mit anderen Adligen dem Muschelfürsten und Ignilde begegnet waren.

"Rajalind. Wie schön, Dich hier wiederzusehen!" eröffnete er unverfänglich den Plausch. Rajalind, die ihn von ihrer längeren Reise 1042 gut kannte, merkte, wie angespannt Nivard im Gegensatz zu seinem Tonfall und seinen Worten wirkte.

Bernhelm wollte gerade ansetzen, um ihrer Gnaden die Herkunft seines Namens zu erläutern, als der Krieger die Geweihte ansprach. Seine guten Manieren verboten es, dem hohen Herren ins Wort zu fallen, und so schloss er den Mund wieder. Wenn ihre Gnaden tatsächlich Interesse an seinem Namen hatte, konnte er die Geschichte auch später noch erzählen.

“NIVARD?” Rajalind blieb unvermittelt stehen, als sie erkannt hatte, wer sie da von der Seite ansprach, und fiel dem Krieger erst mal kurz überschwänglich um den Hals, um ihm die Wange zu küssen und zu knuddeln.

Währenddessen gingen schon die ersten an ihnen vorbei und Nivards Plan verschwomm.

“Wo kommst DU denn her?? Und was machst du ausgerechnet hier in Lützeltal?? Aber wie wunderbar schön dich zu sehen! Hab dich gar nicht erkannt! Irgendwas ist anders an dir. Hm. Der Bart? Mehr Muskeln? Oh lass mal fühlen.” Was sie ohne Umschweife auch gleich tat, erst strich sie im Dunkeln liebevoll über Wangen, knetete dann prüfend seine Armmuskulatur. “Tatsächlich. Oh! Steht dir aber beides sehr sehr gut, mein Freund!”

"Wir hatten heute noch gar keine Gelegenheit, uns zu unterhalten.”

“Ich wusste ja gar nicht, dass du da bist.” lachte sie heiter.

“Wie ist es Dir zuletzt ergangen?"

“Gut, es geht mir gut.” antwortete die Gleichaltrige gänzlich unbeschwert. “Das Leben ist schön und voller Genüsse. Hier, magst du?” Sie hob ihm ihr Körbchen unter die Nase, in welchem sich kleine Kuchen, Früchtebrot, Plätzchen in Gänseform und Honigkaramellen auf ihre Verkostung warteten. Von dem Inhalt ging ein verlockend süßer-fruchtiger Duft aus.

Bei dem Duft - gepaart mit seinen Erinnerungen an die süßen Leckereien, konnte Nivard nicht widerstehen und griff beherzt zu. Etwas Nervennahrung konnte überdies nie schaden. "Köstlich!" stellte er fest. "Was ist das für ein Küchlein?" Als sein Mund nach genüsslichem Kauen wieder gesprächsfähig war, begann er zu erzählen: "Die Tage fühlt sich das Leben tatsächlich beinahe an wie zu Plötzbogner Zeiten - so viel saß ich schon lange nicht mehr am Stück im Sattel, erst mit der Baronin von Ambelmund zum Turnier nach Yantibair in Albernia und wieder zurück, dann über Herzogenfurt hierher, um schließlich Dir endlich mal wieder über den Weg zu laufen! Und danach geht es auch gleich wieder nach Hause - ich will schließlich pünktlich wieder da sein, um..." aus einem Reflex heraus senkte er, sich kurz umsehend, seine Stimme - wer wusste, wie viele Ohren dieser Wald hatte - um etwas leiser, aber mit erkennbarer Vorfreude in der Stimme fortzufahren, "... um unser zweites Kind zu begrüßen."

“Du wirst wieder Vater? Oh, Nivard das ist ja wunderbar!” Selbst wenn der Wald es eben noch nicht mitbekommen hatte - spätestens jetzt, bei Rajalinds erfreutem Ausbruch wusste er um das Geheimnis.

Nivard zuckte zusammen und sah erschrocken ins Dunkel des Waldes, musste aber anerkennen, dass er Rajalind in der Lautstärke ihrer Freude wohl kaum dämpfen konnte. Außerdem wollte er nicht paranoid erscheinen. Wahrscheinlich waren die einzigen, die im Dickicht mitlauschten, die Tiere des Waldes, und die würden das alles für sich behalten, beruhigte er sich.

“Das freut mich wirklich ganz ganz irrsinnig für euch beide. Ich hoffe für die Geburt das Allerbeste und werde Mutter und Kindlein ins Gebet einschließen. Und dich auch. Pass ab sofort noch viel viel mehr auf dich auf, versprich mir das, ja?” Nivard nickte nachdenklich. "Ich gebe jedenfalls mein bestes.” Insgeheim war er sich nicht sicher, ob das genug war.

Rajalind, die selbst ohne Vater aufgewachsen war, sich aber immer gewünscht hatte, sie hätte ihn vor seiner Ermordung wenigstens einmal sprechen können, trieb durchaus Sorge für ihren Freund Tannenfels zu diesen Worten. Wie gefährlich nahe sie dabei an Nivards eigenen Sorgen kratzte, war ihr offenbar überhaupt nicht bewusst. “Erzähl mir von deinem ersten Kind! Ist es ein Mädchen oder ein Junge?” Ihre Augen leuchteten im Dunkeln vor Freude.

"Ein Junge, Raginhard Winrich, er ist jetzt gut 10 Monde alt und ein wunderschönes Kind…“

„Oja, das ist er ganz bestimmt!“

„…Schließlich kommt er ganz nach seiner Mutter." Nivard war trotz der gesenkten Stimme der Stolz über seinen Sohnemann deutlich anzuhören. "Er macht inzwischen schon kräftig die Baronsburg unsicher, krabbelt überall hin - vor allem dorthin, wo er eigentlich nichts verloren hat, und zieht sich an allem hoch - ich könnte mir gut vorstellen, dass er sogar schon läuft, wenn ich wieder zurück bin." Nivard seufzte. "Ich sollte mehr zu Hause sein, fürchte ich.”

Rajalind legte eine Hand auf Nivards Arm. „Wenn du so fühlst, dann solltest du diesem Gefühl unbedingt nachgehen, Nivard. Weißt du, ich hatte keinen Vater. Das heißt, schon, aber ich erfuhr erst, wer es war, als er zu Boron gegangen war und im Nachhinein betrachtet, wünschte ich mir, er hätte sich mir offenbart und wäre für mich dagewesen.“

Nivard schluckte und nickte betreten. Er konnte Rajalind gut verstehen, und er wollte nicht, dass seine Kinder ihr Schicksal teilten. Insgeheim fragte er sich manchmal selbst, warum er - zusätzlich zu seinen Pflichten seiner Dienstherrin gegenüber und mit deren Einverständnis natürlich - so sehr diesem Pruch hinterherjagte - was ihn letztlich ja sogar hierhin geführt hatte. Warum überließ er nicht anderen diese Aufgabe und widmete sich lieber mehr seiner Familie, war für Elvrun und ihre gemeinsamen Kinder da und passte vornehmlich auf diese auf? Andererseits war es Elvruns Lieblingsonkel, der von dem Frevler entführt worden war. Und er selbst war damals zugegen gewesen, als der Feind das Herz der Nordmarken zerstört hatte. Konnte es trautes Familienglück am heimischen Herdfeuer überhaupt geben, wenn man wusste, dass Travias Widersacher draußen sein Unwesen trieb? War es nicht eine Lüge, seine Augen zu verschließen, statt dem Feind entgegenzutreten und dazu beizutragen, dass der Frieden wieder zurückkehrte - für alle? "Du hast Recht." antwortete er schließlich leise. "Ich sollte - und ich werde diesem Gefühl folgen. Aber erst muss ich tun, was getan werden muss. Nicht für mich, sondern für meine Kinder."

“Und was ist das?” fragte sie besorgt.

Nivard zögerte. Einerseits hatte er das Gefühl, dass inzwischen so viele von Bäckerpruch sprachen, nicht nur, aber gerade auch hier, in Lützeltal. Andererseits wusste er nicht, ob es gut war, das Wissen und mit diesem die Furcht noch weiter zu streuen und noch mehr Leute in diese Sache hineinzuziehen - falls Rajalind nicht ohnehin schon längst im Bilde war. "Einen Feind zur Strecke bringen, der eine Gefahr für uns alle darstellt. Mehr soll diesen schönen Abend und unser Wiedersehen nicht trüben."

„Ah, Krieger- und Ritterzeug!!“ kombiniert sie. „Das verstehe ich.“ Sie hakte das Thema erstaunlich schnell und einfach ab. Entweder wusste sie, um was es ging, oder sie wusste es nicht.

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Meta trug ähnliches Gewand wie Nivard, war sie doch mit für den Schutz des Magiers hier. „Herr, wo soll ich eurer Meinung nach am besten gehen und auf was achte ich bei dem Weg am meisten? Gibt es eine Stelle, an der unsere Gruppe besonders gefährdet ist?“

„Am besten bleibt Ihr hier an meiner Seite“, spielte Gudekar den Auftraggeber. „Mit Euch in meiner Nähe fühlte ich mich am wohlsten. Und vorne sind schon andere Krieger, die aufpassen können, dass uns nicht Ähnliches widerfährt wie damals in Schweinsfold. Aber ich glaube nicht, dass uns hier etwas zustoßen wird, da gibt es für den Feind interessantere Gelegenheiten. Und ich möchte die Gäste nicht unnötig beunruhigen.“

„Das sehe ich auch so. Und wir haben Eure Frau und die Mutter Eures anderen Kindes im Blick. Obwohl diese ja wehrhafter scheint und ihren Mann dabei hat.“ Den kurzen Moment, den sie noch alleine waren, flüsterte sie Gudekar zu. „Bei den Göttern, diese Doratrava ist auch dabei. Du weißt, dass ich sie schon nicht leiden konnte, als wir uns kennengelernt haben? Irgendwie ist sie immer überall dabei.“

“Doratrava?” fragte Gudekar erstaunt. “Nein, das wusste ich nicht. Was hast du gegen sie? Sie ist doch sympathisch. Ich vertraue ihr eher, als so manch anderen Teilnehmern auf dieser Wanderung.” Er musste an das lange Gespräch vor einem guten Jahr in Elenvina mit der Gauklerin  und die darauf folgenden Ereignisse auf dem Flussfest zurückdenken.

„Es sind viele Kleinigkeiten. Damals, bei den Ringhütern oder auch sonst. Ich weiß, dass sie wohl Halbelfe ist, aber egal, wie sehr ich mich anstrenge, sie gibt vor, nur Gauklerin zu sein, aber sie muss übermenschliche Gaben haben. Es ist wohl eine persönliche Sache. Linny kann sie ebensowenig leiden.“

Gudekar überlegte kurz. „Ich mag sie irgendwie. Sie ist faszinierend, rätselhaft…“

„Gut, das ist Deine Entscheidung. Ich mag ja auch Linny und du nicht.“

Gudekar nickte bestätigend – aber mit nach unten gezogenen Mundwinkeln.

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Zu dem Magier gesellten sich die Erbvögtin von Galebfurten und deren Bedeckung.

Die junge Adlige hatte die kostbare Gewandung abgelegt und trug nun hohe, geschnürte Stiefel, eine dunkle Wildlederhose und einen blau gefärbten Wams. Ein gewachster Umhang mit Kapuze, welcher Lucillas lange Haare und zumeist auch ihre obere Gesichtshälfte verdeckte, rundeten den Aufzug ab, den die Galebfurtenerin für die Wanderung ausgewählt hatte.

Lûthardt Anselm, der junge Ritter, der der Junkerin von Galebfurten und vom Quellpass wie ein Schatten zu folgen schien, hatte die Kette abgelegt, trug aber weiterhin seinen Gambeson und den Wappenrock in den Farben seiner Familie. Auch er hatte darüber einen Kapuzenmantel angelegt, die Haube jedoch in den Nacken geschlagen. Und wie selbstverständlich trug er das Schwert an der Seite.

Aufmerksam beobachtete die Adlige ihre Umgebung und dabei im Speziellen die Begleitung des Anconiters, in dessen Nähe sie sich aufhielt. Ihr amüsiertes Lächeln über die Gespräche in ihrer Umgebung verhehlte sie dabei nicht.

Als der Magier das Gespräch mit Meta beendet hatte, wandte er sich an Lucilla. „Eure Wohlgeboren, diese Hohe Dame hier“, er wies auf Meta, „das ist die Ritterin Meta Croy, die an meiner Seite nach Tälerort reisen wird. Meta, dies ist Lucilla von Galebfurten, ein Familienmitglied unseres neuen Herrn Wunnemar.“

“Ich bin hoch erfreut nun auch eure Bekanntschaft zu machen hohe Dame”, sprach die Galebfurtenerin und klappte mit beiden Händen ihre Kapuze nach hinten, so dass man ihr jugendliches Gesicht - sie mochte noch jünger sein als Meta selbst - im Schein der Fackeln erkennen konnte.

“Wunnemar berichtete mir von einem… Abenteuer, das ihr gemeinsam mit ihm bewältigt habt”, fuhr die Erbvögtin an die Croy gerichtet weiter fort, während Lûthardt Anselm, ein Ritter von großem Wuchs, breiten Schultern und kastanienbraunen, wilden Haaren Meta neugierig musterte.

„Da hat er Recht, Euer Wohlgeboren. So haben wir uns kennengelernt. Damals war ich noch Knappin, doch bin ich ihm wohl irgendwie im Gedächtnis geblieben.“ Sie machte eine kurze Pause. „Jetzt bin ich Ritterin und will weiter lernen, auch, wenn es hart sein wird. Gudekar braucht jemanden, der ihm mit dem Schwert den Rücken freihält, zudem wurde mir gesagt, dass wir, gerade weil es so gefährlich ist, anfangs in Gruppen unterwegs sein werden. So weit zu mir. Welche Fragen habt ihr noch?“

Gudekar sprach innerlich ein Stoßgebet: ‘Herrin Hesinde, habe die Gnade und schenke Meta genug Weisheit und Ihrer Wohlgeboren hinreichend Nachsicht, auf dass Metas lockeres Mundwerk hier und heute keinen Schaden anrichtet!’

"Gefährlich?", wiederholte die Erbvögtin überrascht und wandte sich mit fragendem Blick und erhobener Augenbraue an den Magus.

Gudekar zuckte mit den Schultern. “Nun, es gibt ja wohl mancher Orts noch die Überbleibsel der dämonischen Umtriebe in Wunnemars Ländereien, wenn ich es recht verstanden habe. Da kann man wohl nicht vorsichtig genug sein, oder?” Seine Stimme klang so beiläufig, als ob er selbst nicht an ernste Gefahren glaubte.

Lucilla nickte. “Dies entnehme ich auch den Berichten, die mich aus der Rabenmark erreichen.”

Die Adlige schmunzelte und legte sich in einer bewusst aufgesetzten Geste die rechte Hand auf die Brust und spielte Erleichterung vor. “Und ich dachte schon, das ‘gefährlich’ beziehe sich auf unseren kleinen Spaziergang hier.”

“Ich denke nicht, dass die Wanderung zu gefährlich wird. Außer, jemand vertritt sich in der Dunkelheit den Fuß. Aber dann bin ich ja zur Stelle.” Gudekar war sich nicht ganz so sicher, ob seine Hoffnung erfüllt würde.

Ardare hatte nach einem längeren Gespräch mit dem Mersinger beschlossen, dass sie bewaffnet zur Nachtwanderung erscheinen würde. Vor einigen Monden hatte sie durch einen Zufall ein sündhaft teures elfisches Jagdrapier erstanden - ein Wolfsmesser, hieß es wohl - das nicht so sperrig war wie der Säbel, welcher sonst die Waffe ihrer Wahl war. Dennoch trug die Waffe auf. Die Baroness, die selbstverständlich keine Erfahrung damit hatte, eine Waffe verdeckt zu tragen, tat sich reichlich schwer damit, ihren Umhang locker über das Reitkleid fallen zu lassen, ohne dass die schlichte Scheide des Rapiers sich im Umhang verfing. Die große, schwarzbraun gescheckte Wehrheimer Bluthündin, die sonst so willkommen an ihrer Seite war und immer wieder gegen die Waffe unter dem Umhang stieß, tat ihr übriges dazu, um die Bewaffnung der jungen Frau zu einem eher offenen Geheimnis zu machen, und sie obendrein ordentlich abzulenken. Und das, wo Arda doch besonders wachsam sein wollte!

Die Schwierigkeiten der Baroness ließ sie bald bis zum Ende der Gruppe zurückfallen. Als sie der Scharade ein Ende machte und den Umhang so drapierte, dass die Jagdwaffe mit der schlichten Scheide sichtbar, aber nicht mehr weiter hinderlich war, wurde sie des Magiers gewahr, den sie zweifelsohne als solchen erkannte - brannte doch sein Stab wie eine Fackel! Auch die letzten Worte, die dieser mit der kapuzenbedeckten Frauengestalt neben sich ausgetauscht hatte, waren ihr nicht entgangen. Sich unbefangen gebend, ließ sie sich bis auf die Höhe der drei Personen zurückfallen.

Mit einem skeptischen Blick auf die offensichtliche Bewaffnung der Baroness bemerkte Gudekar: “Falls Ihr vorhabt, auf die Jagd zu gehen, so seid Ihr einige Stunden zu früh. Die Jagdgesellschaft trifft sich erst zum Sonnenaufgang mit seinen Gnaden Firumar an der Jagdhütte. Aber ich bin sicher, die Häslers können Euch einen Schlafplatz in der Hütte herrichten.”

“Danke, nein. Ich hatte heute Nachmittag genügend Rast.” beschied sie dem Magus - vermutlich jenem, vor dem sie sich laut Lares fernhalten sollte. Mit einem Kopfnicken die Runde stellte sie sich vor: “Ardare von Kaldenberg, Baroness von ebendort. Mit wem habe ich das Vergnügen?”

“Sehr erfreut, Euer Wohlgeboren. Mein Name ist Gudekar von Weissenquell, Angehöriger der Bruder- und Schwesternschaft zur Förderung der Heilkunst des Anconis und Angehöriger unseres Klosters in Albenhus. Dies”, der Magier wies auf die Erbvögtin, “ist Ihre Wohlgeboren Lucilla von Galebfurten, und diese hohe Dame ist Meta Croy.”

Die Adlige nickte der Baroness knapp aber höflich zu, schwieg jedoch, da sie nicht in die laufende Konversation eingreifen wollte.

Nachdem Arda höflich Kenntnis von den beiden anderen Frauen genommen hatte, fragte sie Gudekar: “Ein Anconiter? Dann seid Ihr womöglich gar in der Magia curativa bewandert? Ich wollte das Kloster schon immer mal besuchen - allein, es wollte sich nie ergeben.”

“Das ist korrekt. Die Heilkünste sind mein Fachgebiet. Nun, was hält euch ab, die alten Gemäuer auf Eurer Rückreise zu besuchen, wenn es Euch ergötzt, das Leiden und Siechen des Volkes an einem Ort versammelt zu sehen? Albenhus dürfte auf Eurem Heimweg liegen.” Arda fiel ein gewisser abfälliger Tonfall in Gudekars Stimme auf, als er über sein Kloster sprach.

Meta beschränkte sich darauf, höflich zu nicken.

"Ich war stets in dringlicheren Angelegenheiten unterwegs…", erläuterte die Baroness bewusst vage. Der missgünstige Ton des Magiers war ihr keinesfalls entgangen, doch sie stellte diesen hochinteressanten Aspekt erstmal zurück.

Zunächst einmal galt es, die Konversation weiterzuführen: "Doch Ihr habt recht, ich habe mit Siechen nicht viel zu schaffen. Von der Ausbildung her bin ich eher Anatoma. Wo habt Ihr Eure Ausbildung erhalten, wenn Ihr mir die Frage gestattet? Womöglich im Horasreich?"

Der Anconiter lachte. „Nein, ich war noch nie, ähm, ich meine erst einmal im Horasreich. Meine Ausbildung habe ich in Donnerbach absolviert. Aber Ihr seid ebenfalls am Handwerk des Heilens interessiert?“

Die Baroness winkte ab. "Es handelt sich um rein akademisches Interesse.", entgegnete sie an der Grenze zwischen Tiefstapelei und Lüge. "Ich habe mit dem Gedanken gespielt, an der Methumiser Universität das Physicum abzulegen, aber - es hat sich nicht ergeben…", lachte sie, in Anspielung an ihre vorige Äußerung. "Das scheint mich zu verfolgen…", setzte sie amüsiert nach.

Mit abklingender Heiterkeit fragte sie den Magus unvermittelt: "Sagt: warum verachtet Ihr das Kloster so?"

“Verachten? Wieso sollte ich das Kloster verachten?” fragte der Heilmagier verständnislos, aber mit scharfer Zunge. “Warum sollte ich den Ort verachten, der mir zwölf göttergefällige Jahre ein Zuhause, eine Zuflucht war? Wo ich meine Frau nicht nur kennengelernt sondern auch glücklich mit ihr zusammengelebt habe? Wo ich behütet war vor den Schrecken und Verführungen der Welt? Wieso sollte ich die Mauern verachten, in denen ich Gutes tun konnte für all die Menschen, die Armen, die Kranken, die Hilfe benötigten? Wo ich Menschen vor dem Siechtum bewahren oder, wenn dies nicht mehr möglich war, ihnen den letzten Weg erleichtern konnte? Warum sollte ich diesen Ort verachten?”

"Ihr beantwortet meine Frage mit einer Menge Gegenfragen, allesamt von rhetorischer Natur. Wenn ich mit meiner Eingebung falsch lag, was Euer Verhältnis zum Kloster betrifft, dann seht es mir nach. Es geht mich ja auch gar nichts an.", sprach die Baroness ungerührt. "Ich wollte Konversation betreiben", log sie, "und meine nächste Frage hätte Donnerbach betroffen, doch traue ich mich nun gar nicht zu fragen."

Gudekar schaute die junge Frau erstaunt an. Er hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber nicht, dass ihm derart ein Spiegel vorgesetzt wurde. Perplex antwortete er ihr, recht verunsichert. “Ähm, ja, entschuldigt meine Unverfrorenheit! Meine Art zu antworten war anmaßend. Ich wollte Euch nicht vor den Kopf stoßen.” Gudekar ärgerte sich über sich selbst, hatte er sich doch vorgenommen, sich von den Gästen seiner Schwester nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Gwenn sollte eine friedliche, harmonische Feier bekommen. Das hatte sie verdient. Deshalb wollte er die potentiellen Unverfrorenheiten der Gäste ignorieren. Dennoch hatte er sich provozieren lassen. “Natürlich dürft Ihr mir Fragen stellen. Ich werde meine Zunge zügeln. Dennoch würde mich die Intention Eurer Frage nach meinem Verhältnis zum Orden interessieren.”

"Ich meinte aus Euren Worten - nein, aus Eurem Ton - eine konfliktbehaftete Beziehung zum Kloster herausgehört zu haben - oder zum Orden?" Die Baroness gab sich nachdenklich und weich, da sie erkannte, dass sie ihr Gegenüber damit überrumpelte.  "Ich erkenne nun meinen Irrtum." Damit schlug sie kurz die Augen nieder. "Entschuldigt bitte meinen Übergriff." Arda blickte ihn nun offen an und legte ihm kurz die Hand auf dem Arm. Sie wusste nur zu gut, dass sie eine schöne Frau war und Männer mit nur wenig Effekt durcheinanderbringen konnte.

Die Ritterin hatte sehr brav geschwiegen und war stolz auf sich. Endlich war sie wieder unauffällig genug, selbst Gudekar hatte sie vergessen und sich völlig anders gegeben. Dumme Fehler gemacht, das hatte er, aber daran konnte man arbeiten. Früher, als Phex ihr noch näher stand, war es für Meta oft einfach, irgendwo dabei zu sein und vergessen oder nicht gesehen zu werden. Wahrscheinlich kam daher auch ihr freches Mundwerk, auch damit konnte man überraschen. Hätte sie jetzt können, aber sie blieb still. Blödes Gedächtnis. War sie mit Linny dieser Frau der vielen Fragen schon einmal begegnet?

Gudekar drehte seinen Kopf zu Arda, als sie seinen Arm ergriff, und schaute sie erstaunt an. Einen Moment überlegte er, ob er seinen Arm wegziehen sollte, entschied sich dann jedoch, der Baroness nicht noch einmal vor den Kopf zu stoßen. Friedlich, leicht verunsichert kommentierte er Arda Vorwürfe. “Nein, Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Ich habe ja tatsächlich viel zu abfällig über meinen Orden gesprochen, dem ich so viel zu verdanken habe. Vermutlich hat mich einfach nur eine innere Unzufriedenheit mit meinem bisherigen Leben übermannt. Eine Unzufriedenheit, mich viel zu früh und viel zu lange an…”, Gudekar warf einen Blick zu Meta, “an einen Ort gebunden und mir zu wenig Freiheiten gelassen zu haben, mein Leben selbst zu gestalten. Zu wenig erreicht zu haben.”

“Was hindert Euch daran, diesen Schritt jetzt zu gehen?”, fragte Arda. Sie blickte ihren Gesprächspartner mit entwaffnender Neugier, aber auch einer gewissen Anteilnahme an.

„Nichts!“ belog der Magier mit innerer Überzeugung nicht nur Arda, sondern vor allem sich selbst, während er liebevoll zu Meta blickte.

Diese hielt sich weiterhin im Hintergrund. Sie konnte dem Gespräch sowieso nichts hinzufügen. Die nächsten Tage würden schwerer werden, als gedacht. Sie lächelte Gudekar aufmunternd zurück, aber sie spürte, dass er jetzt, als es langsam ernst wurde und er einen Schritt wagen musste, der beiden Frauen gegenüber nur fair und viel zu lange hinausgezögert war, an Sicherheit verlor. Meta weigerte sich gegen den Gedanken, alles könnte auf dieser Hochzeit enden. Vertrauen. Das war immer ihre Basis gewesen. Alles, was er ihr geschrieben, gesagt und gezeigt hatte, mochte sie nicht als leere Versprechungen hinnehmen. Jetzt aber musste er zeigen, dass er ein Mann war, der wusste, was er wollte.

Der flinke Blick der Baroness wechselte interessiert und aufmerksam von dem Magier zu der zurückhaltenden Ritterin hin und her. Sie unterdrückte ein Lächeln. Gudekar mochte gut zehn Jahre älter sein als sie, doch sie wusste, man war nie zu alt, um ein Narr zu sein.

Mit einem hintergründigen Schalk in den Augen fragte sie: “Dann… tragt Ihr Euch mit der Entscheidung, den Orden zu verlassen?” Während sie sprach, machte sie einen kleinen Schritt zur Seite, um der Ritterin die Gelegenheit zu geben, zu den Sprechenden aufzuschließen.

“Ja”, bestätigte der Magier, “ich werde den Orden verlassen und an den Hof des Familienoberhaupts der Dame von Galebfurten”, Gudekar wies auf Lucilla, “ziehen. Wir sprachen gerade heute ausführlich über diesen Schritt. Die Dame Croy wird mich als Bedeckung dorthin begleiten und sich ebenfalls in den Dienst des Barons stellen.” Gudekar deutete zu Meta, damit diese zu den anderen aufschließen konnte.

Arda notierte sich diese Informationen in Gedanken. Dem galt es nachzugehen… wozu benötigte der unbedeutende Herr einer abgelegenen Gratenfelsener Baronie einen Hofmagus? Zumal die Donnerbacher Akademie eine der meist unterschätzten Magieschulen Aventuriens war, und deren Absolventen sich beileibe nicht nur auf die Heilung verstanden. Und auch dieser Gudekar war mehr - oder vielleicht etwas anderes? - als er zu sein vorgab, da war sich Arda sicher. Lares’ Warnung hatte sie zuerst als praiosfrömmelnde Abneigung vor Magiebegabten abgetan, doch nun schloss sie nicht aus, dass mehr dahinter steckte.

Nach außen gab sich die Baroness jedoch unbedarft und schlug begeistert die Hände zusammen, als sei die Veränderung, die der Magier in seinem Leben angekündigt hatte, ein spannendes Abenteuer, das auf ihn wartete.

“Dann hoffe ich, dass Euch die neue Anstellung jene Freiheiten gibt und nicht an einem Ort bindet…”, antwortete sie mit einem unschuldigen Lächeln, nicht ohne die Absicht, den Magus auf den offensichtlichen Widerspruch zwischen seinen Wünschen und Plänen zu stoßen.

Dieser ließ sich jedoch nicht anmerken, ob er den Sarkasmus in Ardas Worten nicht wahrnehmen wollte, oder dies tatsächlich nicht tat. “Habt Dank”, erwiderte er deshalb mit einem freundlichen Kopfnicken, “Satinav wird zeigen, was der Aufenthalt in Tälerort für Aufgaben und Erkenntnisse für mich bereithält.”

Ardas Augen zuckten kurz hin und her, als sie ihren Irrtum bemerkte. Der Rest ihrer Mimik jedoch blieb unverändert. Tälerort, war das nicht in der Rabenmark? Dann ergab der Hinweis auf die Bedeckung durch die Ritterin umso mehr Sinn. Die Baroness schauderte kurz, als sie an die Dinge dachte, die sie von ihrer Dienstritterin über die Rabenmark erfahren hatte… ehemalige Dienstritterin, korrigierte sie sich, und eigentlich die ehemalige Dienstritterin ihres Bruders. Und IHRE ehemalige Freundin… was ein paar unbedachte und im Zorn ausgesprochene Worte so alles verändern konnten!

Von einer trübsinnigen Stimmung erfasst, sparte sich Arda die hohl klingenden Lippenbekenntnisse, die ihr in Bezug auf die Rabenmark und die Aufgaben, die den Magus dort erwarten mochten, in den Sinn gekommen waren. In sich gekehrt lief sie Seite an Seite mit ihren Begleitern.

Die frische Ritterin blieb weiter stumm. Sie nickte nur. Düster, das schien angebracht, so wie sich die Stimmung entwickelt hatte.

~*~

Eine Fackel nahm sie nicht mit. Ihre elfischen Augen sahen auch bei schwachem Licht noch recht gut, und zudem gab es ja genug weitere Fackelträger, die mit dem hellen Schein des Feuers den Weg zeigten.

Was ihre Schritte vom Treiben auf dem Dorfplatz fortgeführt haben mochte? Vielleicht waren es die Ruhe und die Kühle des Abends. Sie wusste es nicht so recht zu sagen, machte sich aber auch keinesfalls die Mühe, darüber nachzudenken. Nur wenig liebte sie mehr als den Wind des Abends. Er trug so viele angenehme Erinnerungen mit sich.

Am Rand sah sie, dass einige Begleiter gelegentlich umher schwirrten: zierliche Glühwürmchen.

Eine einfache Handbewegung nur - mehr intuitiv denn bewusst -, und ein glitzernder Reigen von kleinen, funkelnden Lichtern huschte in den abendlichen Wald. Ein einfacher Zauber, den sie vor vielen Jahren einst bei einem freundlichen Zauberer im Seminar der Verständigung in Donnerbach gelernt hatte, weil er ihr so sehr gefallen hatte. Licht ist schön.

Eine Weile betrachtete sie das Spiel der aufblitzenden Funken, ehe sie langsam verblassen.

Dann bemerkte sie eine weitere Wandererin der Nacht, die sich zu ihr gesellt hatte. Sie wandte sich ihr zu.

Mit leuchtenden, fast kindlichen Augen und von Vergnügen leise kichernd beobachtete Imelda von Hadingen die herrlichen Funkellichter, die die Elfenbaronin durch die Dunkelheit flirren ließ. Die junge Geweihte trug einen gefütterten dunkelblauen Rock über ihren Winterstiefeln, dazu eine grobe langärmelige Bluse, eine warme Weste und einen dicken dunkelvioletten Mantel mit passender Mütze. An ihrem breiten Schmiedegürtel mit bronzener Schnalle hingen ihr ewiges Licht in Form einer kleinen Laterne, ihr Schmiedehammer sowie ein kleiner, praktischer Dolch. Obwohl sie bereits recht dick angezogen war, hatte sie das Angebot dankend angenommen, einen warmen, dunkelgrünen Wollumhang auszuleihen, den sie sich zusätzlich über die Schultern geworfen hatte. Neugierig warf die Hadingerin verstohlene Blicke zu der wunderschönen Elfe, von der sie viel gehört und die sie bei der Schweinsfolder Hochzeit schon einmal von weitem gesehen hatte - traute sich jedoch noch nicht, Liana tatsächlich anzusprechen.

Das leise Kichern ließ Liana aufmerken.

Ihr Kleid aus Bausch schien vergleichsweise einfach, wenn man es mit den Kleidern verglich, die die Damen bei Hofe sonst so trugen. Doch es war von erlesener Machart, und die leichte Brise des Abends spielte mit dem Saum und den Ärmeln.

Liana blieb nun stehen und versuchte, die Gestalt in der Dunkelheit zu erkennen. Das ewige Licht an Imeldas Seite half ihr dabei, und ihre Dämmerungssicht tat ihr Übriges.

““Wollt Ihr Euch nicht zu mir gesellen?”, fragte sie freundlich.

“Ihr… wart doch bereits auf der Hochzeit zu Schweinsfold, nicht wahr?” Langsam hob sie ihre Hand. Eine einladende Geste.

“Wenn ich dem Spiel der Glühwürmchen folge, nimmt es mich schnell gefangen”, sagte sie dann amüsiert.

“Ich hoffe, meine kleine, gedankenverlorene Antwort auf ihr Spiel hat Euch gefallen.”

Imelda schaute die faszinierende, elegante Dame mit staunenden Augen an und trat mit einem verträumten Lächeln näher an die Elfe heran. "Oh, das war wundervoll, die tanzenden Funken! So schön!" schwärmte die junge Geweihte, dann erst dachte sie daran, ihren Kopf ehrerbietig vor der Baronin zu neigen. "Ähm, Ihr könnt Euch wirklich an mich erinnern, Euer Hochgeboren?" fragte sie überrascht und leicht verlegen nach. "Jedenfalls freut es mich unheimlich, Euch kennenzulernen! Ich bin Imelda von Hadingen, Gesellin des Feuergottes...", mit einer immer noch etwas befangen wirkenden Geste zeigte sie erklärend auf die Laterne, die sie an ihrem Gürtel trug, "...mir gefallen Lichter, Funken und Flammen eben einfach!" Je mehr Imelda in der für sie ungewöhnlichen Gesellschaft auftaute, um so breiter und kecker wurde ihr Lächeln. "Damals bei der Hochzeit in Herzogenfurt hab ich übrigens auch mit Eurem galanten Ritter Darian getanzt! Ich darf Euch versichern, er hat dabei den allerbesten Eindruck gemacht!"

Lianas Antwort klang heiter: “Natürlich erinnere ich mich an Euch. Und an die Feierlichkeiten, und an die ausgelassene Stimmung. Und wenn Ihr Darian zum Tanzen gebracht habt, dann ist Euch damit ein Kunststück ganz eigener Art gelungen.

Ich weiß nur wenig über die Dienerinnen und Diener des Herrn des Feuers. Und diejenigen, die ich bisher kennengelernt habe, schienen mir immer so ernst und in ihre Arbeit vertieft. Sie schaffen wunderbare Kunstwerke, die ich mit Bewunderung betrachte. Doch ich hätte nie gedacht, dass sie auch so ausgelassen zu feiern verstehen. Offenbar habe ich mich getäuscht. Es würde mich freuen, wenn Ihr mir mehr über Euch erzählt. Wie Ihr zum Feuergott fandet. Was er für Euch bedeutet.”

Gespielt entrüstet schüttelte Imelda ihre rotblonden Locken. “Wer hat Euch gesagt, dass Anhänger meines Gottes nicht feiern könnten?! Das Gegenteil ist der Fall! Viele von uns genießen nach einem langen Tag an der heißen Esse gern ein frisches Gebrautes und lassen den Tag bei Musik und Tanz ausklingen… Ich hab ja auch viel von den Angroschim gelernt, die sind meisterlich im Handwerk und im Feiern… Und dem Darian hab ich damals schon gesagt, dass er ruhig öfter mal mit Euch tanzen soll”, plauderte sie freimütig weiter. Mit einem leichten Lächeln sann sie dann, während sie durch die Dunkelheit stapfte, über die zweite Frage der Elfenbaronin nach. “Wie ich meinen Weg zu Ingra gefunden habe? Na ja, eigentlich wurde es mir fast in die Wiege gelegt. Über die Generationen haben viele Leute aus meiner Familie dem Gott gedient und in seinem Tempel gearbeitet. Unser Heimattempel ist nämlich über einer tiefen Kaverne mit heißem, flüssigen Gestein gebaut und alle paar Jahre - oder Jahrzehnte - schießt da die Lava nach oben… Das ist ein großartiges, unglaubliches Spektakel, das ich als kleines Mädchen einmal mitansehen durfte! Aber auch schon vorher war ich fasziniert von den hellen, heißen Flammen des Feuers - und wie daraus etwas wunderschönes, kunstfertiges zum Vorschein kommen kann. Wenn Ihr zum Beispiel verschiedene Metalle nehmt”, Imeldas Augen leuchteten voller Begeisterung und ihre Stimme wurde lauter und aufgeregter, “...und diese zusammen schmiedet, miteinander verbindet - dann entsteht manchmal etwas, was besser und stärker ist als die Summe seiner Teile! Es ist immer wieder eine Überraschung, wie ein Stück letztendlich gelingt… und ich möchte nie aufhören, mich darin zu üben, zu lernen und besser zu werden!” Ein bisschen verlegen blickte sie nach unten auf den Pfad vor sich und schaute Liana dann fragend ins Gesicht. “Oje, ich hoffe, ich langweile Euch nicht, Hochgeboren… Ihr müsst mich da stoppen, sonst rede ich viele, viele Stundengläser lang nur übers Schmieden…”

“Durchaus nicht”, gab sie schnell zur Antwort.

“Ich spüre die Leidenschaft in dem, was Ihr sagt, und daher höre ich Euch gern zu.”

Sie hielt einen Moment inne, um ihre Gedanken zu ordnen.

“Es sind häufig die Anhänger der Tsa und der Rahja, in deren Nähe ich mich gern aufhalte. Sie strahlen Leichtigkeit aus. Oder eine tiefe Leidenschaft für das, was sie als schön empfinden. Und dass die Anhänger des Ingrimm oder Angrosch nicht zu feiern verstünden, hat mir niemals jemand gesagt. Es ist vielmehr ein Impuls - oder das, was ich glaubte, zu spüren. Diejenigen, die ich bisher kennenlernte, wirkten immer so ernst auf mich, ja, mehr noch, so unglaublich fokussiert auf ihre Arbeiten, dass mir manchmal schien, sie würden vergessen, dass zu ihrer Arbeit auch der Wille gehören sollte, sich an der Schönheit zu erfreuen, die sie hervorbringt.”

Sie sah Imelda tief in die Augen.

“Doch möglicherweise habe ich mich geirrt oder übersehe etwas.”

“Ach, Ihr habt ja schon recht… es gibt durchaus den ein oder anderen Angroscho, der ernst und grummelig wirkt. Die meisten von denen sind aber ganz nett. Wenn man zum Beispiel versteht, sie auf ein Ferdoker einzuladen.” Die junge Geweihte schmunzelte und wog unentschlossen den Kopf hin und her. “Sie sind es vermutlich nicht gewohnt, viel unter Leute zu kommen und leben in ihrer eigenen Welt... Meister Ingerian, mein Onkel, bei dem ich gelernt habe, er hat sich auch eher dem mystischen Zweig unseres Glaubens verschrieben. Meine Leidenschaft für die Waffenschmiedekunst, die toleriert er eher.” Nachdenklich lief Imelda neben der schönen Elfe her. “Und es ist schon beeindruckend, wenn die Hitze, diese unglaubliche Macht Ingras, welche man am ganzen Körper spürt, einen ergreift und nicht wieder loslässt, wenn man völlig in der Arbeit aufgeht… Das hat mein Leben verändert”, rief sie begeistert mit leuchtenden Augen. “Aber wenn ich mit Ingras Hilfe etwas Schönes erschaffen habe, dann möchte ich das genauso gerne zeigen! Dann freue ich mich, wenn sich andere Leute daran erfreuen. Und ich denke, das geht nicht wenigen meiner Glaubensschwestern und -brüder so.” Sie schaute Liana fragend an. “Vielleicht ist es so ähnlich, wenn Ihr singt oder tanzt? Ihr macht das sicherlich, weil es Euch selbst glücklich macht - aber bestimmt beglückt es Euch auch, anderen damit eine Freude zu schenken?”

Die Frage war so einfach, so klar. Und doch musste Liana eine Weile nachdenken, ehe sie antwortete.

“Tanzen ist für mich ein Ausdruck von Freude. Und ja, es bereitet mir ebenfalls Freude, wenn diese Freude dann auch geteilt wird”, sagte sie. “Deswegen tanze ich meist auch nur mit jenen, bei denen ich den Eindruck habe, dass es uns gleichermaßen gelingt.” Ihre Augen blitzten kurz amüsiert auf.

“Bei Singen ist das anders. Lieder sind so verschieden wie die Farben der Blätter im Herbst. Aber: Ja, natürlich gibt es solche, die einfach der Freude entspringen. Und bei denen es sogar mein Wunsch ist, anderen Trost und Zuversicht zu geben.” Sie sprach nun leise, nachdenklich.

“Doch es gibt auch solche Lieder, die nicht für die Ohren anderer bestimmt sind. Ja, mehr noch, die ihnen Kummer und tiefe Traurigkeit brächten, würden sie sie hören. Nicht selten, wenn ich singe, fließt Mandra durch meine Stimme. Daher muss ich manchmal vorsichtig sein.”

Die junge Geweihte sah mit großen blauen Augen die Elfe an. Sie schluckte und fragte vorsichtig und etwas schüchtern nach: "Ich stelle mir das ganz wundervoll vor. Also mit dem Mandra in Eurer Stimme. Würdet Ihr vielleicht... also, wenn sich später die Gelegenheit ergibt... würdet Ihr vielleicht etwas singen? Vielleicht etwas schönes, etwas, was ans Herz geht?" Erwartungsvoll und bittend sah sie zu Liana und fügte eilig hinzu: "...aber nicht zu traurig."

Liana nickte nur einmal leicht.

“Wenn Ihr mich so darum bittet, will ich es gerne tun”, sagte sie sanft.  “Und seid versichert, es wäre nicht traurig. Denn im Augenblick, in diesem friedlichen Dorf und umgeben von all den Menschen, die sich auf das Fest freuen, empfinde auch ich Freude.”

~*~

Rondrard wusste nichts davon, dass einige der anderen Gäste offenbar auf jeder Hochzeit innerhalb der Nordmarken mit Angriffen von Paktierern und Dämonen rechneten. Woher auch, gehörte er doch bis jetzt keinem der illustren Kreise an, die in letzter Zeit eine solche Erfahrung gemacht hatten. Deshalb wunderte er sich auch darüber, dass einige der Anwesenden gerüstet und auf den zweiten Blick auch bewaffnet, zu einer harmlosen Nachtwanderung erschienen waren. Er selbst hatte lediglich einen Speer dabei. Einerseits, um sich abzustützen, sollte der Weg mal glitschig oder uneben sein, andererseits mochte ja auch unerwartet Schwarzwild auftauchen. Schließlich waren die Kittel dämmerungsaktiv und vielleicht würde man noch den einen oder anderen aus Versehen aufschrecken. Ansonsten war er in eine wollene Mi-Parti-Hose in weiß und blau, schwarze Lederstiefel und einen schwarzen, pelzverbrämten und gefütterten Tappert mit Kapuze gehüllt. Er nahm sich sowohl eine der Decken, als auch eine der Fackeln und blickte sich erstmal um. Zu welchem Grüppchen sollte er sich gesellen?

Murla hat sich der Nachtwanderung angeschlossen, nachdem ihr Gemahl am frühen Abend sturztrunken aus der Schmiede zurück zum Zeltplatz gekommen war. Dabei war sie ihm nicht gram, dass er betrunken war, sondern darum, dass er ihr nichts mitgebracht hatte.

Sie hatte sich daher in ihre normale Reisekleidung (Hose, Bluse und den dicken Lodenumhang mit Kapuze) gekleidet, ihren Wanderstab geschnappt und war zum Treffpunkt gegangen. Als den Teilnehmern Fackeln angeboten wurde, nahm sie eine und steckte sie in den Gürtel. Warum sollte sie sie auch anzünden, wenn man im Dunkeln noch recht gut sehen konnte. Da sie nicht viele bekannte Gesichter unter den Umstehenden sah, gesellte sie sich in die Nähe von Imelda. Diese war aber mit einer Bunferatosch im Gespräch, daher blieb sie im Schatten stehen.

Corwyn von Dürenwald hatte sich eine Fackel genommen und über seiner wollernen Jacke einen dunkelgrünen Umhang übergeworfen, die Kaputze jedoch zurückgeschlagen, um besser hören zu können. Über den Rücken gegurtet trug er eine Laute. Man konnte ja nie wissen, ob sich nicht irgendwann bei einer Rast die Gelegenheit ergab, die eine oder andere Ballade vorzutragen. Die Überlegung zur Nutzung seiner geliebten Sackpfeife des Nachtens im dunklen Walde erinnerte ihn zu sehr an geisterhaften Stunden die er für diesen Abend seinen Mitwanderern nicht zumuten wollte. Die Laute war ihm deshalb als eine bessere Wahl erschienen. Sein Schwert trug er griffbereit an der Seite. Der Barde wanderte allein in der Mitte der Gesellschaft. Auch, wenn er nicht selbst in ein Gespräch verwickelt war, lauschte er interessiert, welche Gesprächsfetzen er von den Mitwandernden aufnehmen konnte. Vielleicht konnte er so die Idee für eine neue Ballade gewinnen. Oder Informationen sammeln, deren Sange seine Schwester mit Interesse und zukünftigem Nutzen anhören könnte. Vielleicht war ja auch etwas dabei was sie im weitestgehenden Sinne verwenden konnte.

~*~

Tsalinde und Lys nahmen sich keine Umhänge aus dem Korb. In ihrem Lehen, in den Ausläufern des Kosch, war es bereits sehr kalt und so hatten sie sich an diesem Abend mit ihren dunkelgrünen Reisemänteln mit Pelzkragen gerüstet. Beide trugen feste Stiefel, Lederhosen und zweckdienliche, warme Kleidung. Tsalinde hatte sich zusätzlich eine Pelzmütze auf den Kopf gesetzt und trug warme Handschuhe und einen Schal. Außerdem hatte sie ihre Tasche mit den Zeichenutensilien umgehängt, ohne die sie nur selten anzutreffen war. Beide waren bewaffnet, Tsalinde mit einem Dolch in Stiefelschaft, Lys mit einem schlichten, aber scharfen Schwert. Beide nahmen sich eine Fackel aus dem Korb.

Lys beobachtete, dass Tsalinde sich immer wieder nervös umschaute. “Ist alles gut, meine Liebe?”

Tsalinde rang sich ein Lächeln ab. “Ja. Ich bin nur nervös. Bisher habe ich Gudekar nur von Weitem gesehen und ich fürchte mich ein wenig vor dem Wiedersehen.” Sie lehnte sich an ihn und schmiegte ihren Kopf an seine Brust. “Ich bin froh, dass Isavena bei Siegmund ist. Sie wird nicht zulassen, dass ihm etwas geschieht und so kannst du hier bei mir sein. Ich würde so gerne diesen Zauber sehen, wenn das Madamal sich in der Quelle spiegelt. Das ist sicher ein wundervolles Motiv für ein Bild.”

Schützend legte Lys seinen Arm um sie und schaute sich gleichzeitig nach dem Magier um, wild entschlossen, diesen in seine Schranken zu weisen, sollte er sich Tsalinde gegenüber irgendwie daneben benehmen. Er entdeckte Gudekar und erkannte, dass dieser beabsichtigte, die Nachhut zu bilden. Sanft zog er Tsalinde mit sich und reihte sich an den Anfang der Gruppe, um den Abstand zu dem Anconiter so groß wie möglich werden zu lassen.

Hand in Hand traten sie die Wanderung an und gingen so lange es möglich war nebeneinander.

Rast am Jagdschloss

Nach etwa einem drittel Stundenglas erreichte die Gruppe das kleine Forsthaus, das von den Lützeltalern liebevoll “das Jagdschloss” genannt wurde, da der Edle sich gerne hierher zurückzog, wenn ihm die Sorgen im Dorf zu groß wurden, und wo er dann seiner Leidenschaft frönte. Auch vor der Jagdhütte waren mehrere Feuerstellen angezündet und boten den Gästen die Gelegenheit, die klammen Finger etwas aufzuwärmen. Der Himmel war inzwischen fast vollständig mit Wolken zugezogen. Es waren keine Sterne zu sehen, und auch das volle Madamal war nur noch schemenhaft hinter den Wolken zu erahnen.

Imbiss

An der Hauswand der Jagdhütte war ein Tisch aufgestellt, hinter dem ein junger Mann und zwei Frauen, eine in etwa in seinem Alter, die andere deutlich älter, standen. Der Mann trug die typische Jägerskluft, die Frauen vergleichsweise einfache Kleider unter ihren Filzumhängen.

Das Feld der Wanderer war bereits mächtig aufgespalten, da einige Gäste in ihre Unterhaltung vertieft waren und so einen zügigen Schritt an den Tag legten, wohingegen andere sich mit waghalsigen Turnübungen aufhielten. Das Grüppchen um den Magier Gudekar von Weissenquell achtete aber dennoch darauf, die Nachhut zu bilden. Allen Gästen, die so nach und nach an der Hütte eintrafen, wurde ein Becher erwärmter Rotwein sowie Brote und dünngeschnittene Streifen von gedörrtem Schwarzkittelschinken angeboten.

Als alle Gäste angekommen und mit Verpflegung versorgt waren, ergriff der Mann das Wort. “Firun zum Grüße, tüchtige Wanderer. Man nennt mich Wulfhelm Häsler und ich bin der Sohn des Jagdmeisters der Familie Weissenquell. Ich heiße Euch zu dieser späten Stunde willkommen in unserem Revier! Bevor wir gemeinsam weiter gehen werden, bitte ich Euch, Euch an Speis und Trank zu stärken und am Feuer zu erwärmen. Der Schinken, den meine Frau und meine Mutter euch hier anbieten, stammt von dem letzten Schwarzkittel, den seine Wohlgeboren erlegt hat. Greift ruhig ordentlich zu, denn so Firun morgen der Jagdgesellschaft hold sein sollte, wird es schon bald reichlich Nachschub davon geben.”

Die junge Gärtnerin Vinja nahm zwar gerne den warmen Wein entgegen und wärmte sich hieran Hände und Eingeweide. Doch das Fleisch lehnte sie dankend ab. Sie aß kein Fleisch - insbesondere keines, das auf so grausame Weise zu Tode gekommen war wie die arme Wildsau.

Die Dame Morgenrot lehnte beides mit einem freundlichen Lächeln ab. Sie war nicht hungrig, und der Geruch des gesalzenen Fleisches und vor allem des vergorenen Traubensaftes behagte ihr nicht. “Sagt, habt Ihr vielleicht etwas Wasser für mich?”, fragte sie dann.

“Selbstverständlich, hohe Dame, wartet einen Moment.” Luzia, Wulfhelms junge Frau, verschwand in der Jagdhütte und kam kurze Zeit später mit einem Krug frischen Quellwassers sowie einem Schälchen Frischkäse und einem Korb voll knusprigem Brot wieder zurück. “Mögt ihr vielleicht lieber etwas Schafsmilchkäse mit Kräutern?”

Die Elfe schaute kurz und mit einem Lächeln zu Boden. “Ich fürchte, auch in diesem Fall muss ich ablehnen - und hoffe, Euch damit nicht allzu sehr zu enttäuschen. Vergorene Speisen bekommen mir nicht”, sagte sie dann schlicht. “Wein, Käse, Quarkspeisen … all das kann ich nicht zu mir nehmen, und auch nur Brote, die nicht mit Hefe gebacken sind.”

“Oh, verzeiht, hohe Dame! Das wusste ich nicht.” Luzia lief rot an, was in der Dunkelheit jedoch nur zu erahnen war. “Kann ich euch etwas anderes bringen? Ähm, vielleicht…”, die junge Frau überlegte, was sie der Dame anbieten könnte. Das Pilzragout, das sie noch in der Küche hatte, war mit Rahm angerichtet und kam damit wohl auch nicht in Frage.

„Aber ich würde den Frischkäse nehmen“, versuchte sich die Gärtnerin bemerkbar zu machen. Dabei half ihr knurrender Magen kräftig mit.

“Sehr gerne, bedient euch!” Luzia blickte kaum zu Vinja, denn sie war von der Persönlichkeit Lianas fasziniert. Irgendetwas war an der Frau, das die Lützeltalerin nicht begreifen konnte, etwas Unbekanntes, Fesselndes, was sie nicht erfassen konnte.

Vinja griff sich ein Stück Käse und biss genüsslich in das Brot. „Ach, das ist köstlich“, sagte sie zwischen krachenden Bissen. „Ihr müsst…ähm, oh, ähm, verzeiht Hochgeboren.“

Die Baronin stand daneben und beobachtete das kleine Schauspiel, welches die vorwitzige Gärtnerin da ungeniert geliefert hatte.

“Es gibt nichts zu verzeihen”, sagte sie dann leise. “Woher solltet Ihr das auch wissen? Und ich versichere Euch, dass ich die Köchin auf Burg Rodaschblick anfangs zweifellos in die Verzweiflung getrieben haben muss mit meinen … sehr speziellen Vorlieben und Ansprüchen.” Ein heiteres kurzes, perlendes Lachen durchzog den Abend, um Luzia und Vinja jeden Zweifel daran zu nehmen, dass Liana es so meinte, wie es geklungen hatte.

“Ja äh…woher hätte ich das…äh auch …wissen sollen”, kicherte die junge Frau verlegen. “Ich hoffe, Ihr findet noch etwas, um Euren Hunger zu stillen, Hochgeboren! Mir ist es so peinlich, mir vor Euren Augen genüsslich den Bauch vollzuschlagen und mich dann noch vordrängeln und…”

Die Herrin von Rodaschquell winkte ab. “Wie ich schon sagte, es ist alles bester Dinge. Und ich benötige nichts weiter, denn ich bin nicht hungrig. Das Wasser genügt mir einstweilen.”

Derweil entging ihr nicht der Blick, den Luzia ihr zuwarf. Sie erwiderte ihn. Freundlich. Einladend.

Woraufhin sich Luzia jedoch ertappt fühlte und sich schnell nach einem anderen Ziel für ihre Blicke suchte. Schüchtern redete sie, ohne Liana anzuschauen: “Wir haben noch ein paar Äpfel im Keller. Vielleicht will die Dame davon welche?”

Offenbar war es der jungen Frau wichtig, ihr etwas zur Stärkung zu geben. Aber mehr noch bemerkte Liana, dass Luzias Frage in gewisser Weise auch der Ablenkung diente. Keinesfalls wollte sie die junge Frau in Verlegenheit bringen. Die Elfendame blickte nun in Richtung einer größeren Gruppe, die sich langsam wieder bereit zum Aufbruch machte.

“Ein paar Apfelspalten würden mich freuen, ehe wir weiterziehen. Das wäre sehr aufmerksam”, sagte sie.

Luzia nutze die Gelegenheit und lief nach einem kurzen „Sehr gerne!“ schnell wieder in die Forsthütte. Nach wenigen Minuten kehrte sie mit einem Korb saftig aussehender Äpfel zurück. Als sich Liana davon bediente bemerkte sie Luzias Blicke auf sie, die sich vor allem auf Lianas Ohren richteten.

Sie war es gewohnt, dass Menschen sie manchmal mit unverhohlener Neugier betrachteten. Es störte sie nicht.

“Ihr habt noch nie eine Elfe gesehen?”, fragte sie dann, und schaute Luzia nur einmal kurz aus den Augenwinkeln an, während sie mit einem kleinen Messer einen Apfel in schmale Scheiben schnitt.

Luzia schüttelte stumm den Kopf.

Da sie wusste, dass die junge Frau offenbar etwas schüchtern war und sich gegebenenfalls ertappt fühlen mochte, fügte sie schnell hinzu: “Ihr könnt ganz offen sein. Es ist nicht schlimm, wenn Ihr mich anseht.”

Durch Lianas aufmunternde Worte fasst die junge Frau des Jägers Mut. “Verzeiht mir, ich wollte nicht aufdringlich sein. Aber dann stimmt es, Ihr seid wahrlich eine lebende Elfe? Nein, ich habe tatsächlich noch nie eine Elfe gesehen. Bei uns im Dorf lebt zwar ein Zwerg, unser Schmied, aber Elfen gibt es im Tal nicht.”

“In diesen Landen sind die Angehörigen meines Volkes ein sehr seltener Anblick, fürwahr. Angroschim indes gibt es in Rodaschquell viele, denn die Baronie grenzt an das altehrwürdige Xorlosch.”

Sie reichte Luzia eine Apfelspalte.

Luzia lächelte Liana glücklich zu und nahm ihr eine Apfelspalte ab, die sie sich verträumt in den Mund steckte.

“Oh, seht, die anderen machen sich wieder zum Aufbruch bereit.”

“Ja, es sieht so aus, als ob Wulfhelm für den Aufbruch zusammen ruft. Dann wünsche ich Euch noch einen schönen Aufenthalt in Lützeltal!” verabschiedete sich Luzia zuvorkommend.

~*~

Rajalind tauschte das, was sie in ihrem Körbchen mit sich führte, gegen den Schinken. Genüsse musste man würdigen und genießen.

Corwyn nahm sich sowohl vom Weine wie auch vom Schinken. Wenn Peraines Natur einem etwas anbot, galt es auch diese Gaben zu würdigen. Doch sparsam, denn voller Bauch und leerer Kopf machten träge. Träge Barden hingegen ehrten Rahja nicht, wie es ihr gebühren sollte und stand bestenfalls jenen zu, die im Rausche der Nahrungsmittelgenüssen der Liebreizenden zu dienen glaubten. Seine Wasserflasche reichte er hierbei Luzia, damit diese sie der Elfin weiterreichen könnte.  

Doratrava hatte nichts gegen einen abendlichen Imbiss, aber sie war keine große Esserin und wollte sich auch nicht den Bauch vollschlagen. Wer wusste schon, wer noch alles eine Kostprobe ihrer Kunst sehen wollte, und mit vollem Bauch turnte und tanzte es sich schlecht.

Auch einen oder zwei Schluck des Weines nahm sie gern, aber auch hier ließ sie es dabei bewenden, aus denselben Gründen.

Die Baroness von Kaldenberg war mit oder als Teil der Nachhut einer der letzten Ankömmlinge an der Jagdhütte. In Gedanken verfluchte sie sich dafür, dass sie an der Nachtwanderung UND an der Jagd teilnehmen wollte. Andererseits - sie würde es sich nicht verzeihen, wenn bei einer der Veranstaltung etwas passierte, das sie auf die Spur dieses verfluchten Bäckerpruch bringen könnte.

Also versagte sie sich dem Alkohol und naschte nur etwas vom Schinken.

Allerdings ließ sie die Rast auch nicht ungenutzt: sie nahm sich eine Fackel, die herrenlos in einer Halterung herumstand, ohne sich groß darum zu scheren, wer der Vorbesitzer gewesen sein mochte.

Lûthard und Lucilla griffen zu, was den Schinken betraf. Der Ritter mehr, denn die junge Adlige, doch beide mit Genuss. Beim Rebensaft hielten sie sich hingegen zurück, da sie sich sicher waren, dass es noch mehr ‘Stationen’ geben würde.

Meta hatte den Weg schweigend zurückgelegt, zu viele wollten mit Gudekar sprechen und sie selbst betrachtete die Landschaft. Auch jetzt saß sie etwas abseits an einem Tisch, trank Wasser und kaute etwas Fleisch.

Tsalinde, die mit Lys als eine der Ersten an der Jagdhütte ankam, hatte den warmen Wein mit etwas Apfelsaft, den sie seit ihrer Schwangerschaft stets in einem Schlauch mit sich führte, verdünnt. Beide tranken erst ein paar Schlucke von dem warmen Getränk und nahmen sich anschließend etwas von den angebotenen Speisen.

~*~

Verdauerli

Nach ein paar Minuten der Rast erhob Wulfhelm erneut die Stimme. “Werte Gäste, wir werden nun aufbrechen.” Da trat die ältere der beiden Frauen, so um die 45 Götterläufe vielleicht, neben ihren Sohn und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daraufhin schlug er sich sanft mit der Hand gegen die Stirn. “Ach ja, hätte ich beinahe vergessen.” Praitrud, seine Mutter, bückte sich kurz und stellte dann eine Flasche aus Steingut auf den Tisch. Wulfhelm erklärte inzwischen: “Den meisten dürfte der vorzügliche Albenhuser Albenbluth bekannt sein, der in der Brennerei Rodenbach hergestellt wird. Wer diese Spezialität, deren Grundzutaten – frische Waldkräuter – hier rund um die Jagdhütte gesammelt werden, noch nicht kennt, sollte den im Brauhaus unbedingt einmal probieren. Es ist mit Abstand der beste Albenbluth im ganzen Albenhusischen! Aber heute habe ich eine andere Spezialität mitgebracht, die Erlwulf speziell auf den Wunsch meines Vaters gebrannt hat: einen Tannenwipfelbrand. Wer von den Herrschaften mutig genug ist, ist eingeladen, einen Schluck zu probieren. Doch seid gewarnt: Erlwulf ist es wieder einmal gelungen, die Geister des Waldes einzufangen. Wer möchte?”

Nachdem allen eingeschenkt war, eröffnete Wulfhelm die Runde mit einem “Waldmanns Heil!” und kippte den Schnaps hinunter.

Einige der Gäste wagten es ebenfalls, von dem klaren Schnaps zu trinken. Das Zeug brannte scharf, so richtig scharf, in der Kehle. Das lag nicht nur an dem hohen Alkoholgehalt, sondern auch an den ätherischen Ölen, die von den frischen Tannenwipfeln an das Destillat abgegeben wurden. Wer dies nicht gewohnt war oder aus irgend einem Grunde nicht besonders trinkfest war, spukte den Schnaps sofort wieder aus, bekam einen Hustenanfall, oder dem entleerte sich gleich wieder der ganze Magen.

"Waldmanns Dank!", erwiderte Rondrard den Gruß, hob den kleinen Tonbecher gen Alveran und stürzte dessen Inhalt seine Kehle hinab. "Schmeckt ganz gut. Aber, wo ist das Brennen, von dem immer gesprochen wird?", meinte er recht unbeeindruckt, ja fast schon enttäuscht.

Auch den Schnaps - und diesen zweifellos noch entschiedener als den Wein - lehnte Liana mit einer abwehrenden Hand umgehend ab. Wobei sie zugeben musste, dass der Duft der Tanne, der in dem Gebräu steckte, ihre feine Nase zunächst durchaus angenehm kitzelte. Doch der beißende Geruch des Alkohols führte schnell dazu, dass sie sich zur Seite wandte, um dem Ziehen in der Nase zu entgehen.

„Ein Becher voller Waldgeister - Das klingt ja lustig,“ ließ die Rahjageweihte verlauten, nachdem sie dem Tannenwipfelbrand in der Hand hielt. Sie schnupperte vorsichtig. Schnaps war nicht ihr bevorzugter Alkohol. Aber sie wollte nicht unhöflich erscheinen und keinen nehmen, immerhin schien die freundliche Dame, die ihr das Becherchen ausgehändigt hatte, gespannt ihr göttliches Urteil zu erwarten. „Wirklich sehr stark, uh.“ Schließlich tunkte die Geweihte einen Finger in das Becherchen und schleckte ihn ab. „Ja… ich schmecke die Waldgeister…Es sind auch ein paar garstige darunter, wie es scheint.“ Die Geweihte hüstelte, schien aber eher amüsiert. „Nun, es darf ein jeder genießen, wie er möchte,“ sagte sie schließlich und lächelte der Dame zu. „Für meine Begriffe würde ich ihn mit Honig vermengen. Oder mit Spitzwegerichsirup. Habt ihr so etwas da?“ fragte Rajalind neugierig.

Praitrud lachte. “Ja, es ist gewiss nichts für den empfindlichen Gaumen. Ich würde das Zeug auch nur verwenden, um schmerzende Muskeln einzureiben. Das gibt ein prickelndes, belebendes Gefühl. Aber die Männer kommen sich immer so stark vor, wenn sie das trinken. Aber die Idee mit dem Honig klingt gut, wartet kurz.” Diesmal war es Wulfhelms Mutter, die im Haus verschwand und kurze Zeit später mit einem Tontöpfchen wiederkam. “Probiert doch, einen Tropfen von diesen Waldhonig hineinzurühren, Euer Gnaden.” Praitrud reichte Rajalind den Tonkrug und einen kurzes Spanhölzchen zum umrühren.  

Die tunkte das Hölzchen in den Honig, und träufelte etwas davon in ihr Becherchen. Anschließend verrührte sie es mit dem Finger, den sie anschließend wieder abschleckte. „Ja. Passt zusammen. Aber vielleicht ist das Ding immer noch zum Einreiben besser,“ lachte sie der älteren Dame zu, „Man sollte wirklich nur trinken und essen, was einem schmeckt, wo bleibt sonst der Genuss?“ stellte sie abschließend fest, bevor sie der Frau mit entschuldigendem Blick das Becherchen zurückgab. „Habt Dank für euer Entgegenkommen. Ich nehme mir noch etwas von eurem Schinken, wenn‘s beliebt. Er ist dann doch eher nach meinem Geschmack.“

„Aber gerne, bedient Euch, solange es das ist.“

~*~

Imelda gesellte sich in die vordere Reihe, um sicherzugehen, dass sie auch ein Gläschen von dem vielversprechenden Geist erhalten würde. Andächtig und mit großer Vorfreude schnupperte sie an dem Becherchen und versuchte sich anhand des Kräuterduftes, der ihr in die Nase stieg, ein Bild zu machen, wie dieser Tannenwipfelbrand wohl schnecken würde. Als Wulfhelm allen zuprostete, rief auch Imelda lauthals "Waldmanns Dank!" und kippte sich genüsslich den Schnaps hinunter. "Ach, herrlich! Das wärmt gut durch." Als die Schankmagd vorbeikam, lugte sie, ob vielleicht noch ein weiteres Becherchen zu haben wäre.

“Darf ich Euch nachschenken?” fragte Luzia überrascht. “Ihr solltet aber vorsichtig damit sein. Der Saft der frischen Tannentriebe verstärkt die Wirkung des Brandes noch.”

“Ja, das will ich doch hoffen!” erwiderte Imelda keck und hielt Luzia erfreut ihr leeres Becherchen zum Nachfüllen hin.

Murla hatte gerade noch ein wenig Nachschlag vom Brot und Schinken geholt und kaute noch auf den Resten, als der Schnaps ausgeschenkt wurde.

Und da sie vorhin schon nichts von dem Ferdoker abbekommen hatte, wollte sie wenigstens den Schnaps probieren. Der erste war sehr scharf und brannte Murla in der Kehle bevor sie die Wärme spürte, die vom Magen ausgehend durch ihren Körper kroch.

“Ahh! Der ist gut, sehr gut!” meinte sie zu der in ihrer Nähe stehenden Imelda. Als sie sah, dass sich die Geweihte einen zweiten Schnaps holen wollte, schloss sie sich ihr an.

Und auch Murla erhielt von Luzia anstandslos einen ordentlichen Nachschlag. Als die erste Flasche leer war, zauberte Luzia sofort eine zweite herbei.

Auch Merle nahm sich einen Tannenwipfelgeist. Nachdem sie Luzia dankend zugenickt hatte, betrachtete sie die klare Flüssigkeit, roch daran und zögerte kurz. 'Ach, was soll's?' dachte sie wagemutig und leerte das Becherchen mühelos in einem Zug aus. Ja, es brannte scharf in ihrer Kehle und in ihrem Inneren, erfüllte sie aber ein paar Momente später mit Wärme und Wohlbefinden. Sichtlich stolz stellte sie den Becher zurück aufs Tablett. Kurz war sie versucht, sich ebenfalls einen zweiten Schnaps eingießen zu lassen, beließ es aber doch lieber bei einem. "Wirklich gut, Wulfhelm", lobte sie mit einem herzlichen Lächeln.

“Habt Dank, hohe Dame.” Wulfhelm lächelte Merle an. “Euer Schwiegervater schwört auf diesen Brand, wenn er hier mit meinem Vater weilt.”

Merle grinste. "Ist ja auch Medizin, was?"

Die anderen mochten noch so sehr am picheln sein - die Baroness von Kaldenberg hatte es sich in den Kopf gesetzt, selbigen in einem klaren Zustand zu belassen. Also lehnte sie die angebotenen Nachschläge zuerst mit einem freundlichen, dann zunehmend angestrengten Lächeln ab.

Sie hatte es geahnt. Der Spaziergang würde wohl doch einige ‘Opfer’ fordern, nur halt eben auf andere Art und Weise.

Amüsiert lächelnd lehnte die Erbvögtin ab. Sie vertrug ohnehin kaum etwas. Einen solch scharfen Brand zu probieren wäre ein großes Wagnis und die Gefahr, sich hier vor so vielen Adligen zu blamieren, war viel zu groß.

Für Lûthard hingegen, der zwar drahtig war, aber über eine gute Konstitution verfügte, hätte sicher einen Schluck probieren können, lehnte aus Pflichtbewusstsein jedoch ebenfalls ab.

Tsalinde und Lys lehnen beide dankend ab.

~*~

Vinja hatte im Laufe des Tages mehrere Liköre und nunmehr schnell den Glühwein gekippt. Munter und völlig unbedarft trank sie auch das scharfe Gebräu. Doch dieses Getränk bekam ihr überhaupt nicht. Nicht nur brannte es wie Hölle auf der Zunge und im Rachen. Kaum dass dieses unangenehme Gefühl endlich verklang, merkte sie, dass es in ihrem Magen rumorte. Mehr als nur unangenehm. “Ich …ähm…muss mich kurz entschuldigen”, presste sie noch zwischen fahlen Lippen hervor und presste schon ihre Hand auf den Mund, während sie Richtung Abort verschwand.

Während der Anconiter in eine fachliche Diskussion mit Nivard vertieft war, nahm Wulfhelms Frau Luzia die Wirkung des Gesöffs auf die Akoluthin wahr und folgte ihr besorgt, um sie um die Ecke hinter die Hütte zu führen, wo es einen winzigen Latrinenraum gab. „Entleert Euch hier einfach, hohe Dame, Dieses Dämönengesöff ist nicht für jeden Magen verträglich.“ Nachdem Vinja herausgelassen hatte, was nicht drin bleiben wollte, fragte die Magd: „Geht es euch besser oder soll ich Hilfe holen?“

“Uff. Ähm. Geht schon…”, ächzte sie.

“Ich könnte den Heiler holen…”, schlug Luzia vor.

„Ach nein…da muss ich schon selbst mit klarkommen“, wimmerte Vinja schwächlich und wischte sich ungalant über den Mund.

“Wie ihr wünscht, hohe Dame.” Luzia zuckte mit den Schultern. “Aber soll ich euch wenigstens einen Eimer frischen Wassers holen, damit Ihr euch waschen könnt?”

Zuerst wollte Vinja abwinken, doch ein Blick auf ihre Hand strafte die unangebrachte Selbstkasteiung Lügen. „Das wäre sehr nett“, gab sie deshalb zurück.

„Sehr gerne, hohe Dame! Ich bin gleich zurück.“ Kurze Zeit später erschien Luzia mit einem Eimer voll Wasser, einem Stück Seife und einem Handtuch. Außerdem hatte sie einen einfachen und alten, aber sauberen, grünen Umhang über dem Arm. Mit einem Schulterzucken bemerkte sie: „Nur für den Fall, dass Euer Mantel schmutzig geworden ist und Ihr Euch in etwas sauberem wohler fühlt…“

“Vielen lieben Dank”, erwiderte die junge Gärtnerin. “Im Übrigen…so hochherrschaftlich bin ich gar nicht.” Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm sie die Gegenstände entgegen und reinigte sich die Mundwinkel. Uff, das wäre wirklich nicht nötig gewesen, dachte sie.

Luzia lächelte verlegen zurück. “Verzeiht, falls ich Euch falsch angeredet habe. Ich dachte ja nur, die Gäste der Herrschaften seien alle…” Sie überlegte einen Moment, um nicht erneut etwas Unangemessenes zu sagen. Niemand hatte sie darauf vorbereitet, wie mit den Gästen umzugehen sei. “Naja, Ihr wirkt so edel auf mich.”^

Dieses Kompliment ließ die junge Frau wieder lächeln.

~*~

Nivard merkte auf. Hier wurden also auch Tannenspitzen gebrannt, wie zu Hause? Auch wenn er sich vorgenommen hatte, heute Abend nichts Geistreiches zu trinken, konnte er unter diesen Umständen nicht zurückstehen - den musste er einfach probieren.

"Waldmanns Heil!" hob er auch sein Becherchen. "Ahh... Nicht schlecht, etwas scharf zwar, dafür putzt er gut den Rachen." befand er. "In meiner Heimat brennen wir einen ähnlichen Schnaps, allerdings süßen wir den, nicht nachträglich wie neben mir gerade vorgeschlagen, nein, wir setzen ihn direkt mit etwas Honig an." fing er gleich zu fachsimpeln an. "Das macht ihn runder und bekömmlicher.”

Der Anconiter hatte Nivards Kommentar gehört und wollte seine Meinung dazu sagen. “Nun, ehrlich gesagt würde ich davon abraten, den Trunk mit Honig zu versüßen, egal ob vor oder nach dem Brennen. Die Süße verdeckt die Schärfe des Elixiers und lässt einen mehr davon trinken, als einem gut tut. Außerdem verursacht die Kombination aus Spirit und Saccharo sehr leicht Capitis am nächsten Tag. Auch zur Wundreinigung ist der reine Brand besser geeignet.”

"Zu wissen, was und wie viel davon einem gut tut, ist eine Fähigkeit, die ein jeder für sich selbst entwickeln muss." hielt Nivard entgegen. "Manch einer mag sich bei einem scharfen Trunk leichter damit tun, aber auch zuviel eines etwas milderen Brands mag man durchaus widerstehen können. Und ich muss gestehen, dass unser Verfahren bislang der Verwendung des gewonnenen Elixiers zur Wundreinigung keinen Abbruch getan hat, auch wenn mir etliche Verwendungsmöglichkeiten einfallen, für die ich unseren Tannspitz lieber einsetze."

“Nun”, entgegnete Gudekar, “Ihr seid sicherlich der Fachmann, wenn es um die Wirkungen eines Elixiers auf den Leib geht. Wie sollte ich Euch da widersprechen?”

Nivard lachte. "Gewiss bin ich das nicht annähernd so sehr wie Ihr, weder was die innere noch die äußere Anwendung angeht, und ich bin auch nicht so vermessen, mich auch nur ansatzweise mit Euren heilerischen Fähigkeiten und Eurem Wissen über die Wirkung der Elixiere messen zu wollen - aber ich kenne unseren Tannspitz sehr gut und stehe ansonsten nur treu zu meiner Heimat und ihren Gaben... ebenso wie zu meinen Freunden und meiner Familie." Bei seinen letzten Worten war sein Lächeln einem weit ernsteren Gesichtsausdruck gewichen.

“Daran tut ihr gut, hoher Herr! Man sollte sich stets seiner Wurzeln bewusst sein, wie man auch zu seinen Sprossen stehen sollte.” Gudekar verzog bei diesen Worten keine Miene. Er schaute Nivard belauernd an, als ahnte er hinter Nivard eine Herausforderung.

"Dann sind wir uns ja einig", erwiderte Nivard gut vernehmbar, um anschließend mit gesenkter Stimme sein Anliegen hinterherzuschicken. "Hättet Ihr nach Ende unserer Wanderung trotz der späten Stunde noch Zeit für eine vertrauliche Unterredung?"

Der Magier schaute skeptisch. “Eine vertrauliche Unterredung? Nun, wenn Ihr den Wunsch danach habt, dann sollten wir dem nachkommen. Wir könnten auf dem Rückweg die Nachhut bilden.”

Nivard nickte. "Ja, das wäre gut. Habt Dank!"

~*~

Den Schnaps lehnte Doratrava ab. Nach der Ankündigung schien das ja ein rechtes Namenlosen-Gebräu zu sein, das wollte sie sich sicherheitshalber nicht antun, auch nicht in kleinen Mengen. Sie behielt lieber einen klaren Kopf und einen ruhigen Magen.

Corwyn überlegte lange, ob er den Angebotenen ohne als unhöflich zu erscheinen ablehnen könnte.Nachdem er jedoch bemerkte, dass das ohne Weiteres möglich war verzichtete er  darauf einen Becher zu nehmen. “Mag es möglich sein diesen Genuss nach der Wanderung zu sich nehmen zu dürfen?” fragte er Wulfhelm statt dessen.

“Nun”, antwortete Praitrud mit einem Augenzwinkern, “Ihr kommt auf dem Rückweg hier auch vorbei. Und wenn Ihr es der Zwergin nicht verratet: das ist nicht unsere letzte Flasche.”

“Das freut mich. Ich würde darum bitte einen Becher für mich aufzuheben. Eine ganze Flasche wäre mir zu viel. Ich will diese Spezialität  ja genießen und nicht auf Flügeln in Borons Hallen schweben oder unter Ingerims Hammerschlägen Praios Morgen erleiden. Meiner Verschwiegenheit könnt Ihr euch gewiss sein.” Im Dunkeln war das verschmitzte Lächeln der Barden hierbei eher zu erahnen denn zu sehen.

Morgan von Weissenquell verzichtete auf den Genuss. Nicht nur, dass es sich für einen Scholaren nicht geziemte, zu viel des Weingeist zu genießen.,. auch sein Alter von gerade einmal 14 Jahren verbot den Genuss des Schnapses.

Auch Meta verzichtete auf das Gesöff. Sie wollte sich heute nur noch an Wasser halten.

~*~

 

Nachdem nun endgültig alle Becher geleert waren – auf die eine oder die andere Weise – trieb Wulfhelm die Gruppe an. “So, nun aber los! Ab hier ist der Weg nicht mehr beleuchtet. Deshalb bitte ich Euch nun, Eure Fackeln an den Feuern zu entzünden. Seid bitte im Wald vorsichtig und lasst die Fackeln nicht unachtsam auf den Boden fallen. Ab hier übernehme ich die Führung und Bernhelm wird die Nachhut bilden. Noch eine Bitte: Die Tiere des Waldes, die Praios huldigen, haben sich bereits zur Ruhe begeben, Und die Tiere der Nacht sind auf der Suche nach Nahrung. Stören wir keine von beiden. Seid deshalb auf dem Weg nicht unnötig laut. Hat noch jemand Fragen?”

“Ja”, meldete sich Murla. “Nehmen wir die Flasche Schnaps für unterwegs mit?”

“Ähm, nun,...”, Wulfhelm schien sich nicht sicher zu sein, wie er darauf antworten sollte. Deshalb blickte er sich hilfesuchend zu seiner Mutter um. Als diese aufmunternd nickte, antwortete er: “Ja, ich kann sie einstecken für später, wenn wir bei der Quelle sind.”

Murla zwinkerte der Frau verschwörerisch zu. “Wenn dann noch etwas drin ist!”

~*~

Abmarsch

“Gut, dann lasst uns weiterziehen!” Wulfhelm nahm sich ebenfalls eine Fackel und schlug einen schmalen Pfad in Richtung Firun ein. Wie angekündigt, wartete Bernhelm bis alle Gäste auf dem Weg waren und folgte dann als letzter Mann.

Auch dieses Mal lief Morgan wieder an der Spitze der Prozession, diesmal jedoch neben Wulfhelm statt neben Bernhelm. Er trug die entzündete Fackel in der Rechten.

Lûthardt tat unterdessen wie ihnen geheißen und entzündete seine Fackel. Eine Zweite hatte er sich in den Gürtel gesteckt. Lucilla hielt sich nun auf dem weiteren Weg nah bei ihrem Bewacher, damit sie den Weg vor sich gut erkennen konnte. Gemeinsam schlossen sie sich der Spitze der Nachtwanderer an.

„Seid gegrüßt, hohe Herrin! Mein Name ist Morgan von Weissenquell. Und wer seid Ihr?“ fragte der junge Magiernovize neugierig.

Leicht legte sich der Kopf der Erbvögtin schief, während sie den Jungen von vielleicht 15 Sommern neben sich musterte.

“Ich bin Lucilla von Galebfurten junger Herr”, antwortete die Adlige mit einem gewinnenden Lächeln, welches durch ihre natürliche Schönheit noch verstärkt wurde. Sie war nur wenige Jahre älter als der Knabe, der ein Scholar der Elenviner Magieakademie war. Auch dies verrieten ihr die Erkundungen, die sie vor der Reise ins Lützental über das Haus Weissenquell eingeholt hatte. Es gab mehr wie nur ein von Mada gesegnetes Mitglied in dieser Familie, bemerkenswert.

Mit fast unmerklich, amüsiert zuckenden Mundwinkeln richtete Lucilla den Blick wieder nach vorne, auf ihren nur spärlich beleuchteten Weg.

“Welcher Verwandtschaftsgrad verbindet euch zu Gudekar von Weissenquell”, fragte die Erbvögtin, obwohl sie die Antwort kannte. “Ich hatte die Freude ihn kennenzulernen.”

„Gudekar ist mein Onkel“, antwortete der großgewachsene, schlaksige Novize der Magie. Es war zu vermuten, dass er seinen Onkel eines Tages an Körpergröße überragen würde. Da er die Kaputze seines Reiseumhangs, den er über der weißen Tunika seines Ordens trug, zurückgeschlagen hatte, sah man, wie sein langes, blondes Haar gelockt über seine Schultern fiel.  In der rechten Hand trug er eine Fackel, da er noch weit davon entfernt war, einen eigenen Magierstab verliehen zu bekommen, und eine Waffe nicht zu führen wusste. „Dann seid ihre eine jener Reisegefährten, die meinen Oheim auf seiner Aventurie begleiten?“

Lucilla lachte glockenhell auf, aber sie tat es leise, da sie ungern negativ auffallen wollte. Sie sollten die Tiere des Waldes nicht unnötig verschrecken.

“Nein. Ich bin weit weniger ‘abenteuerlustig’, als euer Onkel. Mein Platz ist eine lagweilig staubige Schreibstube im herrschaftlichen Sitz meines Lehnsherrn”, sprach die Erbvögtin und schenkte dem Knaben ein erneutes Lächeln.

“Gudekar wird an den Hof des Oberhauptes meines Hauses reisen, um ihm- dem Baron von Tälerort zu dienen.”

“So? Wird er das? Das wusste ich gar nicht” bemerkte Morgan verwundert.

“Und ihr”, nahm sie das Gespräch nach kurzer Pause wieder auf. “Strebt ihr eurem Onkel nach, was eure Profession betrifft?”, fragte Lucilla rhetorisch. “Aber wohl mit einem anderen ‘Fachgebiet’, oder?”

“Nun”, sinnierte der angehende Magus, “ja, auch mir wurde die Gabe in die Wiege gelegt. Mein Oheim wollte, dass ich in seine Fußstapfen trete und die Ausbildung ebenfalls im Sinne der Anconiter in Donnerbach absolviere. Doch mein Vater war strikt dagegen. Er sagte, ich soll lieber an einer göttergefälligen Schule studieren, so wie die in Elenvina. So bin ich dort gelandet.”

Lucilla nickte verhalten auf diese Worte. “Heißt das, dass euer Vater Gudekars Abschluss an der Akademie in Donnerbach, nun ja, mit einer gewissen Skepsis betrachtet?”, fragte sie nachdenklich.

Morgan lachte kurz verzweifelt auf. „Mein Vater? Der sieht alles an Onkel Gudekar skeptisch. Naja, eigentlich sieht er alles an Magie skeptisch. Wenn mein Onkel nicht gewesen wär, hätte ich wahrscheinlich gar nicht auf die Akademie gedurft.“

Wiederum nickte die Erbvögtin. Diese Geisteshaltung war recht verbreitet in den Nordmarken. Die Hingabe zum Götterfürsten brachte bisweilen eine Magiefeindlichkeit mit sich. Zumindest aber fast immer eine gewisse, ablehnende Haltung.

“Dann vermute ich, ihr seid eurem Onkel dafür sehr verbunden, richtig?”

Morgan freute sich, eine Gesprächspartnerin gefunden zu haben, die sich für seine Meinung interessierte. Obwohl es sonst nicht seine Art war, mit fremden Personen viele Worte zu wechseln, taute er in dem Gespräch mit der jungen Frau auf. Er wusste nicht warum, aber er hatte das Gefühl, dass er ihr vertrauen konnte, dass sie ihn ernst nahm, dass sie würdigte, was er war. Er lächelte dankbar, als er antwortete. “Oh ja, ich bin meinem Oheim sehr zu dank verpflichtet. Er hat mich gefördert, soweit es ihm möglich war. Leider sehe ich ihn viel zu selten, seit ich an der Akademie studiere. Doch in den letzten beiden Jahren hat er mich weit öfter dort besucht, als früher.”

“Sagt, wisst ihr etwas über diese Arbeit, die ihm bevorsteht?' Diese Rigo…”, stellte Lucilla sich absichtlich dumm und wedelte mit einer Hand leicht unbeholfen in der Luft, wobei sie den Jungen hilfesuchend anblickte.

Morgan kratzte sich am Hinterkopf, wodurch seine Locken über die Schulter fielen. “Ihr meint das Rigorosum? Das kann Onkel Gudekar doch erst ablegen, wenn er seine Thesis geschrieben hat. Erst dann dürfen wir uns doch Magus nennen, auch wenn das die wenigsten Leute wissen und schon jeden dahergelaufenen Scholaren mit Magus anreden. Aber, was will man schon von denen erwarten, die sich im Gildenwesen nicht auskennen? Jedenfalls hat Onkel Gudekar bei Ihrer Spektabilität Ruane deswegen vorgesprochen.”

“Ah, das wusste ich nicht”, brachte die Adlige überrascht vor. “Oder, vielleicht habe ich das auch einfach nur nicht verstanden. Euer Onkel drückte sich… komplizierter aus.” Sie blickte kurz zu dem Novizen, lächelte amüsiert und zuckte mit den Schultern. Dann fuhr sie mit einem neugierigen Unterton, den sie nicht einmal spielen musste, fort: “Wisst ihr, worum es in seiner Thesis gehen wird?”

Der angehende Jungmagier schaute beim Weiterlaufen zu Lucilla. “Hm, ich weiß nicht, inwieweit Ihr in die Geschehnisse eingeweiht seid, die meinen Oheim seit zwei Götterläufen beschäftigen. Ich bin es jedoch kaum. Ich weiß nur, dass sich Onkel Gudekar mit Umtrieben eines Frevlers auseinandersetzt, die wohl die gesamten Nordmarken betreffen sollen. Und über das Wirken dieses Unholds möchte er seine Thesis verfassen. Doch denke ich, genauere Details, so ich sie denn wüsste, würden über Euer Verständnis als Außenstehende hinausgehen.”

“Ich bin als Vögtin des Barons von Galebquell über diese… Vorgänge informiert, jedoch nur über die Dinge, die an die Lehnsherren von Gratenfels weitergegeben wurden, damit diese aufmerksam sind, sollte es entsprechende Umtriebe auch in ihren Ländereien geben”, gab Lucilla bereitwillig Auskunft.

“Heißt das”, hakte sie dann, nach einer kurzen Denkpause nach, “dass sich die Thesis eures Onkels mit dem Frevler und seinem Wirken- also auch seine andersweltlichen Kreaturen befassen wird?”

Morgan nickte begeistert. “Ja,ganz genau”, stimmte er eifrig zu. “Also, soweit ich weiß. Wenn ich meinen Oheim richtig verstanden habe, dann interessiert es ihn, wie einem einfachen Flussgardisten, ohne offensichtliche arkane Kenntnisse, gelingen konnte, zu einem der gefährlichsten Dämonenpaktierer werden konnte, den die Nordmarken je gesehen hat. Wie es ihm gelingen konnte und immer wieder gelingen kann, Tore in den Limbus zu öffnen und dadurch in kürzester Zeit sicher von einem zu einem anderen Ort zu reisen. Onkel Gudekar…”, Morgan zögerte kurz, “fürchtet, wenn dies diesem einen Paktierer gelingen konnte, dann könnten sich auch andere dies zu Nutze machen. Darüber möchte mein Oheim forschen.”

Abermals nickte Lucilla, diesmal jedoch zögerlicher als noch zuvor. Sie hatte etwas geahnt und diese vage Ahnung hatte sich nun bestätigt. Gudekar forschte auf einem Gebiet- oder besser wollte es, dass zumindest mit Argwohn betrachtet werden konnte, speziell von der Kirche des Götterfürsten, welche nun einmal über großen Einfluss verfügte in den Nordmarken.

“Ich verstehe”, gab sie nach einer Pause etwas zögerlich zu verstehen. “Wenn dies seine Absichten ist, dann wird er sicher einigen Gesprächsstoff mit Magus Gwenlian haben.”

Den Namen des Hofmagiers des Barons von Hlûtharswacht sprach die Erbvögtin mit bewusst negativer Betonung aus. “Er ist sehr… bewandert in diesen Dingen.”

„Dann sollten wir Onkel Gudekar von diesem Magus berichten, auf dass er nach Hlûtharswacht reist, um mit dem Gwenlian zu sprechen“, gab Morgan begeistert von sich. Er freute sich, eine Information erhalten zu haben, die seinem Onkel hilfreich sein könnte.

“Euer Onkel weiß davon”, gab Lucilla zu verstehen knapp. “Soweit ich weiß, hat der Baron ihn bereits darüber informiert, als sie sich in Elenvina anfreundeten. Er schien jedenfalls mir gegenüber nicht überrascht, als ich es ihm gegenüber fallen ließ.”

Die Erbögtin zog den Mantel etwas enger um ihre Schultern. Es war eine unterbewusste Geste. Diese Wendung, wenn sie es auch geahnt hatte, gefiel ihr nicht, ja bereitete ihr Unbehagen und sie würde dies sicherlich Wunnemar gegenüber nicht unkommentiert lassen, aber persönlich und nicht in Korrespondenz.

Morgan schaute enttäuscht. Zu gerne hätte er seinem Onkel eine Information geliefert, die ihm in seinen Forschungen hätte helfen können.

~*~

Die Ingrageweihte entzündete trotz der kleinen, heiligen Laterne, welche sie an ihrem Gürtel trug, eine der Fackeln und betrachtete diese mit großer Begeisterung. Als sich die Gruppe auf den Weg machte, nutzte sie nun endlich die Gelegenheit, eine Gefährtin, mit welcher sie einige Zeit gemeinsam auf Reisen gewesen war, zu begrüßen. "Doratrava!", rief sie der Gauklerin hinterher, rannte zu dieser und drückte sie kurz an sich, wobei sie sich bemühte, die brennende Fackel von Doratravas Gesicht wegzuhalten. "Wir hatten ja noch gar keine Gelegenheit, miteinander zu reden. Wie schön, dass du auch hier bist! Die Darbietung vorhin mit dem Feuer, das war ja großartig!"

“Uff!”, machte Doratrava erst einmal, als die kräftige und nicht sonderlich feinfühlige Geweihte sie umarmte. Wenigstens bemühte diese sich, sie nicht in Brand zu stecken.

“Ich habe deine Begeisterung wohl bemerkt”, lächelte sie dann, “aber mit Feuer bist du ja immer zu haben. Nun, nicht nur du, Feuer finden viele Leute faszinierend, daher ist es ein dankbares Thema - wenn auch nicht immer so leicht umzusetzen, wie du dir denken kannst.”

Doratrava machte eine kurze Pause, um Imelda zu mustern, immerhin hatte sie sie ja schon eine Weile nicht gesehen. “Und, wie geht es dir? Was treibst du so? Hoffentlich keine Kelche schmieden …” Sie grinste ironisch.

"Diesmal nicht...", feixte Imelda lachend. "Ich muss ja gestehen, dass ich schon immer davon geträumt habe, auch mal so eine Feuervorführung zu machen. Also natürlich nicht vor so viel Publikum, aber ich trainiere schon seit Jahren mit Fackeln, Hüftreifen und Feuerstab. Sich dabei elegant zu bewegen, das ist nicht so einfach, wie es aussieht!" Imelda legte den Kopf schief. "Sag' mal, würdest du mir irgendwann mal in einem ruhigen Moment was beibringen? Ich beherrsche die Jonglage mit drei Fackeln ganz gut, aber sobald ich gleichzeitig tanzen will, komme ich durcheinander und aus dem Rhythmus."

“Ich hoffe, dass ich mal ruhige Momente habe”, lachte die Gauklerin. “Aber ja, wenn es sich einrichten lässt, kann ich das schon machen.” Etwas ernster fügte sie hinzu: “Aber das ist keine Sache für einen halben Nachmittag, wie du hoffentlich weißt. Wenn du wirklich gleichzeitig tanzen und jonglieren willst, dann ist das schon höhere Kunst, in die man einiges an Arbeit investieren muss.”

Imelda nickte verständig: "Ich schätze, so ist es mit allen Dingen im Leben. Nur Übung macht den Meister, sagt Meister Ingerian immer zu mir." Imelda lächelte die Gauklerin freundschaftlich an. "Vielleicht kannst du mir Hinweise geben, wie ich in Zukunft üben sollte? Ich habe natürlich abends immer nur wenig Zeit, aber ein halbes Stundenglas jeden Tag nach der Arbeit wäre schon drin."

“Hm, wenn du das durchhältst, ist das schon mal besser als nichts, ja”, überlegte Doratrava. “Aber zuerst solltest du beides einzeln gut können, also Jonglieren und Tanzen, bevor du es kombinierst. Jonglieren kann man sich selber beibringen, wenn man ein paar Sachen beachtet, beim Tanzen wird es aber kaum ohne Lehrerin oder Lehrer gehen. Alleine kannst du da immer nur üben, was du schon kannst und weißt, was natürlich auch nicht schadet. Wenn du das mal kombinieren willst, dann musst du es unbewusst beherrschen, du darfst dich dann nicht mehr auf einzelne Schritte oder Handlungen konzentrieren müssen.”

"Ich konzentriere mich generell nie...", scherzte sie und zwinkerte Doratrava zu, "...nein, im Ernst. Ich will es ja für mich selbst erlernen und nicht um es vor großem Publikum vorzuführen." Sie wog den Kopf hin und her. "Naja, vielleicht mal für einen Tsatag oder so. Aber ja, mit dem Tanz, vielleicht kannst du mir einen Hinweis geben. Ich bewege mich ja gerne irgendwie, also so zum Takt der Musik. Wenn ich nur für mich selbst übe, dann singe ich auch. Hört ja sonst keiner." Imelda begann rhythmisch mit dem Fuß aufzustapfen und nur wenige Takte später schaukelte sie - relativ elegant - mit den Hüften hin und her, gefolgt von einer kryptischen Armbewegung, so wie man sich halt in den Nordmarken am ehesten tulamidische Tänze vorstellen würde.

Doratrava schmunzelte gutmütig bei den für ihre Verhältnisse eher unbeholfenen Bewegungen der Geweihten, denn sie wollte sich keinesfalls über sie lustig machen. “Sich zum Takt der Musik zu bewegen, ist schon mal nicht schlecht. Aber siehst du, das ist es, was ich meine: du kannst dich meist ja selbst nicht sehen und daher selbst auch nicht korrigieren. Oder hast du einen Spiegel in deinem Tempel?” Die Gauklerin hatte große Spiegel bisher nur in irgendwelchen Palästen oder hochherrschaftlichen Häusern zu sehen bekommen, und das war selten genug gewesen.

“Du brauchst eine Lehrerin, die das tut. Oder halt doch einen Spiegel.” Doratava grinste. “Schau, ich zeige dir jetzt, wie das geht.” Sie stellte sich nun selbst in Positur, dann wiederholte sie Imeldas Schritte von eben, auch das Wiegen der Hüften und die Armbewegung, nur sah bei ihr alles natürlich, fließend, bestechend leicht und elegant aus. “Und nun versuche, das nachzumachen, ich werde dich korrigieren.”

Fokussiert auf die Bewegungen der Gauklerin versuchte Imelda angestrengt diese nachzuahmen. Die Hadingerin war recht geschickt im höfischen Tanz und bei volkstümlicher Musik tanzte sie wild und ausgelassen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sie auf andere Menschen wirken könnte. Doch sich elegant, geradezu verführerisch zu bewegen, hatte man ihr nicht beigebracht. "Ähh, mache ich das gut?", fragte sie unsicher und biss sich dabei verkrampft auf die Unterlippe.

Milde amüsiert betrachtete Doratrava Imeldas Bemühungen, freute sich aber über ihre Begeisterung. Sie trat auf die Geweihte zu und stellte sich genau neben sie. “Streck das Bein so, dann dreh’ dich, dann den Fuß mit dem Ballen zuerst aufsetzen. Dabei musst du die Arme so halten”, sie griff nach Imeldas Arm und bog ihn in die richtige Stellung und nahm dann auch den rechten, um dasselbe zu tun. “Dann drehen, so”, Doratrava machte es vor, dann fasste sie Imelda an der Hüfte und bewegte sie sanft in der richtigen Weise. “Und jetzt in die andere Richtung …”

Die Gauklerin führte Imelda durch einige weitere einfache Figuren, dann ließ sie wieder los. “So, jetzt du nochmal!”

Für Imelda fühlte es sich ungewohnt an, sich größtenteils auf Zehenspitzen zu bewegen. Sie streckte sich lang und bemühte sich - ganz auf die Bewegung und Haltung fokussiert - alles richtig zu machen. Auch wenn die vollbusige Geweihte etwas breitere Schultern hatte, so war ihr Körper doch durch die tägliche harte Arbeit in der Schmiede durchtrainiert. Sie spannte sich von oben nach unten, zog den Bauch ein, versuchte dabei nicht das Gleichgewicht zu verlieren und in den Armen nicht zu verkrampft zu wirken. Fast wäre sie zwei, drei Mal zur Seite weggekippt, doch schaffte sie es schließlich, das Gleichgewicht zu halten. Als sie sich wiederholt um die eigene Achse gedreht hatte, spürte sie, dass sie fast vergessen hätte, dabei zu atmen. “Puh, das ist anstrengend!” seufzte sie. “Aber es macht riesig Spaß. Ich werde wohl wirklich viel üben müssen!” Sie wog den Kopf hin und her und lachte ausgelassen. “Was vielleicht gar nicht mal verkehrt ist, so für Po und Bauch?”

“Sehr gut, Euer Gnaden!” jubelte Merle, die Imeldas Tanzübungen aus einiger Entfernung beobachtet hatte. “Das eben sah schon sehr schön aus!” Sie grinste Doratrava verschmitzt an. “Heute abend kommst du aus den Unterrichtsstunden gar nicht mehr raus, was? Pass’ auf, nachher wollen die anwesenden Rittersleut' sich noch im Seiltanz üben!”

Doratrava winkte Merle zu. “Oh ihr Götter, so langsam habe ich das Gefühl, das könnte passieren”, lachte sie zurück. Dann drehte sie sich wieder Imelda zu. “Klar ist das anstrengend. Für dich ist Tanzen so, als würde ich einen Schmiedehammer schwingen. Der würde mir auch spätestens nach fünf Schlägen vor Schwäche aus der Hand fallen.” Sie grinste. “Aber ich glaube, Merle hat recht. So langsam fühlt sich das hier echt wie Arbeit an. Ich geb’ dir wann anders ein paar Nachhilfestunden, in Ordnung?”

Imelda hüpfte jubelnd auf der Stelle, als sie das Lob Merles erhielt. "Ja, Doratrava ist eine strenge, aber ganz ausgezeichnete Lehrmeisterin, will ich meinen. Wenn du mir zu passender Zeit nochmal einen Hinweis geben könntest, dann wäre ich dir unendlich dankbar!", rief sie begeistert und sah zwischen Merle und Doratrava hin und her. Mit der einen Hand ergriff sie wieder ihre Fackel, während sie in der anderen ihre kleine Laterne trug. "Also, genug der Arbeit und machen wir uns weiter auf die Wanderung. Kennt ihr ein schönes Wanderlied?"

Merle schob sich schmunzelnd eine Haarsträhne hinters Ohr. "Hm... nicht allzu viele, fürchte ich. 'Wohlan, ihr Koscher, stolz voran' vielleicht? Aber das ist im Lützeltal nicht so ganz passend... Doratrava, du kannst doch bestimmt viele avesgefällige Lieder, oder?"

“Ich??” Doratrava wedelte abwehrend mit den Händen. “Ich glaube, ihr wärt enttäuscht, wenn ihr mich singen hört. Ja, kann schon sein, dass ich auf Reisen ab und zu vor mich hin summe, aber ich kann mir einfach keine Liedtexte merken. Außerdem sollte man gerade nachts nicht auf sich aufmerksam machen, wenn man allein in der Wildnis unterwegs ist. Gut, heute und hier ist das wohl was anderes. Trotzdem fällt mir jetzt nichts ein. Also, außer ein paar Melodien, die ich summen könnte ...” Sinnierend verstummte sie, als wäre ihr gerade etwas eingefallen.

“Was ist, Doratrava?” fragte Merle leise nach. “Ist dir doch ein Lied in den Sinn gekommen?”

Das Gesicht der Gauklerin nahm plötzlich einen undefinierbaren, fast statuenhaften Ausdruck an. “Ich … habe mich an ein Lied erinnert, ja”, sagte sie sehr leise, so dass es Merle gerade noch vernehmen konnte. Daran, dass Imelda nicht sehr gut hörte, dachte sie im Moment nicht. “Aber … es ist sehr traurig. Ich habe es mal als kleines Kind gehört … und konnte dann nächtelang nicht richtig schlafen. Irgendwann wurde das wieder besser. Aber der Text, den habe ich nie vergessen können.”

Imelda versuchte angestrengt zu verstehen, was die Gauklerin flüsterte. Völlig ahnungslos, jedoch mit einem zustimmenden, freundlichen Grinsen sah sie zwischen Doratrava und Merle hin und her.

Fasziniert von der Geschichte blickte Merle Doratrava in die Augen. "Manchmal sind traurige Lieder auch schön...", murmelte sie leise. "Ich finde, irgendwie spenden sie der Seele Trost, wenn man selber traurig ist..." Sie schluckte leise, als sie an ihre vielen dunklen Stunden in den letzten zwei Götterläufen dachte. "Aber bei dir war das früher eher nicht so, oder? Weißt du denn, wie das Lied genau ging? Vielleicht kennen wir es ja auch?"

Doratrava schluckte, als sie an damals zurück dachte und die erinnerten Emotionen ihr Tränen in die Augen treiben wollten. Sie hatte nur noch diffuse Bilder im Kopf, sie musste damals vielleicht fünf Jahre alt gewesen sein. Ihre Zieheltern hatten sie früh zu Bett geschickt, aber als sie in ihrer winzigen Stube lag und zu schlafen versuchte, waren die Stimmen aus der Tempelhalle des Traviatempels, die sich nicht sehr von einen Speisesaal unterschieden hatte, an ihr Ohr gedrungen. An diesem Abend war der Tempel gut besucht gewesen und entsprechend laut ging es zu, so dass Doratrava eine Weile nicht einschlafen konnte. Und dann hatte plötzlich jemand angefangen zu singen, eine tiefe, volltönende, männliche Stimme, die mühelos die Wand durchdrungen hatte.

Erst hatte Doratrava fasziniert gelauscht, aber als die Geschichte des Liedes sich entfaltete, war ihr immer schwerer ums Herz geworden, denn auch sie hatte sich schon immer verloren und getrennt von jemandem, der sie wirklich liebte, wie sie war, gefühlt, ohne allerdings zu wissen, wer das sein könnte. Je länger das Lied andauerte, desto mehr hatte sie sich gefühlt, als steche man ihr Dolche in die Brust, bis sie sich irgendwann, lange, nachdem der Sänger zum Ende gekommen war, in den Schlaf geweint hatte. Aber dann hatte sie von boshaften alten Weibern, unerreichbaren Lichtern, Ertrinken und Tod geträumt und war am nächsten Morgen völlig gerädert und zitternd aufgewacht. Ihre Zieheltern hatten angenommen, sie habe sich ein Fieber geholt und sie im Bett gelassen, aber es war nur das Lied, doch konnte sie darüber nicht mit ihnen sprechen ...

Die nächsten Nächte hatte sie dann immer an dieses Lied und die Dolchstiche denken müssen und die halbe Nacht wachgelegen, weil sie Angst vor neuerlichen Träumen gehabt hatte. Das ging sicher mehrere Tage so, soweit sie sich noch entsinnen konnte, bis ihre Ziehmutter ihr irgendetwas ins Essen getan hatte, das sie tief und traumlos schlafen ließ. Da hatte Malvine einmal etwas Richtiges getan, ohne es freilich zu wissen, aber tatsächlich verblassten dadurch die Traumbilder und Doratravas Angst vor dem Einschlafen schwand, bis sie die Sache verdrängt hatte.

Erst viel später hatte sie sich wieder an diese Begebenheit erinnert und bemerkt, dass der Liedtext sich in ihren Geist eingebrannt hatte. Und nun wurde sie wieder daran erinnert und die Emotionen kamen wieder hoch. Sie versuchte, sich zu beherrschen, und schluckte, dann begann sie mit unsicherer, etwas krächzender Stimme leise zu singen:

Es waren zwei Königskinder,

die hatten einander so lieb,

sie konnten beisammen nicht kommen,

das Wasser war viel zu tief,

das Wasser war viel zu tief.

Doratrava brach ab und schaute Merle und Imelda an. Sie merkte gar nicht, dass an ihrem linken Augenwinkel eine Träne hing, und fragte mit belegter Stimme: "Weiter?"

Merle starrte Doratrava gebannt an und merkte, wie sich auch ihr Herz zusammenzog. Es war vor allem die Art, wie die Gauklerin die Zeilen sang - nicht perfekt, nicht einmal besonders wohlklingend - aber mit so viel rauer, schmerzvoller, verletzlicher Emotion, dass Merle davon tief ergriffen wurde. Sie kannte das Lied nicht, doch ließen die Worte '...das Wasser war viel zu tief' eine dunkle, unheilvolle Ahnung in ihr aufsteigen, wie die Geschichte unweigerlich enden würde. Unfähig, gleich etwas zu sagen, schluckte sie nur hart und schaute zu Imelda, ob die Geweihte des Feuergottes weniger sensibel auf die traurige Ballade reagieren würde.

Imelda sah ergriffen, mit großen Augen zu Doratrava. Mit einem leichten, aufmunternden Lächeln sagte sie sanft: "Ich würde es mir gerne weiter anhören. Der Anfang war wirklich sehr schön."

Merle nickte nur stumm.

Mit einem Blick, als wollte Doratrava fragen, ob die beiden sicher seien, sah sie Merle und Imelda kurz an, aber dann schluckte sie erneut und nickte.

Wieder erklang leise ihre eigentlich gar nicht so unmelodische, aber eben recht ungeübte Stimme, die mit einem Krächzen unterlegt war, weil ihr der Hals eng wurde. Aber tapfer sang sie:

Ach Liebster, könntest du schwimmen,

so schwimm doch herüber zu mir!

Drei Kerzen will ich anzünden,

und die sollen leuchten dir,

und die sollen leuchten dir.

Das hört eine falsche Schwester

die tat, als wenn sie schlief;

sie tat die Kerzlein auslöschen,

der Jüngling ertrank so tief,

der Jüngling ertrank so tief.

Doratrava brach ab, als ihr die Stimme versagte, aber sie hob die Hand und räusperte sich, schluckte, räusperte sich nochmals, dann schaffte sie es, das Lied wieder aufzunehmen.

Ach Fischer, liebster Fischer,

willst du verdienen groß Lohn,

so wirf dein Netz ins Wasser

und fisch mir den Königssohn,

und fisch mir den Königssohn.

Er warf das Netz ins Wasser,

es ging bis auf den Grund;

er fischte und fischte so lange,

bis er den Königssohn fand,

bis er den Königssohn fand.

Sie schloss ihn in ihre Arme

und küsst seinen bleichen Mund:

"Ach Mündlein, könntest du sprechen,

so wär mein junges Herz gesund,

so wär mein junges Herz gesund!"

Nun war deutlich zu sehen, dass die Tränen über Doratravas Wange liefen, aber gleichzeitig hatte ihr Gesicht einen wild entschlossenen Ausdruck angenommen. Ihre Stimme klang nun nicht mehr krächzend, sondern eher gepresst, und sie verlor auch manchmal den Ton, aber sie sang weiter:

Was nahm sie von ihrem Haupte?

Ein' güldne Königskron:

"Sieh da, du wohledler Fischer,

hast dein’ verdienten Lohn,

hast dein’ verdienten Lohn!"

Was zog sie von ihrem Finger?

Ein Ringlein von Gold so rot:

"Sieh da, du wohledler Fischer,

kauf deinen Kindern Brot,

kauf deinen Kindern Brot!"

Sie schwang sich um ihren Mantel

und sprang wohl in die See:

"Gut Nacht, mein Vater und Mutter,

ihr seht mich nimmermehr,

ihr seht mich nimmermehr!"

Das letzte Wort erstarb im Hals der Gauklerin, sie schlug die Arme um ihren Körper und schluchzte stumm, den Blick auf ihre Füße gerichtet, während ihre weißen Haare wie ein gespenstischer Schleier vor ihr Gesicht fielen.

Merle liefen die Tränen, ohne dass sie es richtig merkte, heiß über die Wangen, während sie an Doratravas Lippen hing. Als die Gauklerin geendet hatte, brach auch aus ihr ein Schluchzen heraus, kehlig und rauh, lösten sich angestauter Schmerz, Einsamkeit und Verzweiflung aus ihrem Herzen, als würde man Messer herausziehen, die dort seit langer, sehr langer Zeit feststeckten. War es das Gefühl, als Waise niemals richtig zu dieser Familie dazugehört zu haben, war es Gudekars Fehltritt, den sie über das unselige Amulett ‘miterleben’ musste, das distanzierte, kalte Verhalten, mit dem er ihr seitdem zumeist begegnete? Oder dass er nun schon wieder weggehen wollte, ohne zu sagen, wie lange? Sie wusste es nicht und weinte einfach nur, zog Doratrava in eine verzweifelte Umarmung, presste den warmen, tröstenden, ebenfalls unter Schluchzern zitternden Körper der anderen Frau an sich, so fest sie irgendwie konnte.

Als Merle sie plötzlich umarmte und fest an sich presste, wusste Doratrava erst gar nicht, was sie mit ihren Händen machen sollte. Überraschung durchtoste sie, zusätzlich zu der erinnerten und neu aufgebrochenen Trauer, Sehnsucht und Verlorenheit, die das Lied in ihr ausgelöst hatte, aber auch das Gefühl der Verbundenheit zu einem Menschen, der vielleicht verstand, was in ihr vorging, weil er Ähnliches erlebt hatte. Doratrava konnte nicht sprechen, und hätte sie es vermocht, hätte sie nicht gewusst, wie sie ihre Gefühle in Worte hätte kleiden sollen, aber sie erwiderte die Umarmung nun in gleicher Weise, verzweifelt und geborgen zugleich.

Imelda biss sich mit den Tränen kämpfend auf die Unterlippe. "Ach, Mensch. Das ist aber traurig...", sagte sie leise, mehr zu sich selbst. Als die beiden Frauen sich weinend in den Armen lagen, konnte auch Imelda sich nicht mehr zurückhalten. Schluchzend, nach einem kurzen Zögern, schlang sie ihre beiden Arme um Doratrava und Merle und schniefte leise.

Als Imelda sie aber nun auch noch umschlang, steigerte dies zwar das Gefühl der Geborgenheit für eine kurze Weile, aber dann fühlte Doratrava sich eingeengt, zumal die Geweihte nicht mit ihren Kräften sparte. Fast schon bedauernd wollte sie sich aus der Umarmung Merles und auch Imeldas lösen, aber vor allem letztere hielt sie zu fest. "Bitte, Imelda, du erdrückst uns", brachte sie daher, noch immer von Tränen halb erstickt, hervor. "Es geht schon wieder", fügte sie hinzu, was nicht so ganz der Wahrheit entsprach.

Merle löste die Umarmung und nickte beiden Frauen schüchtern und sichtlich verlegen zu. "Danke für das Lied, Doratrava", hauchte sie mit leiser, belegter Stimme. "Es ist traurig, aber auch schön… Und wenn es diese beiden Liebenden wirklich gegeben hat, dann spüren sie vielleicht irgendwo… irgendwie, dass ihre Geschichte immer noch erzählt wird. Dass wir an sie denken und mit ihnen fühlen…" Sie zuckte mit den Achseln und wischte sich die Tränen von der Wange. "Oder ist das ein dummer Gedanke?"

Doratrava zuckte mit den Schultern, dann schüttelte sie den Kopf. “Ich weiß nicht …”, murmelte sie, immer noch mit tränenschwerer Stimme, “Ich … finde den Gedanken schön.” Das tat sie wirklich, aber es war nicht dieser Aspekt der Geschichte, der ihr die Tränen in die Augen getrieben hatte. Doch sie fühlte sich gerade nicht danach, um von selbst darauf einzugehen, zumal sie weder Imelda und schon gar nicht Merle gut kannte.

"Ja, danke, Doratrava.", sagte Imelda, während sie sich eine Träne aus den feuchten Augen wischte. "Das war ja wirklich was fürs Herz." Sie sah die beiden Frauen freundlich und vertraut an. "Manchmal hoffe ich, dass ich mich niemals so verlieben werde, dass es mich zerreißt. Doch ohne die Liebe ist das Leben sicherlich auch nicht lebenswert..." Die junge Hadingerin seufzte leise. "Vermutlich geht aber das eine ohne das andere nicht, oder?"

Doratrava biss sich auf die Lippen, damit die nächste Träne nicht von ihrem inneren Schmerz kam, sondern eine greifbare Ursache hatte - oder sie sich das wenigstens einreden konnte. Imeldas Worte beschworen vor ihrem Auge das Bild Jels herauf, ihrer ersten richtigen Liebe, die sie so unverhofft gewonnen hatte, aber den Umständen wegen gleich wieder hatte aufgeben müssen. Und dann waren da noch Rahjalind … und Cupida … und Ivrea … jede Liebe, die sie zu finden geglaubt hatte, war ihr innerhalb kürzester Zeit zwischen den Fingern zerronnen. “Ich weiß nicht, ob das eine ohne das andere geht”, antwortete sie Imelda schließlich mit brüchiger, halb erstickter Stimme. “Ich bin die denkbar schlechteste Person, um darüber Auskunft zu geben …”

Merle blickte in die Gesichter der beiden Frauen, die sie eigentlich nicht kannte, denen sie sich jedoch in diesem Moment seltsam verbunden fühlte. "Ich glaube, dass es möglich ist", sagte sie schüchtern, mit leiser Stimme. Sie dachte an Nivard, der mit so viel offensichtlicher Liebe von seiner Frau sprach, an die Art, wie Tsalinde, Isavena und Lys sich ansahen. "Also, Liebe zu finden, ohne daran zu zerbrechen…" In ihren Gedanken ließ sie die Jahre mit Gudekar Revue passieren - der wilde Anfang, die vielen schönen Zeiten, dann die schlimmen… Doch wenn sie ehrlich mit sich war, hatte sie immer noch den Glauben, die Hoffnung, dass sie beide wieder zueinander finden würden. Auch in den letzten zwei Götterläufen hatte es Momente der Nähe und Zuneigung gegeben. Wie lieb und zärtlich er sich um sie gekümmert hatte während Lulus Geburt… Und die zwei Liebesnächte beim Tag der Heimkehr vor einem Jahr. Daran musste sie sich festhalten. Nein, sie würde ihren Gudekar nicht loslassen, nicht aufgeben wegen der Schwierigkeiten, die sie hatten, dachte sie fest entschlossen und ballte unbewusst die Hand. "Ich glaube, dass man es schaffen kann… zusammen glücklich zu werden", kurz schaute Merle nachdenklich zum Nachthimmel hoch, "...vermutlich braucht es etwas, das über die rahjanische Anziehung hinausgeht… Freundschaft, Vertrauen, Verständnis - den anderen nicht ändern zu wollen, sondern anzunehmen, wie er ist. Entschlossen zu sein, den Weg gemeinsam zu gehen. Füreinander da sein.” Sie zuckte lächelnd mit den Achseln und blickte nacheinander Doratrava und Imelda aufmunternd in die Augen. “Ich glaube, dass es bei Gwenn und Rhodan so ist. So sein wird. Sie werden ein langes, glückliches Leben miteinander führen. Also lasst uns jetzt nicht zu schwermütig werden…" Mit noch immer tränenglänzenden Wangen lächelte sie die beiden anderen an. "Wir feiern hier schließlich eine Hochzeit, oder etwa nicht?"

Freundschaft, Vertrauen, Verständnis ... um das aufzubauen, musste man erst einmal lange genug mit jemandem zusammen sein. Aber Doratrava war ein Blatt im Wind und oft gar ein Schmetterling im Sturm und nirgends zuhause. Sie müsste alles aufgeben, was sie ausmachte, um bei jemandem zu bleiben wie Jel, die ein Gasthaus im Nirgendwo führte oder Cupida, die Gärtnerin in Herzogenfurt war. Oder jemanden finden, der bereit war, alles aufzugeben, um mit ihr zu ziehen ... welche der beiden Unmöglichkeiten würde wohl wahrscheinlicher eintreten?

Aber Merle hatte recht, sie feierten hier eine Hochzeit, und Doratravas Berufung war es, Leuten auf Festen oder auch sonst Freude zu bereiten, nicht, sie mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten zu belasten. Also wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und versuchte sich in einem verunglückten Lächeln. "Tut mir leid", sagte sie. "Ja, ich wünsche Gwenn und Rhodan alles Glück der Welt." Und sie hoffte, dass auf dieser Hochzeit weder Vampire noch Dämonen auftauchen würden. "Sie sollen eine schöne Feier haben, und ich denke, bisher konnte ich meinen Beitrag dazu leisten."

Einem plötzlichen Impuls folgend strich sie Imelda flüchtig über den Arm und gab Merle einen schnellen, samtigen Kuss auf die Wange. "Danke."

Merles Gesicht erstrahlte, als wäre ein Sonnenstrahl darauf gefallen. Mit leuchtenden Augen und geröteten Wangen blickte sie die Gauklerin warm und herzlich an. "Danke dir, Doratrava", erwiderte sie schlicht, ohne zu erklären, ob sie damit die Akrobatik-Lehrstunde, das herzzerreißende Lied oder den Kuss auf die Wange meinte.

Doratrava spürte, wie sie selbst errötete, aber zum Glück äußerte sich das bei ihrer weißen Haut nur kaum sichtbar, und bei den aktuellen Lichtverhältnissen fiel das sicher keiner der beiden Frauen auf. Halb hob sie eine Hand, ließ sie dann aber wieder sinken. Ein seltsam scheues Lächeln nahm ihr Gesicht ein, dann nickte sie den beiden wortlos zu.

Imelda sah die beiden Frauen versonnen an. "Wer hätte gedacht, dass das eine so schöne Nachtwanderung werden würde." Doch umgehend mit den Worten Merles kam der Hadingerin ihre Freundin Meta in den Sinn und das, was diese zu tun beabsichtigte. In der Magengegend hatte sie ein schlechtes Gefühl dabei, dass eine Familie zerstört werden würde; daher hatte sie das Problem bisher ignoriert und versucht, nicht daran zu denken, was passieren würde. Doch war es als Geweihte nicht sogar ihre Pflicht, etwas zu tun? Andererseits durfte sie auch nicht ihre Freundin verraten. Imelda seufzte schwermütig leise in sich hinein. Vielleicht würden die Götter den Weg der drei in die richtigen Bahnen lenken.

~*~

Der Anconiter Gudekar reihte sich in der Mitte der Wandergruppe ein. Anstelle einer Fackel hielt er seinen luminiszierenden Magierstab, den er gleichzeitig als Wanderstab nutzte. Er wandte sich kurz an seine Begleiterin. “Meta, wenn du magst, kannst du dich auch gerne zu jemandem anderen gesellen und dich unterhalten. Du musst nicht die ganze Zeit als meine Wache neben mir laufen. Selbst, wenn uns hier Gefahr drohen würde, wärst du immer noch nah genug, um mich zu beschützen. Versuch einfach, ein wenig Spaß zu haben und die Wanderung zu genießen.”

„Gerne. Ich schau, wer frei ist. Mit der hübschen Akoluthin würde ich gerne etwas reden. Bis später!”

“Viel Spaß, unterhalte dich gut!” Gudekar lächelte die Ritterin an und dann flüsterte er ihr ein weiteres Wort zu: “Schatz!”

Nachdem Meta seinem Vorschlag gefolgt war, schloss Gudekar zu Nivard auf.

„Es lässt mir nun doch keine Ruhe“, hakte der Anconiter nach. „Worüber wolltet Ihr mit mir sprechen, Herr von Tannenfels?“

'Warum nicht gleich klären?' Nivard war es Recht, nicht länger warten zu müssen. Verstohlen sah er sich rasch noch nach allen Seiten um. Als er sicher war, dass niemand sie belauschen würde, fiel er mit der Tür ins Haus: "Ich habe vernommen, dass es Euch in die Rabenmark zieht, Herr von Weissenquell. Was veranlasst Euch zu diesem Schritt, wenn Ihr mir die Frage gestattet?"

Gudekar lief einige Schritte schweigend neben Nivard. Dann holte er tief Luft und atmete den Duft von Kiefernnadeln ein, sog ihn in sich auf. Dann antwortete er. “Der Baron von Tälerort hat mich gebeten, ihn bei der Befriedung seiner dortigen Ländereien zu unterstützen. Noch immer gibt es dort Regionen, die unter den Folgen der…, der früheren Herrscher leiden. Und aufgrund meiner Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren sammeln konnte, erhofft er sich meine Hilfe. Da meine Verpflichtungen für den Orden nun nach göttergefälligen zwölf Jahren erfüllt sind, habe ich mich von ihm überzeugen lassen, mir seine Probleme für eine gewisse Zeit anzusehen.”

"Eine große Aufgaben und gewiss ein gutes und interessantes Angebot des Barons." musste Nivard einräumen. Nach kurzem Zögern hakte er jedoch nach: "Weiß er von dem Krieg, in dem wir uns hier befinden, in dem auch Ihr eine Rolle spielt? Von dem Feind, der in aller Heimtücke wieder und wieder die Nordmarken bedroht?"

“Nicht von mir jedenfalls”, betonte Gudekar mit einem entrüsteten Blick. “Wir haben uns gegenüber ihr”, er vermied es, den Namen Auftraggeberin in der Öffentlichkeit zu nennen, “zur Verschwiegenheit verpflichtet, und daran halte ich mich.” Der Magier dachte einen Moment nach. “Es ist jetzt schon eine ziemlich lange Zeit her, seit der Feind offensichtlich zugeschlagen hat. Meint Ihr, es droht noch immer akute Gefahr? Oder wäre es möglich, dass die Gefahr inzwischen gebannt ist, ohne, dass wir es bemerkt haben? Ich meine, ja, der Kristall muss noch immer zusammengefügt werden. Aber vielleicht droht uns zumindest keine neue Unbill?”

Nivard nickte. "Natürlich sind wir zur Verschwiegenheit verpflichtet. Aber können wir uns dann in den Dienst eines neuen Herren oder einer neuen Herrin stellen, ohne diesen wenigstens ahnen zu lassen, mit wem wir uns in Feindschaft eingelassen haben, gegen wen zu kämpfen wir uns verpflichtet haben, und mit wem wir noch immer rechnen müssen? Der Feind ist heimtückisch und verschlagen, er lauert im Verborgenen und schlägt aus dem Nichts zu! Egal, wie lange er nicht mehr aufgetaucht ist, glaube ich erst daran, dass er besiegt ist, wenn ich auf seinen kalten Leib hinab sehe oder mir ein Zeuge erstklassigen Leumunds glaubhaft vermittelt, selbiges an meiner Statt getan zu haben. Und bis dahin ist nichts und niemand hier in den Nordmarken sicher." Er sah Gudekar bohrend an, während er nahezu tonlos hinzufügte: "In der Rabenmark mag dies aber vielleicht anders sein." Obgleich er es nicht aussprach, schwang deutlich die Frage darin, ob dies die Intention des Weggangs war.

"Wollt Ihr mir etwa vorwerfen, mich vor dem Feind zu verstecken, während ich meine Lieben hier zurücklasse?” Gudekar war entrüstet. “Denkt Ihr, ich flöhe aus den Nordmarken, bevor der Feind besiegt ist, um meine eigene Haut zu retten? Oh, Ihr versteht so wenig! So wenig!”

"Ihr habt vollkommen Recht. Ich verstehe wenig. Deswegen frage ich ja nach!" hielt Nivard entgegen. "Ich verstehe nicht, warum Ihr Euch in der jetzigen Lage dauerhaft nach Tälerort begeben wollt. Würde ich unterstellen, dass Ihr flöhet - was ich nicht guthieße, aber im Hinblick auf die Sicherheit Eurer liebreizenden Gemahlin und Tochter, die ich beide heute kennenlernen durfte, sogar mehr als gut nachvollziehen könnte - würde ich erwarten, dass Ihr Eure Liebsten mitnehmt und damit gleichsam dem Zugriff des Frevlers entzieht. Da Ihr dies nicht tut, ihr sie hier in den Nordmarken zurücklasst, wundere ich mich eben, was Ihr mit Eurem Weggang bezwecken wollt."

„Und würde ich fliehen mit denen, die mir am meisten bedeuten, dann doch nicht an einen so trostlosen, furchterregenden Ort wie Tälerort! Würdet Ihr Eure Frau und Euer Kind mitten in ein von Dämonen verseuchtes Land führen?“

"Gewiss nicht. Vielleicht nach Almada oder Garetien, wenn es sein muss, sogar Weiden... Kosch und Albernia dürften noch zu nahe an Pruchs Umtrieben sein... aber in jedem Fall und ganz sicher nicht in die Rabenmark. Genau dies macht mich eben stutzig. Was wollt Ihr in der Rabenmark, dass Ihr Euch aus dem Gefecht hier in die nicht eben viel harmloseren Scharmützel dort zurückzieht, und dafür Frau und Kind und auch Eure Gefährten hier zurücklasst?"

“Ich habe Wunnemar von Galebfurten zugesagt, ihm für eine Weile bei seinen Problemen dort zu helfen. Gleichzeitig erhoffe ich mir, dort Erfahrungen beim Kampf gegen das Dämonengezücht zu sammeln. Wie soll man einen Feind besiegen, den man nicht versteht, den man kaum kennt? Ich selbst habe mich nie mit Dämonologie und ihrer Bekämpfung beschäftigt. Und dann stand ich plötzlich in Schweinsfold nicht nur den Schergen des Paktierers, sondern einem leibhaftigen Dämon gegenüber. Im ersten Moment wusste ich einfach nicht, was zu tun war. Und in den Momenten des Zögerns hat eine junge Frau auf grausamste Art ihr Leben ausgehaucht. Ihr wart dabei, ich brauche es Euch nicht zu erzählen. Erst zu spät bin ich aus meiner Lethargie erwacht und habe das Ungetüm besiegt. Ich hatte keine Kontrolle. So etwas darf nicht noch einmal geschehen! Deshalb versuche ich, Antworten zu finden. Und das Angebot, das mir Wunnemar in seiner Großzügigkeit unterbreitete, eröffnet mir vielleicht die Möglichkeit, meine Kompetenzen in dieser Sache zu verbessern.”

"Eure Motivation kann ich zunächst nachvollziehen. Doch ist es tatsächlich erfolgsversprechend, sich aus dem Krieg, der einen selbst und die seinen unmittelbar betrifft, zurückzuziehen, nur um sofort in einem anderen weiterzukämpfen, der einem im Prinzip dasselbe abverlangt, aber für eine andere Sache?" Nivard schüttelte den Kopf. "Ist es die Übung und das Wissen dort wert, die Wehr gegen den vermaledeiten Frevler vorübergehend zu schwächen - wird es Euch ganz sicher die Waffen in die Hand geben, Pruch zu besiegen, oder diesem eher die Gelegenheit, vorher noch mehr Unheiliges anzurichten?" Auch hier war dem Krieger anzumerken, welcher Überzeugung er war. "Seid Ihr nicht Mitglied in einer der Magiergilden? Könntet Ihr nicht in einer deren Akademien viel zielgerichteter, schneller und für Euch und Eure Familie gefahrloser das Wissen erlangen, dass es braucht, Pruch und seinen Dämonen etwas entgegenzusetzen?"

“Nein, nein, nein. Ich gebe den Kampf gegen Pruch doch nicht auf. Doch hat sich der Lolgramoth-Paktierer nun schon sehr lange nicht mehr gezeigt, soweit ich weiß. Soll ich nun weiter hier herumsitzen und meine Zeit mit warten vergeuden, während es an anderer Stelle gebraucht werde und gleichzeitig wichtige Erfahrungen sammeln kann? Sollte es Neuigkeiten bezüglich unseres Feindes geben, oder Erkenntnisse darüber, wie der Kristall wieder zusammengefügt werden kann, so erwarte ich eine Nachricht in Tälerort und werde mich alsgleich auf den Weg hierher begeben. Diese Freiheit habe ich mir gegenüber meinem Baron erboten.” Gudekar blieb stehen und holte tief Luft. Als Nivard ihn anschaute, sah er Gudekars besorgten Blick. Schließlich lief Gudekar weiter. “Was Euren Vorschlag anbelangt, an einer Akademie des Bundes des weißen Pentagrams nach Antworten zu suchen, so kann ich nur einwenden, dass das Notwendige Wissen nicht in Elenvina zu finden ist, und müsste ich an eine andere Schule reisen, so würde ich die Nordmarken ebenso verlassen müssen. Mich beschäftigt jedoch eine Frage, über die ich durch meine bisherigen Nachforschungen noch keinen befriedigende Antworten finden konnte: Wie ist es einem ehemaligen Flussgardisten, der offensichtlich über keine arkanen Kompetenzen verfügte, möglich geworden, wiederholt Tore in den Limbus zu öffnen und Dämonen herbeizurufen? Wenn er diese Fähigkeiten erlangt hat, wer kann diese Fähigkeiten noch erlangen?” Und die letzte Frage sprach der Magier nicht aus: ‘Wenn die Mächte, die Pruch zu seinen Fähigkeiten verholfen haben, mir zur Verfügung stünden, zu was wäre dann ich wohl fähig?’ Eine Frage, die sich seit längerem immer wieder in seine Gedanken schlich. Natürlich nur aus rein theoretischer Perspektive! “Diese Fragen sind keine, deren Antworten so einfach in den Akademien des weißen Pentagramms zu finden sein dürften. Ich habe jedoch die Hoffnung, Hinweise dazu an anderer, richtiger Stelle zu finden.”  

"Und diese Stelle ist ausgerechnet Tälerort? Dort gibt es jede Menge Paktierer, die Tore in den Limbus reißen, so dass Ihr üben könnt, sie zu fassen und ihnen das Handwerk zu legen?" Nivard wirkte alles andere als überzeugt.

“Nein”, widersprach Gudekar, “Ich hoffe, dass es dort keine Dämonenpaktierer gibt. Doch, wenn ich den Orden verlassen habe, dann muss ich dafür Sorge tragen, wie ich mein Leben – und das meiner Familie – bestreiten kann. Wunnemar bietet mir die Gelegenheit dazu. ”

"Jetzt verwirrt Ihr mich - zuerst klang es, als ob Ihr nach Tälerort ginget, um dort Eure Forschung voranzutreiben und Hinweise zu finden, wie Pruch zu seinen Kräften gelangt ist und wie er folglich auch besiegt werden könnte. Jetzt sagt Ihr, dass Ihr dort nur Euer und Eurer Familie Auskommen verdienen wollt. Könntet Ihr dies nicht leichter und besser in den Nordmarken, wo Ihr nicht nur für Eure Familie da sein und auf diese Acht haben könntet, sondern zugleich auch bereit wäret, gegen Pruch wirksam zu werden? Der Heilkräfte mächtige Magier werden gewiss überall eine gute Anstellung finden." Nivard hatte zusehends das Gefühl, dass Gudekar sich selbst nicht im Klaren war, warum er was wollte, und sich daher in Widersprüche verstrickte.

Gudekar blieb stehen und hielt Nivards Arm, so dass dieser sich zu  dem Magier drehen musste. “Mein Freund, ihr dreht mir die Worte im Munde um! Was bezweckt Ihr damit? Natürlich verfolge ich beide Ziele gleichzeitig: meinen Lebensunterhalt zu sichern und die Forschungen in der Causa Pruch voranzutreiben. Und glaubt mir, wenn ich die Möglichkeit sehen würde, dies in angemessener Art und Weise in den Nordmarken durchzuführen, dann würde ich mir die beschwerliche Reise an solch einen fernen Ort ersparen. Doch gebt Ihr mir immer mehr das Gefühl, Ihr wollt mich für meine Entscheidungen anklagen!”

"Wer bin ich, Euch anklagen zu wollen?" wies Nivard die letzte Unterstellung vehement zurück. "Es ist Euer gutes Recht, ja sogar Eure Pflicht, Euren Lebensunterhalt und den Eurer Familie zu verdienen, das spreche ich Euch in keinster Weise ab, wie könnte ich? Und ich bestreite auch nicht, dass Ihr das am Baronshof zu Tälerort können werdet. Doch frage ich mich, wie Ihr dort die Forschung in Sachen Pruch weitertreiben wollt - fernab der Akademien Eurer oder anderer Gilden und noch weiter entfernt von unserem gemeinsamen Feind, zumal - wie Ihr sagt - seinesgleichen sich in Tälerort hoffentlich nicht herumtreibt. Diese Frage berechtigt mich nicht, Euch anzuklagen - sehr wohl aber, mich zu sorgen, ob wir - und damit meine ich unsere Schicksalsgemeinschaft wider das Wirken des Frevlers und für die Heilung der Wunden, die er gerissen hat - Euch als Freund und Mitstreiter verlieren." Der Krieger machte eine Pause. Er war sich nicht sicher, ob er auch die Belange Merles ansprechen sollte, ob er das Recht dazu hatte. Schließlich entschied er, es doch zu tun. Dafür waren ihm die junge Frau und deren Tochter einfach bereits in der kurzen Begegnung zu sehr ans Herz gewachsen. "Und ehrlich gesagt treibt mich auch die Sorge um, nachdem ich Eure Gemahlin und Eure Tochter kennengelernt habe, ob Ihr dadurch, dass Ihr die beiden hier zurücklasst, diese nicht nur alleine einer Gefahr ausliefert, sondern auch ihres Glücks beraubt, des Glücks, mit Euch als Gemahl und Vater an einem gemeinsamen, wärmenden Herdfeuer zusammen zu sein."

Nun ergriff Gudekar Nivards Hand. Mit einem besänftigenden Tonfall versuchte er, seinen Gefährten zu beruhigen. “Hört, Freund, sorgt Euch nicht um meine Treue zum Bund. Mein oberstes Anliegen ist es, den Frevler zu stellen und den Kristall wieder zusammenzufügen.” Nun wurde Gudekars Stimme jedoch härter, kälter. “Und was die Belange meiner Frau und meiner Tochter angeht, da seid gewiss, ich würde sie nicht hier zurücklassen, wenn ich mir ihrer Sicherheit nicht gewiss wäre. Bliebe ich hier bei ihnen, dann wären sie viel eher das Ziel des Paktierers, um mir zu schaden. Ich darf nicht erlauben, dass Pruch sie benutzt, um mich unter Druck zu setzen und von meinen Aufgaben abzuhalten.”

Etwas in Nivard wollte sofort widersprechen, doch zögerte er und wog zunächst seine Gedanken und Gefühle und dann seine Worte ab. Ihm war keineswegs der Wechsel in der Stimmfarbe Gudekars entgangen. Beide Themen, zu denen er selbst seine Besorgnis ausgedrückt hatte, waren durchaus dazu angetan, an der Ehre des Magiers zu kratzen - sowohl die Treue zu ihrem Bund als auch die zu seiner Familie, das war ihm sehr wohl bewusst. War er mit letzterem zu weit gegangen, sinnbildlich zu tief ins Heim des Magiers vorgedrungen? Doch warum spürte er selbst noch immer keine Reue, konnte kein Fehl in seinem Bohren erkennen? Warum traute er zwar grundsätzlich seinem Freund, nicht jedoch dessen intrinsischer Motivation?

Lag es daran, dass es vielleicht an seinen eigenen Idealen, seinem eigenen Umgang mit der Krise rüttelte? Er hatte sich - trotz allem, was sich seit 1042 ereignet hatte, dazu entschieden, mit seiner Liebsten gleich nach ihrer Hochzeit in seine Heimat zurückzukehren und bei seiner Familie zu sein (wenigstens solange er nicht im Auftrag oder mit seiner Herrin unterwegs war), auch weil er glaubte, dass sie dort sicher seien und er am besten selbst auf sie aufpassen könne. War es am Ende nur Selbstsucht, die seine Hand lenkte? Brachte er seine Familie durch seine Sehnsucht nach ihnen in Gefahr? Sollte er sie auch besser fernab von sich selbst verbergen, bis Pruch erledigt war? Nein, nein, nein! Das konnte und wollte er nicht wahrhaben. Wenn sie wegen Pruch und seiner Untaten aus freien Stücken Travias Segen ausschlugen, als Paar und Familie im gemeinsamen Heim Erfüllung, Glück und Liebe zu finden, hätte der Frevler einen weiteren und allzu leichten Sieg geschenkt bekommen. Doch durfte er Gudekar vorwerfen, für sich zu einem anderen Schluss gelangt zu sein.

"Gut." lenkte Nivard schließlich ein. "Ihr scheint Eure Entscheidung für Euch durchdacht zu haben. Auch wenn ich sie noch immer nicht nachvollziehen kann, respektiere ich sie, als Euer Freund." Kurz hielt er inne und erwiderte den Händedruck Gudekars. "Doch erlaubt mir noch eine Frage: glaubt Ihr, Eure Gemahlin und Eure Tochter wären in Eurem Kloster in Albenhus weniger sicher als hier ... wenn Ihr erstmal in Tälerort seid, meine ich?"

Gudekar schaute Nivard an, blickte ihm in die Augen. In Gudekars Blick lag Unsicherheit, Zweifel. Es dauerte einige lange Augenblicke, bevor Gudekar antwortete. “Dies ist eine Frage, die ich mir auch schon oft gestellt habe. Meine Familie war und ist der Meinung, Merle und Liudbirg seien besser hier aufgehoben, solange ich mal in Albenhus weile, mal auf Reisen bin. Ich gebe auch zu, dass ich aufgrund der Ereignisse der Vergangenheit meiner Familie nicht immer die Aufmerksamkeit geschenkt habe, die sich Merle von mir gewünscht hat. Ich weiß, es gab eine Weile die Befürchtung, der Pruch könnte sich gar hier in Lützeltal eingenistet haben. Aber deshalb wurde die Wachsamkeit erhöht und wir haben zwei Plötzbogener zur Sicherheit des Tales abgestellt. Diese Sorge hat sich letztlich – Travia sei Dank – als unbegründet erwiesen. Dennoch haben wir noch immer eine Plötzbognerin, die Dame von Kranickau, hier. Sie soll auch die Sicherheit dieser Hochzeitsgesellschaft, insbesondere die Sicherheit meiner Schwester gewährleisten. Aber ich schweife ab. Ja, ich denke, Merle und Liudbirg sind hier, in der Obhut meiner Familie, besser aufgehoben als in Albenhus, egal, ob ich dort weile und das direkte Ziel des Paktierers sein könnte, oder ob ich weit weg bin und Merle dort schutzlos zurücklasse.” Gudekar wendete seinen Blick ab und blickte traurig zu Boden. “Aber letztlich muss Merle es selbst entscheiden, wo sie ihre Zukunft verbringen will.”

"Ich glaube, dass Eure Familie hier, bei Eurer Familie und bei diesen Schutzvorkehrungen wirklich in guten... ja, in bestmöglichen Händen ist", musste Nivard einräumen, angesichts der von den Plötzbognern wahrgenommenen Bedeckung. Ob dies ausreichen würde, wenn Pruch in dämonischer Begleitung auftauchte, ließ er dahingestellt - wahrscheinlich würde es diesem aber auch gelingen, selbst in ein Anconiter-Kloster einzudringen, ja, mutmaßlich sogar direkt in die Wehrhalle.

"Allerdings braucht ein Mensch zum Gedeihen nicht nur Sicherheit, sondern ebenso eine erfüllende Aufgabe, und das Gefühl, am rechten Platz, wirklich zu Hause zu sein. Nachdem, was mir Eure Gemahlin und wie sie es erzählt hat, scheint sie im Kloster sehr glücklich gewesen zu sein..." Nivard ließ seine Worte und den Gedanken kurz nachklingen. "Aber Ihr sagt es ja, es ist letztlich an ihr, sich zu entscheiden."

Mit einem Mal blickte Gudekar wieder zu Nivard auf, und die Traurigkeit in Gudekars Augen war einem anderen Blick gewichen, einem Blick voll verzweifelter Entschlossenheit. “Nivard, mein Freund”, verwendete Gudekar eine vertraute Anrede, “für Euch wird es schwer zu verstehen sein. Ihr seid erst seit zwei Götterläufen vermählt und Eure geliebte Frau ist eine Dienerin der guten Mutter. Doch ich bin einen Weg gegangen, ich habe Entscheidungen getroffen, mit denen es keine gemeinsame Zukunft für Merle und mich geben kann. Ich weiß, ein Bund im Namen Travias lässt sich nicht lösen, und dennoch ist es das Beste, wenn Merle und ich getrennte Wege gehen. Sie weiß es noch nicht, und es schmerzt mich, es ihr sagen zu müssen. Doch gibt es keinen anderen Weg.” Gudekar schloss die Augen und dachte, was für ein Narr er war, sich zu diesem Geständnis hinreißen lassen zu haben, noch dazu gegenüber diesem eigentlich doch fremden Mann, der der Traviakirche so nah stand. Was ging Nivard überhaupt an, welche Pläne Gudekar hatte?

Bei Travia! Das war es also! Nivard fiel es wie Schuppen von den Augen und er verstand, ebenso wie er erschrak. Jetzt fügten sich die Handlungen, Pläne und Beweggründe Gudekars zu einem schlüssigen - und schlimmen - Gesamtbild. "Gudekar! Ich ahnte ja nicht..." stammelte er, noch um angemessene Worte ringend. Jetzt hätte er Elvrun noch lieber an seiner Seite als jemals zuvor an diesem Tag, oder seine Schwester Relindis... Auf sich alleine gestellt brauchte der Krieger einige Momente, bis er sich gefasst hatte. "Seid Ihr Euch denn wirklich sicher damit, dass Euch der Weg zurück zu einer gemeinsamen Zukunft endgültig verwehrt ist? Eure Frau... gestattet mir diese Einschätzung... wirkt auf mich, als ob sie Euch noch immer zugeneigt wäre, und Eure Tochter wird Euch ohnehin vorbehaltlos lieben... Habt Ihr einmal in Erwägung gezogen, es darauf ankommen zu lassen und Merle Eure Irrwege zu gestehen, sie um Vergebung zu bitten, sie über Eure Zukunft richten zu lassen, ehe Ihr Euch und darüber Eure Familie selbst richtet?

Gudekar!” beschwor er seinen Freund nahezu, “Wir haben bereits so oft in die verschiedenen Fratzen Traviens niederhöllischen Gegenspielers geblickt - könnte es nicht sein, dass Eure Hoffnungslosigkeit, was Eure eheliche Zukunft angeht, Eure Überzeugung, dass der beste Weg nur eine Trennung sein könne, der Sache objektiv gar nicht gerecht wird, sondern selbst dem unterschwelligen Wirken böser Kräfte entspringt? Glaubt Ihr nicht, dass die gute Mutter Euch helfen könnte, wieder zu Eurer Frau zu finden?"

“Ich weiß, wie schwer das für Euch zu verstehen sein muss. Auch für mich war es nicht leicht, dies alles zu ordnen, und ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht. Aber wie kann es etwas Böses sein, was sich derart gut anfühlt? Was seit nunmehr zwei Götterläufen währt? Was den Segen der lieblichen Göttin hat? Ich sehe da nichts Niederhöllisches.” Gudekar fühlte sich erleichtert, Es tat gut, endlich einer vertrauten Person gegenüber auszusprechen, was ihn bewegte, abgesehen von seinen Schwestern, die bereits eingeweiht waren. Die jahrelange Geheimniskrämerei machte den Magier auf Dauer mürbe. “Und was das Geständnis meiner Frau gegenüber angeht, so muss ich verneinen. Doch ich werde es ihr mitteilen, sobald der Bund meiner Schwester in zwei Tagen geschlossen ist. Gwenn bat mich, solange abzuwarten, um ihr Fest nicht vorab zu ruinieren. Und so schwer mir dies in den letzten beiden Tagen gefallen ist, – nichts liegt mir ferner, als Merle weiter in unerfüllbarer Hoffnung zu lassen, – ich möchte Gwenns Wunsch nachkommen. Und ich möchte Euch bitten, auch, wenn ich Euch in meine Pläne eingeweiht habe, ebenfalls Gwenns Wunsch zu respektieren. Ich gelobe, in zwei Tagen alles aufzuklären. Und sollte ich dem nicht nachkommen, dann liegt es in Euren Händen, mein Versäumnis zu strafen.” Gudekar blickte Nivard mit erstem, bittendem Blick an.

"Ich verstehe." murmelte Nivard, doch konnte er Gudekars auf Rahja bezogene Selbstabsolution  so nicht ganz stehen lassen. "Rahjas Wirken ist natürlich in der Tat keine niederhöllische Macht. Aber könnte es nicht sein, dass die Schlüsse, die Ihr daraus zieht, die Einschätzung und die Bereitwilligkeit, dass Rahjas Gaben es wert sind, Travias größtes Geschenk auf Deren dafür zu opfern, durchaus auch im Angesicht der Schatten, die wir gemeinsam sehen mussten, zu bewerten sind? Und bedenkt: Die liebliche Göttin ist Rausch und Ekstase, ein hell leuchtendes Feuer, das ein einfaches Herdfeuer überstrahlen mag. Aber es fällt ohne Travias Hand recht sicher rasch in sich zusammen, bestenfalls kann es aufgefangen, zu einem wärmenden Herdfeuer gefasst und mal mühsamer und mal leichter weiter genährt werden. Ohne Travias Wirken werdet Ihr dereinst nur in die kalte Asche erloschener Ekstase blicken! Gudekar - ist es das wert? Das Glück der ehelichen Liebe zu opfern, die Nähe zu Eurer Frau und Eurer Tochter aufzugeben, für ein kurz loderndes Strohfeuer? Was sind zwei oder auch vier Götterläufe gegen ein ganzes Leben mit Eurer Familie, und gegen die Ewigkeit an Travias himmlischer Tafel?" Nivard merkte, dass er erneut einen geradezu beschwörerischen Tonfall angenommen hatte. Jetzt senkte er seine Stimme wieder. "Aber ich verspreche Euch,  Eure Bitte zu respektieren - aus Respekt dieser Hochzeit und dem Wunsch Eurer Schwester gegenüber, vor allem aber als Euer Freund. Außerdem hoffe ich, um ehrlich zu sein, dass diese zwei Tage, in der Ihr auch in der Nähe Eurer Frau weilt, vielleicht doch noch Eure Meinung ändern mögen."

Der Anconiter schwieg auf Nivards Worte. Es war offensichtlich, dass er das Gesagte innerlich abwog und nicht unbedacht abtat. Hatte er nicht selbst oft genug Zweifel an seinem Weg? Sein Blick fiel unwillkürlich auf Meta. Nein, er hatte keine Zweifel! Lang genug hatte er an diesem Weg gearbeitet, alles geplant, vorbereitet. Er gab für ihn kein zurück mehr. Merle war ein Teil seiner Vergangenheit, ein wichtiger Teil. Doch Meta war seine Zukunft. Für ihn war Meta nicht nur eine vorübergehende Episode, wie Nivard es darstellte. Nein, wenn es einen Weg gäbe, würde er mit Meta den Weg in Travias Schoß gehen. Doch dieser Weg war ihnen verwehrt. Zögerlich antwortete er. “Ich danke Euch, Freund! Sehen wir, was Satinav bringt.”

"Ich habe Euch zu danken. Für Eure Aufrichtigkeit und Euer Vertrauen mir gegenüber!" Nivard versuchte dabei aufmunternd zu lächeln. "Nur eines noch, zu Euren letzten Worten: Ihr könnt warten und sehen, was Satinav bringt. Oder jeden Tag, den er uns schenkt, nutzen. Diese Tage schenkt er Euch in Gegenwart Eurer Gemahlin…” Jetzt festigte sich sein Lächeln wirklich. “Wenn ich Euch beiden irgendwie... behilflich sein kann, lasst es mich wissen, Gudekar, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht."

“Habt Dank für Euer gut gemeintes Angebot.” Schwang da ein Hauch von Abschätzigkeit in Gudekars Stimme, oder täuschte sich Nivard? “Ich werde die Tage, die uns beschert sind, nutzen.”

Nivard nickte nur stumm. Auch wenn er es nur ungern wahrhaben wollte, hatte er nach Gudekars letzten Worten nicht das Gefühl, dass hier noch viel zu gewinnen war. Doch noch immer galt, was er in den Jahren an der Kadettenakademie verinnerlicht hatte: Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Auch wenn dies nicht seine Ehe und damit eigentlich nicht seine Schlacht war, spürte er den Drang, nichts in seiner Macht stehende unversucht zu lassen, das familiäre Glück seines Freundes und Merles doch noch zu retten. Dann hätte diese Reise einen viel größeren Sinn als 'nur' die Kontaktpflege innerhalb ihres Bundes.

~*~

Rajalind suchte sich lieber jemanden als Wegpartner, der eine Fackel hielt. Die Geweihte der Rahja war nämlich kalt und sie mummelte sich in ihren Umhang, den sie mit der einen vor der Brust Hand zuhielt, mit der anderen trug sie ihr Körbchen mit den Leckereien.

Da, die junge Frau mit dem Hund hatte sie noch nicht kennengelernt. Andere zwar auch nicht, aber allein schon das imposante Tier machte die junge hübsche Dame interessant.

„Rahja zum Gruße, darf ich fragen, ob es euch etwas ausmachen würde, wenn ihr euch UND mir den Weg leuchtet? Und ich glaube, wir drei kennen uns noch nicht. Ich bin Rajalind.“ sprach die Rahjageweihte die Frau und ihren Hund gleichermaßen vertraut an. Die junge Frau mit den Blumen in dem langen dunkelblonden Haar und dem roten Mantel schien auch keine Angst vor der großen schwarzen Hündin zu haben, denn sie fuhr unbeirrt fort: „Hm, darf ich euch zum Dank für das Licht eine rahjagefällige Süßigkeit anbieten? Ich habe Gänsekekse, Früchtebrot und Honigkaramellen dabei - wobei…darf euer Tier etwas davon naschen?“

“Nur wenn meine Hündin dann neben EURER Bettstatt schlafen darf…”, entgegnete Arda mit Seitenblick zu ihrer vierbeinigen Begleiterin. Sie rümpfte dabei die Nase, auf den empfindlichen Magen des Tieres anspielend. Der Gedanke, wie das Furzen ihrer Hündin durch das Schlafzimmer der Priesterin hallte und womöglich ein rahjagefälliges Treiben auf dem Bett störte, erheiterte die Baroness. Mühsam unterdrückte sie ein undamenhaftes Grinsen. “Doch kommt gerne in das Licht - und die Wärme - meiner Fackel.”, sagte sie mit einer einladenden Geste zu ihrer Linken, auf der sie auch die Lichtquelle trug. (Die rechte Hand, ihre Fechthand, hielt sie wohlweislich frei.)

“Ardare von Kaldenberg”, stellte sich die Baroness knapp vor. “Ihr stammt aus dem Elenviner Tempel, nehme ich an?”

Währenddessen hatte die große Wehrheimer Bluthündin Platz gemacht und flankierte die Rahjapriesterin auf der anderen Seite.

“Kaldenberg wie die Baronie Kaldenberg?” fragte die junge Geweihte überrascht, während sie hinzutrat. “Nein, ich lebe im Rosentempel in Albenhus! Wie heißt dein hübscher Gefährte hier, Ardare?” fragte sie aufrichtig interessiert, während sie die Hündin sogleich sorglos an ihrer Hand schnuppern ließ. Aber nicht nur an dieser war jede Menge zu erschnüffeln. An der Götterdienerin klebte vielerlei Gerüche. Die offensichtlichen waren die der Rosen und Blumen in ihrem Haar und der Geruch von dem Rosenöl auf ihrer Haut, welcher sich mit Honig, Früchten, Gebäck, Feuerrauch, Mehl, berauschendem Räucherwerk, Wilschweinschinken, Alkohol und dem Geschmack anderer Leute mischte, letzterer hing vorwiegend in dem Mantel der Rahjani, aber da war auch der untrügliche Hauch von Pferd und ebenso feine Nuancen des Geruchs gepflegter Weiblichkeit, was freilich nur eine Hundenase wahrnahm.

“Es ist eine Gefährtin, und eine gute Freundin. Sie hört auf den Namen Tharga.”, entgegnete die Baroness, ohne das vertrauliche Duzen der Priesterin zu kommentieren. “Manchmal hört sie auch nicht auf diesen Namen, oder einen beliebigen anderen. Aber ich habe mich dennoch dafür entschieden, sie weiter ‘Tharga’ zu rufen.” ergänzte sie mit einem augenzwinkernden Lächeln, für das sie sich nicht verstellen musste.

Die Hündin warf ihr ob der Worte einen skeptischen Blick zu, als ob sie nur zu gut verstand, dass sie der Gegenstand des Gesprächs war.

Arda verstellte sich nun doch, als sie mit gespielter Skepsis im Blick und gesenkter Stimme die Rahjani fragte: “Ihr habt doch nicht etwa vor, mir meine Freundin auszuspannen?” Sie untermalte die Worte mit einem kecken Schmollen.

Bei der Vorstellung Thargas musste Rajalind herzlich lachen. „Ach wirklich, so eine freche bist du,“ sagte sie schmunzelnd zu der Hündin und suchte weiterhin ohne erkennbare Scheu Kontakt zu dem Tier - wobei sie der großen schwarzen Hündin respektvoll überließ, inwieweit sie diesen zuließ. „Ausspannen? Ach, was, ich hätte sie gerne verwöhnt, so wie alle anderen hier, aber alles, was ich da habe, ist - moment…“ sie zog ein kleines Kekschen in Gänseform aus ihrem Körbchen, „dieses kleine Gänschen. Ist Mehl, Honig, Ei und etwas Hirschhornsalz drin, ach ja, und eine getrocknete Weintraube als Auge. Ich mache sie nach einer sehr einfachen Rezeptur meines lieben Freundes Vieskar.“ erklärte Rajalind schmunzelnd mit dem Keks in der Hand, sich bewusst, dass sie die Leckerei vor Thargas Augen hielt und daher schaute sie mitleidig auf die Hündin. „Anderes Geflügel habe ich leider nicht. Kann sie das wirklich nicht essen?“

Während Tharga versuchsweise an der Leckerei schnüffelte und sie zweifellos gefressen hätte, gefror Ardas Lächeln, um dann eine bittere Note zu bekommen. "Tharga hat keine guten Erfahrungen mit Gänsen, schon gar nicht mit Hochwürden Vieskars Gänsen…", sagte sie mit scheinbar unbekümmerter, aber irgendwie belegter Stimme. Hinter der spöttischen, fast trotzigen Fassade ihrer Gesichtszüge kündeten Ardas Augen von tiefem, unverarbeitetem Schmerz, welcher der Geweihten der Rahja nicht entging, aber jetzt so mitten in der Nacht während einer Wanderung wollte sie die andere nicht dazu befragen. Sie nahm sich vor, dies zu einem anderen Zeitpunkt nachzuholen. In einem etwas persönlicherem Rahmen als dem aktuellen.

„Ihr kennt Bruder Vieskar?“ fragte sie überrascht - aber nicht sehr - und um beim Thema zu bleiben, aber bewusst ohne auf das Eisige einzugehen, das die Kaldenbergerin ergriffen hatte, sich jedoch dieses Umstands wohl bewusst. Allein die Tatsache, dass sie den fetten glatzköpfigen Vetter Baron Josts ‚Bruder‘ nannte, machte deutlich, dass er wirklich ein Freund von ihr sein musste. „Ach, so nehmt doch selbst etwas von den Leckereien!“ sagte die Geweihte herzlich und freundlich, während sie der Baroness unbeeindruckt von deren Spott das Körbchen hin hielt. „Für was hab ich sie denn sonst dabei, wenn nicht zum Schnabbulieren. Und dann erzählt doch mal die Geschichte von Tharga und den Gänsen! Die würde ich wirklich gerne hören.“ Es lag kein Argwohn in der Stimme der Geweihten, dafür aufrichtiges Interesse, mehr über beide zu erfahren, Tharga und ihre zweibeinige Gefährtin.

Widerwillig griff Arda nach den Leckereien im Korb, und noch widerwillig begann sie zu erzählen: "Tharga stammt aus Vieskars Tempel. Ein wütender Ganter namens Bardo scheuchte sie mir als kleinen, unterernährten Welpen in die Arme…"

“Wirklich??” Damit hatte die Geweihte nun wirklich nicht gerechnet, wie ihr überraschter Ausdruck deutlich machte.

Die Hündin war, einer Witterung folgend, ein paar Schritt nach vorne und zur Seite gelaufen. Nun wartete sie, während sie den nächtlichen Wanderer an sich vorbeiziehen ließ, auf die beiden jungen Damen.

"Was ist Eure Verbindung zu Vieskar?"

“Bruder Vieskar und ich, wir haben uns auf der Reise nach Punin zu den Hadrokles-Paligan-Spielen vor 3 Götterläufen kennengelernt. Er mag gutes Essen ebenso wie ich. Und wir gehören beide dem Vier-Schwestern-Orden an.” erzählte Rajalind nicht ohne Stolz.

"Ah." Die einsilbige Reaktion der Baroness sollte höfliches Interesse vortäuschen. "Euch sieht man dieses Interesse aber nicht an…", merkte Arda an, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.

„So? Ihr habt nur mein kleines Feinschmeckerbäuchlein noch nicht gesehen,“ lachte Rajalind, welche die Anspielung auf den dicken Geweihten der Travia verstanden hatte, sich aber nicht darum scherte, selbst nicht perfekt zu sein. „Wisst ihr, es gibt so viele Arten, die Schöne zu loben. Meine sind die Musik und der Genuss. Darf ich euch fragen, welche Arten davon euch am Herzen liegen?“ kam sie dem Wunsch Ardares nach einem Themenwechsel nach.

“Die Ästhetik.”, erwiderte die Baroness nach kurzem Überlegen. “Ja, die Ästhetik”, bekräftigte sie, um noch hinzuzufügen: “Und… die Jagd.” Dabei lachte sie und hob vielsagend die Augenbrauen. “Meint Ihr, der Herr Firun ist mir darob böse, dass ich das ihm heilige Handwerk im Dienste Rahjas ausübe?”, fragte sie mit spielerisch naivem Unterton.

„Nun ja, ich kann schlecht für den Grimmigen sprechen und würde euch anraten, dass ihr ob derartiger Fragen einen Geweihten des Weißen aufsuchen solltet, aber aus Rahjas Sicht, hm…“ Die Geweihte überlegte einen Augenblick, „… spricht, denke ich, nichts dagegen, in einem Zeitvertreib wie der Jagd, ähnlich dem Musizieren oder dem Kochen beispielsweise, eine Huldigung auch an die Schöne zu sehen, wenn es eure tiefste, die Seele wärmende Leidenschaft ist, die…“ Dann hielt sie abrupt inne, weil sie plötzlich dachte erkannt zu haben, dass die andere sie firungefällig aufs Glatteis, wie das so schön hieß, führen wollte. So musterte sie die Kaldenbergerin wissend, den wackelnden Zeigefinger nach ihr ausgestreckt „Aber ihr meint die ‚Jagd‘ nach einem Partner für den Rahjadienst, stimmt‘s?“ Rajalind lachte, weil sie dachte, hereingefallen zu sein, sie es der anderen aber nicht krumm nahm.

Arda fiel es zuerst schwer, die Reaktion der Rahjani zu deuten. Erst allmählich verstand sie, dass diese wohl einem Missverständnis aufgesessen war. Sie schien anscheinend nicht besonders helle zu sein, schloss die Baroness. Ihr Mienenspiel verriet jedoch nichts von ihren Überlegungen, sondern zeigte ein liebenswürdiges Lächeln.

“Jagt Ihr etwa nicht? Bevorzugt Ihr es, gejagt zu werden?”, erkundigte sie sich.  

“Ich würde über den Rahjadienst, den ihr offenbar meint, nicht von Jagd reden. Das, finde ich, entweiht diese wunderschöne Sache.” sagte die Geweihte bestimmter, als man es sicherlich von ihr erwartet hätte. “Wenn sich Seelen finden, die sich gegenseitig das Geschenk Rahjas Göttlichkeit machen wollen, ist es ganz gleich, wie sie sich finden. Ich verstehe aber, dass Ihr und viele anderen, auch Schwestern und Brüder von mir, ein Spiel aus diesem Finden macht, indem ihr es ‘Jagd’ nennt. Bei der Jagd, wie der Waidmann sie uns lehrt, geht es ums Erlegen einer Beute. Die Beute wird zu Fall gebracht. Sie verliert.” Dass ihr dieser Gedankengang widerstrebte, machte ihr zusammengekniffenes Gesicht deutlich. “In der Liebe und vor der Leidenschaftlichen sind wir jedoch alle gleich, es sollte sich niemand über den anderen erheben. Niemals. Das finde ich ganz schrecklich und es verkennt, trotz vieler Arten, die Schöne miteinander zu loben, das wunderschöne Geschenk, das sie uns dabei macht und der Weg zur dunklen Widersacherin ist nicht weit! - Aber,” und damit streifte sie die Ernsthaftigkeit mit einem heiteren Lächeln ab. “Wie gesagt, der Spielarten gibt es viele und wenn ihr persönlich Gefallen daran findet, so will ich euch dieses ‘Spiel’ natürlich nicht verbieten. Habt aber vielleicht im Blick, dass dies nicht gängiger Kirchenmeinung entspricht.” Mit einem Lächeln schloss die Geweihte ihre ‚Predigt‘.

“Nun, ich habe nicht wirklich vor, jemanden zu erlegen. Zumal nicht im Namen der Herrin Rahja. Falls Ihr Euch an den Begrifflichkeiten stört, wäre das Wort ‘Balz’ vielleicht unverfänglicher für das, was mir im Sinn steht.”, erklärte Arda, durch die Worte der Rahjani unversehens in die Defensive gedrängt und insgeheim verärgert über die Engstirnigkeit ihrer Ansprechpartnerin.

„Balz? Ja, das kommt dem sicherlich nahe. Das hättet ihr gleich sagen sollen,“ entgegnete Rajalind der Baroness lächelnd.

“Hätte ich?”, entgegnete die Baroness ungerührt.

“Aber nun sagt! Gibt es denn unter den Feiergästen jemanden, den Euer Auge dafür erspäht hat?” fragte Rajalind mit derselben lieblichen Naivität, mit der sie auch ihre Kekse verteilte, predigte oder auf Missverständnisse hereinfiel.

Arda lächelte angestrengt und ließ die Frage unbeantwortet.

~*~

Meta fand die zierliche Frau und ging neben ihr. „Rahja zum Gruße, Vinja. Geht es Euch besser?“ Sie wartete kurz, bis die Angesprochene sie bemerkte. „Meta von Croy heiße ich. Der Herr Gudekar hat mich zu seinem Schutze mitgenommen. Aber die Schöne und ich stehen uns sehr nahe.“ Meta schmunzelte und sah kurz versonnen auf den Weg, während sie unbewusst ihren Amethyst rieb. „Ich habe meine Ausbildung bei Thymon vom traurigen Stein beendet. Der Rahjatempel und Hochwürden Alegretta sind mir sehr gut bekannt. Wie hat es Euch auf diese Hochzeit verschlagen?“

„Ähm…? Hm…ach entschuldigt. Ich bin noch nicht wieder so ganz die Alte“, antwortete Vinja nach einem Moment der Irritation. Trotzdem versuchte sie es mit einem freundlichen Lächeln, das dennoch etwas schwächelte. „Ich bin…die Gärtnerin“, erklärte sie kryptisch.

„Ah. Die Gärtnerin. Rosen, nehme ich an?“ In Linnartstein war Wein als Schmuck des Tempels vorherrschend, doch wusste sie, um diverse Rosenbüsche, die gerade unter der Zuwendung der Rahjani besonders prächtig wuchsen. „Braucht Ihr einen Mantel, wenn Euch nicht wohl ist? Und bei wem gärtnert ihr denn?“

„Nein, nein, es geht schon wieder…danke. Ich, ähm…eigentlich ist es der Garten von Herrn Lares, aber die Verantwortung für den Betrieb, den hat Meister Herrenfels.“ Die schmale, großgewachsene Frau wirkte leicht derangiert, dennoch hatte Meta den Eindruck, als dass sie die Verhältnisse in Rosenhain richtig auseinandersetzte.

„Ah, der Wohlgeborene Herr Lares ist mir seit vielen Jahren bekannt.“ Meta lachte heiter und schien in Erinnerungen zu wühlen. „Ist er auch hier? Man könnte unser Verhältnis schon fast als … gut… bezeichnen. Ich freue mich immer, wenn er auch da ist. Er hat so eine besondere Art. Eure Harmonie und Rahjas Einfluss werden ihm gut tun. Er kennt auch unsere Geweihte Alegretta sehr gut. Er hat sie wohl sehr beeindruckt.“

„Oh, tatsächlich? So hätte ich den Herrn Lares gar nicht eingeschätzt. Mir gegenüber betont er immer die Sittsamkeit seines Hauses“, zeigte sich Vinja sichtlich überrascht. „Aber ja. Er ist auch hier. Doch hat er entschlossen, den Abend auf seiner Kammer zu verbringen. Er zeigte sich schon seit mehreren Tagen schwer besorgt - und mahnte mich besonders, auf der Hut zu sein auf der hiesigen Wanderung. Wisst Ihr womöglich Näheres?“

„Das ist einfach seine Art. Er ist doch sehr gläubig und hat wohl schon mehr schlimme Dinge erlebt, als ich.“ Meta überlegte, wie sie Lares weiter beschreiben konnte.“Es ist eine schöne Geste, wenn er mit Euch eine angehende Rahjani bei sich hat. Was ihn plagt, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich bin ich ihm auch etwas suspekt. Er ist nun mal sehr misstrauisch. Da ich ihn aber oft getroffen habe, als ich in Begleitung des Sohnes meines Schwertvaters war, einem Bannstrahler, vermute ich, dass er mich auf der richtigen Seite sieht.“ Sie lächelte entwaffnend. „Ich will ihm nichts böses, aber er tut sich wohl schwer, meine Art zu verstehen.“

Vinja zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Das liegt sicherlich nicht an Euch“, formulierte sie so diplomatisch wie nur möglich.

Auch Meta bemühte sich um Diplomatie. „Sagen wir mal so, es sind schlimme Zeiten und er ist, wie er ist.“

~*~

Einen Platz inmitten der Gruppe zu finden war mit einer Fackel in der Hand schwer, fand Corwyn und versuchte erst gar nicht, sich zwischen einer der sich bildenden Gruppen zu zwängen. Das Licht der vor ihm laufenden und hinter sich befindenden Mitwanderer warf faszinierende Schatten auf Weg und Pfad und interessante Spuren in das Dunkel der Bäume. In seinem Kopf bildeten sich Worte und Bilder. Unbestimmt und konkret zugleich.

Wie ganz unbewusst begann er dunkle Töne leise zu summen. Eine Melodie, die sich suchte und fand. Für sich ganz alleine, aber doch laut genug, dass sie nicht nur seine Ohren trafen, wurde aus der Melodie ein Text:

“Wie schön, hier zu verträumen

Die Nacht im stillen Wald.

Wenn in den dunklen Bäumen

Ein altes Märchen hallt.

Die Berg im Mondesschimmer

Wie in Gedanken stehn,

Und durch verworrne Trümmer

Die Quellen klagend gehn.”

Dann endeten die Worte und gingen in ein Summen über. Den Rhythmus folgend einige Sekunden bis sie wieder verklangen und dem Fackelschein folgend im Dunkel unsichtbar wurden. “Oh Josepos, du scheinst ein diesem Walde ähnliches Erlebnis in deinen Worten bedacht zu haben scheint mir”, murmelte er wie zu sich selbst, als er den Blick wieder nach Außen und nach Vorne richtete.

Murla, die es nicht für nötig gehalten hatte, die Fackel zu entzünden, hatte sich zunächst Wulfhelm angeschlossen und aufgepasst, dass es der Schnapsflasche gut geht. Da hörte sie den Gesang erklingen und begab sich in Corwyns Nähe.

“Ihr habt eine schöne Stimme”, sprach ihn plötzlich eine Stimme aus dem Dunkeln an.

“Dem stimme ich von Herzen zu”, sagte eine schlanke Gestalt, die ebenfalls nahezu unbemerkt hinzugetreten war. Ein eleganter Umhang umschloss ihre Schultern; sein dunkles Rot war im Schein der Fackel nur zu erahnen. Ihr langes, gewelltes Haar wurde von einem Band im Nacken gehalten, so dass ihre kleinen Ohrmuscheln zu sehen waren, die sich zu zarten Spitzen verjüngten.

“Und ich hoffe sehr, dass Ihr uns die Freude bereitet, den Abend mit noch weiteren Liedern zu bereichern.”

~*~

Lys und Tsalinde ging erneut im vorderen Teil der Gruppe und schlossen sich niemand anderem an. Beide genossen ihre gemeinsame Zeit und die frische, kühle Luft.

~*~

Das weiße Reh

Die Gruppe war schon eine Weile unterwegs, da klarte es auf halbem Weg für einen Moment auf. Ein Loch hatte sich in der Wolkendecke aufgetan und das runde Madamal leuchtete in voller Pracht. Ein Rascheln war im Unterholz zu hören und ein weißes Schimmern war in einiger Entfernung vor der Gruppe zu sehen. Wufhelm Häsler, der Jagdmeister, der die Führung der Gruppe übernommen hatte, ließ die Gruppe anhalten und deutete an, leise zu sein. Bei genauerem Hinschauen erkannten die Wanderer ein weißes Reh, das plötzlich auf den Weg vor ihnen sprang und sie aus seinen rot funkelnden Augen anschaute.

Merle hielt unwillkürlich den Atem an, als das wunderschöne Reh wie aus dem Nichts erschien, im Schein des Madamals so geheimnisvoll, fragil und unwirklich wie ein Geist. Gebannt vom intensiven Blick des Tieres gab die junge Frau keinen Laut von sich, trat aber, ohne das Reh einen Wimpernschlag aus den Augen zu lassen, leise an die Seite ihres Mannes, der in der Nähe stehen geblieben war. Merle rückte eng an ihn heran, so dass sich ihre Oberarme berührten und er durch die Kleidung die Wärme ihres Körpers zu spüren glaubte. Wortlos streckte sie ihre Fingerspitzen nach den seinen aus, bis diese sich leicht verschränkten, dann nahm sie sehr langsam und zögernd Gudekars Hand in ihre und drückte diese, sanft und warm, ergriffen vom kostbaren, flüchtigen Zauber des Moments.

Ohne darüber nachzudenken, erwiderte Gudekar den Druck ihrer Hand, indem er die ineinander gehakten Finger ballte. Ein vertrautes Gefühl breitete sich von seiner Handfläche aus. “Dann sind die Gerüchte wahr, die man im Dorf so hört”, wisperte der Magier in Merles Richtung. ”Dann gibt es das Tier tatsächlich.”

"Es ist wundervoll... hinreißend", hauchte Merle ergriffen zurück. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet; ihre strahlenden Augen starr in Richtung des weißen Rehs gerichtet. Sie versuchte nicht zu blinzeln, um keinen Augenblick der zauberhaften Erscheinung zu verpassen. "Ein Wunder Firuns, oder?"

“Oder eher ein Geschenk Hesindes”, warf Gudekar ein.

"Meinst, die Götter wollen uns damit etwas sagen?" fragte sie ihn mit kaum hörbarer Stimme. "Ist es ein Zeichen?"

„Ich weiß nicht“, gab Gudekar zu. „Wer versteht schon, was die Götter wollen?“

“Hm, wer weiß... Ich hoffe dennoch, dass es Glück und Segen für Gwenn und Rhodan bedeutet”, flüsterte sie optimistisch. Noch einmal drückte sie sanft seine Hand. “Und für uns alle.”

Bernhelm war inzwischen von hinten aufgerückt und stand nun direkt hinter Merle und Gudekar, so dass die beiden kurz erschraken, als er mit seiner tiefen Stimme zu sprechen begann. “Und stellt euch vor: Euer Vater wollte das Tier morgen auf der Jagd hetzen lassen! Er hat sogar bei der gräflichen Vögtin deshalb angefragt.”

“Bei Witta?” fragte Gudekar verständnislos nach.

"Oh nein, das wunderschöne Tier?!" rief Merle erschrocken aus und blickte voller Mitgefühl zu dem weißen Reh. "Hoffentlich hat Seine Gnaden Firumar Vater davon abgebracht! Das kann nicht göttergefällig sein, so ein besonderes, erhabenes Wesen anzurühren!"

“Nun”, bestätigte Bernhelm mit einem Stirnrunzeln, “die Sorge von Friedewald war in erster Linie, dass die Gräfin es nicht für die Jagd freigeben würde, da es sich ja letztlich um Ihre Ländereien handelt, auf denen das Reh herum streift. Er fürchtete, sie wolle es selbst für eine Jagd aufsparen. Doch die Vögtin hat die Anfrage tatsächlich an Seine Gnaden weiterverwiesen, der dies natürlich verboten hat.”

“Das hat Vater Friedewald hoffentlich eingesehen?” fragte Merle. Sie konnte nicht verstehen, warum ihr Schwiegervater das wundervolle Tier unbedingt hetzen wollte. “Oder soll ich noch mal mit ihm darüber reden?” bot sie an und blickte fragend zwischen Gudekar und Bernhelm hin und her.

“Wie gesagt”, wiegelte Bernhelm ab. “Seine Gnaden Firumar, der die Jagd absegnen musste und diese auch überwacht, hat dies von vornherein ausgeschlossen. Was ich auch, ohne meinem Herren widersprechen zu wollen, von Herzen begrüße.”

“Und das mit vollem Recht!” bestätigte Gudekar Bernhelms Meinung. “Ihr tut gut daran, die Wünsche meines Vaters diesbezüglich nicht zu teilen.” Auf Gudekars Stirn hatten sich zwei Zornesfalten gebildet. “Wie kommt dieser greise Mann nur darauf, ein weißes Reh erlegen zu wollen. Man sieht doch, dass dieses Tier von Hesinde und Mada gesegnet ist. Ich verstehe einfach nicht, warum Vater die hesindianische Tradition unserer Familie derart missachtet. Die Lehren Travias setzt Vater über alles, doch die Wurzeln des Hauses Weissenquell ignoriert er vollends! Das ist mir unbegreiflich!”

“Meister Gudekar, Ihr tut Eurem Vater Unrecht! Von einem weißen Reh war in der Sage nie die Rede! Aber auch travianische Werte sind das Fundament, auf dem Euer Haus errichtet wurde.”

Merle lehnte sich zu Gudekar herüber und wisperte ihm sanft und beruhigend ins Ohr: "Warum bist du so wütend?" Vorsichtig legte sie ihm die Hand auf den Unterarm. "Du weißt, dass du deinen Vater auf seine alten Tage nicht mehr ändern wirst."

“Das stimmt schon.” Gudekar beruhigte sich ein wenig. “Mein Vater macht mir auch weniger Sorgen. Abgesehen davon, dass er dieses Tier, das uns die weise Göttin” – “Oder der Herr Firun!” warf Bernhelm ein – “das uns Hesinde oder Firun als Zeichen gesandt hat, dass sie über das Tal wacht, erlegen möchte. Das wäre ein böses Omen!” Der Magier machte eine kurze Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Dann ergänzte mit überaus besorgter Miene. “Angst habe ich jedoch davor, wenn mein Bruder einst das Haus von meinem Vater übernehmen sollte. Ich fürchte, er wird die hesindianischen Wurzeln unserer Familie endgültig auszulöschen versuchen.”

Merle drückte aufmunternd Gudekars Schulter. "Ach, seh' es nicht so schwarz! Da ist schon einmal Morgan, der den hesindianischen Weg bereits fortführt… Und ich bin mir sehr sicher", sie zwinkerte ihrem Mann optimistisch zu, "...dass du unsere kleine Liudbirg ebenfalls im Sinne der Allweisen aufziehen und lehren wirst. Die nächste Generation wird die Wurzeln des Hauses ehren und pflegen, so wie es die vorherigen taten - davon bin ich fest überzeugt! Hab Vertrauen, mein Schatz, hab Hoffnung." Sie wies mit dem Blick zu dem ätherisch schönen weißen Reh. "Was bedeutet dieses Zeichen, wenn nicht Hoffnung?"

Ein Räuspern ließ die drei herumfahren. "Nun, wenn ich dazu etwas sagen dürfte", begann Rondrard, "Wenn das Reh ein Zeichen Firuns wäre, würde Vater Firumar das sicher wissen. Wobei, Frau Merle, es recht Firungefällig wäre, ein von Ihm gesandtes Tier zu jagen. Er ist sogar der Einzige der Zwölfe, der es einem nicht krumm nimmt, wenn man Sein Tier, den Bär, jagt und erlegt. Sofern man sich dabei an Seine Regeln hält. Wenn also Vater Firumar es schützt, dann hat es eine Bewandtnis. Und was die Wurzeln des Hauses Weissenquell angeht, so solltet Ihr Tatsachen schaffen, solange Euer Herr Vater noch lebt, und einen Geweihten der Allweisen einladen sich hier niederzulassen und, sofern es Euch Euer Säckel erlaubt, sowie Ihre Hochwohlgeboren, der Allweisen einen Tempel errichten. Dieser Geweihte könnte sich auch um die Traditionen des Hauses kümmern und Euer Bruder würde es nicht wagen diese zu vernachlässigen."

Merle hörte aufmerksam zu, dann lächelte sie Rondrard dankbar an. "Das wäre gut, oder?" sagte sie zaghaft, an Gudekar gewandt. "Ein Hesinde-Geweihter in Lützeltal. Und langfristig ein Tempel. Das wäre doch ein Plan, auf den wir hinarbeiten können, was meinst du?"

“Das wäre eine schöne Idee, doch mein Säckel erlaubt es ja nicht einmal, dass ich mich hier dauerhaft niederlasse. Und mein Vater wird nicht bereit sein, einen Hesindegeweihten hierher einzuladen, ist es ihm ja noch nicht einmal gelungen, eine Travia- oder Perainegeweihte dazuzubewegen, sich in unserem Ort niederzulassen.” Gudekar schüttelte resigniert den Kopf.

Auch Bernhelm musste dem Ritter widersprechen. “Und gar einen Tempel zu bauen, dazu reichen die Dukaten nicht, die in Lützeltal erwirtschaftet werden. Außerdem ist es nur eine uralte Sage, eine Legende, ein Gleichnis. Es gibt keine Quellen, die die Geschichten über angebliche hesindianische Wurzeln der Familie stützen. Aber in einem stimme ich euch zu. Dass seine Gnaden Firumar die Jagd auf das weiße Reh, wo auch immer es herkommt, verbietet, ist die einzige richtige Entscheidung. Immerhin weiß doch ein jedes Bauenkind: tötet man ein weißes Reh, so stirbt bald darauf ein naher Angehöriger.”

“Firlefanz und Aberglaube!” winkte Gudekar ab. “Aber natürlich wäre es schlechtes Omen, ein Frevel, solch ein göttliches Tier zu töten.

"Dass Vater es überhaupt in Erwägung gezogen hat, die Götter derart herauszufordern…" Merle lief ein kalter Schauer herunter beim Gedanken an das dunkle Omen. Sie schaute Gudekar ernst in die Augen. "Am Ende ist es deine Aufgabe, die hesindianische Tradition des Hauses zu pflegen und hochzuhalten. Eine schwere Aufgabe, ja, und es ist ein langer Weg. Doch gibt es niemanden in dieser Familie, der das vermag außer dir."

“Nun”, lachte Gudekar, “dies könnte sich als schwierigere Aufgabe erweisen, als den Frevler zu stellen.”

"Frevler? Was denn für ein Frevler?"

Gudekar biss sich auf die Oberlippe. Er vergaß zu leicht, dass – Hesinde sei Dank – vermutlich noch immer die meisten Bewohner der Nordmarken nichts von den Umtrieben des Pruchs wussten, oder zumindest nur rudimentäre Kenntnisse hatten. Vermutlich war dieser Ritter, ein alter Freund seines Bruders, wenn sich Gudekar richtig erinnerte, einer der weniger Eingeweihten. Deshalb versuchte der Magier, seine eigene Bemerkung zu bagatellisieren. “Ach, nur der Sohn eines unbedeutenden, inzwischen verstorbenen Edlen, der sich mit dunklen Mächten eingelassen hat, und auf dessen Spuren ich mit meinen Gefährten seit zwei Götterläufen bin.”

"Nun, wenn er so unbedeutend ist, dass Ihr ihm nur zwei Götterläufe widmet, zusammen mit anderen, dann frage ich mich, wieviel Zeit Ihr wohl für wahrlich wichtige Dinge aufwendet. Wie, sagen wir, Gänseblümchen. Fünf Götterläufe, zehn oder gar zwanzig?" Der Ritter sah ihn skeptisch mit einer hochgezogenen Augenbraue an.

Gudekar verstand nicht so recht, was der Ritter mit diesem Kommentar andeuten wollte. Er schaute ihn deshalb fragend an. Leicht verärgert fragte Gudekar nach. „Was wollt Ihr damit andeuten? Dass wir unsere Zeit nicht mit solch unwichtigen Dingen vergeuden sollten? Oder dass wir uns als unwürdig erwiesen haben, da wir diesen Pruch noch immer nicht gefasst haben?“

Rondrard rollte mit den Augen. Er hatte den Magier für klug genug gehalten Sarkasmus und Ironie zu verstehen. Da dem nicht so war, antwortete er: "Ich deute damit an, dass Ihr mich für dumm genug haltet Euch abzukaufen, dass Ihr Eure kostbare Lebenszeit darauf verschwendet einen harmlosen Frevler über eine so lange Zeit zu jagen." Er verschränkte seine Arme und schaute Gudekar streng an.

Merle schwieg; sie mischte sich nie in die Missionen ihres Mannes ein. Dennoch hörte sie sehr aufmerksam zu, was Gudekar dem Ritter antwortete - vielleicht würde es auch ihre eigenen Fragen beantworten.

Diese Ritter mit ihrem merkwürdigen Verständnis von Ehrgefühl waren doch alle gleich, so wie Kalman. Sie verstanden nicht, worauf es wirklich ankam. Doch wollte sich Gudekar hier und jetzt nicht auf eine Diskussion einlassen. Nicht in diesem zauberhaften Moment. Deshalb antwortete er kopfschüttelnd: „Nun, dieser Frevler hat sich eine Weile ruhig verhalten und seine Spur scheint erkaltet zu sein. Vielleicht treibt er sein Unwesen nicht mehr in den Nordmarken. Und die Angehörigen unseres Kreises von Ermittlern haben noch andere, vielleicht wichtigere Dinge zu tun, als dauernd nur einem Phantom hinterherzutragen.“

Mit dieser fadenscheinigen Ausrede ließ er ihn nicht davonkommen. "Was, bei Praios, ist denn bitteschön wichtiger, als jemanden daran zu hindern, an den Grundfesten Deres zu rütteln?!"

„Zum Beispiel dafür zu sorgen, dass die Grundfesten Deres stabil genug bleiben, damit sie beim Rütteln daran nicht gleich entzwei brechen. Einige unserer Ermittler haben ein Lehen zu führen, andere ein anderes zu beschützen. Und selbst einen Traviabund zu schließen, wie wir es hier in zwei Tagen feiern wollen, ist ein Steinchen im Bollwerk gegen Lolgramoth.“

Bernhelm schimpfte erbost: “Meister Gudekar, was erdreistet Ihr Euch, auf dem Grund Eures Vaters so sorglos mit den Namen der Widersacher der Götter um Euch zu werfen?”

Rondrard machte das Zeichen der bannenden Sonnenscheibe, als der Magier den Namen des Erzdämonen aussprach. "Lehen lassen sich auch durch Vögte führen. Und Eure Mitstreiter werden sicherlich nicht die Einzigen sein, die ihre jeweiligen Herkunftslehen zu beschützen haben. Ich werde meinen Bruder bitten mich und meine Lanze freizustellen, damit wir dieser Queste folgen können. Dann wärt Ihr und Eure Mitstreiter entlastet. Schwertleihe hat genug Ritter, dass es eine Weile auf einen davon verzichten kann."

“Tut, was Ihr nicht lassen könnt”, entgegnete Gudekar verärgert. “Ich weiß ja nicht, inwieweit Ihr in die Vorgänge eingeweiht seid, scheinbar jedoch mehr, als Ihr bisher zugeben wolltet. Denn sonst wird Eure Queste eine Reise ins Ungewisse und Ihr fischt in trüben Gewässern. Sollte Euer Bruder derart viele Lanzen übrig haben, sollte er vielleicht in Betracht ziehen, einige davon in den Dienst des Herzogs zu stellen.

"Ihr vergreift Euch im Ton, Gudekar von Weissenquell. Ich biete Euch meine Hilfe an und so dankt Ihr es mir. Kein Wunder, dass dieser Frevler noch immer frei herumläuft. Er scheint sein Werk so gut zu verstehen, dass Ihr eine helfende Hand nicht mehr erkennen könnt. Vielleicht solltet Ihr Euch nach dieser Hochzeit bei einem Traviatempel in Klausur begeben."

“Verzeiht, wenn mein Tonfall Euch missfällt”, gab der Magier versöhnlich nach. “Ich bin leider nicht befugt, Außenstehende in die Vorgänge einzuweihen. Doch kann ich Euer gut gemeintes Angebot an geeigneter Stelle zur Diskussion stellen. Doch basieren unsere Nachforschungen auf Verschwiegenheit und Unauffälligkeit. Bisher wäre der Einsatz einer ganzen Lanze nicht unbedingt von Vorteil für uns. Sollten wir konkretere Hinweise erlangen, die zur Ergreifung des Unholds führen könnten, so könnte die Situation eine andere sein. Und dann halte ich es unter Umständen für hilfreich, um Eure Unterstützung zu bitten.” Gudekar dachte an die Vorfälle in Elenvina zurück, als sie das Nest der Unterstützer des Paktierers ausgehoben hatten und dazu die Unterstützung der Plötzbogener benötigten. “Insofern danke ich Euch für Euer Angebot!”

"Euch sei vergeben", sprach der Ritter die rituellen Worte. "Es wäre mir eine Ehre bei der Ergreifung des Frevlers behilflich sein zu können, auch wenn dies bisweilen bedeutet phexische Wege beschreiten zu müssen." Er reichte dem Magier die Hand.

Gudekar zögerte einen Moment. Er war von der Geste überrascht. Es kam nicht oft vor, dass ihm als Magier so viel Vertrauen entgegenbrachte, ihm die Hand zu reichen. Und erst recht kein Ritter. Nicht einmal sein eigener Bruder hatte ihm je vertraut. Doch, ‚Was soll‘s?‘ dachte Gudekar. Was hatte er zu verlieren? Also schlug er schließlich ein. „Habt Dank, hoher Herr!"

"Ja, gedankt sei Euch", fügte Merle mit leiser, sanfter Stimme hinzu. Es war gut, dass Gudekar bei seinen Kampf gegen das Böse so wertvolle Unterstützung erfuhr. Noch einmal nickte sie Rondrard zu, voller ehrlicher Dankbarkeit in ihren großen braunen Augen. Dann wandte sie sich an Gudekar und legte ihm erneut die Handfläche auf die Schulter. "Was auch geschieht, ich bin an deiner Seite, das weißt du", sagte sie mit einem bestätigenden, aufmunternden Nicken. "Auch was die Auseinandersetzung mit Kalman und deiner Familie angeht. Ich halte dir den Rücken frei."

Gudekar legte seinen Kopf schräg, so dass seine Wande Merles Handrücken berührte. Sie spürte das sanfte Kratzen seiner Bartstoppeln. “Merle, du weißt, ich versuche, Auseinandersetzungen so gut es geht zu vermeiden. Erst recht solche mit meiner Familie.”

Merle drehte leicht ihre Hand, um mit ihren Fingerspitzen durch seinen Haaransatz im Nacken zu streichen. Sie schüttelte langsam den Kopf. "'Auseinandersetzung' war vielleicht nicht das richtige Wort…", sagte sie leise. "Was ich meine ist, dass du dich gegenüber deinem Bruder behaupten musst, wenn du den Weg der Allweisen in dieser Familie hochhalten willst. Ich will nicht sagen, dass das alles einfach ist - aber ich werde dich in jedem Fall unterstützen." Sie massierte kurz seine Nackenmuskulatur, dann senkte sie mit einem schüchternen Blick zu Rondrard die Hand und rückte wieder ein Stück von Gudekar weg.

“Warten wir ab, was die Zukunft bringt.” Niedergeschlagen blickte Gudekar zu Boden. “Zunächst warten wichtigere Aufgaben auf mich, als dass ich mich um die Wurzeln meiner Familie scheren könnte.”

"Ich weiß, mein Herz, ich weiß…" erwiderte sie mit schwacher, trauriger Stimme. "Ich werde mit Lulu auf dich warten und in Gedanken bei dir sein. So lange es eben dauert." Sie blickte zum Boden und schien zu schlucken, um die Tränen zurückzuhalten.

In diesem Moment war ein lautes Knacksen zu hören, worauf des Rah erschrocken aufblickte und mit wenigen großen Sprüngen im Unterholz verschwand.

Gudekar blickte ebenfalls auf und drehte sich um, um herauszufinden, was die Ursache des störenden Geräuschs war. Da erblickte er seinen Neffen Morgan, der mit einem Fuß auf einem Ast stand und sich entschuldigend umblickte. “Entschuldigt mich bitte”, verabschiedete sich Gudekar und ging zielstrebig auf den Novizen zu, um diesem eine Kopfnuss und eine ordentliche Standpauke zu verpassen.

Merle zuckte kurz zusammen und sah bedauernd dem Reh hinterher. Sie hoffe insgeheim, Morgan würde nicht allzu viel Ärger kriegen. Es war ja klar gewesen, dass irgendwer das Tier letztendlich verjagen würde. Und der Junge hatte dieses Pech gehabt. Mit einem entschuldigenden, schüchternen Lächeln blickte sie zu Rondrard auf.

Der Storchenfluger lächelte zurück. "Verzeiht meine Direktheit: grämt Euch etwas? Ihr seht traurig aus."

Wie automatisch schüttelte sie den Kopf. "Oh, habt Dank für die Nachfrage, aber eigentlich ist nichts…" Merle zuckte ratlos mit den Achseln und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. "Wie mein Mann eben andeutete, wird ihn seine Mission schon bald wieder in die Ferne führen. Und ich werde ihn natürlich vermissen. Aber es ist eben, wie es ist, nicht wahr?"

“Ja, das ist es wohl”, sprach der Ritter höflich und fragte nicht weiter nach.

Merle nickte ihm freundlich zu und lächelte sanft.

~*~

Ein kleiner Funke Hoffnung regte sich in Tsalinde als sie sah, wie zärtlich Gudekar und Merle angesichts des weißen Rehs zueinander waren. Dann erwachte ihr Argwohn. Was hatte Gudekar vor? Für Tsalinde war es sehr wahrscheinlich, dass Gudekar eine andere Frau in seinem Leben hatte. Warum ließ er zu, dass Merle erneut Hoffnung schöpfte?

Als sie die Hand ihres Mannes auf ihrem Nacken spürte, atmete sie tief durch und ließ sich von ihm in eine Umarmung nehmen. Er flüsterte ihr ins Ohr: “Du hast für Merle getan, was du konntest. Alles weitere liegt nicht mehr in deiner Hand. Sie weiß, Liudbirg und sie werden stets eine sichere Zuflucht bei uns finden. Mehr können wir ihr nicht geben.”

Tslinde schmiegte sich an ihn und beobachtete ganz konzentriert das Reh. “Danke.” Dann ließ sie zu, dass die Erhabenheit des Moments sie ergriff. Mit jeder Faser ihres Seins nahm sie den Anblick des strahlend wirkenden Tieres in sich auf.

“Ich liebe dich.”

Dann küssten sie sich.

~*~

Imelda lief noch immer neben Doratrava, als sie das Reh erblickte. Sie blieb stehen und hielt die Luft an; ihr Herz schlug freudig in die Höhe. Sie wollte auf keinen Fall das Reh erschrecken, stupste daher wortlos Doratrava seitlich an den Oberarm und deutete mit einem überaus freudigen Grinsen wortlos auf das prächtige und schöne Tier.

Die Gauklerin war mal wieder in Gedanken gewesen und schaute erst auf, als Imelda sie anstieß. Gerade öffnete sie den Mund, um zu fragen, was los sei, war der Schubs von Imelda doch nicht gerade sanft gewesen, aber dann sah sie es auch, das weiße Reh. Sie schloss den Mund wieder und nahm den Anblick in sich auf. Unwillkürlich versuchte sie, den Blick des Tieres einzufangen, während ihr verschiedene Gedanken durch den Kopf schossen. Ein Reh? Weiß? Oder ein Feenwesen … ?

"Ein Reh!", kommentierte Imelda nun sichtlich begeistert die Situation und fragte leise kichernd: "...schau, wie es guckt. Ist es nicht unglaublich süß?"

Süß? Doratrava hatte kein besonderes Faible für Tiere, daher konnte sie mit dieser Zuschreibung nicht viel anfangen. Das Reh war ein … Reh. Nur, dass es weiß war und rote Augen hatte. Das fand sie faszinierend und ein klein wenig unheimlich, aber süß?

“Äh … ja”, antwortete sie Imelda dennoch, da sie deren gute Laune nicht untergraben wollte. Und wenn die Geweihte das Reh süß fand, wer war sie, diese davon abzubringen?

Imelda sah das Reh noch immer staunend mit großen Kinderaugen an. Auf Doratravas knappe Antwort hin wandte sie sich enthusiastisch der Gauklerin zu: "Aber schau, wie flauschig die Öhrchen sind und das flauschige Puschelschwänzchen....", verträumt wog sie den Kopf hin und her. "Könntest du so ein wundervolles Geschöpf erlegen? Ich meine... so ein saftiger Braten mit Soße und Knödeln ist natürlich auch lecker." Unschlüssig biss sie sich auf die Unterlippe. "Warst du schon mal auf der Jagd?"

“Tatsächlich bin ich sogar Jagdkönigin von Nilsitz”, erwiderte die Gauklerin mit einem irgendwie ironischen Grinsen. “Zusammen mit Nivard von Tannenfels und zwei Zwergen habe ich auf der dortigen Jagd einen, äh, Riesenschröter heißen die Viecher, glaube ich, erledigt. Ist mir nicht wirklich gut bekommen, war aber ein unglaubliches Gefühl, fast so wie bei einem tollen Auftritt und doch ganz anders!”

"Jagdkönigin von Nilsitz!?" wollte Imelda begeistert herausbrüllen; sie konnte sich jedoch rechtzeitig zurückhalten und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. "Warum hast du mir noch nie davon erzählt?!?" Sie dachte kurz nach. Hatte Doratrava das vielleicht doch schon mal erwähnt? Oder hatte Nivard auf der Schweinsfolder Hochzeit davon gesprochen? Sie zuckte mit den Achseln. "Auf der anderen Seite erzähle ich ja auch so gut wie nie jemandem, dass ich mal Obstweinkönigin war... Jedenfalls ist das ja großartig! Dann könntest du auch morgen an der Jagd teilnehmen, oder nicht?" ging ihr fragender Blick zu Doratrava.

“Also ich hab’s mir kurz überlegt”, gab Doratrava augenzwinkernd zu. “Aber erstens habe ich keine Lust, so früh aufzustehen, und zweitens will ich meinen zugesagten Auftritt übermorgen bei der eigentlichen Hochzeitsfeier nicht gefährden. In Nilsitz musste mich Ihre Hochgeboren Shanija von Rabenstein wieder zusammenflicken, damit ich meinen abendlichen Auftritt dort absolvieren konnte.” Dann grinste sie schelmisch und senkte ihre Stimme verschwörerisch: “Außerdem möchte ich den ganzen Adligen nicht die Schau stehlen!”

Imelda grinste breit. "Das frühe Aufstehen hätte mir auch nicht zugesagt! Ich liebe es, mich morgens in einem gemütlichen und kuscheligen Daunenbett noch einmal umzudrehen. Oder zweimal." Die Geweihte sah zu dem Reh, welches noch immer reglos da stand. So gut es ihr möglich war, flüsterte sie: "Ich hätte schon gerne gesehen, wie du bei der Jagd triumphierst... Schröter hatte ich während meiner Walz übrigens schonmal probieren dürfen. Ein wenig wie Hühnchen, hat aber schon einen eigenen Geschmack, wie ich finde..." Sie runzelte ein wenig die Stirn. "Aber was ist denn genau passiert? Ist der Schröter mit seinen Zangen auf dich losgegangen?"

“Puh, an den genauen Kampfablauf kann ich mich nicht mehr so genau erinnern”, musste Doratrava zugeben. “Es ging alles sehr schnell, und am Anfang war ich wie in einem Rausch, schließlich war es meine erste Jagd - und dann gleich auf so ein Vieh, das wir nur mit viel Mühe alle zusammen besiegen konnten. Ich weiß noch, dass ich dem Käfer meinen Speer von oben in den Körper gerammt habe, aber dann ist der Speer gebrochen und ich wurde fortgeschleudert, als das Vieh sich herumwarf. Einer der Zwerge hatte ihm aber bereits von der Seite einen weiteren Speer reingerammt, und ich warf mich dagegen, um diesen noch weiter in den Körper zu treiben. Das Vieh hat sich dann geschüttelt wie blöd, während ich noch an dem Speer hing, und dabei hat es mich auf eine der Zacken geschleudert, die es an den Außenseiten der Scheren trug. Hat mir die ganze Seite aufgerissen, das war ganz schön heftig. Ich habe dann kurz darauf das Bewusstsein verloren, ich glaube aber, nur kurz, und dann hat mich Gelda zu einem Heiler geschafft. Gelda … stimmt, Gelda war auch noch dabei in unserer Jagdgruppe, Gelda von Altenberg, wie konnte ich das vergessen!”

Die Hadingerin versuchte sich den Kampfesablauf genau vorzustellen und nickte aufmerksam bei jedem Detail der Beschreibung. “Da hast du aber Glück gehabt, dass nichts Ernstes passiert ist! Diese Schröter sind vermutlich schneller und agiler, als man denkt.” Imelda runzelte nachdenklich die Stirn. ”Sag’ mal, die Gelda… Sie ist wohl inzwischen mit Rondradin von Wasserthal verheiratet, oder?”

“Ja, das stimmt”, antwortete Doratrava mit dem winzigsten Hauch von Befangenheit. “Warum fragst du?”

Imelda lief leicht rot an und blickte verlegen zu Boden. “Na ja, ähm…” Verschwörerisch rückte sie ein Stückchen näher an Doratrava heran und raunte dieser ins Ohr: “Hm, also der Rondradin, der hat mir ja schon recht gut gefallen… So ein stattlicher, galanter und freundlicher junger Recke…” Die Ingra-Geweihte winkte schnell ab und zuckte mit den Schultern. “Warum müssen all’ die guten Männer - und wahrscheinlich auch Frauen”, sie nickte Doratrava kumpelhaft zu, “...bereits vergeben sein?” Insgeheim fragte Imelda sich, ob sie strengere Moralvorstellungen hatte als ihre Freundin Meta, weil sie es für undenkbar hielt, mit einem verlobten oder verheirateten Mann anzubändeln - oder ob sie sich einfach noch nie so hoffnungslos verliebt hatte. Sie seufzte melancholisch. “Tja, lässt sich wohl nicht ändern, was?”

Nun musste Doratrava schlucken und hoffte, dass es Imelda nicht bemerkte. Hätte ihr Gelda damals bei der Jagd ein einziges Zeichen gegeben, sie hätte sich vermutlich unsterblich in sie verliebt … wie sie es schon mehrmals getan hatte, immer hoffnungslos. “Ich weiß, was du meinst”, erwiderte Doratrava mit leicht belegter Stimme. “Ich … du … ach, ich bin nicht die Richtige, dir da Ratschläge zu geben, fürchte ich.” Die Gauklerin starrte vor sich auf den Boden.

“Wer kann das schon…”, senkte auch Imelda ihren Blick und fixierte einen kleinen Pilz am Boden. “Niemand weiß, was die Zukunft bringt… Aber ich glaube, dass irgendwo die wahre Liebe auf mich wartet”, sagte sie entschlossen und nickte dann Doratrava zu. “Und auf dich auch, ganz bestimmt!” Die Geweihte zwinkerte verschmitzt und gab  Doratrava einen sanften Hüftstoß. “Das heißt aber nicht, dass wir bei den Feierlichkeiten als alleinstehende junge Frauen nicht Spaß haben können! Wir werden ganz unbeschwert die Hochzeit genießen…”, flüchtig musste sie an die arme Merle und auch an Meta denken, welche ihr am heutigen Tag unglaublich gestresst vorkam, “...und wer weiß… vielleicht sind ja bei der Hochzeit auch charmante Herren oder Damen dabei, um uns mit einer harmlosen Liebelei die Zeit zu versüßen.”

Doratrava hing ihren Gedanken nach und machte lediglich ein vage zustimmendes Geräusch. “Harmlose Liebeleien” ließ ihr ungestümes Temperament selten zu. Ersetze “selten” durch “einmal”. Ansonsten war es immer in einer mittelgroßen Katastrophe geendet, zumindest für sie selbst, auch wenn Außenstehende das vielleicht anders beurteilen würden. Aber mit Außenstehenden hatte sie in der Regel keine Lust, über solche Themen zu sprechen, insofern hatte sie keine wirkliche Ahnung, was diese dachten oder denken könnten … außerdem war ihr das egal, vor allem in Situationen, wo ihre eigenen Gefühle sie zu zerreißen drohten.

Sie lächelte Imelda zu und ließ sich dann doch noch zu einer Bemerkung hinreißen: “Ich wünsche dir viel Glück - bei beidem!” Sie grinste zweideutig. “Komm, das Reh ist fort, gehen wir weiter.”

~*~

„Nein, wie bezaubernd!“ gluckste die Rahjani leise, als sie das zarte Geschöpf erblickte. Weiße Rehe… sie hatte noch nie gehört, dass es solche Tier wirklich gab.

Tharga indes hatte Ohren und Rute aufgestellt. Sie schlug nicht an, doch ihr Blick war unbeirrbar auf das weiße Tier gerichtet und sie stemmte alle viere in den Waldboden, um dem Reh entgegenzuspringen.

Es war nur ihre Herrin, die sie davon abhielt. Sie musste augenscheinlich alle Kraft aufbringen, um die Hündin zurückzuhalten. Die rechte Hand an deren ledernen Halsband, hielt Arda ihre Fackel mit der Linken blind in Richtung der Rahjani. Dabei kam ein überraschtes Murmeln über ihren Mund, gefolgt von einem gezischten Befehl an die Wehrheimerin.

Rajalind war einen Moment mit der Fackel überfordert und stellte erst noch ihr Körbchen zu ihren Füßen ab, bevor sie ihrer Weggefährtin schließlich das brennende Stück Holz aus der Hand nahm.

Wulfhelm trat neben Arda und wisperte ihr zu: “Dieses Tier würde Eure Hündin sicherlich gerne hetzen, stimmt’s?”

"Keine Frage…", murmelte Arda, während sie die Hündin hielt und zu beruhigen versuchte.

“Es wäre jedoch sicherlich keine gute Idee, eure Gefährtin ein von Firun gesegnetes Tier treiben zu lassen”, ermahnte Wulfhelm mit ernster Miene. “Ihr wisst, was man sagt?”

"Warum auch immer Euer Firunpriester sagt, die Jagd auf dieses Tier sei nicht statthaft - wer bin ich, ihm zu widersprechen?", flüsterte sie zurück, aber ihre Skepsis war unüberhörbar. "Was sagt 'man' denn?", fragte sie nach einer kleinen Pause weiter, den nondeskripten Urheber der nun zweifellos folgenden Weisheit betonend.

„Ja, was sagt man denn?“ warf nun auch Rajalind neugierig ein. Sie starrte nach wie vor fasziniert in die Richtung des herrlichen Tieres, schien aber das Gespräch, das unmittelbar neben ihr stattfand, mit einem Ohr mitzuhören.

Wulfhelm blickte die beiden Frauen überrascht an. “Ihr wisst es wirklich nicht?” Er zögerte einen Moment, bevor er weiter sprach. “Die Jagd auf ein weißes Reh ist ein schlechtes Omen. Es heißt, wenn ein weißes Reh erlegt wird, so stirbt bald ein enges Mitglied der Familie des Jägers.” Wulfhelm blickte abwechselnd zu Ardare und Rajalind, um in ihren Reaktionen abzulesen, ob sie die Bedeutung seiner Worte verstanden hatten.

“Oh wie schrecklich!” Erschrocken fasste die Geweihte sich an die Brust. Dann hatte sie sich wieder im Griff und ihr wurde bewusst, dass der Hund drauf und dran war, sich loszureißen um das schöne Tier zu jagen.

“Tharga, Liebes, hörst du meine Stimme?” sprach Rajalind im nächsten Moment die Hündin mit sanfter Stimme an, dabei trat sie langsam aber beherzt an das Tier heran, mit der Intension, es zu versuchen mit einer Salve an ruhigen Worten zu besänftigen, wie sie und ihre Tempelgeschwister dies sonst mit den verstörten Pferden im Gestüt taten.

Arda war drauf und dran, eine scharfe Erwiderung auf diesen Volksglauben zum Besten zu geben, doch sie besann sich eines Besseren. Sie hatte nicht mehr viele enge Verwandte - im Grunde nur noch einen, ihren Bruder. Und so dickköpfig sie war, so oft sie nach links ging, wenn man ihr befohlen hatte nach rechts zu gehen, hegte sie doch keine Ambitionen, ausgerechnet in diesem Fall zu entdecken, dass an einer abergläubischen Überlieferung doch etwas enges dran war. Sie beließ es dabei, Wulfhelm kurz und mit überheblich angehobenem Kinn zu mustern.

Wulfhelm hielt dem Blick jedoch mit Überzeugung Stand, denn für ihn war es mehr als ein Aberglaube. Immerhin hatte selbst seine Gnaden Firumar dieser Vorstellung nie widersprochen. (Allerdings hattet er sie auch nie explizit bestätigt, was Wulfhelm jedoch auf die allgemeine Wortkargheit des Firungeweihten bezog.)

Tharga indes löste ihren Blick von dem weißen Reh und blickte die Rahjageweihte erwartungsvoll an. Sie hörte auf, gegen ihr Halsband zu zerren und nahm sogar auf ihren Hinterfüßen Platz.

Weiter sanft auf Tharga einredend, ging Rajalind vor der Hündin in die Hocke und ließ sie an ihrer Hand schnuppern. Sie würde das Tier nur streicheln und berühren, wenn Tharga das zuließ. Dabei erzählte die Albenhuserin mit warmer weicher Stimme, dass alles seine Schönheit hatte, sie, Tharga, sei so hübsch und schön, ein Bild von einem Hund, das Fell so glänzend, die Muskeln so kraftvoll, die Augen so klug, sie sei so voller Leben. Und auch das hübsche kleine weiße Reh würde auch nur leben wollen. Nur damit auch andere seine besondere Schönheit sehen könnten, müssten sie alle es wieder gehen lassen, in den Wald, wo es wohnte, denn schließlich durfte sie, Tharga ja auch weitergehen, mit ihrer Gefährtin, zu dem Ort, zu dem sie unterwegs waren und wo es eine kleine leckere Mahlzeit für alle gäbe, ganz sicher auch für Hunde. Und dadurch, dass sie jetzt still sei, um das arme Rehlein nicht zu erschrecken, würde sie zeigen, dass sie nicht nur ein schöner, hübscher Hund sei, sondern auch ein ganz braver, der vielleicht ein halbes kleines Gänsekekschen verdient habe….

Die Hündin fuhr sich mit der Zunge über die Lefzen. MIt der Nase näherte sie sich der Leckerei.

Arda ließ das Halsband los und wollte schon einlenken, etwas verstimmt über die Impertinenz der Priesterin, als sie kurz stutzte. Ja, die Priesterin war sehr - SEHR! - impertinent gewesen mit den Leckereien, und sie, Arda, hatte sich ebenfalls bedient. Was war sie für eine Närrin.

Tharga drehte sich von der Leckerei weg, erhob sich und trottete davon, weg von der Stelle, an der das weiße Reh verharrte.

Auch die Baroness wandte sich von ihren Gesprächspartnern ab, legte sich die Hand auf die Brust und räusperte sich, als unterdrückte sie ein Husten. Dabei richtete sie einen verstohlenen Blick auf den Magus. Ihrer Begleiterin hatte sie gerade einen strengen telepathischen Befehl übersandt, ja nichts von der Rahjapriesterin zum Essen anzunehmen. Nun war es an der Zeit, sich um sich selbst zu kümmern. Arda öffnete ihre astralen Pforten, um sich von allem Gift zu reinigen, das möglicherweise mit einer der Leckereien in ihre Adern gelangt war.

Nachdem sie diesen Prozess beendet hatte, wandte sie sich wieder der Priesterin und dem Knecht zu. Sie lächelte Rajalind an, doch ihre Augen beobachteten die Frau sehr genau.

Es war kein Gift aufzufinden gewesen. Das hieß aber nur, kein herkömmliches.

“Eure Tharga ist ein wunderschöner Hund,” sagte die Rahjani und wirkte begeistert und zufrieden auch. “Und so klug. Ich hatte den Eindruck sie verstand jedes meiner Worte.” Anschließend biss sie selbst in den Keks in ihrer Hand und bot kurzerhand dem Knecht etwas aus ihrem Körbchen an. “Wollt ihr eine Süßigkeit, Herr Wulfhelm?”

Der Jäger lächelte die Rahjani freundlich an. “Wie könnte ich der süßen Verlockung einer so schönen Frau, wie Ihr es seid, widerstehen, Euer Gnaden?”

Die Rahjani lachte. “Und warum solltet ihr? Bitte, greift doch zu!”

Wulfhelm nahm sich einen der Kekse und biss genüsslich hinein. “Diese Kekse sind ausgezeichnet! Das Rezept müsst Ihr unbedingt Luzia verraten!”

“Ach das ist ganz einfach: Mehl, Ei, Hirschhornsalz und Butter für das Grundrezept, ihr könnt es dann beliebig erweitern. Gehobelte Nüsse oder Karotten untermischen. Käse und Schinkenwürfelchen, falls ihr es deftig mögt, Trauben und Honig, wenn es süß sein soll.” Erklärte die Geweihte strahlend.

„Oh“, lachte Wulfhelm, „wenn Ihr es mir sagt, könnt Ihr das auch gleich auf ein Pergament schreiben und ins Feuer werfen. Ich werde wohl am besten Herrn Friedewald fragen, ob ich Luzia zu Euch in die Lehre schicken darf, Euer Gnaden.“

Rajalind machte eine ablehnende Handbewegung. “Das braucht es nicht. Es ist ein ganz einfaches Rezept von einem lieben Freund, ich kann es euch gerne notieren.” schmunzelte sie. “Aufwändiger sind die Karamellen. Hier probiert davon doch auch.”

„Sehr gern, wenn diese ähnlich köstlich sind wie Eure Kekse“, bedankte sich der Jäger und steckte sich ein Stück des Zuckerwerks in den Mund. Er genoss es, sich von der Rahjani mit Süßigkeiten verwöhnen zu lassen.

“Wollt ihr auch eine Karamelle, Ardare?” fragte die Rahjani höflich.

Die Zähne der Baroness mahlten, als ob sie bereits an einer Karamelle arbeitete. “Nein, danke.”, brachte sie mit Mühen heraus.  

~*~

Vinja deutete mit ihrem langen linken Zeigefinger auf das Tier. So etwas Schönes hatte die angeschlagene Gärtnerin noch nie gesehen - sah man von frischem Morgentau auf einem Blütenblatt ihrer Rosen einmal ab. Deswegen verschlug es der sonst so redseligen jungen Frau den Atem, sodass sie nichts anderes tun konnte als voller Staunen auf das weiße Reh zu deuten.

Meta erging es neben der Akoluthin ähnlich. Sie nahm deren Hand und flüsterte. „Bei Rahja, wie schön.“ Sie staunte, wie ruhig das Tier stehen blieb. An Vorzeichen, ob es ihr in dem, was sie sich wünschte, Glück brachte, oder nicht, glaubte Meta nicht. Wenn schon kein Mond, dann dieses außergewöhnliche Reh.

„Hast du schon einmal so etwas gesehen? Ich nicht“, konstatierte die junge Frau das Offensichtliche.

„Nein, noch nie. Verwahren wir das Bild in unseren Herzen.“ Meta flüsterte. Manchmal kam es ihr selbst seltsam vor, was sie von sich gab. Es lag gewiss an ihrer kleinen Schwester, die wurde immer aufdringlicher in ihrem Kopf.

~*~

Nivard hielt sofort in seiner Bewegung inne, um das merkwürdige Wesen in aller Stille zu beobachten. Wer wusste, wie lange es hier verharren würde - zumal so viele, wie sie waren, kaum alle hinreichend ruhig bleiben würden, um das scheue Geschöpf nicht irgendwann doch zu verschrecken. Was hatte sein Auftauchen zu bedeuten? War es ein Zeichen der Götter oder anderer alter Mächte? Er wusste zu wenig über diese Wälder hier... unmerklich für die anderen begann er, zu Kurim, dem Jäger, zu beten, während seine Augen weiter auf dem weißen Reh ruhten.

Hier und da erfasste Liana den ein oder anderen Gesprächsfetzen. Und konnte nicht umhin, zu lächeln. Dieses Reh war weiß. Und weiter? Es mochte seltener sein als die braunen, ja, Aber sie sah es mit denselben Augen an, mit denen sie aus der Ferne auch jene haselbraunen mit den weißen Sprenkeln auf dem Fell betrachtete.

“Warum scheint Euch das weiße so viel bedeutsamer”, fragte sie vorsichtig, als Nivard sein Gebet beendet hatte. “Ist es, weil Weiß die Farbe des Firun ist?”

"Die weiße Farbe ist etwas besonderes." flüsterte Nivard, so leise es ihm möglich war, zurück. "Im ewigen Eis des Nordens oder aber auch im verschneiten Nordgratenfelser Winter mag diese von Vorteil sein, doch ist sie den Rest des Jahres ein großer Nachteil für ein scheues Waldwesen, auf das unzzählige Feinde und Gefahren lauern. Dass es dennoch so stattlich geworden ist, zeugt davon, dass es von einer Macht - einem Gott vielleicht - berührt worden ist, eine besondere Macht in ihm wohnt. Geschaffen, nicht sich zu verbergen, sondern ein Zeichen zu sein. Vielleicht spüren das nicht nur wir, sondern auch die anderen Tiere des Waldes. Fühlt Ihr denn nichts dergleichen?"

Nein. Die Macht eines Gottes fühlte sie nicht. Doch sie spürte, wie wichtig dieses weiße Reh Nivard war, seine Ehrfurcht.

“Für mich ist es ein weißes Reh, wie man sie selten sieht. In den Salamandersteinen, nicht fern meiner Heimat, sind die Wälder voller Tiere und Wesen, die Zauber in sich tragen.”

"Die Salamandersteine müssen ein ganz besonderer Ort sein." sinnierte Nivard. "Ein Ort, an dem viele Wunder geschehen, der sicher aber auch gefährlich ist, wenigstens für uns Menschen. Selbst wenn die Wesen dort uns nichts Böses wollen, so ist es doch gewiss ein Wagnis, sich zwischen sie und ihre Macht zu ergeben. Bereits in unseren Wäldern finden sich Mächte, denen man besser nicht in die Quere gerät... Vielleicht gehört dieses Reh sogar dazu?"

“Ja. Die Salamandersteine sind ein besonderer Ort.” Ihre Stimme klang ein wenig verträumt.

“Und manchmal mögen Taten oder Ereignisse in den Augen des einen böse erscheinen, während sie es in den Augen des anderen nicht sind. Und manche Wesen wissen gar nicht, was “böse” ist.

Ihr nachdenklicher Blick fiel erneut auf das Reh..

“Dieses Wesen dort ist für mich ein Geschöpf des Waldes wie alle anderen auch. Aber vielleicht mag es etwas in sich tragen, das ich nur nicht erkenne.”

"Ein Wesen muss nicht zwingend böse sein, um gut daran zu tun, ihm aus dem Weg zu gehen.” versuchte Nivard seinen und Lianas Gedanken zusammenzuführen. “Ein Bär, den im Winter der Hunger aus der Winterruhe getrieben hat, handelt gewiss nicht aus Bosheit - alleine und unvgewappnet möchte ich ihm dennoch nicht begegnen. Bei diesem weißen Reh hier habe ich solcherlei Sorgen und Empfindungen aber gar nicht - sei es, weil es - wie ihr sagt - nur ein gewöhnliches Reh ist, oder, weil es bei aller Macht keine Gefahr für uns darstellt. Vielleicht irre ich mich aber auch in beidem."

“Nein”, sagte sie voller Wärme, “ich glaube nicht, dass Ihr Euch irrt. Und sei es nun das Eine oder das Andere: Es ist ein gleichermaßen schöner Gedanke.”

~*~


Murla hatte sich nach dem Lied weiter mit Corwyn unterhalten und dabei die Aufregung um das weiße Reh zuerst gar nicht mitbekommen.

“Habt Ihr das auch gesehen?” fragte sie nun den Barden.

So recht vollen Auges war es dem Barden nicht sichtig geworden. Eher aus dem Augenwinkel als etwas Helles das nicht dort gewesen war einige Winpernschläge vor dem aktuellen Blick. Im Kopfe schalte er sich unaufmerksam und einen kurzen Moment kamen, wie immer bei Augenwinkelereignissen, Worte seiner Schwertmutter aus verborgenen Orten in den wachen Teil seiner Gedanken hervor. Die mahnenden Blicke. Die Momente die ihm durch ihre Worte und diese Blicke gezeigt hatten was zwischen gelernt, begabt und begnadet der Unterschied war. Der Unterschied der zu Rondra oder Boron führen konnte. Er sand sie mit einem kurzen Dank an seine Schwertmutter wieder zurück in die verborgenen Orte.

“Ein wahrlich edles Tier. Es ist Teil einiger Sänge und Balladen. Mit fällt hier eine Geschichte aus dem darpatischen ein. Die Stadt Hirschwailer nahe dem Dergel im Wehrheimschen führt einen weißen Hirsch dem Geschlechterwappen der dortigen Adeligen bei. Die Falkenmeisterin des eichernen Kabinets hat mir hiervon berichtet. Doch mit eigenen Augen ein dem einsamen Jäger genehmes Tier zu erblicken erwärmt das Herz deutlich mehr denn eines Sanges Klänge.”

“Ihr seid sehr poetisch”, meinte Murla schmunzelnd zu Corwyn. “Aber was solltet Ihr auch anders sein bei Eurer Profession.

Ich hielt es nur für ein ‘weißes Reh’.”

~*~

Morgan von Weissenquell hatte das Reh als erstes erblickt und war sogleich stehen geblieben. Inzwischen hatten ihn fast alle Wanderer auf dem Weg überholt, so dass sein Blick auf das anmutige Tier verstellt war. Das ärgerte den Scholaren. Er wollte das Tier auch noch einmal sehen, deshalb versuchte er, wieder weiter vorzukommen und reckte seinen Kopf über die Schultern der anderen. Dabei war er unachtsam und trat auf einen trockenen Ast, der daraufhin mit einem lauten Knacksen zerbrach. Das Reh erschrak von dem Geräusch und verschwand mit zwei, drei Sprüngen im Unterholz.

Schade, fand Nivard. Aber die kurzen Augenblicke im Angesicht des Wesens waren bereits mehr, als er sich in Gegenwart dieser großen Wandergruppe überhaupt hatte erhoffen dürfen. Er spürte, dass die Eindrücke noch lange in ihm nachschwingen würden. Wenn er später Ruhe fand, würde er in sich hineinhören und versuchen zu ergründen, was ihm dieser Klang sagen wollte.

~*~

Nachdem das Reh verschwunden war und die Gruppe sich wieder auf den Weg machte, gesellte sich der Magier Gudekar von Weissenquell zu Tsalinde von Kalterbaum und ihrem Mann Lys von Kargenstein. Während die Edle und ihr Mann eher sorgenvoll angespannt wirkten, wirkte der Anconiter überraschend gelöst.

Begleitet wurde der Heilmagier von der jungen Ritterin Meta Croy, die ihm kaum von der Seite wich, sich aber sonst eher zurückhielt.

„Werte Tsalinde! Wir hatten noch gar keine Gelegenheit, uns zu begrüßen. Es freut mich, dass Ihr der Einladung meines Vaters gefolgt seid und uns in meiner Heimat besucht. Ich hoffe Euch und Eurer Familie geht es gut?“

Sofort zog Lys Tsalinde zur Seite und brachte sie so zwischen sich und Gudekar. “Gudekar von Weissenquell nehme ich an. Mein Name ist Lys von Kargenstein und ich bin vor Travia und Rahja mit Tsalinde von Kalterbaum verbunden. Sagt bitte, wer ist eure Begleiterin?”

“Sehr erfreut, Herr von Kargenstein. Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen.” Gudekar war eine gewisse Feindseligkeit in der Stimme des Mannes nicht entgangen, doch er hatte entschieden, darüber hinwegzusehen, um sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. “Dies ist die hohe Dame Meta Croy, frisch gebackene Ritterin aus dem Traurigensteinischen.”

Tsalinde beugte sich an Lys vorbei: “Sehr erfreut euch kennen zu lernen, hohe Dame.”

Lys neigte kurz den Kopf: “Es ist mir ein Vergnügen eure Bekanntschaft zu machen.”

Ebenfalls von dem grantigen Ton des Mannes überrascht legte Meta geschwind ihre Hand an ihren Schwertknauf. Zudem war sie perplex, plötzlich Gegenstand des Gesprächs zu sein. Sie entspannte sich schnell wieder, als Tsalinde so entwaffnend sprach. „Es ist mir eine Ehre, hohe Dame, hoher Herr.“ Unschuldig sah sie erst Lys, dann Tsalinde an. „Wir kennen uns, vom Sehen. Hohe Dame Tsalinde zumindest. Damals war ich noch Knappin und mit dem Bannstrahler Linnart vom traurigen Stein auf dieser unsäglichen Schweinsfolder Hochzeit. Ich glaube, dass mehrere von damals anwesend sind, viele kommen mir einfach vage bekannt vor, aber das muss damals gewesen sein.“ Sie schwieg kurz. “Mögen die Götter diese Hochzeit schützen.“

Zögerlich wandte sich Tsalinde an Gudekar: “Ich habe mich über die Einladung sehr gefreut. Es ist gut, dass Siegmund und Liudbirg die Gelegenheit bekommen haben sich kennen zu lernen.” Dann schaute sie sich suchend um. “Wo ist Merle? Warum ist sie nicht an Eurer Seite?” Bei den letzten Worten klang ihr Unmut deutlich mit.

“Tja, mein Vater hat darauf bestanden, Euch einzuladen. Es war ihm eine Herzenssache.” Der Magier schaute sich um. Mit verwundertem Tonfall antwortete er: “Eben war Merle noch bei mir, hm, aber sie ist mir keine Erklärung schuldig, wenn sie sich mit anderen Gästen unterhalten möchte. Ihr habt euch also bereits kennengelernt?” Er lächelte Tsalinde freundlich an.

Das traf Tsalinde sehr. Hatte sie doch gehofft, dass auch Gudekar sie gerne hier hatte. Zumindest, um seinen Sohn kennen zu lernen. Doch sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen. “Ich bin Merle und Eurem Vater heute Morgen begegnet.” Dann schaute sie Gudekar direkt in die Augen. “Da Ihr unser Geheimnis nicht für Euch behalten habt, haben wir schnell herausgefunden was uns verbindet und eine nette Zeit gemeinsam mit unseren Kindern unten am Fluss verbracht. Das war ein sehr interessantes Gespräch.”

Lys versuchte sich ein Grinsen zu verkneifen und ließ sich leicht zurück fallen, damit Tsalinde und Gudekar ihren Disput besser austragen konnten.

Gudekar blickte Tsalinde an und versuchte den Ausdruck in ihrem Gesicht zu deuten. Versuchte sie, ihm eine Falle zu stellen? Würde sie wieder einen Anlass suchen, ihn verbal anzugreifen? Würde sie wieder versuchen, jedes seiner Worte, sei es auch noch so gut gemeint,  gegen ihn auszulegen, wie sie es seit jener Nacht schon so oft getan hatte? Der Magier nahm sich jedoch vor, sich nicht provozieren zu lassen. Nicht auf dem Fest zu Ehren seiner geliebten Schwester. „Ehrlich gesagt war nicht ich es, der unser ‚Geheimnis‘ in der Familie thematisiert hat, sondern Vater. Aber vermutlich ist es besser so. Ich glaube, es wäre für niemanden von Vorteil, hätten wir die Tatsachen ignoriert und vor Merle verschwiegen. Ihr habt also miteinander gesprochen und Merle hegte keine Groll gegen Euch?“ Gudekar war überrascht über die Geduld und Liebe, die seine Frau in sich trug. Jede andere Frau hätte der Affäre ihres Mannes doch eher die Augen ausgekratzt. Doch nicht Merle. Sie vergab scheinbar selbst der Mutter seines Bastards. „Erstaunlich!“

“Nein, Merle hegt keinen Groll gegen mich. Ehrlich gesagt bin ich nicht sicher, ob sie nicht in ihrem Herzen viel zu gut ist, um Groll zu verspüren. Jedenfalls hatten wir eine gute Zeit zusammen und haben viel geredet.” Nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu: “Werdet Ihr ihr das Herz brechen?”

“Ich wünschte, es wäre anders”, war die knappe Antwort des Anconiters. Er wirkte dabei verzweifelt.

Tsalinde, hin- und hergerissen zwischen Mitgefühl und Wut, sagte leise: “Dann bringt es wenigstens zu einem sauberen Ende. Merle hat es nicht verdient den Rest ihres Lebens hier festzusitzen und zu hoffen, dass es zwischen euch besser wird. Stellt klar, wo Ihr stehst, dann haben Eure Frau und Euer Kind vielleicht eine Chance glücklich zu werden.”

“Ihr habt natürlich vollkommen Recht, Tsalinde, dies kann so nicht weitergehen. Ich habe entschieden, mich Merle zu offenbaren, doch habe ich meiner Schwester das Versprechen gegeben, dies nicht vor ihrer Vermählung zu tun.” Gudekar wirkte unsicher. War er wirklich sicher, was er tun sollte? “Und ich würde Euch bitten, Gwenns Wunsch diesbezüglich zu respektieren.”

“Ich verspreche Euch, dass ich Merle nicht vor der Vermählung davon in Kenntnis setze, bitte Euch aber, dass Ihr es vor meiner Abreise tut. Wenn Merle es wünscht, können Lulu und sie uns nach Gut Kalterbaum begleiten. Ich werde versuchen ihr zu helfen glücklich zu werden, wenn sie es zulässt."

Sie holte tief Luft und sagte: “Siegmund hat Mandra.”

Hatte Gudekar zunächst zu Tsalindes Worte bestätigend genickt, so schüttelte er plötzlich den Kopf. “Wie bitte? Habe ich richtig gehört?” Er blickte prüfend zu Tsalinde, als ob sich vergewissern wollte, dass sie das Gesagte ernst meinte.

“Wenn Ihr verstanden habt, dass Euer Sohn Mandra besitzt, dann habt Ihr richtig gehört, Gudekar. Die Baronin von Rodaschquell hat ihn heute getestet.”

Nickend grübelte Gudekar eine Weile, bevor antwortete. “Nun, das hat nichts zu sagen. Ich meine nicht, dass ich dem Urteil der Baronin nicht trauen würde. Aber das kann sich noch verwachsen. Ihr solltet den Jungen beobachten. Wenn Ihr etwas Auffälliges bemerkt, solltet Ihr ihn in einer Akademie vorstellen.” Gudekar machte eine Pause, in der er seinen Gedanken nach ging. “Das wäre besser für den Jungen.”

Tsalinde bezweifelte, dass sich so etwas verwächst, versuchte aber sich das nicht anmerken zu lassen. “Besser als was? Lys und ich hatten überlegt einen Magier aufs Gut zu holen, der Siegmund zumindest in den ersten Jahren unterrichten kann. Dann können wir ihn später auf eine Akademie schicken. Wie alt sind die Schüler einer Magierakademie üblicherweise?”

“Hm, Ihr wisst wenig über das Akademiewesen, richtig?”

“Stimmt. Ich weiß eigentlich nur, was ich im Laufe meiner Abenteuer erfahren habe. Ein Magier am Hof der Baronin von Gernebruch hat mir einmal vom Seminar der elfischen Verständigung erzählt, allerdings mehr Geschichten und Anekdoten, als Fakten.”

Bei der Nennung der Donnerbacher Akademie hob Gudekar die Augenbrauen. “Ja, nun. Die Akademien nehmen ihre Eleven für gewöhnlich im Alter von zehn Götterläufen an, jedoch erst nach einer ausgiebigen Prüfung der Gabe und der Begabungen. Es ist nicht so, dass Ihr die Akademie wählen könnt. Die Akademien wählen ihre Eleven. Aber ihr könnt, wenn der Junge sechs Jahre alt ist, vorher macht das wenig Sinn, bei einer Akademie vorstellen. Dann kann Euch geraten werden, wie ihr den Jungen auf eine mögliche Schullaufbahn vorbereiten könntet. Lesen und Schreiben sollte er lernen. Und Arithmetik. Und seinen Neigungen folgend. Von einem privaten Lehrmeister würde ich abraten. Und einen Magus an Euren Hof zu holen, über Jahre hinweg, nur für die Förderung Eures Sohnes…. Ihr seid keine Königin, die sich so einen Luxus leisten kann. Die Ausbildung durch einen privaten Lehrmeister ist auch nicht unbedingt förderlich.”

“Hm, mal sehen. Lesen und Schreiben kann ich ihm beibringen. Bei Arithmetik wäre ich hingegen wohl keine gute Lehrerin, da ich selbst darin eher schlecht bin.” Sie lächelte, als sie an die Verzweiflung ihrer Lehrer dachte, wenn es um ihren Umgang mit Zahlen ging. “Vielleicht können Lys oder Isavena da einspringen. Ist es bei der magischen Ausbildung wichtig, welche Rasse der Meister hat? Unter den Angroschim in Gernebruch gibt es einen Geoden, vielleicht kann er uns hin und wieder besuchen und Siegmund etwas lehren bis er alt genug ist.”

„Ein geodischer Lehrer? Wollt Ihr unseren Sohn jegliche Hoffnung auf eine akademische Ausbildung nehmen? Es ist besser, die Kräfte in ihm zunächst nicht zu formen sondern nur zu beobachten, als sie in falsche Bahnen zu lenken. Es gibt gute Gründe, warum die Ausbildung erst in einem höheren Alter beginnt.“ Gudekar senkte seine Stimme und flüsterte eher, als dass er sprach: „Das ist übrigens nicht nur bei Gildenmagiern so, auch private Lehrmeister, Druiden und sogar Hexen fangen erst später an, ihre Zöglinge in die arkanen Künste einzuweihen.“ Dann sprach er in normalem Tonfall weiter. „Lasst den Jungen zunächst einfach nur Kind sein.“

Wütend fauchte Tsalinde ihn an. “Ich würde dem Jungen niemals seine Kindheit rauben. Ich möchte ihn nur beschützen und vermeiden, dass er sich und andere in Gefahr bringt.”

“Beruhigt Euch, Tsalinde. Nichts anderes ist es, was ich möchte. Und genau deshalb sollten wir den Weg, den er gehen soll, mit Bedacht wählen und nichts durch voreilige Entscheidungen festlegen.”

“Wir?” Tsalinde atmete tief durch, um sich zu beruhigen. “Verzeiht, ich habe euch darüber informiert, weil ich dachte, ihr wolltet es wissen und weil ihr, als ich zögerte euch von meiner Schwangerschaft zu erzählen, so wütend reagiertet. Es ist nicht eure Entscheidung, was mit Siegmund geschieht. Ich habe euch lediglich um Rat gefragt.”

“Ihr habt Recht, es ist nicht meine Entscheidung. Doch es würde mich freuen, Ihr würdet mich in Eure Entscheidung mit einbeziehen.” Gudekar sprach in einem ruhigen, freundschaftlichen Ton. Er ließ sich durch Tsalindes wütenden Tonfall nicht provozieren, zumindest nicht aus der Ruhe bringen.. “Denn, auch wenn Ihr so tut, als wäre dem nicht so, der Junge ist auch mein Kind. Und deshalb liegt mir viel an seiner Zukunft. Es mag Euch gefallen oder nicht, Ihr mögt es glauben oder nicht, aber das Kind ist mir nicht egal.”

“Ist dem so? Oder könnt ihr es nur nicht ertragen, keine Kontrolle über ihn zu haben? Bisher habt ihr euren Sohn jedenfalls nicht gesehen und hätte Friedewald uns nicht eingeladen, wären wir nicht hier.” Sie atmete tief und fügte hinzu: “Ich habe mir immer gewünscht, dass ihr eine gute Beziehung zu Siegmund aufbaut, doch bisher habt ihr da keine Anstalten gemacht. Wie könnt ihr über die Zukunft eines Kindes mit entscheiden wollen, dass ihr nicht kennt?” Sie sah ihn mit sanften Augen an. “Bitte verzeiht mir, aber im Moment vertraue ich mehr dem Rat einer Fremden, als dem euren. Lys und ich werden Siegmunds magische Entwicklung im Auge behalten, wir werden ihn in Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichten oder unterrichten lassen und ihn ansonsten lehren, sich göttergefällig zu verhalten. Wenn es dann eines Tages so weit ist, werden wir wissen wo seine Begabungen und seine Interessen liegen und wir werden eine Entscheidung treffen. Vielleicht, wenn ihr es schafft bis dahin eine Beziehung zu ihm aufzubauen oder ihn zumindest besser kennen zu lernen, werden wir euch ebenso um um Rat bitten wie die Baronin von Rodaschquell.”

“Ich habe mich von dem Jungen ferngehalten, weil dies Euer Wunsch war, den ich zu akzeptieren versuchte. Ihr habt mir mehrmals nur allzudeutlich gemacht, dass Ihr einen Kontakt von mir zu dem Kind nicht wünscht. Auch habt Ihr mich nie auf Euren Hof eingeladen, um den Jungen zu sehen. Und zu dieser Hochzeit einzuladen, lag nicht an mir, es ist die  Feier meiner Schwester, zu der mein Vater lädt. Doch hatte er mich im Vorfeld gefragt, was ich davon hielte, wenn er Euch zu kommen bittet. Und ich habe ihm gesagt, das wäre eine Gelegenheit, alte Wunden zu heilen. Ich hatte gehofft, nach der langen Zeit könnten wir auf eine unvoreingenommene Weise miteinander reden.” Gudekar ergriff Tsalindes Arm und drehte sie zu sich. “Tsalinde, warum bist du mir gegenüber noch immer derart feindselig eingestellt?”

Tsalinde fuhr ihn an: “Darf ich euch daran erinnern, wie ihr euch in der Eilenwied benommen habt? Was ihr mir alles an den Kopf geworfen habt? Ich werde nicht zulassen, dass ihr UNSEREM Sohn mit so viel Wut und Aggression begegnet wie mir.” Demonstrativ blickte sie auf seine Hand, die noch immer ihren Unterarm umfasste. “Ich werde unseren Sohn stets so gut es mir möglich ist beschützen. Wenn es sein muss, auch vor euch.”

Plötzlich riss sie sich los und wandte sich von ihm ab. “Ihr habt mich schon oft verletzt und tut hinterher so, als wäre es meine Schuld.” Man hörte die Tränen in ihrer Stimme. “Ich werde nicht zulassen, dass ihr Siegmund jemals so weh tut wie mir.”

Damit beschleunigte sie ihre Schritte um von Gudekar weg zu kommen.

Gudekar blieb stehen, senkte den Kopf und schlug die Hände vor das Gesicht. Dann blickte er wieder hoch, Tsalinde hinterher. “Ich spüre hier nur bei einer Person Wut und Aggression. Was in Elenvina geschehen ist, ist geschehen. Aber was soll ich denn tun, damit du mir je wieder vertraust? Wieso glaubst du nur, ich könnte meinem Kind etwas antun? Womit habe ich das verdient?” In seiner Stimme lag Traurigkeit und Bedauern.

Tsalinde hörte seine Klagen, ignorierte ihn jedoch.

“Warte, Tsalinde!” rief er ihr hinterher und eilte ihr schnellen Schrittes hinterher. “Es tut mir leid! Es tut mir leid, was ich auf der Eilenwid gesagt habe. Es war einfach nur der Frust, der aus mir sprach, weil du mir unser Kind vorenthalten willst. Aber ja, ich hätte damals nicht so reagieren dürfen. Es war falsch, dich so in der Öffentlichkeit anzugehen. Aber glaube mir, ich könnte dem Kind niemals etwas antun.”

Blitzschnell drehte Tsalinde sich zu ihm um und funkelte ihn so wütend an, wie Gudekar sie nie zuvor erlebt hatte. “Wie kannst du es wagen, mir zu unterstellen, dass ich dir unseren Sohn vorenthalten wollte? Ich wollte Siegmund vor dir schützen, nicht mehr und nicht weniger. So wie du mit den Menschen um dich herum umgehst, habe ich auch allen Grund dazu. Mal abgesehen davon, dass dein Verhalten auch ohne Öffentlichkeit absolut untragbar war und du in der Zwischenzeit keinen Versuch unternommen hast dich zu entschuldigen, willst du doch nur die Kontrolle haben. Wie viel Zeit hast du denn bisher mit dem Kind verbracht, zu dem du jeder Zeit Zugang hattest? Du bist doch nur gekränkt, weil ich ohne dich eine gute Lösung für Siegmund gefunden habe. Eine, bei der ich nicht abhängig von dir bin und du keine Kontrolle über uns hast.” Fauchend fügte sie hinzu: “Ich bin nicht Merle und Siegmund ist nicht Lulu. Wenn du Kontakt zu deinem Sohn möchtest, dann benimm dich anständig mir und meinem Mann gegenüber. Ich werde nicht zulassen, dass du unseren Sohn so behandelst wie mich, oder wie Merle, oder wie Lulu.”

Die Bemerkungen über Merle und Lulu ignorierte Gudekar beflissentlich. Dies hätte nur ein weiteres Fass aufgemacht und nicht zur Entspannung beigetragen. “Dann gib mir doch bitte, bitte eine Chance, mich Euch gegenüber anständig zu benehmen. Bereits seit den Ereignissen in Liepenstein hast du eine Wand zwischen uns aufgebaut, die stärker zu sein scheint, als jene, die Adelchis um jene Kammer errichtet hat. Jeglicher Versuch von mir, an dich heranzukommen, ist daran abgeprallt. Bitte, gib mir eine Chance, dir zu beweisen, dass ich es gut mit dir und unserem Sohn meine.”

Verdutzt schaute Tsalinde ihn an. “Das glaubst du wirklich, oder?” Ungläubig schüttelte sie den Kopf. “Wenn es wirklich eine Mauer zwischen uns gibt, dann hast du ordentlich dazu beigetragen. Oft genug hast du dich verhalten wie ein Besessener. Und glaub mir, mit solchen Vergleichen bin ich äußerst vorsichtig.” Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. “Ich würde mich freuen, wenn du ein gutes Verhältnis zu unserem Sohn aufbauen könntest. Nur aus diesem Grunde bin ich hier. Beweis mir, dass dir am Wohl des Jungen gelegen ist, und ich werde dich nicht davon abhalten, Kontakt mit ihm zu halten.”

“Es stimmt mich traurig, dass du dir vorstellen kannst, ich könnte dem Kind irgend etwas antun. Ich bin nicht besessen, und das weißt du. Ich habe mich – genau wie du – dem Kampf gegen das Böse verschrieben, wie sollte ich da den Menschen, an denen mir etwas liegt, etwas Böses wollen?” Gudekar machte ein Pause, doch Tsalinde merkte, dass dies keine Frage war, auf die er eine Antwort erwartete.  “Ich vermisse die Zeit, als wir alle gemeinsam noch unbeschwert miteinander reisen konnten. Du, ich, Reto, Eoban, Corwyn, Radulf und die anderen. Wie konnte es nur soweit kommen, dass derart Ungemach in unsere Gemeinschaft Einzug hielt?”

“Auch ich vermisse die alte Zeit, wobei ich nicht das Gefühl habe, dass es ein Ungemach zwischen unseren Gefährten gibt. Allerdings habe ich mich in letzter Zeit auch sehr auf meine Familie konzentriert. Gudekar, ich wünsche mir wirklich, dass wir es schaffen, wieder ein gutes Verhältnis zueinander zu pflegen. Auf der anderen Seite bin ich aber auch skeptisch, weil gefühlt jedes Gespräch zwischen uns in einem Streit ausartet. Vielleicht, wenn wir diese Feierlichkeit überstehen ohne uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen, finden wir einen Weg, wie wir zukünftig friedlich miteinander umgehen können.”

“Ich habe nicht vor, dir oder sonst jemandem an die Gurgel zu gehen. Weder hier noch sonst irgendwann.” Das hieß aber nicht, dass er sich alles gefallen lassen würde, dachte er. “Ich hoffe, dass uns zumindest bis nach Gwenns Vermählung all unsere Sorgen verschonen werden. Es tut so gut, all die Gefährten einmal um sich zu haben, ohne dass wir auf der Spur des Lolgramoth-Paktierers sind. Lasst uns versuchen, dies zu nutzen, um auch untereinander Frieden zu finden. Vielleicht finden wir morgen gegen Mittag eine Gelegenheit, gemeinsam mit den Familien, mit unseren Kindern Zeit zu verbringen. Es sollen im Dorf Flöße und Boote mit Glückwünschen für das Brautpaar gebastelt werden. Ich bin mit Merle verabredet, um dort mit Lulu ein Boot zu bestücken. Vielleicht kommt ihr mit dem Kind dazu, dann lernen sich die Kinder auch kennen?”

Tsalinde lächelte. “Ich fürchte, da kommst du zu spät. Heute Vormittag habe ich mich mit Merle, Lulu und Siegmund an den Bach gesetzt. Deine Kinder kennen sich bereits und verstehen sich sehr gut. Genauso wie Merle und ich.” Kurz zögerte sie und fügte dann hinzu: “Glaubst du wirklich es ist eine gute Idee, wenn wir uns euch dazu gesellen? Möchtest du nicht lieber Zeit alleine mit deiner Frau und deiner Tochter verbringen?”

“Ja, stimmt, das sagtest du ja bereits.” Irgendwie hatte Gudekar das zuvor nicht wirklich wahrgenommen, doch jetzt fühlte es sich an, als hätte Tsalinde dem Magier in den Magen geboxt. Tsalinde und Merle hatten bereits mit einander gesprochen, sich kennengelernt, sich gut verstanden. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Er schluckte, doch verkniff er sich, seinem Ärger Luft zu machen. Er hatte sich vorgenommen, hier und heute Tsalinde nicht die Genugtuung zu geben, dass er sie wieder anging, auch wenn sie dies verdient hätte.

“Gut”, log er. “Die Feier ist ein großes Ereignis. Das Boote basteln ist eine Aktion für alle Gäste. Das ist kein Raum für traute Zweisamkeit. Es wäre für Gwenn und Rhodan sehr wünschenswert, wenn ihr ebenfalls ein Boot oder Floß gestaltet.”

“Dann werden wir uns euch gerne anschließen.” Tsalinde lächelte, obwohl Gudekars Zorn deutlich zu spüren war. Hoffentlich würde sie diese Entscheidung nicht bereuen.

Ein hoffnungsvolles Lächeln zauberte sich in Gudekars Gesicht. Er wirkte fast so unbeschwert, wie vor gut einem Götterlauf, bevor das Unheil seinen Lauf nahm. “Tsalinde, ich wünschte, wir könnten wieder zu einem Verhältnis zurückkehren, wie wir es früher hatten, vor Retos Entführung, vor unserem…”, er suchte das passende Wort, “... Missgeschick.”

Tsalinde runzelte kurz die Stirn, beschloss dann aber, dass er mit dem Missgeschick nicht ihren Sohn meinte und antwortete: “Ja, das wäre wirklich schön. Lass uns gemeinsam versuchen, dieses Ziel zu erreichen.”

Der Magier sog die frische Abendluft tief ein. Der Geruch des Waldes war ihm vertraut und erinnerte ihn an seine Kindheit. Viel zu lange hatte er in den stickigen Klostermauern verbracht, dachte er. “Ich danke dir, dass du mir zugehört hast, dass wir endlich miteinander reden konnten, ohne dass einer dem anderen an die Gurgel ging oder die eine kurz davor ist, dem anderen einen Armbrustbolzen in die Brust jagen zu lassen. Wenn wir uns nicht vertrauen können, dann hat Lolgramoth doch schon längst gewonnen.”

Tsalinde verkniff es sich Gudekar zu sagen, dass sie ihm noch nicht wieder ganz vertraute. Das würde die Zeit ergeben. Aber sie waren auf dem richtigen Wege dorthin.

“Gerne. Ich bin froh, dass wir diese Chance zur Aussprache genutzt haben.”

Gudekar lächelte sie an. So wie früher.

Während Lys seine Fühler nach dem Befinden seiner Frau ausstreckte, um eingreifen zu können, sollte Gudekar ihr erneut drohen oder sie gar angreifen, wandte er sich an Meta: “Ich hatte nicht das Vergnügen auf besagter Hochzeit eingeladen gewesen zu sein, dennoch glaube ich euch schon gesehen zu haben. Ist es möglich, dass ich euch bei meinem Freund Emmeran von Plötzbogen gesehen habe?”

„Plötzbogen ist ein weit verbreiteter Name. Meine Junkerin hatte Kontakt zu der Familie. Aber ich muss Euch leider enttäuschen, mein Gedächtnis mag nicht das beste sein, aber ein Emmeran sagt mir nichts.“ Anders als Lys war Meta der Meinung, dass zwischen Tsalinde und Gudekar nichts eskalieren würde. Ihr Schützling musste auch lernen, diplomatisch und besonnen zu reagieren und sich nicht immer gleich hineinzusteigern. Er war ja nicht Lares. Sie lächelte Lys arglos an. „Man verwechselt mich oft, mein Gesicht ist nicht so prägnant wie das manch anderer Hohen Damen. Zudem war ich bis Rondra noch Knappin.“

“Dann habe ich mich wohl geirrt. Bitte verzeiht.”

Meta lächelte lieb. „Das macht doch nichts. Aber habt Dank für die Entschuldigung. So gute Manieren sind nicht selbstverständlich.“

Lys lächelte sie an. “Danke. Ich gebe mir Mühe. Ehrlich gesagt muss ich wohl noch eine ganze Menge lernen.” Sie gingen kurz schweigend nebeneinander, dann sagte Lys: “Wie kommt es eigentlich, wenn ich fragen darf, dass ihr Meister Gudekar auf dieser Wanderung begleitet? Rechnet er mit Problemen?”

Der Ritter war Meta sympathisch. Vor ihnen gingen Tsalinde und Gudekar und es sah so aus, als würden sie zanken und streiten (der Magier hatte ihr genug von seinen zwei Kindern und deren Müttern erzählt, dass Meta weder Grund zur Eifersucht sah, noch eingreifen wollte) und Lys schien angenehm gelassen. „Ähmm… also wahrscheinlich ist das mehr zur Vorsorge. Er ist da auf einer Mission, keine Ahnung, was genau er da macht, aber seit der Schweinsfolder Hochzeit, als wir beide mit einem Dämon zu tun hatten, damals war ich allerdings noch Knappin, also das hat  …“ Meta konnte sich nicht so recht konzentrieren. „Herrschaft, jetzt streiten die schon wieder! Wisst Ihr, ich bin dieses Theater leid und Ihr scheint vertrauenswürdig. Seitdem sind wir uns näher gekommen und ich bin zwar Ritterin, aber so, wie Ihr es zu Tsalinde seid. Ich stand bis vor ein paar Wochen mit Gudekar noch im Rahjabund. Es ist Gwenn. Wir wollen, dass sie ein schönes Fest hat, deshalb warten wir, es seiner Familie zu sagen. Aber glaubt mir, am liebsten hätte ich das schon vor Monden erledigt.“ Sie hob hilflos die Hände. Wenn Tsalinde und Gudekar es nicht schafften, ohne Gezeter und Drama zusammen zu sein, sollten sie sich besser voneinander fern halten. So konnte man doch nicht auf eine gefährliche Mission gehen. Sie würde mit ihm darüber reden, sollte es so laufen, wie sie es sich schon so lange wünschten. „Tut mir Leid, Hoher Herr. Ihr mögt über mich urteilen, wie Ihr wollt, Ihr beide. Aber ich bin mir sicher. Ich kenne ihn von einer ganz anderen Seite. Dass er Vater von zwei Kindern wird, haben wir erst später erfahren. Ich musste zwangsläufig viel über Rahja lernen. Man entkommt ihr nicht. Wollt Ihr noch weitere Kinder?“

Lys war schockiert und wäre beinahe verdutzt stehen geblieben. Nur seinem Geschick war es zu verdanken, dass er nur stolperte, aber nicht stürzte. Mit großen Augen starrte er Meta an: “Ihr seid in einem Rahjabund mit Gudekar gewesen? Wie vielen Frauen bricht dieser Mann denn noch das Herz?” Er atmete tief durch und fügte hinzu: “Bitte verzeiht mir, ich habe kein Recht, über euer Verhältnis mit Gudekar zu urteilen. Was mich jedoch richtig wütend macht, ist, wie er Tsalinde behandelt. Wie kann jemand, der seine Frau über Monde und Götterläufe hintergeht, sich dermaßen darüber aufregen, dass Tsalinde ihm nicht sofort von ihrer Schwangerschaft erzählt hat? Wie kann man nur so verblendet seinen eigenen Fehlern gegenüber sein?”

Meta überlegte kurz und sah Lys ratlos an. Sie wusste, dass sie selber eine Art hatte, mit der viele zunächst nicht klar kamen. Lys war angenehm ruhig und behandelte sie, wie es sein sollte. „Zunächst zu Eurer letzten Frage. Ich weiß es nicht genau. Über die Mission redet er nicht, das akzeptiere ich und leider sehen wir uns nicht so oft, wie wir es gerne wollen. Ich weiß, dass beide nicht klar kommen und ich weiß, dass zu einem Streit, gerade, wenn er so lange dauert, zwei gehören, deren Gefühle verletzt worden sind. Einem oder einer alleine die Schuld zu geben wäre anmaßend, da nichts so schwer ist, wie die objektive Wahrheit herausfinden.“ Sie stöhnte und kickte einen Stein vom Weg ins Gras. „Sie sollten beide erwachsen genug sein, um den Stein, der zwischen ihnen liegt, zu entfernen. Ich weiß nicht, wie Ihr das seht, aber in dem Zustand können die doch nicht eine gefährliche Mission weiterführen. Ich kenne Gudekar anders. Er ist so unglaublich lieb und das mit Tsalinde war Magie, vielleicht bestand zuvor schon Anziehungskraft. Bei mir war es sein Wille.  Ach Lys, ich wollte nie einen Magier mit Kindern und Traviabund. Mein Kopf versteht das, aber die Liebe kam von Herzen. Bei ihm ging es schneller als bei mir. Und ich vertraue ihm völlig. Das ist die Basis für eine Beziehung. Ich bin mir durchaus im Klaren, dass Ihr mich, genau wie die anderen Personen, verachten und hassen werdet, wenn wir uns zueinander bekennen.“ Sie kniff den Mund etwas zusammen und schob eine blonde gelockte Haarsträhne zurecht. Dann lächelte sie verschmitzt. „Keiner ist ohne Fehler. Aber ich glaube, dass ich Eure Frage nicht ganz richtig beantwortet habe, oder? Habt aber Dank, dass Ihr mir zugehört habt. Normalerweise bin ich lebensfroh und aufgeschlossen. Das fehlt mir. Lassen wir sie noch etwas diskutieren? Dann erzählt mir von Euch. Woher kommt Ihr und wie habt Ihr Euch in Tsalinde verliebt? Sie ist natürlich sehr hübsch, was ich leider nicht bin, aber ihr zusammen wirkt so glücklich.”

Lys lachte aus vollem Herzen. “Glaubt mir, ich weiß was ihr meint. Auch mich hat Rahja überrascht. Meine Pläne sahen auch nicht vor, mich in eine schwangere Frau zu verlieben, die ihre Zeit mit der Jagd nach den Ungeheuern dieser Welt verbrachte. Ich habe Tsalinde in Elenvina kennengelernt, als ich damit beauftragt wurde, ihr das Reiten beizubringen. Ich mochte sie. Tsalinde war fest entschlossen Reiten zu lernen und zeigte einen sehr starken Willen, der mich sehr beeindruckt hat. Doch verliebt habe ich mich damals nicht in sie.” Er zögerte kurz, ob er Meta die Wahrheit sagen sollte, entschied sich dann aber dafür. “Als ich den Auftrag erhielt, ihr und ihrer Zofe Geleitschutz zu geben, freute ich mich auf den Ritt. Doch Tsalinde war anders als in Elenvina. Ihre Lebensfreude war gedämpft. Sie grübelte viel, war nicht bei der Sache und so manches Mal musste ich sie geradezu aus ihrer Versunkenheit holen, damit ihr auf der Reise nichts geschah. Eines Morgens, wir saßen mit ihrer Zofe gemeinsam in einem Gastraum, fragte ich sie, was sie belastete und sie erzählte mir von Gudekar und ihrer Schwangerschaft. Gudekar hatte, lasst es mich nett ausdrücken, nicht sehr einfühlsam auf seine zukünftige Vaterschaft reagiert. Sie hatte sogar Angst um sich und ihr ungeborenes Kind. Angst, dass Gudekar sie dazu zwingen könnte, das Kind wegzugeben, aber auch Angst davor, welche Zukunft ihr als alleinerziehende Mutter bevorstand. Sie hatte sogar in Betracht gezogen, ihr Lehen abzugeben und ihre Heimat zu verlassen, um das Kind in Sicherheit an einem anderen Ort großziehen zu können. Wir redeten lange an diesem Morgen und fanden schon bald heraus, dass ein Traviabund zwischen ihr und mir die Lösung ihrer Probleme sein könnte. Ganz nebenbei war diese Vereinbarung auch für mich passend, da ich so zu einem Heim nicht nur für mich, sondern auch für meine geliebte Mutter fand.” Ein Lächeln stahl sich auf seinen Lippen, das zeigte, wie tief seine Gefühle für Tsalinde inzwischen waren. “Aus diesem Zweckbund ist schnell ein Bund der Rahja geworden und ich kann mir nicht mehr vorstellen, ohne sie zu sein.”

Sein Lachen war ansteckend und es tat Meta gut. „Oh, wartet mal, das ist so viel auf einmal, da muss ich erst sortieren.“ Sie rieb sich an der Nasenwurzel und murmelte irgendwas auf almadanisch. „Como se dice.. Mierda...“ Das waren aber nur wenige Worte, die Lys verstehen konnte, als sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. „Also, ich versuche es mal. Schade, dass wir auf verschiedenen Seiten stehen und am Ende Feinde sein werden. Merle hat Gudekar noch nicht aufgegeben, obwohl die Liebe, ich meine nicht die oft aufgezwungene Travias, bei der unerfahrene Kinder oder Jugendliche in einen lebenslangen Bund gezwängt werden, sei es aus politischen Gründen oder weil sie den ersten Partner, den sie haben für die Liebe ihres Lebens halten. Ich meine Rahjas Harmonie. Sie ist bei Gudekar schon lange erloschen. Merle wird es erfahren, ich bin sicher, dass sie es schon weiß, und ich konnte genug beobachten. So gut wie jeder ist auf der Seite der armen, rehäugigen Schönheit. Ihr habt sicher auch schon viel erlebt, meine Junkerin aus Almada hat zwei Kinder, deren Vater sich nur finanziell um sie kümmert und für sie eine Ehe mit einen... wie sagt man, elfischen Mann organisiert hat. Sie leben jetzt aber sehr harmonisch zusammen, Sexualität ist ein schwieriges Thema.“ Sie stockte kurz. „Äh, es klingt seltsam, aber sagen wir mal so, im Rahmen einer Mission kam ich Rahja und ihrem Glauben sehr nahe.“ Meta lachte verlegen, da gerade sie nie an echte Liebe geglaubt hatte und am liebsten einen möglichst reichen Mann von Stand gehabt hätte. „Tsalindes Weg mag steinig gewesen sein, doch werdet ihr beide die Situation jetzt sicher nicht mehr ändern wollen. Das bringt mich zu meiner vorherigen Frage. Wollt ihr noch weitere Kinder?

Und jetzt noch zu Gudekar, da werden wir nie einer Meinung sein. Er ist nicht gefährlich. Ich war nicht dabei, er hatte zugegeben, dass einmal verbal die Gefühle mit ihm durchgegangen sind, aber er ist ein absolut lieber, fürsorglicher und etwas schüchterner Mann. Wäre nicht eine gewisse Sympathie bereits vorhanden gewesen, glaube ich, wäre es auch nie so weit gekommen. Blöd, dass Tsalinde damals nicht verhütet hat. Gudi ist unsicher und in der Liebe zu mir ist ein Kind bzw. zwei nicht das, was es leichter macht. Aber sie sind sein Fleisch und Blut, er liebt sie und ich werde damit leben müssen, da sie immer ein Teil von ihm bleiben werden. Viele Kinder, deren Väter Ritter sind und weit weg einen langen Auftrag ausführen, lernen ihren Vater sehr viel später kennen. Bei meinem ersten Schwertvater, Dom  Danilo von Cres, einem Elfenbaron, war es ähnlich. Na ja. Was passiert ist, ist passiert.“ Der nervige Stein lag ihr wieder im Weg und erneut schubste Meta ihn weiter. „Das lässt sich nicht ändern, man kann endlos immer wieder darüber streiten. Zu einem Ergebnis werden die beiden nicht kommen, ich fürchte, dass sie, wenn sie so erneut auf diese gefährliche Mission gehen, sich in Gefahr bringen. Seht Ihr das auch so?  Besser wäre es, das, was geschehen ist, zumindest erstmal zurückzustellen, für später begraben, und in der neuen Konstellation einen Anfang zu beginnen. Einen Samen der Hoffnung und Harmonie zu pflanzen, der Euch und mich mit einschließt und hoffentlich zu einer  Pflanze wächst, die Früchte der Liebe und Sicherheit tragt.“ Was rede ich da? Durchfuhr es Meta und sie massierte den Amethyst an ihrer Kette. Zaina. Ich muss mit Rhodan sprechen, so hätte ich die Worte früher nicht gewählt. „Entschuldigung Lys, ich rede zu viel, ich weiß. Seht es als Kompliment, da unsere Zeit begrenzt ist.“ Meta war nicht hässlich, aber im Vergleich der vielen sehr hübschen Frauen sehr normal. Ihm fiel auf, dass auch sie beim Lachen Grübchen bekam und zudem wohl schwer zu bändigendes, blondgelocktes Haar hatte. Sie war insgesamt interessant, da sie nicht dem üblichen Frauentyp entsprach und, wenn sie völlig ungezwungen sein durfte, sicher lustig, frech und wie ein guter Freund wirkte. Das mochte der Grund dafür sein, dass sie von Männern kaum umworben wurde.

Verwundert fragte Lys: “Warum glaubt ihr, dass wir einmal Feinde sein werden? Wegen der Geschichte zwischen Gudekar und Tsalinde? Das muss doch nicht sein. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die beiden zumindest zu einer friedlichen Übereinkunft finden werden. Auch sehe ich nicht, dass die beiden nicht gemeinsam weiter Abenteuer bestreiten können. Tsalinde kann ihre Gefühle sehr gut von ihrer Pflicht trennen, wenn sie es schafft mit Gudekar zumindest eine Art Waffenstillstand auszuhandeln, sehe ich keine Gefahr in ihren Abenteuern. Was Merle angeht, so geht es Tsalinde nicht darum, dass er Merle nicht liebt, sondern darum, dass er es ihr nicht sagt.” Nach ein paar schweigsamen Schritten fügte er hinzu: “Ich danke euch für eure offenen Worte und nehme das mir entgegengebrachte Vertrauen als Kompliment an. Lasst mich euch sagen, dass ich die Konversation mit euch sehr erfrischend finde und dass ich hoffe, Gudekar weiß diese ebenso zu schätzen und ihr werdet miteinander glücklich.”

Meta zog verwundert die Augenbrauen zusammen und sah Lys erstaunt an. „Ohh… Ahh… ja, das dachte ich jetzt nicht.“ Sie stammelte etwas, da sie generell davon ausging, dass Merle hier überaus beliebt war und man sie selbst, ohne sie genauer zu kennen, als die Schuldige betrachten würde. „Ihr glaubt ja gar nicht, wie sehr mich das aufregt. Ich wollte schon nach ein paar Monden, als es richtig ernst wurde - wir haben uns ja auch selten gesehen - dass er es Merle sagt. Und wehe ihm, er macht es diesmal nicht. Und ich war mir eben sicher, dass ihr mich verurteilen und verachten würdet. Wie eine Feindin, da Ihr Euch doch so gut mit Merle versteht.“ Erleichtert seufzte Meta. „Lys, es tut mir so gut, einfach mal normal zu reden und nicht immer nur als stille Wächterin deppat rumstehen muss.“

“Ich gebe euch nicht die Schuld. Wie könnte ich auch? Gudekar ist es, der Merle das Herz bricht und sie belügt, indem er seine Beziehung zu euch verschweigt. Ihr wurdet von Rahja mit Liebe gesegnet, dafür kann und werde ich euch nicht verurteilen. Was ihr tun könnt, nämlich Gudekar bitten Merle die Wahrheit zu sagen, habt ihr getan. Alles weiter liegt nicht in eurer Verantwortung, sondern in der des Magiers.”

Kurz zögerte Lys, dann fügte er hinzu: “Das ist etwas, dass Tsalinde und mich verbindet. Wir verurteilen niemanden, ohne ihn zu kennen und schon gar nicht, ohne uns alle Seiten einer Geschichte anzuhören. Wenn möglich reden wir auf Augenhöhe mit unserem Gegenüber.”

Traurig senkte Meta den Kopf und kniff die Lippen zusammen. “Ich liebe ihn, und ich vertraue ihm. Aber… was, wenn Merle also, wenn sie beide das, was wir vorhaben, eben nicht tun. Weil er wieder im Kreise seiner Familie ist und Merle gar so entzückend und hübsch ist. Wir sind völlig andere Typen. Ich vertraue ihm mehr, als jedem anderen, aber es kann so viel passieren. Gerade hier.” Erneut sah sie Lys an. “Gudekar ist schwierig, mit Verlaub, mir scheint Tsalinde auch nicht gerade einfach zu sein. Aber ihr habt es geschafft. Im Herzen sind wir längst ein Paar, aber vor den Göttern werde ich immer nur etwas anderes sein. Das hängt von Merle ab.” Unerwartet fügte sie noch eine Frage, die wie eine Bitte klang, hinzu. “Werden wir uns auf der Hochzeit nochmal treffen? Morgen wollen wir in Stille und alleine unseren Bund vor Rahja erneuern. Dann bin ich bei dieser Aktion dabei, und mache ein Schiffchen. Ich kann ganz gut schnitzen, so kann man sich als Knappin was dazuverdienen.”

Lys lächelte. “Macht Euch keine Gedanken. So wie ich meine Frau kenne, wird Merle so oder so von den Plänen Gudekars erfahren. Die beiden haben sich heute morgen angefreundet und Tsalinde wird nicht zulassen, dass Merle weiterhin so leiden muss. Wenn ich es richtig mitbekommen habe, hat sie Gudekar auch bereits darüber in Kenntnis gesetzt. Wenn Gudekar so viel für Euch empfindet wie Ihr für ihn, werdet Ihr nach dieser Hochzeit einen gemeinsamen Weg gehen können. Ihr seid eine nette junge Frau und solltet den Vergleich mit Merle nicht scheuen.”

Er dachte kurz nach und fügte hinzu: “Schiffchen schnitzen klingt toll, auch wenn ich nicht wirklich gut darin bin. Vielleicht habt Ihr ja Geduld genug, mir ein paar Tricks und Kniffe zu zeigen.” Lachend zwinkerte er ihr zu.

“Ich habe das irgendwie aufgeschnappt, dass Tsalinde und Merle gut miteinander auskommen, deshalb bin ich mir ja sicher, dass Euer aller Mitleid und Hoffen Merle gelten wird und ich als etwas Böses, Störendes angesehen werde, wenn wir anfangen, darüber zu reden, wie es weitergeht. Dass sie schon so konkret gesprochen haben… ja, anscheinend verstehen sie sich wirklich sehr gut.” Meta dachte über die neue Information nach und was es bedeuten könnte. “Was meint Tsalinde damit, dass sie Merle nicht leiden sehen will? Auch ich wollte das nicht, aber ich dachte, dass die Ehe inzwischen - es sind ja doch zwei Jahre - genug darunter gelitten hätte. Und ich habe noch keine Ahnung, was sie sich vorstellt.”

“Bei dem Gespräch zwischen Merle und Tsalinde war ich nicht dabei, deshalb kann ich es nicht mit Sicherheit sagen, doch auf mich machte sie den Eindruck, Gudekar zu lieben. Als wäre die Trennung aus ihrer Sicht lediglich räumlich. Sie scheint zu hoffen, dass, wenn Gudekar sein laufendes Abenteuer abgeschlossen hat, der Magier zu ihr und dem Kind zurückkehren wird. Es macht auf mich nicht den Eindruck, als wäre sie hier ohne ihn glücklich.”

Traurig, obwohl sie nichts anderes erwartet hatte, nickte Meta. „Genau, da seht Ihr es. Sie ist so nett und beliebt, sie könnte vielen Frauen oder Männern den Kopf verdrehen und merken, wie schön es ist. Merle hat alle Chancen und ich bin mir sicher, dass es auch jemand anderen geben würde, bei dem sie Bauchkribbeln bekommt.“ Meta sah zu Lys auf, schürzte die Lippen, lächelte dann aber. „Aber Ihr könnt Euch natürlich auch raushalten. Ich bin…, ähm nein..., für mich ist er der Einzige. Der, auf den ich gewartet habe, ohne es zu wissen. Lys, ich finde Euch nett. Das wird schon schwer genug werden, da muss mich doch nicht jeder beschimpfen.“

“Wer beschimpft euch denn?” Lys klang deutlich entrüstet. “Sagt, wer hat euch so schlecht behandelt, dass ihr nicht besser von euch denkt? Mal abgesehen davon, steht ihr doch mit Merle nicht in Konkurrenz. Oder seid ihr euch der Liebe des Magiers so unsicher? Macht euch keine Gedanken, wer auf wessen Seite steht. Nur der Stand Gudekars sollte euch wichtig sein, denn er muss sich letzten Endes entscheiden.” Kurz dachte er nach, dann fügte er hinzu: “Vielleicht ist es für Merle auch nur so, dass sie sich hier nicht so wohl fühlt und es mit Gudekar erträglicher ist. Wenn die Göttin Rahja ihr wohlgesinnt ist, wird sie eines Tages die wahre Liebe kennenlernen und einen Mann finden, der zu ihr steht und sie nicht einfach abschiebt und ausschließt. Für euch wünsche ich, dass eure Liebe diese Zerreißprobe besteht und ihr mit dem Magier eine ehrliche, innige Beziehung voller Liebe und Ehrlichkeit und Treue führen könnt. Vielleicht werdet ihr dann erkennen, dass ihr den Vergleich mit anderen Frauen nicht scheuen braucht.”

Perplex starrte Meta Lys an. Mit sowas hatte sie nicht gerechnet. Sie räusperte sich. „Ähmm… ah, also natürlich werden alle Traviagläubigen und davon wimmelt es ja hier, mich verachten. Die werden mich auch beschimpfen, sobald die Wahrheit ans Licht kommt. Aber Merle gegenüber ist es fair, so glaube ich. Dann ist sie frei. Gudekar hält sie schon lange genug hin. Sie muss spüren, dass etwas in ihren Bund nicht mehr so ist wie früher.“ Meta lachte kurz humorlos. „Und so ist sie es, von der es abhängt. Sie ist seine Frau und kann ihn bei der Traviakirche anzeigen, er wird dann als Frevler gelten. Um Gudekar mache ich mir keine Sorgen. Er hat sich schon lange entschieden.“ Sie blickte zu dem Magier und Tsalinde. „Und bei mir ist er ganz anders. Wir sind so unterschiedlich, vielleicht macht es das aus? Wir vertrauen einander und können ohne den anderen nicht.“ Nun lächelte Meta ehrlich erfreut. „Eure Worte tun gut. Danke.“

“Gerne. Ich freue mich, dass meine Worte Gefallen gefunden haben. Ja, Gudekar hat einen Frevel gegen die Göttin Travia begangen und das nicht nur einmal. Jedoch bin ich der Ansicht, dass ein Traviabund ohne den Segen der Rahja nichts wert ist. Ich werfe Gudekar nicht vor, dass er sich in eine andere Frau verliebt hat. Für mich liegt der Frevel eher darin, dass er Merle gegenüber nicht mit offenen Karten gespielt hat. Da stehen euch noch schwere Zeiten bevor, fürchte ich. Solltet ihr im Anschluss jemanden brauchen, der euch zuhört, so scheut bitte nicht, euch an mich zu wenden. Vielleicht finde ich ja wieder die richtigen Worte um euch etwas Gutes zu tun.” Er lächelte und zwinkerte ihr zu.

Das Gesicht der jungen Frau wurde ernst und sie sah zu Boden. “Ich wollte es Merle so schnell wie möglich sagen. Was bringt ein Traviabund, wenn die Liebe fehlt. Ihr könnte das bei allem Glauben auch passieren, Rahja ist unberechenbar.” Dann sah sie ihn wieder an, offen, den Kopf etwas schräg und strich sich ihre dunkelblonden Locken hinter das Ohr. “Es wäre sehr lieb, wenn Ihr am Ende noch da wärt. Egal, wie es ausgeht.” Sie holte tief Luft. “Ich kenne Merle noch nicht, aber objektiv betrachtet hat sie alle Druckmittel und ich beziehungsweise Gudekar wir werden uns fügen müssen, sie wird uns sonst bei der Traviakirche anzeigen. Ich hoffe darauf, dass sie tief in sich ein gutes Herz hat und mich nicht nur leiden sehen will. Und eine Ehe mit einem Mann, der gezwungen ist, bei ihr zu bleiben als falsch sieht. Wenn wir mit ihr sprechen können, wir uns vielleicht einigen, wenn jeder ein paar Zugeständnisse macht. Ich kann sie gar nicht einschätzen.” Einem Impuls folgend nahm sie Lys Hand mit ihren beiden Händen und drückte sie. “Ihr seid ein Schatz.”

Lys drückte sanft zurück und lächelte verlegen. “Naja, so wertvoll bin ich nicht, aber ich kann euch versprechen, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht liegt, damit dies ein gutes Ende findet.”

~*~

Am Ufer des Quellweihers

Nachdem das Reh verschwunden war, setzte die Gruppe ihren Weg entlang des Waldpfads fort. Der Weg war uneben und man konnte leicht über die eine oder andere Wurzel stolpern, die quer über den Weg wuchs. Doch dank der Beleuchtung durch die Fackeln fanden alle Gäste stets sicheren Tritt, auch wenn es durch den Tannenwipfelschnaps nicht allen gleich leicht fiel.

Irgendwann verloren die Wanderer das Zeitgefühl, Schritt vor Schritt setzend und dabei auf den Boden schauend. Minuten dehnten sich so zu Stunden. Doch tatsächlich war die Gruppe nicht viel mehr als ein halbes Stundenglas seit der Forsthütte unterwegs, als sich der Weg plötzlich öffnete und sie eine Lichtung erreichten. Die Augen der Gruppe wurden von einem Lagerfeuer geblendet, das in der Mitte der Lichtung lichterloh brannte. Im Hintergrund hörte man das Rauschen eines kleinen Wasserfalls, der sich aus einer Felswand in einen Weiher ergoss. Der Himmel hatte sich wieder zugezogen und das Madamal war fast vollständig von Wolken verdeckt, wodurch der Verlauf des Seeufers hinter dem Lagerfeuer nur zu erahnen war. Ein frischer Wind pfiff über die Wiese und ließ die eine oder den anderen der Wanderer frösteln.

Am Lagerfeuer wartete Leodegar Häsler, der Jagdmeister des Edlen von Lützeltal und Vater von Wulfhelm, auf die Gruppe. Über dem Feuer dampfte ein Kessel mit gewürztem Glühbier und Leodegar schenkte den Frierenden Becher mit dem wärmenden Getränk ein. Auf einem aus Baumstümpfen und Brettern provisorisch zusammengebauten Tisch stand eine große Schüssel mit weißen Teigbällchen, daneben standen ausreichend Weidenstecken bereit. “Dies sind sogenannte ‘Madabällchen’, die meine Frau vorbereitet hat. Die Teigkugeln werden auf die Stecken gespießt und über dem Feuer ausgebacken”, erklärte Wulfhelm. Der Teig war locker und luftig und schmeckte süß nach Honig und Zimt.

Rund um das Lagerfeuer waren zahlreiche Baumstümpfe als Sitzgelegenheiten bereitgestellt. Kissen und Decken verbreiteten trotz des Windes ein gewisses Maß an Gemütlichkeit.

Auch an die Hündin Tharga war gedacht. Wulfhelm hatte am Forsthaus ein in Wachspapier eingeschlagenes Päckchen in seine Tasche gepackt und holte nun eine Portion Pansen hervor. Er blickte fragend zu Arda, ob die Hündin dies fressen durfte, was diese mit einem skeptischen Nicken bejahte.

Die Hündin machte mit den Leckereien kurzen Prozess und ihre wedelnde Rute bezeugte, dass sie dies mit Begeisterung tat.

Als alle Gäste einen Platz gefunden hatten und mit einem warmen Getränk und Teigbällchen versorgt waren, begann der Barde Corwyn von Dürenwald, leise auf seiner Laute zu spielen.

“Ich trage Euch nun eine Composition eigener Verse vor, die mir von Rahja zu verschiedenen Anlässen eingegeben wurden, die jedoch in ihrer Collage der hiesigen Gegebenheit gerecht zu werden versucht. Ich nenne die Zeilen ‘Die Suche’.

Durch die Felder musst ich schweifen

Die im Sonnenstrahle prangen,

Durch die grünen Wälder streifen,

Ist mein Herz von Gram befangen.

Uralt alte Schlummerlieder,

Sitzen mit des Schmerzes Geistern,

Acht‘ sie nicht, werd‘ ihnen müder,

Durchweg woll‘n sie mich bemeistern.

Lass von Quellen, lass von Bächen

Draußen vor dem freien Glück,

Über mich den Segen sprechen,

Flieh‘ nicht scheu und klein zurück.

Fragst du mich, woher die bange

Liebe mir zum Herzen kam,

Und warum ich ihr nicht lange

Schon den bittern Stachel nahm?

In der Lüfte Wellen tauche

Meine Brust, die kummerschwüle,

In des Himmels reinem Hauche

Meine heiße Stirne kühle.

Schau doch, überall liegt offen,

Quellen, Bäume, Blumenkerzen,

Wie gediegnes Gold, das Hoffen,

Reden dir von Menschenherzen.”

Während die Lautenklänge weiter ertönten, hielt der Gesang kurz inne. Dann ging es weiter.

“Gelassen stieg die Nacht ans Land,

Klingt des Himmels Bläue noch,

Lehnt träumend an der Berge Wand,

Der flücht'gen Stunden schweres Joch.

Du heilest den und tröstest jenen,

O Quell, hör auch auf meinen Schmerz!

Ich klage dir mit bittern Tränen

Mein dunkles, kaltes Menschenherz.

Nicht in meiner dumpfen Klause,

Tief im Wald den Fels ich fand,

‚Sindes Ruf im grünen Hause,

Find ich hier verborgnes Band?*

Die folgenden Zeilen trug der Barde voller Inbrunst vor, da er hier das Rauschen des Wasserfalls übertönen wollte – und zu betonen versuchte, dass diese Zeilen das Motiv der Familiensaga aufgriffen.

“Keck rauscht eine Quell‘ hervor,

Mein Auge sieht die Schlange nun,

Singt der Nacht den Traum ins Ohr,

Lässt mich in Madas Schutze ruh‘n;”

Schließlich wechselte Corwyn wieder in den Rhythmus vom Anfang der Ballade.

“Sprich, warum mit Geisterschnelle

Wohl der Wind die Flügel rührt,

Und woher die süße Quelle

Die verborgnen Wasser führt?

Banne ich auf meiner Fährte

Mir den Wind in vollem Lauf,

Halte mit der Zaubergeste

Wach die süßen Quellen auf!

Wieder lern‘ ich frohe Lieder,

Und mit menschlich schönem Triebe

Lernte ich die Liebe wieder,

Ach, die längst vergessne Liebe.”

Alle hörten den Klängen des Barden gebannt zu.

Dann ergriff Bernhelm Lützelfisch, der Knecht des Edlen das Wort. “Meister Leodegar, das Gespräch auf dem Weg kam vorhin, als wir das Reh trafen, auf die alte Familiensaga der Weissenquells zu sprechen. Habt Ihr nicht Lust, uns die Geschichte zu erzählen?”

Leodegar, der sich gerade eine Pfeife angezündet hatte, stocherte eine Weile wortlos mit einem Stecken in der Glut des Lagerfeuers. Regelmäßig entwichen kleine Rauchwölkchen aus seinen Mundwinkeln. Schließlich setzte er zu erzählen an. Seine sonore Stimme wurde durch sachte Klänge von Corwyns Laute untermalt.

“Zwischen Haderholz und dem Südufer des Großen Flusses lebte einst der Herr der Albauen. Eines Tages sagte er zu seinem ältesten Spross: ‘Jost, ziehe aus, um den Quell der Weisheit zu finden!’.

So sattelte Jost sein Pferd und ritt aus. Er ritt am großen Fluss entlang und durch den Kosch. Er ritt gen Firun bis zu den Ebenen aus Eis und gen Praios bis zum Meer aus Sand und sogar bis zu den dampfenden Wäldern. Er erreichte die Gestade des Walgottes gen Efferd und das Meer der Perlen gen Rahja. Er besuchte die Zwerge in ihren Stollen und die Alben in den Wäldern. Doch nirgends fand er eine Spur auf den Quell der Weisheit, niemand gab ihm einen Hinweis.

Nach vielen Götterläufen erreichte ihn die Nachricht, dass das Haus seines Vaters durch Ingerimms Zorn zerstört und die Ruinen seiner Heimstatt von den Fluten des Großen Flusses fortgespült wurden. So machte sich Jost auf den Heimweg, um sich nach seiner Familie zu sorgen, doch er fand nur Not und Elend. Voller Verzweiflung lief Jost ins Haderholz und irrte elf Wochen und elf Tage und Nächte durch das Gehölz, bis er in der Nacht des ersten Frühlings-Madamals am Ende eines kleinen Tales auf einen eigenartigen weißen Felsen stieß, auf dem sich in Madas Antlitz eine güldene Schlange ausruhte.

An dieser Stelle unterbrach der Magier Gudekar von Weissenquell den Erzähler. “Es gibt andere Quellen, die versichern, die Geschichte hätte sich im Hesindemond zugetragen und nicht im Frühjahr!” Nachdem er einen bösen Blick von Bernhelm erntete, verstummte der Anconiter jedoch sofort wieder.

Leodegar nahm seine Erzählung wieder auf.

“Jost jedenfalls sank nieder und lehnte seinen Kopf an den weißen Stein. All seine Trauer aus sich herauslassend fing er an zu beten: ‘Oh, Herrin Hesinde, du weiseste unter allen Alveranern, so sag mir doch: Wie, nur wie kann ich die Queste, die mir mein Vater aufgebürdet hat, erfüllen, um ihm doch wenigstens so meine letzte Ehrerbietung aufzuweisen?’ Da sprach die Natter zu Jost: ‘Die wahre Weisheit findet man nicht in der Ferne. Ist es nicht überaus weise, bei seinen Wurzeln zu bleiben und seine eig’ne Brut zu hegen?’ Und so wandelte sich Hesindes Botin in einen nie mehr versiegenden Quell, aus dem schneeweißes Wasser heraus sprudelte, das sich alsbald in einem kleinen Weiher sammelte und schließlich zu einem lützeligen Bach entrann. Jost jedoch trank von dem Wasser des Quells und spürte neue Kraft in sich erstarken. ”

"So ist es!", ließ Nivard leise und scheinbar nur für sich beipflichtend vernehmen, während seine Augen aber auf Gudekar ruhten, und in ihnen schwang ein deutliches 'Hört gut zu!' Schöner und prägnanter, wie die Natter in Meister Leodegars Geschichte es dem Vorfahren des Anconiters gesagt hatte, konnte man nicht zum Ausdruck bringen, was auch Nivard diesem mitteilen, ja am liebsten eintrichtern hätte wollen.

An dieser Stelle übernahm Bernhelm das Wort. “Es heißt, Jost ließ sich dann am Ufer des Lützelbachs nieder und gründete das Haus Weissenquell.”

“Ja”, bestätigte Leodegar. “Noch heute, so heißt es, färbe sich beim ersten Madamal des Frühjahrs das Wasser weiß, und wer sich in dem frischen Quell erlabe, der erlange Hesindes Weisheit und neue Kraft.”

Jetzt wandte sich Bernhelm an den Anconiter: “Seht Ihr, Meister Gudekar, von einem weißen Reh ist in der Sage in keiner Zeile die Rede. Das Reh hat also nichts mit Eurer Familie zu tun.”

“Allerdings”, warf nun Wulfhelm ein, “gab es in der Familie Weissenquell auch noch nie zuvor eine Tochter Firuns.”

Eine schöne Geschichte, fand Doratrava, vielleicht auch deshalb, weil der Verlust von Haus und Hof für jemanden wie sie, die nie Haus und Hof besessen hatte, zu abstrakt war, um Verlustgefühle und Trauer hervorzurufen. Und ob die Geschichte nun stimmte oder zumindest einen wahren Kern enthielt? Wer wusste das schon, das war auch nicht wichtig, hauptsache die Familie hatte etwas, was sie ihren Kindern erzählen konnte - und Gästen aus der Fremde, die sich dann wirre Gedanken machten. Doratrava schmunzelte selbstironisch.

"Hm, das mit dem Wasser, das sich weiß färbt, würde ich gerne mal sehen", murmelte die Gauklerin vor sich hin. "Vielleicht sollte ich im Frühjahr mal vorbeikommen. Hoffentlich versteckt sich das Madamal dann nicht hinter Wolken, sonst bin ich sauer."

„Und dieser Jost hat wirklich nicht verstanden, dass es gar nichts Greifbares war, was er hätte suchen sollen?“ fragte Rajalind, die Rahjageweihte verwirrt, während sie in ihr bereits zweites Madabällchen biss. An denen hatte sie offenbar geschmacklich Gefallen gefunden. Eine Tatsache, die eigentlich nicht verwunderte, wenn man die Dienerin der Herrin der Gelüste kannte.

Verwirrt schaute Doratrava zur Seite zu der Rahjageweihten, mit der sie noch nichts zu tun gehabt hatte. Sie war sich nicht sicher, ob die Frage überhaupt an sie gerichtet war, antwortete aber dennoch fast automatisch: “Ach so? Du meinst, der Herr hätte den Jost losgeschickt, ein Buch zu suchen oder … ich weiß nicht, jemanden, der viel weiß wie eine Hesindegeweihte oder so?”

„Nein. Die Lösung ist, glaube ich, das Alter. Heißt es nicht immer, im Alter würde man weise und klug? Josts Vater wollte vielleicht, dass Jost in die Welt hinausging, um Erfahrungen zu sammeln. Vielleicht hatte Jost bislang Angst vor der Welt und hat sich zuhause vor ihr und dem Leben versteckt? Ängste kann man vor vielen Dingen haben,“ wusste die Geweihte aus ihrem Alltag zu berichten. „Wäre denkbar, dass ihn sein Vater dann diese Aufgabe gab.“ Sie steckte nebenher beherzt ein neues Madabällchen auf ihren Stecken. „Es ist beides gut. Das hinausgehen, Dinge erleben, Erfahrungen zu sammeln. Und gleichzeitig darf man nicht vergessen, wo man herkommt.“ Rajalind lachte und sah ihre Gesprächspartnerin aufmerksam an. „Hm. Euch kenne ich, glaube ich. Wart ihr nicht auch bei der Einweihung des Eisensteiner Rahjatempels von Bruder Rahjan? Ja, ja, doch! Ich wusste, irgendwoher kenne ich euch. Ihr habt sogar mitgemacht beim Peluraspiel!“

Stimmt, jetzt, wo sie es sagte, erinnerte Doratrava sich. Aber die Einweihung von Rahjans Tempel war ja auch schon fast zwei Jahre her. "Ach ja, das Peluraspiel, jetzt kommt's mir wieder. Du darfst übrigens gern 'Du' zu mir sagen, wenn du nichts dagegen hast, dass ich das auch tue." Die Gauklerin grinste frech. "Sag', hast du meinen Tanz damals im Rahjatempel selbst nicht gesehen? Der sollte doch nachhaltiger im Gedächtnis geblieben sein als das Peluraspiel!" Ihre Stimme hatte einen gespielt vorwurfsvollen Ton angenommen.

Rajalind lachte, ob der Strenge in der Stimme der…Tänzerin und weil sie die familiäre Ansprache lieber hatte. “Ich erinnere mich nicht an Einzelheiten,” erklärte die junge Geweihte wahrheitsgemäß. “Ist Tanz womit du der Schönen huldigst und dein Silber verdienst?”

Nun zog Doratrava doch die Augenbrauen zusammen. Eine Rahjageweihte, die sich nicht an ihren Tanz erinnerte? Gut, es waren wirklich schon fast zwei Jahre vergangen seit der Tempelweihe, aber dennoch …

Wie auch immer, die Geweihte musste sehr abgelenkt gewesen sein, oder Tanzen war irgendwie nicht ihr Ding. Sie beschloss, das jetzt nicht näher zu hinterfragen … wobei …

“Ich bin übrigens Doratrava. Und dein Name ist … ? Ich kann mich leider nicht mehr erinnern. - Hast du mich denn heute noch nicht gesehen? Ja, ich bin Tänzerin und auch Akrobatin und hatte schon zwei Auftritte heute, und mit den werdenden Eheleuten habe ich auch schon getanzt.”

“Rajalind,” nannte sie ihren Namen. ”Du tanzt sehr schön und der Göttin gefällig, das weiß ich. Daher fragte ich ja auch, ob du es nur zu deinem Vergnügen tust oder ob du dir damit dein Leben finanzierst. Ich gestehe, deine Darbietungen nicht alle mitverfolgt zu haben, da es Gläubige gab, die meine Dienste beim Rahjaschrein in der Brauerei benötigt haben. Als man mich hierher einlud wusste ich nicht, dass es so viele liebe Menschen hier in Lützeltal gibt, die mit Fragen an die Schöne leben.”

“Na, dann bist du ja am richtigen Ort”, zwinkerte Doratrava Rajalind zu.

„So scheint es, ja.“ entgegnete die Geweihte lächelnd.

“Freut mich, dich kennenzulernen. Also mehr als beim Peluraspiel.” Die Gauklerin grinste. “Ja, tatsächlich lebe ich vom Tanzen und Herumturnen und Bälle jonglieren und so. Und ab und zu tue ich Leuten auch mal einen Gefallen, den sie einer Belohnung wert finden.”

Rajalind legte den Kopf schief. „Das klingt, als hätte dich so ein Gefallen hierher geführt…“

“Nein, tatsächlich bezahlt Herr Herrenfels mich dafür, dass ich hier auftrete”, erwiderte die Gauklerin kopfschüttelnd. “Allerdings … wenn man bedenkt, was ich bekomme, ist es dann vielleicht doch eher ein Gefallen.” Sie grinste ironisch.

„Ist er denn knausrig?“ fragte die Rahjani verwundert. „Er schien mir bislang eigentlich ganz umgänglich und zuvorkommend.“

“So scheint er mir auch”, erwiderte Doratrava, “allerdings habe ich mit ihm noch nie über Geld gesprochen. Daher kann ich nicht sagen, ob er knausrig ist. Die Verhandlungen über meine Bezahlung habe ich allerdings mit Gudekar von Weissenquell geführt, der hat mich empfohlen und das dann in die Wege geleitet. Vorher kannte ich Rhodan Herrenfels nur flüchtig und wusste gar nicht, was ich überhaupt verlangen kann. Na, egal, ist ja nicht so, dass ich schlecht bezahlt werde, aber für ein neues Kleid wird es wohl nicht reichen.” Die Gauklerin zwinkerte der Rahjani zu.

“Sag, wo kommst du eigentlich her? Du hast ein außergewöhnliches Äußeres. Ich habe mich das damals in Eisenstein schon gefragt.” wechselte die Geweihte das Thema, denn über Geld zu sprechen empfand sie als sehr unbefriedigend. Sie war froh, durch ihren Vater ein kleines Vermögen zu besitzen, aber sie war sehr dankbar, dass weiterhin ihre Mutter die Verwaltung davon übernahm. Denn so richtig damit umgehen konnte sie nicht.

Die Miene Doratravas verschloss sich unwillkürlich bei dieser Frage. "Ich wurde von den Traviageweihten des Tempels in Wildreigen, das ist ein Dorf im Kosch, großgezogen", antwortete sie dennoch, aber eher emotionslos, als würde sie über einen Stein oder ein Möbelstück sprechen. "Sie haben mich als Säugling auf ihrer Tempelschwelle gefunden, wie sie mir später erzählten. Meine echten Eltern kenne ich nicht. Als ich acht Jahre alt war, zogen Gaukler durchs Dorf, mit denen bin ich abgehauen, weil ich es im Tempel nicht mehr ausgehalten habe. Seither ziehe ich durch die Welt." Während ihrer Ausführungen schaute sie an Rajalind vorbei, entweder, weil sie den Erinnerungen nachspürte, welche diese Worte in ihr wach riefen, oder weil sie die Reaktion der Geweihten nicht sehen wollte.

Die legte Doratrava liebevoll mitfühlend ihre Hand auf den Unterarm. “Das kann ich verstehen. Ich bin auch im Tempel aufgewachsen, ich hatte zwar meine Mutter, doch wollte sie mir nie sagen, wer mein Vater war. Ich fand es erst später heraus.” An dieser Stelle seufzte sie selbst. “Und das wirst du bestimmt auch,” streifte sie zur Ermunterung der Tänzerin ihre eigenen Gefühle beiseite. “Wenn du es denn möchtest. Und selbst wenn du dafür zu jenem Tempel zurückkehrst, wo man dich aufgenommen hat, um zu erkennen, dass dort die sind, nach denen du dich sehnst. Seit du 8 warst sind viele Jahre vergangen. Überleg dir das doch mal! Hm?” Am Ende sah sie die andere aufmunternd an. “Unserer Gefühle sollten wir uns nicht schämen.”

Nun sah Doratrava die Geweihte doch an. “Ich schäme mich nicht”, erklärte sie mit fester Stimme, deren Zittern kaum merklich war. “Ich bereue auch nichts, zumindest nichts, was ich selbst getan habe.” Zumindest, was diese Sache anging. “Zum Tempel zurückgehen hätte aber keinen Sinn. Ich habe meine Zieheltern oft gefragt, wer meine richtigen Eltern sind und warum sie mich nicht wollten, aber sie konnten oder wollten mir nicht antworten, außer mit Gemeinplätzen. Ich danke dir für deine freundlichen Worte, aber leider wüsste ich nicht, wo ich anfangen sollte zu suchen.” Doch gerade jetzt, wo sie die Worte aussprach, kam ihr in den Sinn, dass das nicht stimmte. Warum musste sie ihre Zieheltern fragen? Ihr Aussehen war ungewöhnlich genug, und wenn zumindest eines ihrer Elternteile auch so wie sie ausgesehen hatte, dann hätte das doch jemandem auffallen müssen. Und wer auch immer sie auf die Tempelschwelle gelegt hatte, Mutter oder Vater, hatte zu diesem Zeitpunkt in Wildreigen sein müssen. Vielleicht war so jemand einem anderen Bewohner des Dorfes aufgefallen? Sie hatte noch nie daran gedacht, in dieser Richtung zu forschen. Vielleicht sollte sie es tun, bevor es zu spät war, auch wenn es wohl schwierig werden würde, jemanden zu finden, der sich noch an Besucher des Dorfes vor fast fünfundzwanzig Götterläufen erinnern konnte.

War da etwas in der hellhäutigen Tänzerin, das Zuversicht ausstrahlte? Zumindest verstand Rajalind es so und sie schmunzelte zufrieden. “Ich wünsche dir jedenfalls sehr, dass du deine leiblichen Eltern findest. Ich wünsche dir jedoch auch ein von Herzlichkeit und Liebe geprägtes Wiedersehen mit denen, die dir damals so etwas wie Eltern waren, als man dich hergab. Und wenn du dann feststellst, dass deine Liebe für sie völlig ausreichend ist, um in dir das Gefühl von Geliebtsein entstehen zu lassen, dann ist auch das von Richtigkeit! - hm, Karamelle für diese süßen Gedanken?” Lächelnd hob Rajalind Doratrava ihr Körbchen voller Naschzeug unter die Nase.

Doratrava runzelte leicht die Stirn, weil sie die Worte Rajalinds nicht ganz verstand. Ihre Liebe für ihre Zieheltern? Welche Liebe? Egal, sie meinte es bestimmt gut, und dafür war sie ihr auch dankbar. “Du hast mich zumindest auf eine Idee gebracht”, gab sie zurück, “und alles weitere wird sich fügen.” Als Rajalind ihr dann ihre Süßigkeiten unter die Nase hielt, nahm sie tatsächlich ein kleines Stück davon, obwohl sie sonst bei so etwas eher zurückhaltend war. Zu viele Süßigkeiten vertrugen sich nicht mit einer Karriere als Tänzerin und Akrobatin.

~*~

Gudekar war nach der stummen Zurechtweisung durch Bernhelm langsam an den Rand des Lagers geschlichen und stand nun im Hintergrund. Er blickte auf die Gruppe, die aufgrund seines Vorschlags hierher geführt wurde. Er sah Gefährten und Wegbegleiter auf der Suche nach dem Paktierer und einem Weg, das Herz der Nordmarken zu reparieren. Er sah Gäste, die er bereits vor zwei Jahren auf der Schweinsfolder Hochzeit getroffen hatte. Er sah aber auch ihm bis heute völlig fremde Menschen. Und er sah die beiden Frauen, denen sein Herz gehörte, die beiden Frauen, die er – wenn auch auf unterschiedliche Weise – liebte. Merle und Meta. Beide saßen dort, einsam, traurig. Weil sie beide Erwartungen an ihn hatten, die er nicht erfüllt hatte. Es schmerzte ihn, diese beiden Frauen so unglücklich zu sehen. Er ertrug es nicht, dass er die Ursache ihrer Traurigkeit war. Doch er konnte nicht beide glücklich machen. Er musste endlich für Klarheit sorgen. Er musste eine Entscheidung treffen. Das war er ihnen schuldig. Doch würde er eine der beiden glücklich machen, würde er gleichzeitig die andere ins Unglück stürzen. Doch der Magier musste es auch für sich selbst tun. Er wusste, dass es für ihn selbst befreiend sein würde, das Versteckspiel zu beenden. Nur noch zwei Tage, dachte er. Nach der Hochzeit seiner Schwester würde er Merle sagen, dass er mit Meta das Land verließ. Dass er Rahja den Vorzug vor Travia gab. Es war das Beste. Für alle.

Meta wusste nicht genau, zu wem sie gehen sollte. Zu sehr lag der Schatten der Zukunft auf ihrem Gemüt. Nachdem sie etwas gegrübelt hatte, wieder gemischt mit Ärger auf sich selbst, ging sie zu ihrem Geliebten, den sie, trotz aller Unterschiede, als ihren Mann betrachtete. Nüchtern betrachtet passten sie nicht zusammen, in der Realität ergänzten sie sich perfekt und glichen die Schwächen des anderen aus, ja, sie veränderten sich gegenseitig und wuchsen daran. Sie waren alleine und Meta konnte offen sprechen. „Na, Gudi. Es bedrückt dich, das sehe ich dir an. Warum auch immer, aber du sollst wissen, dass ich merke, dass dir die Entscheidung, die ich so lange für sicher und getroffen hielt, plötzlich schwer fällt. Sei bitte jetzt ehrlich zu mir. Was denkst du? Willst du den Bund morgen noch erneuern? Ich vertraue dir, aber du musst mir gegenüber ehrlich sein. Jetzt haben wir gerade Zeit.“

Gudekar blickte Meta überrascht an. Dann schlich sich ein Lächeln in seine Mundwinkel und er zog Meta aus dem Lichtschein, sodass sie vom Lagerfeuer aus nicht zu erkennen waren. Schnell gab er ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen. Dann legte er seine Arme auf ihre Schultern und sah ihr in die Augen. “Du willst Ehrlichkeit? Ja, du hast Ehrlichkeit verdient, genauso wie Merle sie verdient hat. Ich gestehe, es fällt mir nicht so leicht, Merle Lebewohl zu sagen, wie ich es mir ausgemalt habe. Es gibt zu viel, was uns verbindet. Es gab Gründe, warum ich sie damals geliebt habe. Und an diesen Gründen hat sich im Grunde nichts geändert. Und dennoch haben sich meine Gefühle gewandelt. Mein Herz gehört dir, und das werde ich dir morgen beweisen, wenn uns mein Vetter empfängt.”

Meta blieb ernst, nutzte aber die Gelegenheit, ihm durch das Haar zu streichen und kurz in seinen Augen zu versinken. „Alleine durch euer Kind wird sie immer ein Teil deines Lebens bleiben. Du hast meine Frage zu dem Bund morgen nicht beantwortet. Und gib mir mehr von deiner Ehrlichkeit. Wie weit wird die Liebe zu Merle gehen? Linny ist ein Freund, wie ein Bruder für mich, aber ich werde mich sicher nicht zu ihm legen oder ihn so vertraut streicheln, wie ihr es tut. Du spielst nicht den Ehemann, du fühlst noch echte Liebe. Als würdest du uns beide haben wollen. Das geht nicht, Gudi. Ich vertraue dir immer noch.” Kurz schwieg sie und flüsterte dann: “Wirst du mich heute Nacht wieder halten? Bei mir sein?“

“Ich weiß. Ich weiß. Dich zu halten bei Nacht, ist alles, was ich begehre! Darauf habe ich so lange gewartet. Und natürlich werden wir morgen unseren Bund erneuern. Das habe ich doch gesagt.” Er wunderte sich, dass Meta seine Worte nicht verstanden hatte. “Aber es schmerzt mich einfach, Merle das Herz zu brechen. Sie war mir immer eine gute Frau. Sie hat diesen Schmerz, den ich ihr zufügen werde, nicht verdient. Das heißt aber nicht, dass ich diese Fassade weiter aufrecht erhalten möchte, die ich seit zwei Götterläufen aufgebaut habe. Das würde ich auch nicht länger schaffen. Ich bin am Ende meiner Kräfte.”

Meta konnte nicht anders. Sie nahm Gudekar fest in den Arm und drückte ihn. „Ich weiß, wie schwer es gerade für dich jetzt ist. Aber du weißt, was du willst. Ich verstehe es selber nicht, doch Rahja hat uns verbunden. Ich werde dich heute halten, das soll dir Kraft geben. Und wenn es vorbei ist, werde ich auch wieder mehr so sein, wie du mich kennst. Es bedrückt mich einfach.“ Sie nahm seine Hand und verschränkte ihre Finger mit den seinen. „Bleib noch etwas, deine Nähe und das Gefühl deiner Haut, deine Augen und dein Geruch, den ich so vermisse, das hilft mir. Ich fühle mich ja auch schuldig und sie tut mir leid. Aber schau, fast jeder hat sie gern. Sie wird ihren Weg finden. Mich werden sie für alles verantwortlich machen, aber das ist mir egal. Wir beginnen neu, lernen und Thymon ist so ein lieber Mann, du kannst in Linnartstein mit Piri ein Heilzentrum machen, wenn es an der Zeit ist. Da ihr zu zweit seid, wirst du auch weiterhin deinen anderen Verpflichtung nachkommen können.“

Gudekar zog Meta näher an sich heran. “Es tut mir leid, was ich dir all die Zeit zugemutet habe. Und ich danke dir für deine Geduld und dein Vertrauen!”

Die Ritterin lächelte verschmitzt, fast so wie er sie kannte. „Du bist stark, das schaffst du. Außerdem hast du ja mich, ich beschütze dich. Heute Nacht entspannst du dich einfach und den Bund morgen, da weiß ich schon, wie wir es machen, dass es für deinen Körper und deine Seele gut ist.“ Sie stupste ihre Nase an seine und strich mit der verbliebenen Hand sein Haar wieder glatt. „Wenn du wieder bei Kräften bist, freue ich mich auf eine richtig schöne Lichtkugel.“

Der Magier lächelte zufrieden. “Komm, lass uns zurück zu den anderen gehen, bevor wir von irgendjemandem vermisst werden.”

„Ja, lass uns gehen.“ Sie drückte nochmal seine Hand und beugte sich zu Gudekar. „Du bist oft so ein Depp, du tust mir weh und ich weiß, wie schwer das für dich ist. Aber...“ Noch vor wenigen Götterläufen hatte sie nie daran gedacht, so etwas ernsthaft zu sagen, es war, als würde der Magier einen Weg zu ihren Gefühlen finden. „Gudekar, ich liebe dich. Und so, wie es zwischen uns ist, nur dich. Das mit Linny ist wie das Gefühl zu einem Bruder.“

~*~

Merle nahm die Atmosphäre der nächtlichen Natur andächtig in sich auf - das gemütliche Knacken und Knistern des Lagerfeuers, den warm-orangen Lichtschein auf den Gesichtern, das leise Plätschern des Wasserfalls im Hintergrund, das sich mit den harmonischen Klängen von Corwyns Laute vermischte. Die Geschichte von Jost und seiner Queste weckte unbestimmte Sehnsüchte in ihr und ließ vor ihrem inneren Auge Ebenen aus Eis und Sand, dampfende Wälder und das unendlich große Perlenmeer zu diffusem Leben erwachen. Es war ein so wunderschöner, stimmungsvoller Moment, dass Merle das Bedürfnis verspürte, die Hand eines vertrauten Menschen zu drücken, ihren Kopf an jemandes Schulter zu legen… Doch hatte sie Angst, dass Gudekar, würde sie sich ihm jetzt nähern, wieder kalt und abweisend wäre. Es war bei ihm nie klar, ob sie ihn in einem guten, freundlichen Moment erwischte oder… nicht. Die gereizte Art, mit der er Leodegars Geschichte unterbrach, deutete nicht darauf hin, dass er sich gerade in besonders guter Stimmung befand. Was war aus dem in sich ruhenden, gütigen jungen Mann geworden, in den sie sich einst verliebt hatte - warum war da jetzt dieses unstete Flackern in seinen Augen - so viel Abgehetztheit, Ruhelosigkeit, Unzufriedenheit mit sich und anderen, so viel… Wut? Was konnte sie tun, damit er wieder zu sich selbst fand? Als Merle den Blick über die Gesichter der anderen streifen ließ, von denen sie einige kennengelernt hatte; Doratrava, Vinja, Nivard, Tsalinde… fragte sie sich, ob sie deren Gesellschaft suchen sollte, doch machte sich in ihrem Inneren wieder das alte, beklommene Gefühl von Scheu und Gehemmtheit breit. Bestimmt würde sie den Leuten, so nett diese auch waren, irgendwann lästig werden, wenn sie sich ständig in ihre Nähe und ihre privaten Gespräche drängte. Merle schlang den Mantel enger um ihren schlanken Körper und hielt sich, auf einem einzelnen Baumstumpf sitzend, an ihrem heißen Becher Glühbier fest.

Nivard hatte sich inzwischen ebenfalls ein Glühbier geholt und vorsichtig die ersten, wärmenden Schlucke zu sich genommen. Nun sah er sich um - überall hatten sich kleinere Grüppchen gebildet. Sollte er sich zu einem dazugesellen? Eigentlich stand ihm gerade nicht der Sinn nach unverfänglicher Konversation. Sein unschlüssiger Blick blieb an Merle hängen, die ganz alleine, in ihren Umhang geschlungen am Lagerfeuer saß, und dabei irgendwie... ja, beinahe verloren wirkte. Er zögerte kurz. Sollte er sich bereits jetzt, nahezu unmittelbar nach seinem Gespräch mit Gudekar, zu Merle gesellen. Was würde Gudekar nur denken? Würde er glauben, dass er brühwarm alles weitererzählte? Das letzte was er wollte, war, sich zwischen das Paar zu stellen. Andererseits schien der Gesprächsfaden zwischen diesem bereits recht ausgedünnt. Konnte er vielleicht vermitteln? Was würde Elvrun, die in solchen Dingen viel bewanderter, viel sicherer war als er, der doch nur die Schwertkunst beherrschte, tun, fragte er sich. Beim Gedanken an seine Frau wurde ihm warm ums Herz, und er gab sich schließlich einen Ruck. "Verzeiht bitte die Störung!" bat er Merle höflich um Entschuldigung. "Darf ich mich ein weiteres Mal zu Euch gesellen?"

Merle schreckte ein bisschen aus ihren kreisenden Gedanken heraus, dann wandelte sich ihre versunkene Miene zu einem warmen, herzlichen Lächeln. Sie war schlecht darin, den Kontakt zu anderen Menschen zu suchen und immer dankbar, wenn andere den ersten Schritt machten. "Natürlich, Herr von Tannenfels, Ihr stört doch nicht!" Sie wies auf einen freien Baumstumpf in der Nähe ihres Platzes. "Habt Ihr schon ein Madabällchen probiert?”

"Nein. Ehrlich gesagt noch nicht. Könnt Ihr sie denn empfehlen?" Nivards Frage sollte unverfänglich wirken, klang aber brüchig, denn es war ihm, als ob eine dürre Hand seine Kehle zuschnürte. Zu Beginn der Wanderung hatte er noch befürchtet, dass der Schatten Pruchs und seines dämonischen Herren von außen und sehr handfest auf sie fallen könnte. Dass die wieder Travia gerichteten Kräfte bereits im Inneren seines Freundes Gudekar schwärten und gegen Merle, diese liebe Frau wirkten, traf ihn aber noch unvermittelter und härter, als es ein Angriff hätte können. Und dagegen war kein Schwert geschmiedet, keine Rüstung bot Schutz...

Nivard musste schlucken und wischte rasch mit der Hand durch die Augen. "Verzeiht, ich bin die letzten Schritte ungeschickt durch die Rauchfahne getreten", hustete er den Frosch aus seinem Hals. Er wagte kaum zu hoffen, dass Merle nicht mitbekam, was für ein furchtbar schlechter Lügner er war. Er deutete auf sein Glühbier. "Mir stand zunächst stärker der Sinn nach etwas innerer Wärme in dieser kalten Nacht, vielleicht kommt der Appetit auf etwas Süßes später."

Sie lächelte schwach und hob zuprostend ihren eigenen Becher mit Glühbier. “Geht mir genauso. Irgendwie hab ich keinen Hunger gerade... Wobei Luzias Bällchen wirklich lecker sind.” Nach einem weiteren Schluck blickte sie eine Weile schwermütig in das gleißende Herz des Feuers und lauschte dessen beruhigendem Knacken und Knistern. Merle fühlte sich müde… nicht körperlich ermattet von der Wanderung, sondern seelisch ausgelaugt… Jedes Gespräch mit Gudekar schien ihr etwas Kraft zu nehmen; als würde sie wieder und wieder gegen eine harte, undurchdringliche Mauer anrennen müssen. Nach einer Weile schweigenden Grübelns drehte sie ihr blasses, vom Feuerschein erleuchtetes Antlitz erneut zu Nivard. “Danke, dass Ihr Euch zu mir gesetzt habt.”

"Nicht doch...." schüttelte Nivard den Kopf. "Es ist schön, neben Euch zu sitzen und einfach nur in die Flammen zu sehen." Er wollte nicht und fand es falsch, dass Merle sich ihm gegenüber dankesschuldig fühlte. Nachdem was er vor ihrer Ankunft von Gudekar gehört hatte, umso weniger. Leise flüsternd fuhr er fort: "Für eine nächtliche Wanderung im Walde sind schon so viele Worte gesprochen worden. Nicht nur die Tiere werden jetzt einen großen Bogen um uns machen, auch die Gedanken kreisen und irren von allem Gehörten weit um die eigene Mitte. Wenigstens meine. Da tut es gut, beisammen zu sein und etwas zur Ruhe zu kommen." In der Tat fühlte er in diesem Moment mehr Verbundenheit als in all den Gesprächen zuvor.

Sie nickte verstehend und schwieg ebenfalls eine Weile, während sie den Geräuschen des verbrennenden Holzes zuhörte und langsam an ihrem Becher nippte. “Meine Gedanken kreisen auch…”, sagte sie schließlich, sehr leise. “Sie kreisen ohnehin immer viel zu viel. Dann wünsche ich mir, einfach nur zu fühlen und weniger zu denken. Aber ich kann es schlecht abstellen.”

"Das kenne ich." seufzte Nivard. "Leider sind aber selbst die eigenen Gefühle oftmals alles andere als einfach zu verstehen, manchmal sogar irreführend." Gerade in diesem Moment stieb eine Lohe laut knisternd in die Höhe. Nachdenklich schaute Nivard dieser nach, wie sie in den Nachthimmel empor stieg, um dort nach und nach zu vergehen. Dann ging sein Blick erst zurück in das nun wieder ruhig brennende Feuer, ehe er Merle mit einem ernsten und zugleich warmen Lächeln ansah. "Ich glaube, dass es am besten hilft, die kreisenden Gedanken mit jemandem anderen zu teilen. Sobald sie einmal aus der eigenen inneren Echokammer heraus sind, durch jemanden, der Euch versteht, gespiegelt werden, gewinnen sie eigentlich immer an Klarheit, und in Euch wird es ruhiger. So ruhig, dass Ihr vielleicht sogar Eure Gefühle wieder hört und versteht."

Sie nickte verstehend. "Ja, da habt Ihr recht... In den letzten zwei Götterläufen hab ich zu viel Zeit grübelnd in meiner Kammer verbracht. Allein oder mit Lulu. Es tut gut, durch die Hochzeit so viele neue Leute kennenzulernen. Auch wenn’s mir schwerfällt, auf sie zuzugehen..." Abwesend blickte sie in die Runde der vom Feuerschein erleuchteten Gesichter und lächelte leicht in Tsalindes Richtung, senkte den Blick und starrte wieder längere Zeit in ihren Becher hinein. “Ich hab gesehen, dass Ihr vorhin mit Gudekar geredet habt”, sprach sie schließlich mit angespannter, fast tonloser Stimme doch das an, was ihr auf der Seele brannte. Sie biss sich auf die Unterlippe und zögerte, weil sie die Antwort eigentlich nicht hören wollte, dann schaute sie Nivard ernst in die Augen. “Er geht wirklich nach Tälerort, oder?”

Nivard zögerte, doch dann nickte er, mit schwerem Herzen. "Ich fürchte, ja. Eine falsche Entscheidung, aus den falschen Gründen. Ich habe versucht, zu ihm durchzudringen und ihn von seinem Irrweg abzubringen. Aber ich glaube, er hat sich bereits zu sehr, zu tief im Dickicht verrannt." Betreten sah er Merle an. "Es bräuchte schon ein sehr helles Signalfeuer, ihm wieder den rechten Weg zu weisen, und selbst das wird es, um ehrlich zu sein, schwer haben." Es schmerzte ihn, so wenig Hoffnung vermitteln zu können, doch auch wenn er nicht die ganze Wahrheit sagen durfte, so wollte er Merle auf keinen Fall anlügen - das hatte sie nicht verdient.

"Aber selbst wenn wenig Hoffnung besteht, so will ich nicht glauben, dass da gar keine ist. Welches Licht könnte heller strahlen als Frau und Kind, als Ihr und Lulu? Vielleicht ist dieses Fest, an dem Ihr und Gudekar Euch begegnet, ein Geschenk des Schicksals, eine Gelegenheit für Euch, von ihm gesehen und gehört zu werden. Und Ihr habt hier Menschen, die Euch helfen könnten, wenn Ihr es wollt. Beiden Rahjani, Rajalind und Rahjel, vertraue ich in höchstem Maße. Vielleicht können sie vermitteln, Euch helfen, Gudekar zu erreichen und zur Vernunft zu bringen?"

Nivard erschrak innerlich ein wenig über sein impulsives Vorpreschen. Trieb er Merle am Ende in eine verlorene Schlacht und damit nur in noch mehr Leid und Schmerz? Andererseits wäre aufgeben zu einfach, und würde sie ebenso wie er nicht ewig hadern, nicht alles versucht zu haben? Jedenfalls wollte er sie spüren lassen, dass sie hier nicht alleine stand. Aufmunternd lächelte er sie an: "Und auch ich werde alles in meiner Macht stehende tun, Euch zu helfen."

Merles Herz sank und sie merkte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Auch wenn sie sich den ganzen Tag über eingeredet hatte, damit leben zu können, dass Gudekar wegging - sogar eigene Reisepläne geschmiedet hatte, um die lange Wartezeit bis zu seiner Rückkehr zu überbrücken… Nun, von Nivard bestätigt, klang es hart, real und unabwendbar. Vielleicht hatte sie sich doch zu große Hoffnungen gemacht, dass Nivard seinem Gefährten die Sache ausreden würde. Doch es war offenbar nichts daran zu ändern - Gudekar würde sie erneut für lange, sehr lange Zeit allein lassen. Und sie würde wieder auf ihren Mann warten, wie sie es die letzten zwei Götterläufe so oft getan hätte. Was blieb ihr sonst übrig? Sie seufzte schmerzvoll und schaute Nivard resigniert an; in ihren braunen Augen sammelten sich Tränen. "Dann muss ich Lulu wohl weiterhin allein aufziehen… Na ja, wir haben es bisher auch geschafft… Und irgendwann wird seine Mission ihn auch wieder nach Hause führen", murmelte sie mit erstickter Stimme, mehr um sich selbst zu trösten. "Aber besser, Ihr bringt mir vorsichtshalber schon mal den 'Schweinsgalopp' bei, was?" Sie zwang sich zu einem bemüht-heiteren Lächeln.

Nivard zerriss es schier das Herz, als er die Tränen in Merles Augen schimmern sah - daran vermochte auch das nachgeschickte Lächeln nichts zu ändern. Wäre er doch nur Elvrun oder Relindis und nicht er selbst, die beiden könnten die Ärmste einfach in die Arme nehmen und damit vielleicht die Sache selbst nicht besser machen, aber wenigstens Trost spenden. So legte er nur seine Hand - sie war ganz warm - sachte auf die Merles, darauf hoffend, dass sie auch in dieser Geste spürte, nicht allein zu sein. Wieder waren seine Kehle und sein Mund ganz trocken. "Oh Merle." sprach er sie nun ganz vertraulich an. "Es tut mir so leid, dass ich keine bessere Kunde für Euch hatte. Aber ich bitte Euch, rüstet Euch zwar für das Äußerste, aber gebt noch nicht auf. Gudekar mag festen Willens sein, nach Tälerort zu verschwinden. Aber noch ist er nicht dort, noch nicht einmal weg. Vielleicht gelingt es uns noch, ihn zurück auf den rechten Weg zu bringen."

Merle registrierte mit Dankbarkeit die tröstende Wärme von Nivards Hand. Sie drehte ihre eigene Hand sachte um und drückte mit ihrer Handfläche kurz seine Fingerspitzen. “Es tut einfach weh, dass er uns so lange allein lassen will”, brachte sie heraus. “Vor allem, da er…”, Merle zögerte, einem fremden Mann zu viel Persönliches zu erzählen, “...also, auch wenn er hier ist, ist er fast immer so… distanziert. Er scheint manchmal fast durch mich hindurchzusehen...” Sie schluckte schmerzhaft und blickte zu Boden, um die Tränen zu unterdrücken. Trotz allem tat es gut, mit jemandem zu reden und zu Nivard hatte sie auf Anhieb Vertrauen gefasst. Dass er ein Außenstehender war, machte es irgendwie leichter, die Dinge auszusprechen als gegenüber Ciala oder einem anderen von Gudekars Familienmitgliedern. “Es ist fast so, als wollte er gar keine Zeit mit uns verbringen…”, fügte sie mit schwacher, belegter Stimme hinzu und strich sich verlegen eine lose Haarsträhne hinters Ohr. “Aber… ich meine, wir sind doch seine Familie?” Für eine Weile kaute sie nachdenklich auf ihrer Unterlippe, als erneut diese bedrückende Ahnung in ihr aufstieg, die sie stets zu verdrängen versuchte. Stieß es Gudekar ab, dass ihr Körper nach der Schwangerschaft runder und weicher geworden war? Vielleicht konnte er, nachdem er bei Liudbirgs Geburt dabei gewesen war, das Gesehene nicht vergessen? Hatte er sie deshalb nicht mehr angerührt, bis auf die zwei schönen Nächte vor einem Götterlauf? Sie presste angespannt die Lippen aufeinander, während sie weiter in die heißen Flammen starrte, in der unbestimmten Hoffnung, das Feuer würde die Scham und Demütigung wegbrennen, die sie bei dem Gedanken empfand. War sie für Gudekar hässlich und abstoßend geworden? “Vielleicht werde ich Euren Rat beherzigen und mit einem Rahjageweihten sprechen”, murmelte sie tonlos, ohne Nivard dabei anzuschauen.

Nivard hörte Merle still und ganz aufmerksam zu. Halb beklommen, halb aber auch erleichtert vernahm er, dass sie offenbar bereits den Kern der Dinge erahnte, ja spüren konnte. So würde sie beim Eintreten des schlimmsten und leider nicht unwahrscheinlichsten Falls wenigtens nicht aus allen Wolken fallen. Aber soweit war es noch nicht. "Ja, ich glaube wirklich, dass das helfen könnte." ermunterte er sie. "Vielleicht weiß einer oder eine der Geweihten Rat, wie Gudekar die Augen geöffnet werden können. Dass er - rechtzeitig - denn irgendwann wird er es zweifellos - erkennt und sich besinnt, was für eine wohlgeratene Tochter... und, wenn ich mir erlauben darf, so offen zu sprechen, was für eine wundervolle Frau die Götter ihm mit Euch zugedacht haben. Wahrscheinlich wird ihre Gnaden dann auch mit Gudekar oder sogar mit Euch gemeinsam sprechen wollen - und wenn das geschieht, besteht echte Hoffnung."

"Meint Ihr wirklich?" fragte sie leise. "Es wäre schön... Obwohl ich nicht weiß, ob er sich dazu überreden lässt. Also, gemeinsam zu dem Rahjaschrein zu gehen. Früher...", sie nahm einen weiteren Schluck vom Glühbier und seufzte, "...früher hat er mir oft sein Herz ausgeschüttet und ich ihm meines. Wir haben manchmal nächtelang miteinander geflüstert und unsere tiefsten Gedanken und Gefühle ausgetauscht", erzählte sie mit sanfter, warmer Stimme. "Aber jetzt... Es ist fast, als würde er immer ein kleines Stückchen an mir vorbeireden, mir immer wieder ausweichen... Als würde er gar nicht hören wollen, was ich sage. Ach, ich wünschte, es wäre wieder wie damals..." Sie spielte mit gerunzelter Stirn an ihren Zöpfen, bis sie den Kopf hob und Nivard warm und offen in die Augen blickte. "Ihr seid so lieb, Herr Nivard... hört Euch so geduldig mein Gejammer und Geklage an. Dabei habt Ihr mit Sicherheit wichtigere Pflichten und Aufgaben - Frevler und Dämonen und Bösewichte jagen, nicht wahr?" Nivard schüttelte nur ganz sachte sein Haupt zu Merles letzten Worten, und sein warmherziges Lächeln verdeutlichte, dass es in diesem Moment nichts wichtigeres gab, als einfach nur für sie dazusein und zuzuhören. Noch einmal drückte sie dankbar seine Hand, während sie die andere sanft auf seinen Oberarm legte. Ihr Lächeln wirkte nun weniger gezwungen, es schien von einem hoffnungsvollen, optimistischen Licht erhellt. "Ich hoffe so sehr, dass ich mit Travias Gnade und Rahjas Segen meinen Mann wieder erreichen kann! Was meint Ihr, würdet Ihr empfehlen, eher mit Seiner Gnaden Rahjel oder mit Ihrer Gnaden Rajalind zu sprechen? Rajalind hatte ich schon ein paar Mal bei verschiedenen Gelegenheiten in Albenhus getroffen, aber bisher nicht wirklich näher kennengelernt. Ihr sagtet ja, dass Ihr beide gut kennt?"

"Über beide kann ich nur Gutes berichten." konnte Nivard wenigstens in dieser Hinsicht guten Gewissens Mut zusprechen. Er freute sich, dass Merle tatsächlich versuchen wollte, mit Rahja an ihrer Seite die Geschicke wieder zu ihren Gunsten zu ordnen. "Ihre Gnaden Rajalind ist in unserer beider Alter und mir seit unserer ersten Begegnung eine gute Freundin geworden. Ich weiß, wie wichtig ihr Familie ist und wie sehr sie gerade daher auch Eure Sorgen nachvollziehen können, Euch verstehen wird und Euch beiden sicher bereitwillig helfen will. Auch wenn ihre größte Hingabe den schönen Künsten gilt, ist sie als Geweihte der schönen Göttin doch auch mit den Freuden und Fährnissen der Liebe vertraut, will ich meinen. Mit seiner Gnaden Rahjel bin ich dagegen über meine Gemahlin verschwägert..." Nivard dachte kurz nach. "Ihr aber, glaube ich auch... oder? Ist er nicht sogar hier, weil er mit Eurem Schwiegervater verwandt ist? Rahjel ist jedenfalls schon weit herumgekommen und hat schon vielen Paaren geholfen, erstmalig oder erneut zueinander zu finden. Er weiß sicher auch in Euer beider Situation Rat und Hilfe, und vielleicht vermag er Gudekar als halber oder viertel von Weissenquell sogar besser zu erreichen als Rajalind."

Sie nickte Nivard entschlossen und sichtlich ermutigt zu. "Ich werde gleich morgen zu dem Rahjaschrein in der Brauerei gehen. Mir persönlich würde es vielleicht mehr liegen, mit einer Frau über ähm... private Sachen zu reden. Aber Ihr habt Recht, Seine Gnaden Rahjel mag eher zu Gudekar durchdringen. So von Mann zu Mann mit ihm sprechen." Sie errötete leicht und schob ihre Zöpfe auf den Rücken, um nicht mehr nervös daran herumzufummeln. "Es ist tröstlich, eine Art Plan zu haben… selbst etwas tun zu können, statt nur abzuwarten, was Gudekar macht. Den Rat der Geweihten werde ich auf jeden Fall sehr ernst nehmen und mich demütig dem Schutz der Götter anvertrauen." Nivard nickte und atmete dabei tief ein und aus - es war ihm anzusehen, dass er Merle gerade auch in diesem Aspekt nur allzu gut verstehen konnte. Fromm und mit einem befreiten Lächeln erwiderte sie Nivards Blick. "Es tut unheimlich gut, mit Euch zu sprechen. Wisst Ihr, Ihr habt mir mehr geholfen, als Ihr Euch vielleicht vorstellen könnt."

Nivard drückte Merles Hand. "Wirklich? Dann freut es mich, von ganzem Herzen. Es würde mich selbst sehr glücklich machen”, er machte eine ganz kurze Pause, bevor er die vertrauliche Anrede wählte, “Merle, Euch glücklich an der Seite Gudekars aus diesen Tagen hier hervorgehen zu sehen. Was auch immer ich dazu beitragen kann, will ich tun. Und wenn Ihr einfach nur ein zuhörendes Ohr braucht, so bin ich jederzeit für Euch da."

"Nivard... danke", sagte sie schlicht und starrte etwas verlegen in ihren inzwischen leeren Becher. Nach einem Moment des Schweigens straffte sie sich sichtlich; ihr Blick ging zu der Schüssel auf dem Tisch. "Inzwischen hätte ich tatsächlich etwas Appetit auf diese Madabällchen. Soll ich Euch einen Stecken mit Teig mitbringen? Oder mögt Ihr noch ein Glühbier?"

"Ohja, gerne probiere ich jetzt so ein Madabällchen, vielen Dank!” war nun auch Nivard dafür zu gewinnen. “Wenn Ihr mir eines mitbrächtet und mir vorher Euren Becher gebt, besorge ich uns beiden noch zwei Glühbier, gegen die Kälte."

~*~

Imelda nutzte die Gelegenheit, um in dieser gemütlichen Runde nun endlich ihrer guten Freundin, der Angroschna Murloschtaxa, Gesellschaft zu leisten. Bewaffnet mit warmem Bier und Madabällchen setzte sie sich zum Feuer neben Murla. "Ein herrlicher Abend, oder sollte ich sagen, eine herrliche Nacht? Ich habe vorhin bereits deinen lieben Mann getroffen! Wie geht es dir?"

“Aha!” murrte Murla. “Er verbringt seinen Tag also viel lieber mit Dir als mit seiner Frau.”

Dann aber konnte sie ihren gespielten Ärger auch nicht länger aufrechthalten und fuhr lächelnd fort: “Ihr habt aber ganz schön gebechert, ich glaube er liegt jetzt im Zelt und schnarcht das ganze Dorf zusammen.

Und um auf Deine Frage zurück zu kommen, mir geht es gut. Es klingt zwar für eine Angroschna komisch, aber ich finde es herrlich mal wieder aus der Binge heraus zu kommen und ein wenig zu reisen. Zumal wir hier im Dorf viele alte Bekannte getroffen haben.

Und es gibt auch hier genug zu essen und zu trinken ”, fügte sie noch hinzu und schob sich mit der Rechten ein Madabällchen  in den Mund, um es anschließend mit etwas von dem warmen Glühbier hinunter zu spülen.

Bei Murlas erst so grimmiger Begrüßung bekam Imelda einen kleinen Schreck - vermutlich, weil sie den ganzen Tag über Metas Ehebruch mit Gudekar grübelte - musste dann aber erleichtert auflachen und schloss Murla strahlend in die Arme. “Ja, ganz unschuldig bin ich daran wohl nicht … Wobei sie schon am Trinken waren, als ich dazu kam. Und als ich die Herren verließ, war auch noch Bier da. Was sie gebechert haben, nachdem ich weg war, dafür übernehme ich keine Verantwortung!” Auch Imelda genoss mit seliger Miene einen weiteren Schluck von dem Glühbier. “Und du hast Recht - Essen und Trinken sind hervorragend hier! Dabei hat das eigentliche Hochzeitsfest ja noch nicht mal angefangen …” Während sie das nächstes Madabällchen kaute, blickte die Ingrageweihte interessiert zu Murla. “Macht ihr beiden eigentlich morgen bei der Jagd mit oder lasst ihr’s ruhig angehen?”

“Ich mache mir nicht viel aus der Jagd”, antwortete Murla nachdem sie noch einen Schluck des angenehm heißen Bieres getrunken hatte. “Aber Borix ist schon seitdem wir die Einladung bekommen haben, dabei seine Gandrasch zu putzen und zu ölen, damit er bei der Jagd auch einen guten Treffer landet.

Und was machst Du?”

“Erstmal lange ausschlafen!”, rief Imelda begeistert. “Und dann frühstücken. Im Anschluss schreibe ich mal wieder meinem Bruder, über alles, was sich bisher zugetragen hat. Und dann will ich mit Meister Limrog schmieden. Ich bin mir sicher, dass ich von ihm das eine oder andere lernen kann.” Sie blickte zu Murla. “Hast du denn schon Pläne für morgen?”

Murla schüttelte den Kopf. “Nein, noch habe ich nichts geplant. Ich werde wohl ein wenig durch das Dorf schlendern und alte Bekanntschaften auffrischen.

Vielleicht werde ich mal schauen, wie es Mika geht, heute war noch nicht die Zeit und die Gelegenheit dazu.

Und ich bin mir sicher, dass Meister Limrog Dir noch etwas beibringen kann. Es ist ein guter Schmied - zumindest was die Dinge betrifft, die hier gebraucht werden. Also ein Schmied für alle Fälle.”

“Das glaube ich gerne und ich bin schon auf seine Schmiede gespannt.” Die Hadingerin naschte von dem Madabällchen und nahm einen Schluck vom wärmenden Glühbier. “Herrlich, nicht wahr? Meinst du, ich sollte etwas beim Feuer nachlegen? Es soll ja auch gut wärmen und ordentlich brennen.”

“Ach, lass gut sein”, meinte Murla schon ein wenig bierselig. “Du bist Gast, da können die anderen für das Feuer sorgen.”

"Ach was ...", winkte Imelda belustigt ab, nahm einen besonders großen Holzscheit zur Hand und begann damit, in dem Feuer herumzustochern. "Schau', das Feuer brennt auch viel besser, wenn man dieses Stück Glut und diesen Scheit näher zusammenschiebt und dann diesen hier oben drauf packt!" Stolz lächelte sie zu Murla. "Das brennt gleich viel besser, was?", behauptete sie.

Murla nickte bestätigend und kaute noch ein wenig auf ihrem Madabällchen.

~*~

Tsalinde und Lys saßen nahe beim Feuer, aßen Madabällchen und tranken das warme Bier. Beide genossen die gemeinsame Zeit und sahen schweigend, aber dicht aneinander gekuschelt in die Flammen des knisternden Feuers.

~*~

Vinja liebte diese Art von Geschichten. Mit großen Augen und gespitzten Ohren lauschte sie dem romantischen Bericht. Sie träumte sich an die Seite des tragischen Helden und trank mit ihm aus der magischen Quelle.

„Was meint Ihr, Herr Bernhelm, mit einer Tochter Firuns? Einer Geweihten? Vielleicht ist das weiße Reh ein lang verlorener Angehöriger des Hauses Weissenquell - verwandelt und verdammt, sein Leben durch die Wälder zu streifen, um nur von Zeit zu Zeit einen Blick auf das eigene Blut zu werfen?“

Bernhelm lächelte Vinja an. “Wulfhelm sprach von der jungen Dame Mika, der jüngsten Tochter seiner Wohlgeboren Friedewald. Mika folgt seit einem Götterlauf seiner Gnaden Firumar und möchte einst selbst die Weihe erlangen. Alles andere ist Spekulation.”

„Darf man da nicht spekulieren? So ein Tier, das ist doch nicht - üblich? Meint ihr, dass Mika nunmehr den Pfad des Eisigen beschreitet, ändert etwas an diesen alten Geschichten?“

“Ich kann nur sagen, dass dieses Reh etwa zu jener Zeit aufgetaucht ist, als sich seine Gnaden der jungen Weissenquellerin angenommen hat. Das kann, in meinen Augen, kein Zufall sein.” Bernhelm war sich sicher, dass dieses Reh ein Zeichen war und dass man es nicht jagen durfte.

"Ach, so ist das also! Das ist ja so faszinierend", säuselte Vinja. "Und was sagt Mika dazu? Habt ihr sie schon gefragt? Vielleicht hat sich der Herr FIRun ihr offenbart. Jagen sollte man sowieso kein Lebewesen. Schenkt ihm lieber Liebe und Zuneigung und ihr bekommt so viel mehr zurück."

Bernhelm stieß ein tiefes, brummendes, aber freundliches Lachen aus. “Was könnte uns ein Keiler besseres geben, als einen ordentlichen Schinken? Wisst Ihr, Firun hat uns manche Tiere geschickt, geschenkt, damit sie uns ihre Gaben geben. Und dazu müssen wir nun einmal auf die Jagd gehen. Und was die junge Dame angeht, ich weiß nicht, ob sie das Reh schon gesehen hat. Sie war ja seither nicht mehr in Lützeltal.”

Jetzt war es an Vinja, sanft und freundlich zu lachen. „Das heißt noch lange nicht, dass sie davon nichts weiß. So mancher Geweihter wird von seinem Gott mit der Gabe der Hellsicht beschenkt.“

“Hm, wenn das so ist, sollten wir Mika fragen, wenn wir sie sehen.” Bernhelm wirkte nicht besonders überzeugt.

~*~

Madas Licht

Die Gesellschaft saß noch immer am Lagerfeuer, backte Madabällchen am Stock, wärmte sich am Glühbier, lauschte den Klängen des Barden oder unterhielt sich angeregt über das Erlebte und Gehörte, als die Umgebung spürbar heller wurde. Eine Lücke hatte sich in der Wolkendecke aufgetan und das volle Madamal schien auf die Lichtung. Das Licht fiel auch auf den Weiher und erstmals konnte man die Quelle in ihrer vollen Pracht sehen. Am jenseitigen Ufer erhob sich eine etwa zehn Schritt hohe Felswand aus Kalkstein, ein ungewöhnliches Gestein für diesen Landstrich. Das Licht des Madamals ließ den Felsen weiß leuchten und das Gestein schien zu funkeln. Murla war sich sicher, dass das Glitzern von winzigen Bergkristalleinschlüssen in dem Fels ausging, doch für alle, die sich nicht mit Mineralogie auskannten, musste es wie ein magisches Funkeln gewirkt haben. Etwas oberhalb der Mitte der Felswand öffnete sich ein schmaler Spalt, aus dem sich ein kleiner, rauschender Wasserfall in den Weiher ergoss. Ebenso wie die Felswand glitzerte auch die das Madalicht reflektierende Wasseroberfläche in einem leuchtenden Weiß.

Am anderen Ufer des Weihers war eine Bewegung zu sehen. Aus dem Gebüsch trat vorsichtig das weiße Reh hervor und blickte zu der Gruppe auf der Lichtung. Langsam näherte es sich dem Ufer. Hinter der Gischt des Wasserfalls war das Tier nur schemenhaft zu erkennen, doch leuchtete auch das weiße Fell des Tieres im Licht des Madamals, das nun mehr wie eine Nebelgestalt denn wie ein Tier aus Fleisch und Blut wirkte. Am Rand des Weihers angekommen, blickte das Tier noch einmal über das Wasser zu den Leuten, die dort lagerten. Dann spreizte es leicht seine Beine und senkte den Kopf, um aus dem See zu trinken. Nachdem es seinen Durst gestillt hatte, drehte es sich um und verschwand flink im Wald.

Doratrava fühlte sich seltsam berührt, als der See unter dem Schein des Madamals erstrahlte. Fast ohne nachzudenken begann sie sich zu entkleiden, nur ganz kurz ging ihr durch den Kopf, dass das vielleicht unschicklich war, doch diese Bedenken verflüchtigten sich gleich wieder.

Als sie in das eiskalte Wasser glitt, war das zuerst wie ein Schock, doch die Gauklerin war es gewöhnt, sich auf Reisen in kalten Gebirgsbächen zu waschen, insofern steckte sei das weg, ohne sich groß beeindrucken zu lassen. Wie ein weißer Fisch glitt sie durch das Wasser, und als sie die Mitte des Sees erreicht hatte, kam ihr der Gedanke, sie könne versuchen, seinen Grund zu erreichen, allzu tief konnte er schließlich nicht sein. Also holte sie noch einmal tief Luft, dann stieß sie senkrecht nach unten - und war fast überrascht, den Grund schon nach etwas über einem Schritt zu erreichen. Prustend und lachend tauchte sie wieder auf und stellte sich auf die Füße, das Wasser reichte ihr gerade mal bis unter die Brüste. Und während die nasse Kälte langsam ihre Glieder taub werden ließ, war sie sich sehr bewusst, dass sie den anderen vielleicht wie eine Flussfee erscheinen musste, mit ihrer zum Licht des Madamals passenden weißen Haut, den nassen weißen Haaren und den spitzen Ohren.

Der Anconiter schritt langsam und wortlos auf das Seeufer zu. Wie in Trance legte er den Mantel ab, zog er seine Stiefel aus und watete knietief in das Wasser. Dort füllte er seinen Krug, den er zuvor ausgeschüttet hatte, mit dem glitzernden Wasser und trank davon.

Auch Gudekars Neffe, Morgan von Weissenquell, ging mit staunendem Blick auf das Seeufer zu. Doch im Gegensatz zu seinem Onkel wagte Morgan es nicht, in das Wasser zu treten. Am Ufer hockte er sich hin und prüfte zunächst die Temperatur des Wassers. Dann entschied er sich, lediglich seinen Becher mit etwas Wasser zu füllen und vorsichtig davon zu trinken.

„Schaut, das wunderschöne Reh ist wieder aufgetaucht!“, deutete Vinja auf das faszinierende Tier. Die Szene war surreal, doch war die junge Frau vom Anblick ganz gefangen.

“Ja, es ist, als ob es über uns wachen will. Ich denke, es ist mit dem Haus Weissenquell verbunden.”

~*~

Merle riss erst überrascht die Augen auf und lächelte dann strahlend, als sie Doratravas Tun beobachtete. Vielleicht war es das Wechselbad der Gefühle der letzten zwei Tage, die Gespräche mit lieben Menschen wie Doratrava, Nivard und Tsalinde - oder auch die zwei Becher Glühbier, die sie kurz hintereinander getrunken hatte - was sie in diesem Moment mutig, fast übermütig zu Gudekar ans Ufer treten ließ. “He, Herr Magus”, sprach sie ihren Mann in forschem Tonfall an. “Man kann da drin also auch baden, was?” Merle zeigte mit einer fast lässigen Handbewegung auf die glitzernde Wasseroberfläche und warf ihm einen herausfordernden Blick zu, der eher an das unbeschwerte halbwüchsige Mädchen von vor zehn Götterläufen erinnerte als an die sanftmütige, in sich gekehrte Frau, die sie heute war. Während sie sprach, begann sie, schnell Mütze, Schal und Mantel abzustreifen und auf einen ordentlichen Stapel neben sich auf den Boden zu packen. “Wenn du reingehst, geh’ ich auch rein!” Als er nicht gleich antwortete, fuhr sie unbeirrt fort, nacheinander ihre Stiefel, Beinlinge und Tunika abzulegen, bis sie nur noch in einem dünnen, knapp knielangen Leibhemd aus Leinen da stand. Sie war entschlossen, jeden Moment ihres Daseins zu leben, zu fühlen, in vollen Zügen zu genießen - und wann würde sie wieder Gelegenheit zu einem solchen Bad im verzauberten Madalicht bekommen? So schritt sie entschlossen in das flache Wasser hinein, zögerte etwas, als die beißende Kälte ihre Füße und Waden fast einzufrieren schien, watete dann aber direkt zu Gudekar und stupste ihn frech und schelmisch an der Schulter an. “Na was ist, bist du dabei? Oder traust du dich etwa nicht?”

Der Anconiter stand noch immer im knietiefen Wasser. Seine Tunika hielt er hoch, dass sie trocken blieb. Doch seine Beinlinge waren inzwischen pitschnass, was er jedoch gar nicht zu bemerken schien. Er blickte kurz zu Merle und lächelte sie an. “Ist es nicht wunderschön? Spürst du es auch?”

“Wundervoll, ja!" schwärmte Merle begeistert und strahlte Gudekar mit funkelnden Augen ins Gesicht.

“Ähm, was spüren? Ist das Wasser irgendwie… magisch?" Sie glaubte jetzt, etwas ungewöhnliches zu spüren, wie den lautlosen Klang einer Glocke, der durch ihren Körper vibrierte, doch konnte sie das seltsame Gefühl nicht recht zuordnen. "Gehst du mit mir rein?" fragte sie mit intensivem, einladenden Blick.

Doch Merle bekam keine Antwort von ihrem Mann. Es wirkte fast, als würde er sie gar nicht mehr wahrnehmen.

“Hm, wie enttäuschend”, sie zog einen gespielten Schmollmund und streckte ihm die Zunge raus. Da Gudekar nicht reagierte, streifte Merle das dünne Hemd ab, warf dieses ans Ufer und ging unbekleidet weiter in das Wasser hinein. "Du kannst dann gleich einen Becher Glühbier und eine warme Decke für mich bereithalten."

“Ja, natürlich”, antwortete Gudekar ohne wirklich zu verstehen, was Merle gerade gesagt hatte. Zu fasziniert war er von dem Spektakel, das sich vor seinen Augen abspielte.

Es war eisig kalt, doch zwang sich Merle zu weiteren mutigen, entschlossenen Schritten in den Weiher. Der Untergrund fühlte sich fest, aber auch etwas steinig unter ihren Fußsohlen an, so dass sie sich, sobald sie bis zum Bauch drin war, kurzerhand nach vorne in das glatt und glänzend vor sich ausgebreitete Wasser gleiten ließ. Schockartig entwich ihr ein heller, unartikulierter Schrei; sie stieß ein paar Mal keuchend die Luft aus, schwamm aber mit kräftigen Schwimmzügen voran, weiter in das auf der Wasseroberfläche glitzernde Licht des Madamals hinein. Durch die Bewegung ihrer Glieder wurde die Kälte erträglicher, fast angenehm, spürte sie das Blut in ihren Adern pochen und kribbeln. Merle lachte laut auf, überwältigt vom Glück, sich zu dieser kleinen Verrücktheit überwunden zu haben; sie genoss das streichelnde Gefühl des kalten, aber samtenen Wassers auf ihrer nackten Haut, war wie berauscht vom Zauber des Zwielichts, des leuchtenden, glitzernden Felsens, des nebelsprühenden Wasserfalls und der leuchtenden Wolken am Nachthimmel über sich. Die Kälte blies alle dumpfen, kreisenden Gedanken, alle Trauer, alle Ängste mit einem Mal aus ihrem Kopf heraus. Ja, sie fühlte etwas, sie fühlte sich selbst. Sie fühlte sich lebendig. Mit einem beglückten, befreiten Lächeln drehte sie sich ein paar Mal spielerisch im Wasser, dann glitt sie  geschwind in Richtung des Ufers zurück.

Etwas abseits hatte Meta die Hand in das Wasser getaucht. Frisch, sehr frisch. Aber es war nicht nur wunderschön, sondern auch einen kleinen Spaß wert. „Imelda, komm doch mal zu mir!“ Rief sie, während sie ihre Kleidung ablegte. „Traust du dich auch kurz?“ Weder vor ihrer Freundin noch vor den anderen anwesenden Personen, die sowieso mit sich selbst beschäftigt waren, genierte sie sich. Meta wusste, dass ihr Körper nicht dem Bild entsprach, das Männer an Frauen so schätzten. Sie war schlank, fast etwas dünn, muskulös und leider fehlten ihr ausgeprägte rahjagefällige Rundungen. Insgesamt passte aber alles zusammen, kleine aber wohlgeformte Brüste, schlanke, starke Beine und ein ansprechendes Gesäß. Es fröstelte sie, als ihre Füße im Wasser eintauchten und alle Härchen richteten sich auf. „Schau, schnell geht das am besten.“

Imelda staunte bei dem Anblick des funkelnden Wassers und klatschte entzückt in die Hände. Entschlossen zog sie ihre Schuhe und dicken Wollstrümpfe aus und berührte vorsichtig das eiskalte Wasser mit dem großen Zeh. “Ui, das ist aber recht frisch!”, rief sie laut aus. “ Sie sah zu Doratrava, welche gerade untertauchte. Vermutlich lag es an ihrem elfischen Blut, dass ihr die Kälte nicht so viel ausmachte. Oder war sie selbst nur ein Weichei? Mutig tauchte sie ihren Fuß weiter ins Wasser… zumindest in ihren Gedanken. Als ihre Sohle das kalte Nass weiter berührte, zog sie den Fuß umgehend wieder heraus. “Argg, kalt!”, rief sie und drehte sich zu Meta um, die sie gerade gerufen hatte. “WIE? AUF GAR KEINEN FALL!!! Das ist doch eiskalt!” Die Geweihte trat einen Schritt zurück und lief zu der Stelle, bei welcher Meta stand. “Wie soll ich denn da reinkommen? Das ist ja flüssiges Eis!”

„Du bist ja schnell wieder draußen, wie ich gleich.“ Ihre Freundin hielt die Luft an und tauchte schnell einmal vollständig unter. Es fühlte sich an, als würde sie von Eis umschlossen und keuchend, nach Luft ringend tauchte sie schnell wieder auf. Sie formte beide Hände zu einer Schale und trank gierig. Dabei zwinkerte sie Imelda noch einmal zu, um sie zu locken (die Kälte begann, von Ihrem Körper Besitz zu ergreifen doch das würde sie nie zugeben). Meta lugte dann neugierig umher. Etwas Weißes zischte im Wasser umher, das musste Doratrava sein, die kaum zu erkennen war. Einige Begleiter standen oder knieten am Ufer und tranken. Gudekar stand recht verzückt im Wasser, natürlich mit Merle. Er hatte wieder diesen Blick. Sie waren ein schönes Paar. Und Merle würde immer Teil seines Lebens sein. Der gute Herr Magier würde sich anstrengen müssen, damit es auch bei ihr so blieb. Metas Kette glitzerte hübsch auf ihrer nassen Haut im Schein des Madamals. Rahja konnte so grausam sein, aber sie konnte ihr nicht mehr entkommen. Kälte betäubte ihre Glieder. Die junge Frau hätte an Land gehen sollen, aber stattdessen suchte die Einheit und Harmonie in dem See und tauchte nochmals unter.

Die Rahjani, der man vielleicht am ehesten zugetraut hätte, sich vor allen adligen und nichtadligen Leuten in Gänze unschicklich, ja gerade unsittlich zu entblößen und dabei nicht einmal die kleinste Scham zu empfinden, während sie völlig nackt und unangemessen in den See stieg, tat… nichts dergleichen. Fasziniert vom Anblick des weißen, glitzernden Felsens, auf den das Mondlicht schien, und das erneute Erscheinen des entzückenden Rehleins, das der ganzen Szenerie die Krone der Unwirklichkeit aufsetzte, hielt Rajalind erst einmal verzaubert inne. Dann trat auch sie an das Ufer und tauchte die Hand in das kalte Nass. “Was habt ihr denn alle erwartet? Nach einer heißen Quelle sieht das nun wahrlich nicht aus.” erklärte sie all jenen Bibbernden mit einem amüsierten Lachen. Amüsiert auch deshalb, weil ihr Freund Vieskar, der strenge Traviageweihte, diesem unzüchtigen Treiben ganz schnell ein Ende bereitet hätte, in dem er selbst hineingewatet und alle an den Ohren herausgezogen und ihnen sicherlich auch den Hintern versohlt hätte. Sie sah das lockerer. Sollten sie doch diesen Spaß haben. Sie selbst machte keinerlei Anstalten auch nur den Fuß hinein zu strecken, obwohl der Anblick ihrer von Rahja gesegneten üppigen, weiblichen Figur und der vielen Rosenhautbilder sicherlich ein schöner Anblick gewesen wären. Sie ließ lediglich ihre Hand in sinnlicher Verzückung durch die scheinbar milchige Flut gleiten, bevor sie schließlich aus ihrer Hand von dem Quellwasser kostete.

Die Baroness von Kaldenberg hielt sich beim Pulk der Nachtwanderer auf und trat bis kurz vor das Ufer. Es reizte sie zwar, ins Wasser zu steigen, doch vor der versammelten Gästeschar wollte sie nicht den Kampf mit dem kalten Wasser führen. So musterte sie lediglich die Badenden und versuchte zu erspüren, ob der Ort arkane Schwingungen aussandte.

Ihre Hündin lief am Seeufer entlang, die Nase mal in Richtung Wasser gesenkt, mal in Richtung der Felswand erhoben. Sie versuchte offensichtlich das Geheimnis zu ergründen, wohin das weiße Reh denn nun verschwunden war.

Murla saß am Ufer und schüttelte nur den Kopf, wie konnte man sich nur in dieses eiskalte Wasser begeben. Die Angroschna hatte ja nichts gegen das Baden als solches, schließlich hatten sie in Ishna Mur auch große Badezimmer, aber da wurde das Wasser durch die unterderischen Magmaadern auf eine angenehme Temperatur gebracht.

Etwas abseits beobachtete Liana amüsiert das Treiben am Wasser. Und doch auch etwas verwundert über den Übermut, der zu erleben war. In das eiskalte Wasser zu steigen, danach stand ihr nicht der Sinn, und sicherlich würde die kühle Nacht das Übrige tun, diesen Übermut hier und da mit einem eisigen Bibbern zu strafen.

Sie nahm ihren Mantel von ihren Schultern, bereit, einer der übermütigen Gestalten im Wasser einen wärmenden Stoff zu reichen, wenn sie wieder an das Ufer kam.

Dann hob sie ein wenig ihren Kopf und versuchte, hier und da einen Blick auf die bleiche Mada zu erhaschen, die hin und wieder zwischen den Wolken hervorlugte, während sie gleichzeitig und fast wie in Trance dem Lied lauschte, das der Wind mit sich führte. Der Wind … ein alter Freund, der so vieles zu sagen wusste.

Ein Lächeln umspielte ihre Züge.

Sie schloss ihre Augen.

Hörte ihm zu.

Kalt war er. Und zugleich vertraut.

Das Wirrwarr der Stimmen, das Lachen, die kleinen Plaudereien - sie nahm all das nicht mehr wirklich wahr. Wie durch einen Schleier.

Der Umhang, den sie über ihren Arm gelegt hatte, entglitt ihr. Fiel hinab auf den Waldboden.

Dann öffnete sie ihre Augen wieder, genau in dem Moment, als die bleiche Mada erneut zwischen den Wolken erschien. Voll - und schön.

Sie blickte hinauf.

Fast wie in Trance schritt Liana zu dem Wasser und ließ sich dann langsam am Ufer nieder.

Betrachtete das Glitzern, das Spiel der Mondstrahlen, die sich auf der Wasseroberfläche in leuchtende Kristalle verwandelten.

Sie tauchte ihre zarte Hand in den Weiher.

Hob sie empor.

Glitzernde Perlen aus Silber.

Die volle Mada warf einen Hauch von Silber auf ihr Haar.

Dann, mit geschlossenen Augen, tauchte sie ihre Hand abermals in das Wasser. Neigte anmutig ihren Kopf vor. Und das flüssige Silber benetzte ihren Mund.

Nivard hatte zunächst nur gebannt das Reh beobachtet. Nachdem es wieder verschwunden war, sah er noch einige Momente auf die Stelle, an der er dessen Fell zuletzt im Mondenschein hatte schimmern sehen. War das Handeln des Tieres eine an sie gerichtete Aufforderung? Langsam bewegte sich der Krieger schließlich am Ufer entlang, auch um einige Schritt Abstand zu gewinnen zu den teils prustend ins offensichtlich kalte Wasser springenden Mitwanderern. Wenigstens schien Merle wieder wie ausgetauscht. Spielte sie da hier nur, oder hatte tatsächlich etwas ihre Stimmung aufgehellt? Ihm jedenfalls steckten die letzten Gespräche noch in den Knochen, und er fühlte sich richtiggehend erschöpft. Jemand sollte den umliegenden Wald besser im Auge behalten, schoss ihm in den Kopf. Wenigstens die anderen schienen inzwischen jeder Vorsicht abhold. Langsam ging er dennoch unmittelbar am Ufer des Sees in die Hocke, einige schwache Wellen leckten dabei unschlüssig an seinen Stiefelspitzen. Ohne darüber nachzudenken, fasste seine Hand ins Wasser. Trotz der Kälte - nein, er würde ganz sicher nicht baden, nicht heute Nacht - zuckte sie nicht zurück, sondern schloss sich langsam zur Faust, die Nivard vorsichtig aus dem Wasser hob und leise plätschernd auslaufen ließ. Dann erst schöpfte er sich mit beiden Händen Wasser, das er zunächst nur vorsichtig kostete und dann in mehreren kleinen Schlücken austrank.

Tsalinde von Kalterbaum starrte wie gebannt auf das Wasser, das aus dem Felsen quoll. Ehrfürchtig flüsterte sie: “Lys, schau nur, ist das nicht wunderschön?” Beide bewunderten den Anblick, verspürten jedoch nicht den Wunsch, ins Wasser zu gehen. Sie tranken lediglich einen kleinen Schluck direkt aus der Quelle.

~*~

Der Quell der Erkenntnis

Die Berührung mit dem von Mada gesegneten Wasser erfüllte alle denkenden Wesen mit neuer geistiger Kraft. Alle, denen Madas Gabe innewohnte und die das Wasser in sich aufnahmen, durchströmte neue astrale Energie.

(Regeltechnisch: Magiebegabte, die von dem Wasser trinken oder darin baden, regenerieren 2W6 ASP. Die kleinere der beiden erwürfelten Augenzahlen kann dabei auch über den Maximalwert aufgetankt werden. Dieser Effekt verblasst jedoch beim Aufgang des Praiosmals.)

Doch auch wer nicht Madas Gabe in sich trug, spürte durch den Kontakt mit dem Wasser etwas in sich. Müdigkeit und Erschöpfung, aber auch der Rausch des Alkohols wichen aus den Gliedern und wer von dem Wasser trank fühlte sich erquickt wie nach einer langen Nacht tiefen – ununterbrochenen – Schlafes. Wer in dem Wasser badete oder zumindest die Waden oder die Unterarme vollständig mit dem Wasser bedeckte, spürte ein wohliges Gefühl der Erkenntnis von den Gliedmaßen her in sich aufsteigen und den Körper zu durchziehen. Wer bisher zweifelte, dem wurde Klarheit geschenkt. Wer unsicher war, den erfüllte mit einem Mal Gewissheit. Entschlossenheit, seinen eigenen Weg zu gehen, etwas Eigenes machen zu wollen, sich von eigenen Umfeld abzuheben oder gar abzugrenzen, war nun Teil des eigenen Geistes.

Welche Erkenntnisse erfüllen Euren Geist? Welche Entscheidungen habt ihr getroffen?

In diesem Moment fiel Doratravas Blick auf die Elfe, die da so gedankenverloren mit dem Wasser spielte und schließlich davon trank. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie selbst von der Wanderung durstig war und dies nicht unbedingt mit Glühbier bekämpfen wollte. Also formte sie nun auch eine Schale aus ihren Händen, füllte diese mit dem Wasser des Weihers und nahm einen Schluck von dem eiskalten Nass.

Merle schwamm zu Doratrava und spritzte mit dem Fuß einen kleinen Wasserschwall in deren Richtung. “Einfach traumhaft, oder?” lachte sie.

Ein seltsames Kribbeln durchströmte Doratrava, nicht unangenehm, und ließ die Kälte des Wassers für den Moment zurücktreten. Sie fühlte sich, als wäre aus einer Wand ein Schleier geworden, den sie nur noch zur Seite streifen musste, um ... etwas Neues zu entdecken? An einen anderen Ort zu gelangen?

Doch bevor sie dem Gefühl weiter nachspüren konnte, hörte sie Merle, die lachend nach ihr spritzte. Da überkam sie eine eigenartige Klarheit und sie fasste einen ihrer spontanen Entschlüsse, welche sie so oft in des Namenlosen Küche brachten. Sie machte einen schnellen Schwimmzug in Merles Richtung, tauchte unter und zog die andere Frau mit sich unter Wasser. Bevor diese einen Laut von sich geben konnte, verschloss sie ihren Mund weiterhin unter Wasser mit einem schnellen, aber heftigen Kuss, dann gab sie sie wieder frei und tauchte lachend wieder auf. Der letzte Rest ihres klaren Verstandes hoffte, dass bei diesen unwirklichen Lichtverhältnissen im kurzzeitig wild bewegten Wasser niemand gesehen hatte, was wirklich geschehen war, sondern diejenigen, welche zu ihnen geschaut hatten, dies lediglich als "Rache" für Merles Spritzer ansahen.

Merle ließ sich von Doratrava - die ihr hinreißend und wild wie eine Seenymphe aus den Märchen erschien - widerstandslos in den ungestümen Kuss unter Wasser ziehen und erwiderte diesen instinktiv mit ähnlicher Intensität. Durch die Berührung ihrer Lippen fuhr ein überwältigender Strahl von Wärme durch Merles ausgekühlten Körper; unerwartet, aufregend… einfach nur schön. Und vielleicht war das die Erkenntnis, die ihr in diesem Moment kristallklar ins Bewusstsein sprang - nicht ständig grübeln, nicht immer ängstlich zögern, sondern einfach genießen, wenn etwas schönes, etwas so wunderschönes geschah. Merle tauchte glücklich lachend und prustend auf und zwinkerte der Gauklerin verschwörerisch zu. “Ganz schön frech!” kicherte sie mädchenhaft und übermütig, dann begann sie erneut, Doratrava mit der Hand zu bespritzen. “Na warte!”

Dann hatte sie ihr Gefühl nicht getrogen. Doratravas Verstand hatte eben noch versucht, sie zur Vernunft zu bringen, aber eine unwirsche innerliche Bewegung ließ ihn verstummen, das dumme Ding. Ein freches, übermütiges, ja herausforderndes Glitzern trat in ihre haselnussbraunen Augen, sie lachte auf, dann tauchte sie erneut unter und umschlang fest Merles nackten Körper. Erneut zog sie sie nach unten, und erneut suchte sie ihre Lippen, diesmal nicht so spielerisch wie vorher, sondern gierig, fordernd, leidenschaftlich - und länger, so lange, wie sie die Luft anhalten konnte, oder merkte, dass Merle diese ausging.

Merle erwiderte den Kuss enthusiastisch, fast ausgehungert, fuhr mit einer Hand in Doratravas wehendes Haar, um deren Hinterkopf zu sich heranzuziehen und die andere, so faszinierende Frau noch näher, noch intensiver zu spüren. So lange hatte sie sich nicht begehrt gefühlt, nicht geliebt, war mechanisch dem Trott des Alltags gefolgt, innerlich betäubt. Jetzt war sie hellwach und lebendig, fühlte eine berauschende Mischung aus Erregung und Aufregung, jugendlichem Übermut und Ungestüm, Hemmungslosigkeit und Trotz. Sie genoss das Gefühl, wie ihre glatte, kühle Haut über Doratravas glitt, wie sich ihre Körper umschlangen und umklammerten. Als sie beide luftschnappend aus dem milchig-weißen Wasser auftauchten, grinste Merle breit und strahlend, mit geröteten Wangen, eine Hand unter dem Wasser noch immer um Doratravas Hüfte gelegt. “Wir müssen jetzt wirklich an Land gehen und uns aufwärmen”, kommentierte sie schnell atmend. “Sonst holen wir uns in dem Eiswasser noch den Tod. Oder zumindest den Dumpfschädel.”

“Ja, das sollten wir wohl tun”, stimmte Doratrava, innerlich widerstrebend, zu. Sie hatte Merles Leidenschaft gespürt, und das hatte ihre eigene entfacht, und diese innerliche Hitze ließ sie jede Kälte willig ertragen … gaukelten zumindest ihre Gefühle ihr vor. Der allerletzte Rest ihres Verstandes bestand allerdings darauf, dass Merle recht hatte und sie schleunigst an Land und trocken werden mussten. “Äh … ich habe nichts, um mich abzutrocknen”, musste sie allerdings in diesem Moment zugeben, während sie zwar dem Rand des Weihers zustrebte, aber gleichzeitig auch ihren Arm um Merles Hüfte schlang, um ihr nahe zu sein. Nach außen sah es hoffentlich so aus, als würden sie sich gegenseitig aus dem Wasser helfen.

"Am Lagerfeuer liegen jede Menge warme Decken rum", schlug Merle praktisch denkend vor. "Wir müssen da nur ganz schnell hinflitzen!" Sie lachte glockenhell auf und legte liebevoll den Arm um Doratrava. "Und dann ein heißes Glühbier, oder was meinst du?"

“Dann los”, lachte die Gauklerin zurück und begann bereits zu laufen. Da Merle auch an Land ihren Arm um sie legte, sah sie keinen Grund, es ihr nicht gleich zu tun, auch wenn es sich so etwas schwerfällig lief. Dennoch ließ sie nicht ab von der anderen und drückte sie eher noch fester an sich.

Meta spürte die Kälte nicht mehr, als sie das zweite Mal kurz untertauchte und sich dann mit Blick auf das Madamal im See treiben ließ. Wie hypnotisiert betrachtete sie es und ihre Gedanken wanderten. Nicht wie sonst. Es war, als würde ein Schleier, der so vieles verdeckt und undeutlich verborgen hatte, verschwinden. Am liebsten wäre sie ewig in dem See geblieben, Zeit spielte nun keine Rolle mehr. Meta staunte, sie sah, was richtig war. Der Weg durch den Nebel. Diese Erkenntnis war so klar, dass sie diese nicht vergessen würde. Gudekar, Merle, all die Gäste, die Merle so sympathisch fanden, Gudekars Schwestern, ihre Freundin Imelda und in der Ferne Linnart. Natürlich Travia und Rahja. Das, was geschehen war seit jener Nacht, die ihr so weit in der Vergangenheit lag, fügte sich zu einem großen Bild zusammen. Sie wusste, was sie tun musste und wann. Ein schwerer Weg lag vor ihr, aber sie würde es tun müssen.

Nun wurde es klar. Gudekar wusste nun endlich. was zu tun war. Das ewige Hin und Her konnte kein Dauerzustand bleiben. Er musste die Karten offenlegen. Ja, das war eh sein Plan, und dennoch hatte er sich so lange davor gedrückt. Er hatte es vor sich hergeschoben und hätte dies am liebsten noch weiter getan. Denn er fürchtete sich vor den Folgen seiner Entscheidung, vor der Endgültigkeit. Er wollte Merle nicht weh tun und tat es damit umso mehr. Und gleichzeitig tat er Meta weh. Dies musste ein Ende haben. Er musste Tatsachen schaffen. Nicht nur der beiden Frauen wegen, die seine Offenheit verdient hatten. Nein, auch für die Mission, denn nur so würde er seinen Kopf endlich wieder frei bekommen, um sich der Jagd auf den Lolgramoth-Paktierer zu stellen. Und diese Jagd hatte natürlich die oberste Priorität. Hier ging es um die Zukunft der Nordmarken. Hier entschied sich das Schicksal tausender Menschen, Zwerge, Flussleute und Elfen. Dies war die Schlacht, die es zu schlagen ging. Und wenn der Erfolg in dieser Schlacht davon abhing, dass er sich endgültig von Merle trennte, dann musste das sein. Am liebsten hätte er sich sofort zu Merle gedreht und ihr seine Entscheidung mitgeteilt. Doch ihm war klar, dass er dem ursprünglichen Plan folgen musste. In zwei Tagen, so wie er es Gwenn versprochen hatte. Bis dahin würde er für Meta da sein und ihr seine Liebe beweisen. Der Bund würde morgen geschlossen werden. Und in zwei Tagen würde er Lützeltal Hand in Hand mit Meta verlassen.

Für jene, die einen Blick auf sie warfen, schien die Herrin von Rodaschquell noch immer seltsam entrückt. Langsam erhob sie sich, doch das silberne Leuchten umspielte noch immer ihr Haar, das ansonsten die Farbe von frischen Kastanien trug.

Dies hier war ein besonderer Moment, ja, ein besonderer Ort. Es war nicht ihre Art, ihn zu hinterfragen. Zu ergründen. Sie nahm ihn einfach hin.

Als sie ihre Augen langsam wieder öffnete, fiel ihr Blick als erstes auf Gudekar. Tiefgründig.

Der Abend fröstelte sie nun. Beiläufig griff sie wieder nach dem Mantel, und blickte dann Gudekar wieder in die Augen. Es lag keine Einladung darin, oder eine Frage. Vielmehr schien es ihm, als ergründe die Elfe ihn auf diese ihr eigene Weise.

Ein inneres Gespür ließ den Anconiter, noch immer in seinen Gedanken verloren, in Lianas Richtung blicken, so dass sich ihre Augen trafen. Für einen Moment ließ er zu, dass die Elfe in sein Inneres blickte, dann verschloss er sich. Interessant, dachte er, dass sich unsere Wege erneut auf einer Hochzeit kreuzen, so viele Jahre, nachdem er sie als kleiner Eleve bereits in Donnerbach gesehen hatte. Dieses Mal jedoch waren die Umstände ihres Aufeinandertreffens deutlich angenehmer als vor zwei Jahren in Schweinsfold.

Sie streifte ihren Mantel wieder um ihre Schultern. Noch immer … irgendwie in etwas abwesend. Ohne jedoch den Blick von ihm zu nehmen. Dann wurde sie seiner wieder gewahr, schien zu erwachen und schlug dann kurz die Augen nieder.

~*~

Auch Nivard fiel es wie Schuppen von den Augen. Wie oft hatte er sich fieberhaft, geradezu manisch gefragt, wann und wo ihr gemeinsamer Feind wieder zuschlagen würde, welche Ziele er weiter verfolgte und vor allem, wie ihm und seinen Dämonen beizukommen wäre. Bei aller Fokussiertheit auf diesen Feind, der inzwischen die Personifizierung allen Bösen für ihn darstellte, hatte mit jedem Mond, den nichts geschehen war, eine Unruhe mehr und mehr von ihm Besitz ergriffen, das marternde Gefühl, etwas tun zu müssen und doch zum Nichtstun verdammt zu sein. Aber nun war es ihm klar: der Kampf war nicht nur gegen den leibhaftigen Feind zu führen, sondern auch gegen dessen Gift, das bereits dabei war, schleichend um sich zu greifen, und danach strebte, alles Schöne und Gute zu zerstören. Es galt nicht nur das Artefakt, das das Herz der Nordmarken war, zu heilen, sondern auch die zerbrochenen Herzen in seiner Nähe. Er würde Pruch und seinen dämonischen Herren auch bekämpfen, wenn er hier für Merle eintrat und dazu beitrug, dass diese und Gudekar wieder zusammenfanden. Und danach würde er sich um das wichtigste und heiligste aller Bollwerke gegen Travias Widersacher kümmern - seine Familie.

Rajalind stutzte verwirrt, als sie spürte, dass der Schluck aus dem See sie eben erfrischt hatte. Erfrischung war zu erwarteten gewesen. Aber nicht auf DIESE ART! Sie mochte es sehr, wenn ihr Geist von sanften Schleiern umwickelt war. Rausch und Erheiterung war nichts Schlechtes, im Gegenteil, beides war sehr der Herrin gefällig. Rajalind mochte es hingegen nicht, wenn man sie aus dem schönen Schlaf weckte. Und gerade empfand sie die von jetzt auf nachher einsetzende Ernüchterung so: wie herausgerissen aus dem Schlaf.

Verärgert wischte sie sich die feuchte Hand an ihrem Umhang trocken und stand auf.

Ihr Blick fiel unweigerlich über die Badenden. Ja, Vieskar wäre schon längst laut geworden und hätte alle am Ohr gepackt, zur Rede gestellt. Sie verstand ihn. Es hatten offensichtlich wirklich alle vergessen, dass sie aus gutem Haus kamen und es nicht schicklich war, sich vor anderen Adligen UND GEMEINEN wohlgemerkt so gehen zu lassen. Völlig nackt. Völlig hemmungslos. Früher hätte ihr dieser Umstand nichts ausgemacht, doch ihr Freund Vieskar sah darin schlechtes Benehmen - und gerade sah sie das auch so. Sie, die von ihrer adligen Herkunft erst spät erfuhr und die ihre adlige Herkunft daher verehrte, hieß es nicht gut, dass sich andere wildem, unadligem Vergnügen hingaben. Nein, so benahm man sich doch nicht. Auch nicht, wenn man sein ganzen Leben lang wusste, dass man adligen Geblütes war. Nein, dann schon erst recht nicht.

Rajalind fehlte es aber einerseits an Vieskars Autorität - andererseits war sie es nicht gewohnt, die Spaßbremse zu sein, ein wenig widerstrebte ihr der Gedanke sogar, wenn sie ehrlich war. Dennoch.

„WOLLT IHR NICHT BALD MAL RAUSKOMMEN??“ rief die Geweihte mit hörbarer Strenge in der Stimme über den See. „SONST HOLT IHR EUCH HIER NOCH DEN TOD - ODER DIE KEUCHE! Und das wäre unschön, meint ihr nicht?“ fügte die Rahjadienerin noch hinzu, um den Tadel abzumildern. Aber es war und blieb einer.

~*~

Das Ende des Spektakels

Als das Licht Madas verblasste und die Dunkelheit der Nacht zurückkehrte, war auch das Schauspiel des funkelnden Wassers vorüber. Lediglich der Schein des Lagerfeuers wurde noch sacht von der Wasseroberfläche reflektiert.

Gudekar, der Heilmagier stand noch immer knietief im Wasser, drehte sich nun jedoch zum Ufer. Mit ausgebreiteten Armen rief er voller Begeisterung: „Bernhelm! Wulfhelm! Habt ihr das gesehen? War das nicht wundervoll? Und das nach all den Jahren! Wie oft habe ich schon auf dieses Spektakel gewartet? Wie viele Vollmondnächte mit Gwenn und Mika hier verbracht, in der Hoffnung, Madas Wunder zu erleben?“

„Nicht nur Ihr, Meister Gudekar“, antwortete Wulfhelm. Eure Schwestern haben auch Brun und mich oft genug gebeten, hier mit ihnen auf Madas Zeichen zu warten, als ihr fort wart.“

„Und nun endlich ist es wahr geworden, und  die beiden waren nicht dabei!“ Gudekar wirkte enttäuscht, dass er das Erlebnis nicht mit seinen Schwestern teilen konnte.

Bernhelm, der Knecht seines Vater überlegte: „Und dabei ist weder Frühjahrs- noch Hesindemond! Wir sind mitten im Travia. Wer konnte damit rechnen? Das ist in der Sage ganz anders.“

„Nun“, beschwichtigte der Anconiter, „das ist doch ein Zeichen, dass die Göttin es gut mit uns meint und ihre schützende Hand über die Gesellschaft und das Lützeltal hält!“

Nach dieser Offenbarung, die Meta eben erfahren hatte, spürte sie schlagartig die Kälte. Ihr Körper schien taub und eingefroren, ihre Lippen blau und die begannen zu zittern. Das lockige Haar klebte nass an ihrem Kopf. Obwohl sie von dem, was sie eben erfahren hatte, noch verwirrt und berührt war, gab es nun ein wichtigeres Ziel. „Im..I..Imelda!“ So laut sie mit ihren klappernden Zähnen rufen konnte, versuchte sie, die Aufmerksamkeit ihrer Freundin zu gewinnen. „H..Hilfe. ES IST SO NARRISCH KALT..,DECKE.. bitte.“ So schnell es ging, strebte sie dem Ufer zu. Sie konnte sich nicht mehr an eine warme Dere erinnern, das höchste Glück bestand für sie, die staksig dem Wasser entkam, darin, sich aufzuwärmen.

Imelda hatte sich am Uferrand gerade wieder ihre Stiefel übergezogen, als sie die Rufe ihrer Freundin vernahm. “Was? META?! NOTFALL! HILFE! Meine Freundin erfriert zu einem Eiskristall!”, rief sie lauthals mit einer erstaunlich durchdringenden Stimme zu der Gruppe.

„ICH SAGTE EBEN ERST NOCH IHR SOLLT RAUSKOMMEN…“ erwiderte die Rahjani am Ufer stehend, kopfschüttelnd.

Meta hatte das Ufer erreicht und streckte eine Hand Richtung Imelda aus. „Nnneinn… Eine Decke, schnell und was, was Warmes. Herrschaft warum hab ich das nnnicht ggem..gemerkt?“

Gudekar schrak aus seinen Gedanken hoch, als er Metas und Imeldas Hilferufe hörte. Schnell schaute er sich um und sah die Ursache der Rufe. Schnell lief er zum Ufer zurück und ergriff seinen Mantel, der dort am Boden lag. Dann rannte er zu Imelda und Meta und legte den Mantel über Metas Schultern. “Schnell, sie muss warm werden.” Eifrig schlang er seine Arme um Metas Körper und rubbelte sie am Rücken und an den Armen warm. “Imelda, schnell, hol einen Becher Glühbier und dann ihre Kleider! Eil dich!” Dann blickte er sich um und sah, dass noch andere Gäste so wahnsinnig waren, nackt in das eiskalte Wasser zu steigen, darunter war auch Merle. Er wandte sich an die Umstehenden. “Bernhelm, Wulfhelm, Nivard, Morgan, ach, alle da hinten! Schaut dass ihr die Badenden aus dem eiskalten Wasser bekommt und ihnen etwas Wärmendes überwerft. Eilt Euch, bevor sich noch jemand den Tod holt!”

Typisch Imelda. Trotz der betäubenden Kälte war ihr kurz zum Lachen und in ihr wurde es etwas wärmer. Imelda war ihre Freundin, sie vertraute ihr und ein kleines Licht freundschaftlicher Liebe leuchtete auf Meta. Sie war nicht alleine. Aber die ersehnte Zuwendung und Wärme kam von jemand anderem. Der, den sie eigentlich beschützen sollte. Kurz wunderte sie sich, dass er so schnell bei ihr war, dann erinnerte sie sich an seinen Beruf. Dankbar lehnte sie ihren Kopf an ihn und immer noch zitternd fühlte sie, wie die Kälte langsam wich.

„Oh, meine tapfere, kleine Ritterin! Was hat dich nur auf die Idee gebracht, in dem Wasser zu baden?“ Gudekar drückte die zitternde Frau ganz fest an sich.

"Ja, das fragen wir uns alle, Meta. WER könnte dich wohl auf die Idee gebracht haben, ins unsagbare flüssige Eis zu steigen?" Imelda sah dabei kritisch Gudekar an, zwinkerte ihm nach zwei Herzschlägen jedoch zu und gab ihm einen härteren Knuff in den Oberarm. Dann hielt sie der Ritterin einen dampfenden Becher Glühbier vor die Nase. "Hier, frisch vom Kessel. Ist noch richtig heiß und wärmt dich auf! Nimm es, sonst trinke ich es", feixte sie und sah aus nächster Nähe an ihrer Freundin herunter. "Ich hole dann mal deine Kleider. Es reicht ja, wenn nur der gelehrte Herr Gudekar und ich wissen, dass deine Nippel gerade vorwitzig hervorstehen."

“Imelda, also bitte!” maßregelte Gudekar die junge Geweihte. Doch unwillkürlich zog er seinen Mantel weiter über Metas Brüste, auf dass andere nicht versehentlich sehen konnten, was Imelda gerade so frei heraus angedeutet hatte. “Meta, ich glaube, du solltest dich so lange auch an das wärmende Feuer setzen."

Die Hadingerin sah Gudekar streng an. "Wirklich? Im Ernst? Ach, komm' schon. Jeder hat NIPPEL", rief sie dem Anconiter laut entgegen. "Hätte nicht gedacht, dass du so prüde bist. Mache dir keine Sorgen, Meta. Man sieht sie nicht. Ich suche mal deine Kleider. Ihr könnt ja schonmal zum Feuer und euch aufwärmen. Wenn ich noch ein paar Scheite auflegen soll, sagt gerne Bescheid.“

Während ihre beiden Freunde sich amüsante Wortgefechte lieferten, typisch für Imelda, hatte Meta den warmen Krug genommen, getrunken und sich in den Mantel gekuschelt. Es wurde mehr und mehr angenehm. „Hoher Herr, Imelda hat Recht. Auch Männer haben Nippel. Meine konnte man vorhin, als ihr zu beschäftigt ward, auch so sehen. Das stört mich nicht.“ Sie beäugte beide listig, während sie nochmal von diesem warmen Gebräu trank. “Imelda, wenn wir wieder heim gehen, würde ich gerne alleine mit dir reden. Mir sind im Wasser ganz seltsame Gedanken gekommen. Und Gudekar, danke für den Mantel. Zum Feuer gehe ich sicher nicht.“ Sie lachte amüsiert. „Ich muss nicht unbedingt Merle und Doratrava gemeinsam vielleicht zufällig nackt sehen. Also so viel Gespür solltest du mittlerweile haben.“ Es war ihr unangenehm. Sie wusste, dass im Vergleich mit ihr Merle viel besser aussah. Meta hatte keine Lust, nochmal mit ihr zu reden. „Und wir sollten heute, wenn du es schaffst, auch nochmal reden. Dringend.“

Der Anconiter blickte die junge Frau prüfend an und legte seine Finger an ihren Nacken und ihre Brust, um die Körperwärme zu überprüfen. “Eigentlich wäre es mir lieber, die würdest dich etwas am Feuer aufwärmen.” Er blickte zu dem Lagerfeuer hinüber und sah, wie die beiden frierenden Frauen, Doratrava und seine Merle, sich aneinander gekuschelt hatten, um sich gegenseitig aufzuwärmen, und von Leodegar zwei Becher Bier gereicht bekamen. Zumindest um diese beiden musste er sich nicht weiter sorgen, sie würden ausreichend gewärmt. Er stellte sich vor, wie sich Meta dazu setzen und sich ebenfalls zwischen die beiden kuscheln würde. Sofort musste er prustend lachen. “Aber ich verstehe dich, das wäre wahrlich keine gute Idee, in eurer Aufmachung.” Dann blickte er wieder zu Meta und sah ihr tief in die Augen. “Ich bleibe heute Nacht bei dir und sorge dafür, dass du kein Fieber bekommst. Dann können wir in Ruhe sprechen.”

„Ist mit ihr alles in Ordnung?“ Die Rahjageweihte war zu den beiden getreten, um sich zu erkundigen, wie‘s der aus dem eiskalten See gezogenen, halberfrorenen Adligen ging. Dabei maß der strenge Blick der Götterdienerin die bibbernde Ritterin - die Frage war hingegen an den Anconiter gestellt.

Der Magier blickte zu der Rahjani, die er von verschiedenen Anlässen her aus Albenhus kannte und musste lächeln. “Vielen Dank, Euer Gnaden. Ich denke, es geht der Dame soweit gut, zumindest sobald die Ingrageweihte ihre Kleider wiedergefunden hat. Die junge Ritterin musste gerade die Lektion lernen, dass die Elemente nicht so leicht zu besiegen sind, und schon gar nicht, wenn man sich ihnen völlig entblößt stellt.”

„Das war nicht sehr verantwortungsvoll,“ brummte die Geweihte und Meta war sich sicher, dass es an sie gerichtet war, obwohl die Rahjani weiterhin mit Gudekar redete. „…von euch, Herr Adeptus, vorzumachen, dass man bedenkenlos ins Wasser könne! Es ist ja nicht mehr Rahja oder Praios!“

Etwas beschämt murmelte Gudekar vor sich hin. “Es konnte ja keiner ahnen, dass die jungen Damen sich gleich scharenweise entkleiden und ins Wasser springen. Ich wollte doch nur der weisen Herrin Hesinde näher sein.”

„Ich weiß, es klingt seltsam, aber für euch vielleicht auch gerade nicht. Die profane Antwort besteht darin, dass andere relativ froh gebadet haben.“ Meta hielt inne und fixierte die Rahjani, die seufzend mit dem Kopf schüttelte, von einem sanften Lächeln begleitet. „Die andere hat etwas mit der Schönen zu tun. Sie war nie meine erste Wahl unter den Zwölfen, doch ist etwas mit mir geschehen, über das ich geboten habe, zu schweigen, was mich ihr immer näher bringt. So war es dann, als ich eigentlich aus dem Wasser wollte. Ich versank von Harmonie und Erkenntnis.“ Sie wischte sich ihre angetrockneten Haare aus dem Gesicht und hielt sich dann wieder am Glühbier fest. „Doratrava ist wie ein Fisch in dem See geschwommen. Ihr scheint es nicht so viel auszumachen. Ich habe nun mal gefroren und erwärme mich wieder. Das muss ich aushalten.“

„Nur, damit ich das richtig verstehe, Ihr habt euch ein Schweigegelübde über etwas auferlegt, über das ihr nicht sprechen wollt? Gut. Aber dann redet nicht mit anderen darüber, dass ihr so eines habt. Sonst…hört sich das verwirrend an. Weil man ja nicht nachfragen darf, trotzdem gerne mehr gewusst hätte. Öhm, versteht ihr?“ erklärte die Rahjani Meta und wirkte tatsächlich kurz irritiert. „Und was euch da im Wasser gepackt hat, war bestimmt nicht die Schöne. Sondern…“ Sie wollte noch sagen ‚Unvernunft und Dummheit‘, aber sie seufzte noch einmal und verwarf den Satz. „Ihr versankt beinahe im Wasser. Harmonisch war das nicht. Und es löste auch keine Freude bei euren Mitreisenden aus, wenn ich mich an die Panik erinnere,  mit der man euch aus dem Wasser zog. Hm, aber vielleicht möchtet ihr doch über die Erkenntnis sprechen, die euch da ereilt hat? Dann dürft ihr euch gern an mich wenden, Frau Ritterin.“ schlug sie der Nackten freundlich vor. Insgeheim wunderte Rajalind sich über die Ritterin. Jemand, der ohne Sinn und Verstand in eine Pfütze sprang vertraute man, sich auch für andere in einen Klingensturm zu werfen? Eine merkwürdige Logik.

Rajalinds Blick ging von dem Magus zu der Ritterin und wieder zurück. „Eure Bekannte sollte sich jetzt dringend etwas anziehen.“ Das war zwar offensichtlich, Rajalind wollte aber nur noch einmal betonen, dass der Anconiter dafür verantwortlich war, dass all diese Badenden möglicherweise morgen krank sein könnten, immerhin waren sie nur seinem Beispiel und seiner großzügigen Einladung gefolgt. Mehr oder weniger.

Nun musste Gudekar plötzlich lachen. „Verzeiht, Euer Gnaden, ich wollte nicht respektlos erscheinen. Aber Eure Sorge scheint mir deutlich übertrieben.“ Er konnte sehen, wie die Geweihte der Göttin erstaunt die Augenbrauen hochzog, als er sprach. „Ad eins, die Sorge, in dem Weiher unterzugehen, entbehrt jeglicher Grundlage. Selbst an der tiefsten Stelle reicht mir das Wasser zu dieser Jahreszeit lediglich bis kurz über den Bauch. Ad zwo, die Gefahr aufgrund der Temperatur des Wassers ist relativ. Bruder Sigbrand Wasserfeste propagiert das Bad im kalten Wasser sogar als curatio zur Steigerung der Gesundheit, insbesondere das Waten im knietiefen Wasser, und weiter bin ich nicht hineingegangen. Vorausgesetzt natürlich, man bleibt nicht zu lange im Wasser und hat anschließend Gelegenheit sich ausgiebig aufzuwärmen.“

„Tatsächlich?“ Die junge Frau sah den Anconiter weiterhin ungläubig an. „Im kalten Wasser baden soll gesund sein??“

„Dies ist hier wohl gegeben, zumindest sofern, ad drei, ihre Gnaden von Hadingen sich eilt, die Kleider der Dame Croy herzubringen.“

Rajalind nickte, als verstünde sie, was der Mann sagte. In Wahrheit fing ihr Blut an zu kochen. „Mein Herr, es ist ja nett und gut, dass ihr euch zu rechtfertigen versucht, doch es ist, wie es ist. Diese Frau hat gebadet, diese Frau hat nach Hilfe gerufen, diese Frau wurde bibbernd aus dem Wasser gezogen und sucht nun Schutz in einem wärmenden Umhang. Wenn ihr meint, dass es übertrieben ist, sich um andere zu sorgen, nicht nur um deren Körper, sondern auch um deren Seelen, dann seid ihr ein sehr armer Mann, wenn das eure Meinung ist.“ sprach die Rahjani selbstbewusst zu dem Anconiter.

Der kam nicht zu, zu antworten, weil Meta sogleich das Wort ergriff:

„Mir kommt es so vor, als hätte hier jeder ein Geheimnis, nur sieht man es ihnen an, auch, wenn sie nicht darüber reden wollen oder sich auch auf Schweigen berufen.“ Schade, dass die Rahjani das Geheimnis ihrer Göttin nicht verstehen konnte. Sie musste mit Zaina reden, so ging das nicht weiter. Meta zog sich den Mantel fester um den Körper und wirkte etwas verwirrt. Sie hatte eindeutig etwas gespürt. „Hm, ja. Ich werde mit der Rahjani unseres Hauses reden, sollte ich Probleme haben. Ich bin dem Tempel sehr verbunden.“ Leider, dachte sie sich. Früher war alles so einfach. „In Glaubensfragen bin ich ein rechter Trampel, da muss ich noch lernen. Aber habt Dank für das Angebot.“

„Natürlich, gerne. Es ist womöglich weniger eine Glaubensfrage, als etwas, was ihr euch vielleicht mal von der Seele reden müsst. Bei einem Geweihten eurer Wahl, ganz gleich welcher Gottheit er oder sie dient.“ versuchte Rajalind die Ritterin, die plötzlich niedergeschlagen wirkte, aufzubauen. Sie ignorierte dabei den Anconiter, der sich in ihren Augen gerade nicht mit Ruhm bekleckert hatte.

„Ach, Doratrava ist viel tiefer getaucht als ich, die muss den Boden aufgewühlt haben. Genauso wie die Gattin den Herrn Gudekar. Irgendwie war es doch anziehend.“ Meta hoffte, sich mit gewöhnlichem, sinnlosem Geplapper aus der Affäre zu ziehen. Es war schon immer besser gewesen, wenn die Leute sie für unreif und unwichtig gehalten hatten. Und über die andere Sache sollte sie wirklich nicht mehr reden.

„Etwas anziehen - ja, das solltet ihr,“ Liebevoll tätschelte die Geweihte die Ritterin auf die Schulter. „Ich schau mal, wo eure Kleider bleiben.“ Damit wandte die Geweihte der Schönen sich ab und ging.

Gudekar fühlte sich vollkommen überrumpelt. Er kannte die Geweihte und hatte sie bisher stets als verständnisvoll empfunden. Aber heute hatte er eine ungewohnte Sturheit in ihr gespürt, fast schon eine Feindseligkeit ihm gegenüber. Dabei war er sich keiner Schuld bewusst. Außerdem hätte er zu gerne ihren Rat eingeholt in seiner Herzenssache. Doch das Vertrauen, dass er ihr gegenüber bisher verspürt hatte, war auf einmal wie ausgelöscht.

~*~

Merle lief kichernd und zitternd, Arm in Arm mit Doratrava, dem Lagerfeuer entgegen. Sie dachte nicht groß darüber nach, ob es unpassend war, hier nackt herumzurennen - andere hatten es schließlich auch getan. Und sie war vielleicht zurückhaltend, aber nicht prüde. Am Feuer angekommen löste sie die Umarmung und schnappte sich schnell zwei Decken, wovon sie eine fürsorglich um Doratrava legte und sich in die andere selbst einwickelte. Dann stellt sie sich so nah an das Feuer heran, wie es möglich war, ohne zu verbrennen. Die Haut an ihrem ganzen Körper kribbelte wie wild, als das Blut wieder aufzutauen und zu fließen begann - aber vielleicht war das zum Teil auch die Erregung und Begierde, die Doratravas wilde Küsse in ihr hervorgerufen hatten. Die junge Frau wrang ihre Zöpfe aus und schenkte der Gauklerin ein schelmisches Lächeln. "Na, auch wieder aufgetaut?"

"Ich bin dabei, aber es passiert mehr von innen", grinste Doratrava zurück und zwinkerte Merle zu. Sie fühlte sich noch immer benommen und berauscht von dem Wasser, dem, was darin geschehen war und dem, was es in ihr ausgelöst hatte. Allerdings hatte sie auch nicht jegliche Vorsicht fahren lassen, sonst hätte sie sich hier und jetzt auf Merle gestürzt, wie es ihr Körper verlangte. "Ich muss nachher nur noch meine Kleidung wiederfinden", überlegte sie laut, aber mit einem schelmischen Unterton.

"Ich auch”, nickte Merle. “Aber lass' uns erst ein bisschen am Feuer bleiben und ein Glühbier trinken, um warm zu werden. Dann machen wir uns auf die Suche." Merle lächelte Doratrava verträumt an. Noch immer standen sie sehr nah beieinander. Die Vorstellung, diese sinnlichen, weichen Lippen noch einmal zu küssen, diesmal nicht schnell und heftig unter Wasser, sondern langsam und ohne Hast, warm und zärtlich… Sie stellte sich vor, den langgliedrigen, schneeweißen Körper der Gauklerin zu streicheln und mit Küssen zu überdecken, Doratravas Haut am ganzen Körper zu spüren, die Schenkel um sie zu schlingen… Ein paar Mal atmete Merle tief durch und presste die Lippen aufeinander. Nein, sie hatte kein schlechtes Gewissen, dafür war Doratrava zu wundervoll und der Moment viel zu zauberhaft. Aber sie würde hier und jetzt eine Grenze setzen müssen. Langsam wieder in der Realität ankommend, suchte sie nach Gudekar; er kümmerte sich am Ufer um diese Ritterin, der das Bad offenbar nicht allzu gut bekommen war. Merle sprach in Gedanken ein kurzes Stoßgebet an die gütige Mutter, rückte noch etwas näher an die schöne Gauklerin heran und wisperte ihr sehr leise, ernst und bedauernd ins Ohr: “Du weißt, dass ich verheiratet bin.”

Die Blicke, die Merle ihr zuwarf, ließen Doratravas Selbstbeherrschung arg ins Wanken geraten, aber bevor sie sich zu etwas hinreißen ließ, erfolgte der kalte Guss in Form ihrer Frage. Allerdings war diese Wendung nicht gänzlich unerwartet, denn ihr war nicht entgangen, wer Merle war. "Du bist die Frau von Gudekar", antwortete die Gauklerin daher mit neutraler Stimme, auch wenn ihr das gerade nicht ganz leicht fiel. Gleichzeitig streckte sie die Hand aus und zog Merle näher zu sich heran und hinunter in eine sitzende Position am Feuer, wie diese es vorgeschlagen hatte. Dabei achtete sie darauf, dass sie so saßen, dass das Feuer die meisten Leute, die zu ihnen her blickten, blenden musste, insbesondere Gudekar. Leider konnte sie den Arm nicht mehr um Merles Hüfte legen, da sonst die Decke aufklaffen würde. Dann könnte sie sich gleich nackt ans Feuer setzen, was zwar gerade in Merles Gesellschaft ein durchaus verlockender Gedanke war, aber es gab leider entschieden zu viele Zuschauer hier. Also beschränkte sie sich darauf, sehr dicht an Merle heranzurücken, so dass nur noch die beiden Decken einer direkten Berührung im Weg standen.

Bevor Doratrava nun zuließ, dass das übliche, fast schon unausweichliche Gefühlschaos in ihr losbrach, welches bisher fast jede derartige Begegnung in ihr hervorgerufen hatte, schaute sie Merle mit unergründlich blassgrünen Augen an, ihr Gesichtsausdruck deutete Frage und Verheißung gleichermaßen an, die Unsicherheit, die sie fühlte, versuchte sie zu verbergen. "Was willst du mir damit sagen?"

"Das weißt du doch." Merle lehnte sich seufzend an Doratrava und legte leicht ihren Kopf an deren Schulter. "Du bist wundervoll. Du gefällst mir, faszinierst mich", flüsterte sie voller Sehnsucht und Zärtlichkeit. "Aber ich habe meinem Mann einen Schwur vor der gütigen Mutter geleistet, im vollen Bewusstsein, dass es auf ewig ist. Wir haben ein Kind, wir sind eine Familie. Ich liebe Gudekar über alles. Deshalb, meine liebliche, verlockende Doratrava...", sie drückte über der Decke die Schultern der Gauklerin, "...deshalb sollten wir keinen Weg beginnen, der uns und anderen nur Schmerz bringen kann." Mit entschuldigendem, bedauernden Blick schaute sie Doratrava in die Augen. "Ich würde sehr gerne deine Freundin sein. Aber nicht... mehr."

Unwillkürlich presste Doratrava die Lippen aufeinander, als dieser zweite, noch kältere Guss kam, der die Qualität des Eiswassers im Weiher übertraf. Einerseits hieß sie das fast schon vertraute Gefühl willkommen, wie etwas, das gerade in ihr im Entstehen begriffen war, bereits wieder riss, andererseits wunderte sie sich ein wenig darüber, denn sie hatte sich doch - noch - gar nicht in Merle verliebt, insofern sollte der Schmerz doch überhaupt nicht so groß sein?

Ihr Verstand nutzte allerdings diesen Moment ihrer Schwäche und eroberte verlorenes Terrain zügig zurück. Was hatte sie sich denn vorgestellt? Mehr als eine kurze Liebschaft, eine gemeinsame Nacht, wäre wohl kaum möglich gewesen, und der Schmerz der Trennung danach umso größer. Und falls Merle wirklich mehr gewollt hätte, was hätte sie ihr bieten können? Ihr Platz war nicht hier, und Merle, die auch noch ein kleines Kind hatte, hätte sie wohl kaum auf ihren Reisen begleitet.

Nun, Doratrava hatte sich gar nichts vorgestellt, ihre Emotionen hatten wie immer lawinenhaft von ihr Besitz ergriffen und sie nur für den Moment leben lassen, was das Schönste und Schrecklichste überhaupt war. Allerdings war diesmal dieser Moment viel zu kurz gewesen, um ihn richtig auskosten zu können, weder in der einen, noch in der anderen Weise. Aber die Gauklerin nickte tapfer, fast schon war sie stolz darauf, ihre Tränen, die sich unweigerlich ankündigten, zurückhalten zu können. Sie schluckte, dann antwortete sie, allerdings eher unbeholfen: "Das ... ich ... ich weiß. Ich bin ... gerne deine Freundin. Auch dann, wenn ... wenn du mehr willst, und sei es für eine Nacht." Fast schon ängstlich schaute sie Merle nun an.

“Wir wissen beide, dass das keine gute Idee wäre…” Langsam und wehmütig schüttelte Merle den Kopf. “Gudekar und ich sind verbunden; ich will und werde an seiner Seite bleiben. Weißt du, Treue bedeutet für mich nicht, dass es keine Gefühlsverwirrungen geben darf, keine Verlockungen… Und du, meine Schöne, bist sehr verlockend… ” Merle lächelte sanft und legte liebevoll den Arm um Doratrava. Sie dachte daran, wie Gudekar mit Tsalinde diesem Feenzauber erlegen sein mochte und fühlte ein tieferes Verständnis, eine noch aufrichtigere Vergebung. “Aber… für mich bedeutet der Bund auch, sich jeden Tag aufs Neue bewusst dafür zu entscheiden, den Weg gemeinsam zu gehen. Sich wieder anzunähern, wenn man sich auch manchmal voneinander wegbewegt.” Merle blickte nachdenklich in Gudekars Richtung und versuchte, aus der Ferne Blickkontakt zu ihm herzustellen. “Glaub mir, Doratrava, ich ahne, wie viel unsagbare Freude und Liebe du mir geben könntest… aber ich will mich nicht auf einen Pfad begeben, der mich von meinem Mann fort führt. Es tut mir sehr leid, wirklich. Und ich kann nur sagen, dass ich mich geehrt und gesegnet fühlen würde, dich meine Freundin nennen zu dürfen.”

Doratrava ließ den Kopf hängen und brauchte eine Weile, bis sie wieder etwas sagen konnte. Im Wasser hatte sich das ganz anders angefühlt, so, als würde es so kommen müssen, als läge ein kleines Stück des nächsten Weges klar vor ihr. Und an Merles Reaktion glaubte sie zu erkennen, dass es ihr ähnlich erging. Und nun … sie dachte zurück an das Gefühl im Wasser, dass sie nur einen Schleier hätte beiseite reißen müssen, es aber wegen Merle nicht getan hatte. Was wäre wohl passiert, hätte sie sich auf den Schleier konzentriert statt auf Merle? Aber das würde sie nun nie erfahren. Tief seufzend, damit ein Aufschluchzen unterdrückend, legte nun sie ihren Kopf an Merles Schulter. “Liebe muss schön sein … wenn sie länger als ein paar Tage anhält …”, murmelte sie. “Gudekar weiß wahrscheinlich gar nicht, was er an dir hat.”

Merle merkte, dass Doratrava kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Es versetzte ihr einen schmerzhaften Stich ins Herz, dafür verantwortlich zu sein, dass es der schönen Gauklerin schlecht ging. Im Wasser und gerade eben noch, als sie lachend, Arm in Arm, ans Feuer gestolpert waren, hatte sich alles so spielerisch und unbeschwert angefühlt - wie ein wundervolles Geschenk, das ihr ohne Zwänge, Bedenken oder Konsequenzen zuteil wurde. Jetzt merkte sie, auf welch gefährliches Terrain sie bereits geraten war. Beruhigend strich sie über Doratravas Schulter und Oberarm; auf gar keinen Fall wollte sie ihrer Freundin in irgendeiner Weise weh tun. "Wirklich gezeigt hat er es mir in letzter Zeit tatsächlich nicht", seufzte sie leise. "Er hatte aber auch viel um die Ohren... Ach, vielleicht bin ich deshalb so ausgehungert nach Liebe und Zuneigung." Sie schluckte schmerzhaft. "Aber ich will dich nicht auf diese Weise ausnutzen. Dafür bist du viel zu wertvoll."

Nun stahl sich doch eine Träne in Doratravas Augen. "Ausnutzen?", murmelte sie. Auf diesen Gedanken wäre sie gar nicht gekommen. "Wenn beide es wollen, ist das denn Ausnutzen?" Sie hielt Merles streichelnde Hand fest, damit sie ihren Körper nicht verließ. "Aber es müssen eben beide wollen. Wenn du Zweifel hast, dann ... dann will ich dich zu nichts überreden, was du später bereuen könntest." Sie selbst hatte sich dagegen solche Fragen bisher niemals gestellt. Sie wurde einfach jedesmal von ihren jäh und heiß aufflammenden Gefühlen überrumpelt und weggerissen. Und auch wenn daraus bisher niemals eine dauerhafte Beziehung entstanden war, so hatte sie im Nachhinein zwar jedesmal die Umstände betrauert, aber niemals bereut.

Während sich Doratrava und Merle am Feuer zu wärmen versuchten, schenkte Leodegar den beiden jeweils einen Becher wärmenden Glühbiers ein. Mit einem Grinsen reichte er beiden die Becher. “Die hohen Damen sollten dies trinken, um sich auch von innen zu wärmen, sonst bekomme ich noch Ärger mit Eurem Gemahl, wenn Ihr Euch verkühlt. Wulfhelm, geh und such die Kleider der Damen zusammen, wie es Herr Gudekar aufgetragen hat.”

Der Sohn des Jagdmeisters tat, wie ihm geheißen, nahm eine Fackel und machte sich auf in Richtung des Ufers. Leodegar wandte sich jedoch von den Damen ab und hielt einen ausreichenden Abstand, um die nötige Diskretion zu wahren.

"Hab Dank, Leodegar!” strahlte Merle, als sie den herrlich warmen Becher in Empfang nahm. Sie nippte kurz an dem heißen Getränk und fühlte, wie es ihren ausgekühlten Körper auch von innen erwärmte. “Und danke, Wulfhelm!” rief sie dem Sohn des Jagdmeisters hinterher. “Meine Sachen liegen gleich da drüben am Ufer, glaube ich.”

Als sich beide Männer entfernt hatten, wandte sich Merle wieder Doratrava zu. "Ich fürchte, wenn beide es aus unterschiedlichen Gründen wollen, dann kann es schon Ausnutzen sein..." murmelte sie nachdenklich. “Es tut mir wirklich leid, Doratrava.” Mit einem entschuldigenden Lächeln ließ sie ihren Becher leicht gegen Doratravas Trinkgefäß stoßen und prostete ihr zu. “Freundinnen, also?”

Freundinnen also ... nun, immerhin war das eine Art von Beziehung, die versprach, länger als zwei Tage anzuhalten und weniger von überschießenden Emotionen in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Sie hatte den Becher angenommen und dem Überbringer gedankenverloren zugenickt und stieß nun zögernd mit Merle an. "Freundinnen also ...", wiederholte sie, allerdings schwang in ihrer Betonung immer noch ein Hauch einer Frage mit, als sei sie sich nicht ganz sicher, was das bedeutete.

Merle nickte Doratrava mit einem warmen Lächeln zu. Den fragenden Unterton nahm sie durchaus wahr, doch wusste sie selbst nicht recht, was sie sich genau von Doratrava erhoffte. Ja, sie merkte, wie ausgehungert sie nach Nähe und Zärtlichkeit war, sie spürte die gegenseitige Anziehung - aber es war ihr auch klar geworden, dass jede Art von spielerischer, 'harmloser' Schäkerei ganz schnell zu mehr, viel mehr, führen konnte... und damit zu etwas, was nicht mehr im Sinne Travias war. Sie wollte Doratrava, die sie auf den ersten Blick liebgewonnen hatte, nicht gleich wieder verlieren - doch wusste sie, dass sie aufpassen müsste. "Also, Freundin... erzähl' mir was von dir", sagte sie leichthin, auch um sich selbst von der irritierenden, aufregenden Nähe von Doratravas nacktem, nur von der Decke verhüllten Körper abzulenken. "Wie bist du Artistin geworden?"

Doratrava schloss kurz die Augen und atmete einmal tief durch, um sich wieder besser in den Griff zu bekommen. Sie trank einen Schluck des fast zu warmen Bieres und wischte sich die Träne aus dem Augenwinkel. "Also, ich versuche es mal mit der kurzen Fassung", antwortete sie dann, immer noch mit leicht brüchiger Stimme, sich dessen bewusst, dass gerade diese Frage sie nicht sofort zurück zu ihrem Seelenfrieden führen würde. Ach, zum Namenlosen mit Seelenfrieden!

"Ich wurde als Säugling vor den Treppen eines Traviatempels abgelegt, und die Geweihten haben mich großgezogen. Als ich acht war, kam eine Gauklertruppe durch das Dorf und ich bin abgehauen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe bei den Geweihten. Ich habe mich in einem der Wagen versteckt, und als die Gaukler mich entdeckt haben, war es schon zu spät, um nochmals umzukehren. Ich durfte bei ihnen bleiben, musste aber die Drecksarbeit erledigen, und davon hatte ich auch schnell die Schnauze voll. Also begann ich zu lernen." Im Laufe der kurzen Erzählung war Doratravas Stimme sicherer, ihre Haltung straffer geworden. Nun blitzte sie Merle fast schon herausfordernd an. "In meinem noch nicht allzu langem Leben habe ich schon so einiges erlebt, und nicht alles war schön. Ich würde sogar sagen, die schönen Zeiten waren deutlich in der Minderheit." Sie sagte das mit einer Art Stolz, denn so fühlte sie auch. Trotz aller Widrigkeiten, trotz aller Anfeindungen wegen ihrer Andersartigkeit, war sie heute eine gefeierte Tänzerin und Akrobatin. Nur mit der Liebe, da hatte sie so ihre Probleme.

Merle riss bei Doratravas Erzählung überrascht die Augen auf. "Wie erstaunlich! Ich bin auch im Travia-Tempel aufgewachsen!" brachte sie staunend heraus. "Ich wurde als Waisenkind den Tempeleltern des Albenhuser Tempels adoptiert!" Sie blickte Doratrava tief in die Augen. "Bei mir war es jedoch anders... Mutter Liudbirg und Vater Reginbald waren immer gut zu mir und den anderen Kindern. Deshalb bin ich nie weggegangen. Es... es tut mir schrecklich leid, dass es bei dir nicht so war." Sie drückte Doratrava kurz, aber liebevoll an sich. "Aber wie du weggegangen bist, was du alles erlebt hast, was du alles kannst - das ist so beeindruckend! Du hast bestimmt schon unglaublich viel vom Dererund gesehen, oder?"

“Puh, ja, allerdings”, antwortete Doratrava zuerst auf die Frage. “Ich bin zwar in letzter Zeit viel in den Nordmarken unterwegs, aber ich war tatsächlich schon an vielen Orten: im Kosch, in Tobrien, in Almada, im Lieblichen Feld, sogar schon in Selem, bei den Tulamiden, in Khunchom, in Thalusa, auch in Nostria und Andergast, in Donnerbach und den Salamandersteinen, in Lowangen, auch auf See im Perlenmeer … reicht das fürs Erste?” Kurz grinste Doratrava, um dann wieder ernster zu werden. “Aber sag, das ist ja ein seltsamer Zufall, dass du auch in einem Traviatempel aufgewachsen bist. Schön, dass es dir … gefallen hat dort. Weißt du wenigstens, was mit deinen Eltern passiert ist?”

Merles braune Augen begannen zu leuchten bei der Aufzählung all' der fernen und exotischen Länder. "Du warst auf See!? Wie aufregend! Ich hab noch nicht mal das Meer gesehen!" schwärmte sie mit sichtlicher Begeisterung, dann legte sich wieder ein nachdenklicher Zug auf ihr Antlitz. "Meine richtigen Eltern, meinst du?" Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Zumindest wurde mir nie etwas gesagt. Aber bei dir...", sie streckte die Hand aus und strich Doratrava vorsichtig das helle nasse Haar hinters Ohr, "...hast du mal bei den, ähm... Elfen nachgefragt?" Unwillkürlich suchte sie nach dieser Elfenbaronin, die sie bisher nur aus der Entfernung bewundert hatte, dann lachte sie plötzlich hell auf. "Hey, vielleicht bist du ja eine verlorene Elfenprinzessin und eines Tages gewinnst du dein Königreich zurück! So wie in den Geschichten!"

Doratrava zog die Brauen zusammen. “Was? Du weißt auch nicht, was mit deinen Eltern ist, wer sie waren? Warum haben die Geweihten dir nie etwas gesagt? Warum hast du sie nie gefragt? Hast du andere Verwandte, die du fragen könntest?” Der Gauklerin erschien es völlig unverständlich, dass Merle da offenbar nicht neugierig zu sein schien. “Und was mich angeht: welche Elfen hätte ich denn fragen sollen? In Wildreigen gab es keine, und die ersten acht Jahre meines Lebens bin ich ja nicht von dort weggekommen, außer mal bis zum Nachbardorf. Und da gab es auch keine Elfen. Mittlerweile weiß ich, dass die Firnelfen so ähnlich aussehen wie ich, aber von denen habe ich noch nie einen gesehen. Insofern muss das Elfenkönigreich wohl weiter auf seine Prinzessin warten.” Sie grinste halb ironisch, halb wehmütig. Sie hatte mittlerweile sowieso Zweifel, dass es Sinn machte, Elfen nach ihrer Herkunft zu befragen, aber das behielt sie lieber für sich.

"Firnelfen..." murmelte Merle andächtig und lächelte verträumt. "Die sind bestimmt alle so hübsch wie du und wohnen in prächtigen Schlössern mit Türmen aus Eis und Kristall!" Sie zwinkerte Doratrava zu und winkte ab. "Du merkst, dass ich überhaupt keine Ahnung habe. Mit Elfen hatte ich bisher nichts zu tun." Dann lehnte sie wieder den Kopf an Doratravas Schulter und sann über deren Fragen nach. "Warum ich nicht nach meinen Eltern gefragt habe? Hm, schwer zu sagen... Ich glaube, vielleicht wollte ich’s gar nicht so genau wissen. Sie werden ja entweder tot sein oder irgendwas ganz schlimmes ist ihnen zugestoßen. Oder... sie wollten mich nicht." Merle presste die Lippen zusammen und schwieg für einen Moment. "Na ja, jedenfalls war's nie richtig wichtig für mich. Ich hab Mutter Liudbirg und Vater Reginbald immer als die einzigen Eltern angesehen, die ich jemals hatte und haben werde. Obwohl, ein bisschen ist inzwischen auch der Friedewald wie ein Vater für mich. Also hab ich keinen Grund, mich zu beklagen." Interessiert schaute sie Doratrava ins Gesicht. "Aber du bist schon auf der Suche nach deiner Herkunft?"

“Hm, aktiv gesucht habe ich bisher nicht wirklich. Lange Zeit hatte ich gar nicht die Möglichkeit dazu, da ich dorthin reisen musste, wo die Gauklertrupps hin sind, bei denen ich bis vor ein paar Jahren war. Und dann habe ich eben überhaupt keinen Anhaltspunkt, wo ich suchen soll. Meine Zieheltern haben mir nie eine Antwort gegeben auf meine Fragen, ich vermute, sie wissen selbst nichts. Erst als ich vorhin mit Rajalind, der Rahja-Geweihten, gesprochen habe, die auch wissen wollte, wo ich herkomme, ist mir die Idee gekommen, ich könnte mal zurück nach Wildreigen und einfach die Dörfler befragen. Da man mich vor dem Tempel abgelegt hat, gehe ich davon aus, zumindest hoffe ich das, dass noch mindestens ein Elternteil lebt - oder damals gelebt hat. Und mindestens meine Mutter oder mein Vater müssen ja auch so oder so ähnlich ausgesehen haben wie ich, vielleicht erinnert sich noch jemand von den Alten an irgendwas. Auch wenn das jetzt schon lange, lange her ist.” Doratrava hielt kurz grübelnd inne, dann fuhr sie fort: “Jemand hat mir mal etwas von einer weißen Elfe erzählt, die irgendwo in der Lowanger Gegend leben soll, die sähe auch so aus wie ich. Als ich selbst in Lowangen war, wusste ich das noch nicht, sonst hätte ich dort schon herum gefragt. Aber vielleicht ist das auch eine Spur. Allerdings kommt man nicht alle Tage nach Lowangen, und sich auf dem Weg in so eine abgelegene Gegend den Unterhalt zu verdienen, ist nicht ganz einfach.”

Wieder hielt Doratrava inne und überlegte, ob sie Merle nochmal auf deren Eltern ansprechen sollte, zögerte aber. Sie wollte sie nicht bedrängen, und nur, weil sie selbst sich nicht vorstellen konnte, nichts über die eigenen Eltern wissen zu wollen, musste das ja nicht für alle Leute gelten. “Du hast dann keine Geschwister - oder andere Verwandten?”, fragte sie dann aber doch.

"Das mit Lowangen klingt doch nach einer wirklich heißen Spur!" nickte Merle zustimmend. Insgeheim war sie sich aber nicht sicher, ob die Tatsache, dass Doratrava als Säugling auf den Tempelstufen abgelegt worden war, wirklich bedeutete, dass ein Elternteil noch lebte. Könnte nicht auch irgendein Außenstehender das Kind zum Tempel gebracht haben? Sie sagte jedoch nichts, um ihrer Freundin nicht die Hoffnung zu nehmen. "Also, eigentlich hab ich sogar ganz viele Brüder und Schwestern", erzählte sie stattdessen. "Uns Kinder aus dem Waisenhaus, die vom Tempelpaar adoptiert wurden, nennt man die 'Dreifelder Schar'. Wir halten zusammen und haben uns lieb wie Geschwister. Aber eine richtige Familie ist das natürlich nicht..." Sie zuckte mit den Achseln. "Deshalb bin ich auch unheimlich froh und dankbar, dass die Weissenquells mich so freundlich aufgenommen haben."

“Hm, aber eben keine leiblichen Verwandten”, sinnierte Doratrava laut. “Also ich an deiner Stelle könnte nicht still sitzen, wenn ich wüsste, dass es jemanden in der Nähe gibt, der mir dazu vielleicht etwas sagen könnte. Aber das musst du natürlich selbst wissen. - Was nun Lowangen angeht, wie gesagt, da kann ich nicht mal eben kurz vorbeischauen, mal abgesehen davon, dass eine Angabe wie ‘in der Gegend von Lowangen’ nicht gerade präzise zu nennen ist. So etwas müsste gut geplant sein, eine richtige Expedition. Ich weiß nicht, wann ich dazu mal Muße und Gelegenheit habe.” Und so, wie sie sich kannte, würde sie gar nichts planen, sondern eines Tages einfach losrennen, ohne sich weiter Gedanken zu machen. Und wieder in des Namenlosen Küche kommen. Zum Glück hatte die bisher immer einen Ausgang gehabt.

"Oh, du wirst bestimmt erfolgreich sein! Ich hab zwar keine Vorstellung, wo Lowangen eigentlich liegt - irgendwo in Richtung Firun, oder? - aber dein Aussehen ist so besonders, dass du ganz sicher jemanden findest, der dir weiterhelfen kann!” Merle versetzte Doratrava einen sanften Knuff in den Oberarm und nippte an ihrem Becher. “Meine Adoptiveltern kommen übermorgen her, um Gwenn und Rhodan zu trauen. Vielleicht frage ich sie dann doch noch mal”, murmelte sie nachdenklich und zuckte sie mit den Achseln. “Aber ich weiß echt nicht, ob ich wirklich Verwandte von mir kennenlernen will. Nachher merke ich, dass ich gar nichts mit denen gemeinsam habe; dass die mich überhaupt nicht mögen oder verstehen. Dass es am Ende einfach nur an mir liegt, dass ich so… allein bin." Sie seufzte und rollte mit den Augen. "Ach, sag nichts, ich weiß ja selbst, wie dumm das klingt. Aber ich denke halt oft, dass Gudekar der einzige Mensch auf Dere ist, der mich versteht, wirklich versteht. Zumindest war das früher so…" Sie atmete tief ein, um die Tränen zurückzuhalten. "Ich vermisse, wie lieb er damals war. Er war so lustig und freundlich, hat viel mehr gelacht, in sich geruht, war nicht so abgehetzt und… getrieben wie jetzt." Traurig starrte sie in die hellen Flammen des Feuers. “Und er schien mich zu mögen und zu begehren. Früher.”

Auf eine eventuelle Lowangen-Reise ging Doratrava jetzt nicht weiter ein, was hätte sie auch dazu sagen sollen? Als Merle aber von ihren möglicherweise existierenden, aber vielleicht nicht gefälligen Verwandten zu ihrer Beziehung zu Gudekar kam, war sie zwar versucht, etwas zu sagen, das in eine bestimmte Richtung ging, aber sie wollte Merles ganz offensichtliche Verletzlichkeit in dieser Sache nicht ausnutzen. Stattdessen drückte sie nun ihrerseits die wenig ältere Frau eng an sich, ohne darauf zu achten, dass ihre Decke dadurch bis zum Bauchnabel rutschte. Sie suchte nach tröstenden Worten, aber ihr wollte nichts Angemessenes einfallen, also hielt sie Merle lediglich stumm.

Auch Merle blieb einige Zeit still und ergab sich der warmen, tröstenden Umarmung, drückte ihr Gesicht in Doratravas Halsbeuge und versuchte, nicht schon wieder zu weinen. Nach einigen langen, schweigenden Momenten richtete sie sich auf, zuppelte mit wortloser Fürsorglichkeit Doratravas Decke wieder hoch und probierte ein verlegenes Lächeln. Sie wunderte sich selbst darüber, wie sie den ganzen Tag schon zwischen Angst und Verzweiflung, Mut und Übermut hin- und herschwankte. "Entschuldige. Ich bin gerade einfach durch den Wind, glaube ich."

“Es gibt nichts zu entschuldigen”, flüsterte Doratrava und strich Merle über das Haar. “Dafür sind Freundinnen doch da.”

Auf Merles Gesicht machte sich wieder ein dankbares Lächeln breit, auch wenn ihre Augen noch feucht waren. "Ich bin zwar gar nicht mal so sicher, wofür Freundinnen tatsächlich da sind und wofür nicht... vermutlich gehört nicht unbedingt dazu, sich im Eiswasser zu, ähm... verlustieren", ihr Grinsen war nun wieder mädchenhaft und neckisch, "...aber es macht mich einfach unheimlich glücklich, dich heute getroffen zu haben, Doratrava."

"Wenn dir der Sinn danach steht, dich im Wasser zu verlustieren, so darf dieses auch gerne wärmer sein", ging Doratrava auf den neckischen Ton ein, um dann ernst und sanft fortzufahren: "Ich bin ja selbst keine Expertin in Freundschaften, und," hier senkte sie die Stimme wieder kurzzeitig zu einem Flüstern, "schon gar nicht in Liebschaften, aber Freundinnen sollten einander halten, trösten, unterstützen, füreinander da sein ... habe ich gehört." Nun grinste sie wieder schelmisch. "Und wenn ich dich heute glücklich gemacht habe, dann freut mich das sehr. Nichts anderes versuche ich mit meiner Kunst, also Leute glücklich zu machen, aber das hier, zwischen uns, ist persönlicher." Sie blickte Merle tief in die Augen, und ohne ihr bewusstes Zutun öffnete sich halb ihr Mund, während ihre Nasenspitzen sich fast berührten.

Merle versank in Doratravas Blick, der ihr ganzes Sein und Bewusstsein auszufüllen schien. Sie wusste, wie gut sich ein Kuss anfühlen würde… schon die Vorstellung von Doratravas weichen, jetzt wieder warmen Lippen jagte Merle ein aufregendes Kribbeln durch Mark und Bein. Bei den Göttern, sie musste wirklich aufpassen… Für einen Moment hatte sich Merles Kopf fast automatisch ein winziges Stückchen in Doratrava Richtung bewegt, drohte sie dahinzuschmelzen - dann rückte sie ab und biss sich empfindlich auf die Unterlippe. Nein. Nicht, wenn Leodegar und Wulfhelm und ein Haufen anderer Leute um das Feuer rumschlichen. Und eigentlich… gar nicht. Wenn sie keine Lawine lostreten wollte, die nicht mehr aufzuhalten war, musste sie aufhören, über Doratravas süßen Mund nachzudenken. “Ach, du irritierst mich”, murmelte sie halb vorwurfsvoll, lachte dann aber wieder und nahm schnell einen Schluck von ihrem Glühbier.

Doratrava musste blinzeln, etwas in ihr hatte darauf gewartet, dass Merle die unausgesprochene Einladung, von der die Gauklerin gar nicht wusste, sie vermittelt zu haben, annahm, und war nun fast ... nein, nicht nur fast - enttäuscht, dass dem nicht so war. Aber Doratrava hatte sich wieder zumindest halbwegs im Griff und fing sich daher schnell wieder. "Das freut mich", erwiderte sie daher mit einem schiefen Lächeln und in spielerischem Tonfall, aber ihre Augen strahlten eine Wärme aus, die tiefer ging als jedes Spiel. Sie nahm nun selbst einen weiteren Schluck von dem warmen Bier und betrachtete über den Rand des Bechers hinweg Merles Gesicht, badete in ihrer Verlegenheit, nicht, um sie zu verhöhnen, sondern weil das bedeutete, dass diese etwas für sie empfand - vielleicht doch mehr als Freundschaft, wenn auch nicht genug für ... mehr.

Doratrava wollte aber nichts erzwingen, deshalb schaute sie sich nun betont auffordernd um. "Wenn unsere Kleidung nicht bald kommt, müssen wir wohl hier am Feuer übernachten", bemerkte sie leichthin, aber durchaus so, dass es nicht nur Merle hörte.

"Hm, es gäbe Schlimmeres. Ich finde es schon recht nett hier mit dir am Feuer", gab Merle freimütig zu. "Solange also jemand regelmäßig Holz nachlegt und uns mit Glühbier und Madabällchen versorgt..."

Doratravas Blick kehrte zu Merle zurück, intensiver als zuvor. Merle sprach aus, was sie gerade selbst gedacht hatte, allerdings durchaus mit einer gewissen Ernsthaftigkeit, aber sie hatte nichts gesagt, um ihre neue Freundin zu nichts zu drängen. Jetzt aber ... war sie selbst irritiert, denn Merle schien nicht recht zu wissen, was sie selbst wollte. Das machte die ganze Angelegenheit zu einem Spiel mit dem Feuer, in mehr als einer Beziehung. Das Problem war, dass etwas in Doratrava gern mit dem Feuer spielte. Man hatte sich nur die zweite Aufführung des heutigen Tages ansehen müssen ...

Die Gauklerin senkte ihre Stimme wieder, sodass hoffentlich nur noch Merle sie verstehen konnte. "Das mit dem Holz nachlegen kriegen wir zur Not selbst hin, und Madabällchen kann uns ja jemand da lassen ... keine Not, jemanden der anderen aufzuhalten, einen bequemeren Ort als diesen aufzusuchen ... ." Doratravas Tonfall klang spielerisch-herausfordernd, doch sie wusste natürlich, dass zumindest dieser Pfad zur Zweisamkeit kaum in der Wirklichkeit umsetzbar war. Würde nicht mindestens Gudekar dafür sorgen, dass seine Frau sicher und trocken nach Hause kam?

"Hm, schon eine verlockende Vorstellung…” stimmte Merle offenherzig, aber mit einer gewissen Vorsicht zu. Ja, die Aufmerksamkeit dieser schönen und exotischen Frau fühlte sich gleichzeitig wohlig-warm und unglaublich aufregend an; das zweideutige Geplänkel machte Spaß. Und sie war sich sicher, dass sowohl Gudekar als auch die Herrin Travia nichts gegen ein bisschen harmloses Getändel mit einer Freundin hätten, zumindest redete sie sich das ein. Andererseits war Merle klar, dass es nicht lange harmlos bleiben würde, wenn sie sich nicht endlich zusammenriss. Mit einem Anfall von Eile drehte sie den Kopf in Richtung des dunklen Ufers und versuchte zu erkennen, ob jemand ihre Sachen gefunden hatte. “He, Wulfhelm, wie sieht’s aus?” rief sie laut in die Dunkelheit. “Die Sachen müssten doch gleich da drüben sein, oder etwa nicht?”

~*~

Vinja hatte indessen bereits alle Kleider zusammengesammelt. Wie oft war es ihr geschehen, dass die dummen Dorfjungs das notwendige Textil stahlen, während sie - und ihre Freundinnen - badeten. Wenn sie recht darüber nachdachte, war es eigentlich immer ihre Kleidung und manchmal fand sie Teile davon einige Tage später ganz in der Nähe des Sees oder des Marrenbachs wieder, aber dieses Schicksal wünschte sie niemandem. Als Wulfhelm herbeikam und nach Kleidung suchte, deutete sie vorwitzig mit nacktem Zeigefinger auf ihn: „Ha, Ihr Unhold. Wolltet Ihr etwa die Kleider der badenden Damen entwenden? Ich habe Euch erwischt - tut nicht so unschuldig!“

Wulfhelm lief rot an. Der junge Mann hatte ganz andere Absichten, lautere Absichten, auch wenn es stimmte, dass er die Kleider einsammeln wollte. “Verzeiht, hohe Dame. Ich wollte die Kleider lediglich den frierenden Besitzerinnen zurückbringen.” Er deutete in Richtung des Feuers, an dem Merle und Doratrava in Decken gewickelt saßen. “Mein Vater hat mich deshalb geschickt.”

„Kleider? Ich suche nach Kleidern. Von der Ritterin Croy! Habt ihr sie?“ fragte Rajalind, die zufällig ein paar Fetzen gehört hatte.

"Was, Ihr auch, Euer Gnaden?", fragte die laute Stimme der gehetzt wirkenden Ingrageweihten. "Ich suche schon überall, hinter jedem Busch. Aber irgendein lüsterner Strauchdieb scheint wohl die Kleider der Ritterin Croy entwendet oder gar gestohlen zu haben." Plötzlich fiel Imeldas Blick auf die Kleider, welche sich auf Vinjas Arm befanden. Mit scharfen, strengen Augen sah sie die junge Dame an. Sie zeigte mit dem Finger auf die Kleider und rief laut aus: "Ahaaa!"

“Keine Sorgen, Eure Gnaden! Diese Dame hier wollte die Kleider nur vor just jenem Schicksal bewahren, das Ihr gerade vermutetet. Wir sind gerade dabei, die Kleider an die rechtmäßigen Besitzerinnen zurückzugeben. Vielleicht könnt Ihr uns helfen. Welche der Kleider gehören denn zu der Dame Croy?” Wulfhelm war es sichtlich unangenehm, die Unterkleider der hohen Damen ansehen und zuordnen zu müssen. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, doch sein Gesicht leuchtete in einem helleren Rot als die Glut des Lagerfeuers. Er hielt eine Tunika hoch. “Dies gehört der jungen Dame Merle.”

Mit skeptischem Blick hielt Vinja einen Unterrock nach dem anderen hoch und wartete auf Rückmeldung. "Und dass ihr mir die Kleider ja zurückgebt!", schalt sie noch einmal voller Misstrauen.

“Ich würde doch niemals wagen, den Herrn Magus zu verärgern, indem ich die Kleider seiner Frau oder einer anderen Dame unterschlage!” In Wulfhelms Stimme lag eine gespielte Empörung. “Ach, schaut, auf jenem Unterhemd sind die Zeichen ‘MW’ eingestickt. Das gehört sicherlich der Dame von Weissenquell.”

„Ansonsten gebt den Frierenden einfach irgendwas!“ schlug Rajalind vor.

„Ja also frieren lassen wir hier niemanden. Aber ihr würdet doch auch nicht die Unterwäsche von anderen tragen wollen? Oder?“ Vinja kam offensichtlich ins Grübeln. Vielleicht war die Vorstellung gar nicht so unreizvoll.

„Wenn ich danach nicht mehr friere?“ antwortete Rajalind mit einer Gegenfrage, dann zuckte sie mit den Schultern. „Es ist doch nur ein Unterrock. Für sittliches Verhalten ist es jetzt, da die wohlgeborenen Damen sich bereits vor aller Augen, bekannter und fremder, im Tsagewande in Efferds kühle Fluten stürzten, etwas spät, meinst du nicht?“ Sie lachte dabei belustigt auf.

"So schwer kann das doch nicht sein, die Sachen zu sortieren", behauptete Imelda. Sie ergriff eine spitzenbesetzte Unterhose und hielt diese demonstrativ in die Höhe. "Meta, ist das deine?" schrie sie lautstark über das Ufergelände. Dann begann sie die Sachen an sich zu reißen, die sie für Metas hielt.

“Oder wir bringen alle Kleider zum Lagerfeuer und rufen die Damen dort zusammen, dann kann sich eine jede ihre eigenen Kleider heraussuchen”, schlug Wulfhelm vor, bevor Imelda mit den vielleicht falschen Sachen verschwinden konnte.

"Zwei der Damen sind ja schon am Feuer", bemerkte Imelda altklug. "Lassen wir doch Merle und Doratrava ihre Sachen aussortieren und den Rest kriegt Meta."

“Also gut, dann bringt doch den Damen bitte die Kleider. Ich… ich…” stammelte der junge Mann, “ich muss ja nicht dabei sein, wenn sie sich ankleiden.”

„Vielleicht könnt ihr der Dame, die von Meister Gudekar beschirmt wird, einen zweiten Mantel bringen bis dahin?“ schlug Rajalind dem Jagdhelfer vor. „Ich gehe und verteile Süßigkeiten,“ erklärte sie ohne auf Antwort zu warten und verließ die kleine Runde ebenso beiläufig, wie sie zu dieser gestoßen war.

"Ja, Wulfhelm. Ich glaube, sie können sich auch ohne deine Mithilfe ankleiden. Also tschüss!", verkündete Imelda dem jungen Mann gegenüber. "Ich bringe den Damen ihre Kleider. Macht euch keine Sorgen!"

“Gut, wie ihr wünscht, Euer Gnaden.” Wulfhelm drehte sich um, um einen Mantel für Meta zu holen. Ein klein wenig war er schon enttäuscht, hätte er doch gerne einen kurzen Blick auf die Damen geworfen, wenn sie… Er schüttelte den Gedanken weg und ging in Richtung des Wagens am Waldrand, auf dem vielleicht noch ein Mantel lag. Verstohlen blickte er sich zum Lagerfeuer um.

Vinja traute dem Mann noch immer nicht hundertprozentig, weshalb sie sich entschied, ihm heimlich zu folgen. Als er sich nach dem Lagerfeuer umzudrehen gedachte, packte sie einen Ast am Waldrand und schlug ihn, so kräftig sie konnte gegen einen Baum. Das Krachen des Astes sollte den Lüstling ordentlich erschrecken. So schnell sie konnte, huschte sie selbst hinter den Baum außer Sicht.

Wulfhelm schaute sich erschrocken um, wo das Geräusch herkam, konnte jedoch in der Dunkelheit nichts erkennen. Zur Sicherheit nahm er eine der beiden Schaufeln, die sie auf dem Wagen gelagert hatten, um später die Glut zuzuschütten, und schlich vorsichtig in die Richtung des Baumes, aus der das Geräusch kam. Er horchte auf die kleinsten Geräusche und schaute, ob er irgendwelche Bewegungen sehen konnte. Seine größte Sorge war, dass die Wildschweinrotte in der Nähe war und die Gesellschaft gefährden konnte. Wenn das passieren würde, würde er die hohen Herrschaften durch Rufe warnen und sich selbst der Rotte in den Weg stellen, selbst wenn dies seinen eigenen Tod bedeuten konnte. Doch die Hohen Herrschaften waren zu schützen und es würde ihnen vielleicht die nötige Zeit verschaffen, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Firun würde es ihm danken.

Na das hatte schon mal geklappt, dachte die Gärtnerin, als sie hörte, wie Wulfhelm in ihre Richtung stapfte. Aber ein Spiel machte nur Spaß, wenn man es ordentlich zu Ende spielte. Vinja hob vorsichtig ein Stöckchen vor sich auf und warf es so weit sie konnte von sich. Der kleine Stecken raschelte durchs Unterholz und kam unauffällig zum Liegen.

Da! schon wieder ein Geräusch! Diesmal aus der anderen Richtung! Wulfhelm drehte sich um und hob die Schaufel reflexartig hoch, zum Schlag bereit. Dann näherte er sich dem Unterholz, aus dem er das letzte Geräusch gehört hatte. Vorsichtig, nicht zu laut, fragte er: “Hallo, ist da wer?”

Die schlanke junge Frau trat hinter Wulfhelm aus dem Gebüsch - mit dem nötigen Abstand, um keine Schaufel drübergebraten zu bekommen. Ein lautes „Buh“ riss ihn aus seiner Konzentration und ließ ihn herumfahren. Mit nacktem Finger zeigte sie auf seine Brust: „Ha, erwischt! Du widerlicher Spanner hast zum Feuer rübergelunzt! Wenn das dein Herr erfährt - schließlich ist auch seine Frau dort noch unterwegs.“

Wulfhelm erschrak so sehr, dass er dachte sein Herz bliebe stehen. Fast hätte er nach der Frau geschlagen, doch konnte er den Schlag aufhalten, als er erkannte, dass dort eine der Gäste vor ihm stand. „Habt ihr mir einen Schrecken eingejagt! Ich dachte fast ihr wärt ein wilder Keiler!“ Ihm fiel auf, dass dies wohl kein passender Vergleich für eine Dame war. „Also, nicht dass Ihr Ähnlichkeit mit einem hättet.“ Dann blickte er erneut zu dem Feuer auf der Lichtung hinüber. „Was meint Ihr? Wer? Ach so, ihr meint die Dame Merle Dreifelder. Nein, ihr Mann ist nicht mein Herr, das müsst ihr verwechseln.“ Er war froh, dass er von dem Vorwurf ablenken konnte, zu den Damen hinübergeschaut zu haben. „Merle ist die Frau von Meister Gudekar. Mein Herr ist seine Wohlgeboren Friedewald von Weissenquell, der Vater von Meister Gudekar und der Dame Gwenn.“ Seine Worte wurden immer schneller.

„Ach, ähm…so ist das. Aber… aber… das ist doch dasselbe? Der Herr Gudekar ist doch der Sohn von seiner Wohlgeboren von Weissenquell - und also ist Frau Merle Dreifelder seine Schwiegertochter. Egal! Das ist erst Recht keine Erlaubnis, zu glotzen. Wenn du eine Frau nackt sehen willst, dann bei Rahja, such dir eine oder zahl dafür!“ Vinja hatte die Hände in die Hüften gestemmt und ereiferte sich sichtlich. Dieser freche Wüstling brauchte eine ordentliche Lektion hinter seine gierigen Löffel!

“Ähm, also”, Wulfhelm fasste all seinen Mut zusammen, um der Anschuldigung zu widersprechen, “ich muss doch schon sehr bitten, Eure Hochgeboren? Wohlgeboren? Hohe Dame? Wie auch immer, was Ihr mir da unterstellt ist ja ungeheuerlich! Ich bin ein verheirateter Mann! Und wenn ich die Dame Dreifelder nackt sehen wollte, da hätte ich gewiss sicherlich schon genügend Gelegenheiten haben können”, echauffierte sich der junge Jägersmann.

„Ach so? Spionierst du der armen Frau also andauernd hinterher, dass du sie so oft hast beglotzen können? Und ein eigenes Weib hast du auch noch, das du damit hintergehst? Na du bist mir einer!“

“Ihr dreht mir das Wort im Munde um, hohe Dame! Ich habe nicht gesagt, dass ich der Herrin nachstelle, sondern dass ich Gelegenheiten dazu gehabt hätte. Was bezweckt Ihr eigentlich mit Euren Fragen? Ich.. ich…, ach, lasst mich doch einfach in Ruhe!” Wulfhelm wusste sich nicht mehr zu helfen. Er hatte doch gar keine bösen Absichten und wurde nun von dieser Dame derart denunziert. Wenn sie ihre Vorwürfe vor den Edlen brachte, würde er vermutlich mächtig viel Ärger bekommen. Und wenn nicht von Herrn Friedewald, dann zumindest von Luzia. Das hat man nun davon, wenn man den hohen Herrschaften einfach nur helfen will, nachdem diese sich in eine prekäre Lage bringen.

„Du machst sowas nie wieder! Versprochen? Das hast du doch gar nicht nötig!“, reichte Vinja dem jungen Mann rhetorisch die Hand. Sie wollte ihm nur einen ordentlichen Schreck einjagen, damit er die Lektion ein für alle Mal lernen würde. Ernsthaft Ärger sollte er schließlich nicht bekommen.

Eigentlich wollte Wulfhelm nun zum Wagen, seinem eigentlichen Ziel, gehen, um den Mantel für die andere nackte Frau zu holen. Doch nun drehte er sich noch einmal zu Vinja. Langsam wurde er zornig. “Wisst Ihr, was geht Euch das eigentlich an? Wenn ich nach den Damen schaue, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist, dann erfülle ich auch meine Pflicht. Die Gäste, alle Gäste, also auch Ihr, stehen auf dieser Wanderung in der Obhut von Bernhelm, meinem Vater und mir. Wenn irgendjemandem hier etwas passiert, dann bekommen wir den Ärger von seiner Wohlgeboren, nicht Ihr. Deshalb werde ich nach den Damen schauen, so oft ich denke, dass es notwendig ist, um für Ihre Sicherheit zu sorgen. Und dass sie dort unbekleidet herumsitzen, erhöht in meinen Augen nicht ihre Sicherheit. Also, entweder Ihr lasst mich jetzt meine Pflicht erfüllen, oder…”

„Ach, du hast dich um die Sicherheit der Damen gesorgt?“, erwiderte Vinja völlig entwaffnet. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.

“Ähm, ja, wenn Ihr gestattet”, antwortete Wulfhelm jetzt auch etwas überrascht, denn auch er hatte befürchtet, eher eine weitere Zurechtweisung entgegengebracht zu bekommen.

Vinja blinzelte leicht verwirrt, dann nickte sie heftig. "JA NATÜRLICH", entfuhr es ihr. "Pass gut auf sie auf. Es soll ihnen ja kein Leid geschehen. Halt die Spanner fern! Da musst du genau hinschauen!"

“So ist es”, bestätigte er, wonach er schnell errötete, als ihm auffiel, dass seine Bestätigung leicht missverstanden werden konnte.

~*~

Imelda ging indes mit dem Berg Kleider und Schuhe in den Armen zum Lagerfeuer hinüber, wo Merle und Doratrava in Decken gekuschelt saßen. Leodegar, der Jagdmeister, stand noch immer am Feuer, stocherte in der Glut und goss gelegentlich Glühbier in die Becher der Gäste, die danach fragten. Von dem Gespräch der beiden nackten Schönheiten nahm er keine Notiz.

"So, keine Sorge!", rief Imelda den Gestalten am Feuer entgegen. "Hier kommt schon die Rettung." Sie lief zu den beiden Damen und zeigte ihnen mit ausgestreckten Armen die Kleider. "Aber seid vorsichtig, da hinten gibt es einen jungen Mann, der sich wohl einen Vorteil aus der Situation erhofft, mal eine Frau ohne Kleider zu erblicken. Er befindet wohl da hinten im Gebüsch!"

Dann sah sie zu Leodegar. "Es wird alles gut, ich helfe gleich mit dem Feuer, dann ist es nicht mehr so mickrig..."

"Im Gebüsch?!" fragte Merle ungläubig. "Wer ist es? Jemand aus unserer Gruppe?" Sie zuckte zweifelnd mit den Achseln und lächelte ironisch. "Eigentlich hatten doch alle vorhin schon genug Gelegenheit, uns beim Reingehen und Rauskommen aus dem Weiher anzusehen. Glaubt Ihr, die Neugier ist immer noch so groß, Euer Gnaden?"

"Das ist dieser Junge, der vorhin den Schnaps verteilt hat. Wer weiß, was er in der Dunkelheit des Gebüsches gerade macht...", vorsichtig versuchte sich Imelda in Richtung des Spanners umzudrehen, blickte dann jedoch schnell wieder zu den beiden Damen und hielt ihnen die Kleider weiter auffordernd entgegen. "Da sind wohl auch noch ein paar Stücke dabei, welche der Ritterin Meta gehören."

Leodegar drehte sich um, als er Imeldas Warnung hörte. “Wulfhelm?” Der Jäger musste lachen. “Vor meinem Sohn braucht ihr keine Sorge haben, das wisst ihr doch, Hohe Dame Merle? Ich hatte ihn doch losgeschickt, die Kleider holen, jetzt sucht er wahrscheinlich vergebens. Und was das Feuer angeht, Euer Gnaden, ich versuche gerade eher, es langsam herunterbrennen zu lassen. Sobald die Damen bekleidet sind würde ich gerne auf den Rückweg aufbrechen. Es wird spät und Wulfhelm und ich müssen morgen früh raus, einige der Gäste auch.”

"Natürlich weiß ich das", nickte Merle, lachte ebenfalls und begann, nachdem sie die Decke vorsichtig um den eigenen Körper drapiert hatte, schnell und methodisch die Kleidungsstücke zu sortieren. "Macht Euch wirklich keine Gedanken, Euer Gnaden, der Wulfhelm ist ein Ehrenmann. Und habt großen Dank für die Kleider!" Stolz schaute sie zu Doratrava. "Ich finde meine Sachen ganz schnell raus; ich hab nämlich alles mit meinem Monogramm bestickt!" Als sie in Doratravas Blick Unverständnis zu lesen glaubte, senkte sie verlegen lächelnd den Blick. "Ähm, ist so eine Marotte von mir... ich sticke halt gern."

Doratrava lächelte warm. “Dafür brauchst du dich doch nicht entschuldigen. Außerdem nehme ich dann einfach, was übrig ist und mir passt. Der Rest ist dann wohl von Meta.” Sie grinste. “Was den Jungen angeht, mache ich mir auch keine Sorgen. Wenn wir ein paar Schritte von Feuer weggehen, sieht man eh bloß noch Schatten.”

"Mmmhh..." gab Imelda von sich, misstrauisch in Richtung Wulfhelms schauend, dann lächelte sie jedoch gutmütig zu Merle. "Ich hinterlasse meist im Erl auch meine Initialen, wenn ich Waffen schmiede. Oder mein Wappen. Der Gudekar hat dann sicherlich auch Initialen in seinen Kleidern, oder?"

“In den meisten schon”, gab Merle zu. “Ist ja auch praktisch, finde ich.”

Dann nahm Imelda die Kleider von Meta entgegen. "Ich bringe das dann mal zur Ritterin." Sie winkte kurz den beiden zu und eilte zurück zur bibbernden Meta.

“Gut, dann ziehen wir uns mal an, was?” sagte Merle zu Doratrava, schaute aber suchend zu Leodegar. “Gibt es hier ‘ne kleine Laterne oder Funzel oder sowas, damit wir hinten in den Büschen nicht über die Wurzeln oder unsere eigenen Füße fallen?”

“Ihr könnt euch eine Fackel nehmen”, gab Leodegar zurück. “Aber seid bitte vorsichtig, hohe Dame, wenn ihr ins Gebüsch geht. Man weiß nie, welches Getier bei Nacht unterwegs ist.  

"Also, ich könnte meine Laterne und die Fackel halten, während ihr euch umkleidet...", bot Imelda an, die die viel zu schwach glimmenden Holzscheite des Lagerfeuers skeptisch in Augenschein nahm. "Dann ist es schön hell und vielleicht sicherer."

“Oh, habt Dank, Euer Gnaden! Aber dann kriegt Ritterin Croy ihre Kleidung nicht schnell genug”, warf Merle ein. “Leodegar, würdest du ihr die Sachen schnell bringen?”

“Sehr wohl, hohe Dame! Wie ihr wünscht.” Der Jäger ließ sich die übrigen Kleider von Imelda geben und ging damit zu Gudekar und Meta.

“Dann werden wir uns unter dem schützenden Licht des Herrn Ingerimm mal wieder ankleiden, Doratrava, oder was meinst du?” Merle ergriff ihren Kleiderstapel, um in die Dunkelheit jenseits des Feuers zu stapfen.

Lächelnd folgte Doratrava ihr, mit dem eigenen Kleiderstapel unter dem Arm. Dass Imelda hier blieb, fand sie ein klein wenig schade, aber sie konnte sie ja nun schlecht wegschicken. “Komm aber nicht zu nahe”, rief sie der Geweihten trotzdem zu, “sonst hätten wir uns ja gleich am Feuer anziehen können.” Ihr Lächeln vertiefte sich, als sie Merle beobachtete, während sie sich selbst anzog.

In Imeldas flackerndem Feuerschein legte Merle die Decke, in die sich gewickelt hatte, ohne Umstände oder Scheu ab, auch wenn die kalte Nachtluft ihr eine Gänsehaut bescherte; so dass sie sich fröstelnd über die Oberarme rieb. Sie war schlank, aber nicht dürr; die Schwangerschaft hatte ein paar zusätzliche Rundungen hinterlassen, die vermutlich so schnell nicht wieder weggehen würden. Insgesamt war sie eine eher zurückhaltende Frau, hatte jedoch kein Problem mit Nacktheit, weder ihrer eigenen noch der anderer Leute. Vielleicht zeigte sich an solchen Dingen, dass sie trotz allem eine Gemeine geblieben war... Während sie schnell, aber ohne Hektik begann, sich anzukleiden, warf sie hin und wieder, ohne Doratrava direkt anzustarren, interessierte Blicke hinüber, bewunderte den schneeweißen, zartgliedrigen, aber offensichtlich athletischen Körper der Tänzerin. "Hast du alles oder fehlt was von deinen Klamotten?" fragte sie, um die Stille zu füllen.

Doratrava hatte es nicht eilig mit dem Anziehen und nahm sich durchaus die Zeit, im Gegenzug Merle ausgiebig und wohlwollend zu betrachten, etwas, das sie sich noch vor wenigen Jahren niemals getraut hätte. Genauso, wie sie sich nicht vor anderen Leuten ohne Not nackt ausgezogen hätte, obwohl es oft nicht anders ging, wenn man mit einer kleinen Gauklertruppe unterwegs war. Trotzdem war ihr das früher immer unangenehm gewesen. Aber sie und Merle waren zusammen nackt im Teich geschwommen und hatten sich geküsst, warum sollte sie da jetzt scheu sein?

“Hm, ich glaube nicht”, antwortete sie auf die Frage, kontrollierte aber sicherheitshalber ihren Gürtel und ihre Stiefel, ob alle Wurfdolche noch da waren. Sie war nicht von einem Überfall ausgegangen, aber ihre Erfahrungen hatten sie gelehrt, vorsichtig zu sein. Insofern hatte sie nicht das ganze Arsenal mitgenommen, aber zwei im Gürtel und einen im Stiefel hatte sie schon dabei, zusätzlich zu ihrem Langdolch.

Nachdem sie sich vollständig angezogen und auch den Mantel wieder übergeworfen hatte, faltete Merle ihre Decke ordentlich zusammen und nickte Imelda zu. "Habt Dank, Euer Gnaden, für die freundliche Beleuchtung!"

"Na klar, das mache ich doch gerne! Nicht, dass nachher irgendwas verkehrt herum sitzt", kommentierte Imelda, während sie weiter leuchtete.

Merle ging zu Doratrava und nahm deren Hand. "Und, ist dir noch kalt? Wollen wir für einen Moment zurück ans Feuer, bevor die Truppe sich wirklich in Bewegung setzt?"

“Wenn das bedeutet, dass du deinen Arm um mich legst, um mich zu wärmen, dann ist mir kalt, ja”, grinste die Gauklerin und strich einmal sanft über Merles Wange, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Imelda gerade nicht her sah. Dann zog sie ihre neue Freundin mit zum Feuer, um sich dort hinzusetzen, und, den Kopf an Merles Schulter gelehnt, die Wärme zu genießen.

"Hm, das wird sich vielleicht einrichten lassen", murmelte Merle leise. Am Feuer drückte sie Doratrava eng an sich, starrte aber schweigend und gedankenverloren in die herunterbrennenden Flammen.

Auch Doratrava schlang nun ihren Arm um Merle und genoss schweigend ihre Nähe und die Wärme des Feuers.

Die Ingrageweihte hatte derweil noch einen Scheit nachgelegt und nahm ebenfalls am Feuer Platz, um sich zu wärmen. Die Flammen betrachtend stakste sie mit einem Ast in der Glut herum und versuchte, die nur halb abgebrannten Scheite noch zum Lodern zu bringen. Ein breites, freudiges Grinsen machte sich einen Moment später auf Imeldas Antlitz breit, als zwei Scheite sich gegenseitig so viel Hitze spendeten, dass eine neue Flamme emporschoss.

~*~

Das wärmende, prasselnde Feuer wirkte beruhigend - und bot einen Kontrast zu dem nahezu überderischen Leuchten auf dem See, dessen diese kleine Gesellschaft noch vor Kurzem Zeuge gewesen war.

Liana schritt langsam durch das Lager. Sie musste nicht lange suchen.

Sie erblickte den Magier am Ufer des Weihers, die entkleidete und nur in einen Mantel gehüllte junge Ritterin im Arm haltend. Es war für sie offensichtlich, dass dies mehr war als nur der Versuch, die junge Frau vor der Kälte zu schützen. Nun gesellte sich auch die Rahjageweihte zu den beiden. Liana entschied, dass dies nicht der richtige Moment war, den Anconiter anzusprechen.

~*~

Der Weg zurück

Als sich alle Badenden wieder zur Genüge erwärmt und schließlich bekleidet hatten, wurde alles für den Rückweg gerichtet. Bernhelm und Wulfhelm sammelten die Decken und Kissen ein und verstauten diese in Kisten, die auf einem kleinen Wagen am Rande der Lichtung bereitstanden. Auch die Trinkgefäße wurden wieder eingesammelt. Leodegar verteilte neue Fackeln an die Wanderer, die an der Glut des Lagerfeuers entzündet wurden. Dann goss er die Reste des Glühbieres über die langsam erlöschenden Flammen und schüttete bereitgestellten Sand über die Glut, um diese zu ersticken. Während die Gruppe von Wulfhelm geführt in Richtung Jagdhütte aufbrach, blieben Bernhelm und Leodegar noch einen Moment auf der Lichtung, um zu überwachen, dass die Glut auch tatsächlich erlosch. Trotz der kühlen, feuchten Jahreszeit wollten sie keinen Waldbrand riskieren. Für ihre Dienste wurde sie von der Rahjageweihten mit Süßigkeiten und wärmenden Worten des Lobes belohnt.

Meta hatte Imelda bereits am Weiher um ein gemeinsames Gespräch auf dem Rückweg gebeten. Und so hielten die zwei Freundinnen etwas Abstand vom Rest der Gruppe, um ungestört miteinander reden zu können.

Etwas unsicher kaute die Ritterin auf ihrer Lippe, als sie neben Imelda ging. „Hm. Ich will ein paar Dinge mit dir besprechen oder erstmal deine Meinung hören. Du bist ehrlich und unvoreingenommen, so hoffe ich.“ Sie rollte mit den Augen. “Keiner sonst wäre das. Ich bin gebrandmarkt als die böse Frau, die Merles und Gudekars Glück zerstört. Vielleicht denkst du auch so? Du kennst unsere Beziehung seit dem Beginn und bist immer auf meiner Seite gestanden. Warum habe ich das Gefühl, dass das bei dir nun nicht mehr so ist? Dass Merle hübsch und lieb ist, das wussten wir. Mir scheint es aber, als würdest du sie netter finden. Ich dachte, ich hätte eine Freundin in dir. Ehrlich, was soll ich deiner Meinung nach tun. So schön der Schein jetzt ist. Sicher hast du auch bemerkt, dass Gudekar in das Verhalten zurückfällt, dem er entkommen wollte.“ Sie zog die Augenbrauen hoch und atmete angespannt aus. „Sag einfach,was dir dazu einfällt.“

Imelda stiefelte sichtlich gut gelaunt neben der Ritterin her, wobei sie immer wieder verträumt in Richtung des Nachthimmels starrte und das Madamal suchte. Als Meta plötzlich die harschen Vorwürfe äußerte, sah sie ihre Freundin erschrocken und stirnrunzelnd an. Sie war versucht, spontan zu antworten, doch biss sie sich auf die Lippen, blieb stehen und schloss für einen Moment die Augen, um einmal tief ein- und tief auszuatmen. Dann sah sie Meta eindringlich an. “Hör’ mal, ich weiß, du machst gerade die schlimmste Zeit deines Lebens durch. Aber das macht auch Gudekar… und bald auch Merle.” Imelda packte nun Meta mit beiden Händen an den Schultern und sah sie noch intensiver aus nächster Nähe an: “Du wusstest die ganze Zeit, dass Gudekar mit einer liebreizenden Dame verheiratet ist und ja, das was du mir in den Briefen geschrieben hast, stimmt. Sie ist nett. Das heißt aber nicht, dass das irgendwas zwischen uns beiden ändert… und ja, das, was du tust, ist nicht nett, weil du einer Frau ihren Mann und einem kleinen Mädchen den Papa wegnimmst. Aber auch das wusstest du von Anfang an. Und ich bin trotz alledem deine Freundin, Meta. Ich werde für dich da sein, egal, wie das hier alles ausgeht. Wir werden Freunde bleiben, was auch immer geschieht… Naja, es sei denn, du schwingst dein Schwert und bringst alle um”, gab sie mit einem entschuldigenden Schulterzucken zu. “Aber ansonsten liebe ich dich als meine Freundin und werde es immer tun. Und falls du einen Rat bezüglich deiner Situation brauchst, dann stehe ich dir hier und jetzt zur Seite. Ich denke, du brauchst einen Plan oder eine Strategie oder sowas…”

„Tut mir leid. Ich war wohl etwas grob.“ Verlegen scharrte Meta mit der Fußspitze den Boden des Pfades hin und her. „Wenn die Beziehung intakt wäre, könnte ich niemanden wegnehmen. Vor allem gehöre da nicht nur ich dazu. Und das kleine Mädchen kennt seinen Papa nicht. Wenn es mit einem anderen Mann aufwächst, wird er ihr wie ein entfernter Verwandter sein. Meinst du, es wäre für alle besser, wenn ich es mit ihm sein lasse?“

“Mhhh, er hat seine Tochter nicht so viel gesehen, weil er auf Reisen war, irgendwo dieses Zeugs erlebt hat, diesen Dings gesucht hat, der so gefährlich ist… Und mehr Zeit mit dir verbringen wollte. Aber das spielt alles keine Rolle. Wichtig ist nur, was von nun an passieren wird.” Imelda trat einen halben Schritt näher, nahm Meta in den Arm und drückte sie. Dass die anderen in der dunklen Nacht weitergingen, kümmerte sie in diesem Moment nicht. Leise fuhr sie mit sanfter Stimme fort: “Die Frage, was du tun solltest, die kannst nur du beantworten. Und Gudekar. Ihr müsst beide glücklich sein. Dauerhaft. Er muss sich in gewisser Weise nicht nur zwischen dir und Merle, sondern auch zwischen dir und seiner Tochter entscheiden und vermutlich vom Rest seiner Familie trennen. Ihr gebt also beide viel auf, für die Liebe, aber er vielleicht mehr… Andererseits, bekanntlich lohnt es sich auch, für die Liebe zu kämpfen… Und dieser Rat kommt, ob du es glaubst oder nicht, von einer jungen Dame, die bisher nur ein einziges heißes Liebesabenteuer auf den Zyklopeninseln erlebt hat.” Meta konnte zwar Imelda nicht sehen, da diese sie noch immer innig umarmte, doch konnte sie die gutmütige Stimme ihrer Freundin wahrnehmen: “Du kannst natürlich versuchen, ihm die Vorteile zu zeigen, die es hat, nicht mehr daheim zu sein und stattdessen mit dir sein Leben zu verbringen. Und damit meine ich nicht nur, dass ihr hinter jedem dritten Baum heimlich rumknutscht”, sie zwinkerte Meta kurz zu. “Nein, am Ende willst du doch, dass er sich freiwillig für dich und das Leben mit dir entscheidet - nicht, weil er dazu überrumpelt oder überredet wurde. Mein Rat wäre also, es etwas ruhiger angehen zu lassen. Lass’ dich nicht verrückt machen.”

„Du bist Gold wert, Imelda. Das hab ich gebraucht.“ Auch Meta blieb in der Dunkelheit stehen. „Ich hatte vorhin im See sowas Seltsames. Wie eine Erleuchtung, was richtig ist. Aber ich werde bis zum letzten Tag warten. Es interessiert mich, wie er sich entscheidet und zwar völlig frei. Ich werde mich nicht ins Zeug legen, gar mit Merle rumzustreiten wie die Bauernweiber. Er kennt mich, er weiß, was er bekommt und es ist seine Entscheidung. Die soll freiwillig erfolgen. Auf Meine wird sie keinen Einfluss haben.“ Sie nahm nun Imelda bei der Hand und ging mit ihr weiter. „Aber sag. Das mit den Zyklopeninseln, so genau weiß ich das nicht. Erzähl mir bitte auf dem Weg alles.“ Imelda konnte es nicht sehen, aber Meta blitzten neugierig die Augen. „Ins Detail, eigentlich hätte ich dir Linny empfohlen, das kann er zumindest, aber er ist ja jetzt treu geworden. Fangen wir mal beim Anfang an…“

"Ja, ja, die Einzelheiten... Wie ich dir ja geschrieben hatte, ist Spiros ein Poet. Er schreibt nicht nur tolle Geschichten, sondern auch Gedichte. Am Strand hat er mir bei Sonnenuntergang öfter wunderschöne Verse vorgetragen." Imelda schien in diesem Moment alle Sorgen von sich geschoben zu haben und lächelte zufrieden in den Nachthimmel. "Wie oft haben wir am Strand... naja, uns das Himmelszelt angesehen. Einmal hat er mich zu einer kleinen Grotte mitgenommen..." Imelda sah zu ihrer Freundin. "Hast du schonmal eine gesehen? Also, eine Grotte?"

Verträumt lauschte die junge Frau Imeldas Erzählung. Wie romantisch. Sie gönnte es ihrer Freundin so sehr. Imelda war hübsch, hatte das Herz am rechten Fleck und teilte Metas seltsamen Humor. „Oh, eine Grotte… nein. Da muss man reinschwimmen, oder tauchen, nicht wahr. Wie sah er denn aus, der Poet?“

“Blendend und unglaublich stattlich!”, war die spontane, laute Antwort der Hadingerin. “Er sah wirklich schneidig aus. Gut, normalerweise mag ich mehr Muskeln, aber er war so sympathisch, hatte einen so großartigen Humor und ein bezauberndes Lächeln, strahlend braune Augen, er war so groß…”, Imelda zeigte eine Kopfgröße höher an, “...und er liebt das Leben und die Natur. Wir sind dann immer zu so einem verlassenen Traviaschrein auf einer kleinen Klippe gegangen und haben da den Tag von morgens bis abends am Wasser verbracht, sind nackt schwimmen gegangen und ja, in die Grotte konnte man entweder tauchen oder bei Ebbe auch schwimmen. Und  in der Grotte waren wir dann ganz allein!” Kurz zog sie vielsagend die Augenbrauen hoch. “Das Wasser war da so hoch, dass man auch sitzen konnte und durch den Schlitz, durch den man getaucht ist, schien das Licht der Praiosscheibe hinein, wodurch das Wasser in der gesamten Grotte in allen Farben glitzerte.” Mit großen strahlenden Augen sah sie die Ritterin an und biss sich lüstern auf die Unterlippe. “Meta, das war wie in Rahjas Zelt.” Sie zuckte mit den Achseln. “Na ja, aber dann musste ich auch irgendwann wieder weiter.”

Versonnen sah Meta in die Ferne, ein sanftes Lächeln auf den Lippen. „Für Euch war es Rahjas Zelt. Sicher habt ihr sie dort besonders gespürt.“ Dann lachte sie freudig. „Das war ja wunderbar. Willst du ihn nochmal besuchen?“

"Spiros?", fragte sie mit leicht überraschter Tonlage. "Ach, ich weiß nicht. Vielleicht, wenn ich mal in der Nähe sein sollte. Also auf den Zyklopeninseln. Ich kenne mich da ja jetzt ein wenig aus und will unbedingt nochmal hin." Imelda wog den Kopf hin und her. "Vielleicht begleitest du mich ja irgendwann mal? Also mich und Hilbertio..." Sie sah nachdenklich zu dem Himmelszelt über sich. "Naja, wird wohl erst in vielen Jahren sein. Also du, ich, Hilbertio, vielleicht mein zukünftiger Gatte, wenn ich bis dahin einen gefunden habe... unsere Kinder und mein Bruder sollten auch mitkommen. Wir könnten auch Silvi und Mika fragen und deren... oder nur wir beide."

„Hmmh.. Esel können ganz schön alt werden. Dann ist dieser Spiridos wohl keiner, den du als Gatte haben willst. Wenn man überhaupt einen Traviabund braucht. Aber die Zyklopeninseln würde ich gerne mal sehen. Silvi und Mika kenne ich noch nicht so gut. Zu Silvi hatte ich nie so recht Kontakt. Dein Bruder ist ihr Partner oder so. Du hattest mir mal was geschrieben und ihr schreibst du auch. Genau, die war das. Aber wer weiß, wie mir Mika die nächsten Jahre gesonnen sein wird.“  Nachdenklich suchte Meta auch die Sternbilder, als würden sie ihr helfen. „Wir schreiben es auf unsere Liste. Auf die, wo wir alles festhalten, was wir noch erleben wollen. Ach, ich bin schon arg aufgeregt wegen der Sache nach der Hochzeit. Was wird er machen? Will ich es so, wie er es sich vorstellt?“ Sie kniff kurz die Lippen zusammen. „Ja weißt, geplant war, dass wir in die Rabenmark gehen. Dieser Wunnemar kann sich sogar noch an mich erinnern. Also das ist der Baron dort, mit ihm hatte ich beruflich zu tun. Mit Thymon noch. Es ist gefährlich dort, aber ich würde viel lernen und sehen. Wunnemar ist traviagläubig, aber so weit ich weiß, schaut er mal weg, wenn man es nicht provoziert.“

"Hoffentlich kannst du mir dann noch regelmäßig schreiben in der Rabenmark?" fragte Imelda sichtlich besorgt nach. "Ich mach' mir schon Sorgen um dich, wenn es da so gefährlich ist. Also, wirklich." Ernst kaute sie auf ihrer Unterlippe. "Aber schauen wir, wie es nach der Hochzeit weitergeht. Wir besprechen unsere, also deine Taktik morgen beim Bad." Imelda wog den Kopf hin und her. "Ich schlafe ja bei diesem Angroscho, Meister Limrog, und will vormittags noch etwas in seine Schmiede. Gibt es etwas, was ich dir schmieden soll? Vielleicht einen Anhänger?"

„Mal abwarten, ob alles so klappt, wie Gudekar es sich vorstellt. Ich will noch besser mit dem Schwert werden. So kann ich mir immer etwas verdienen.“ Sie beugte sich zu Imelda, damit diese alles verstand und es diskret blieb. „Hoffentlich ist Merle morgen nicht dabei. Das ist so schwer. Und ja, ich habe einen Wunsch. Irgendwann, kannst du für mich und Gudi gleiche Anhänger machen?“

Imelda nickte verständig und sah dann doch stirnrunzelnd zu Meta. "Äh, wo soll Merle nicht dabei sein?"

„Beim Bad. Schade auch, dass ich Mika noch nicht so recht kenne. Sie ist deine Freundin, also wird sie ein guter Mensch sein.  Was glaubst du? Angenommen, er hält durch und sagt es seiner Familie, wie würde sie wohl reagieren?“

“Ich glaube, Mika mag dich. Sie ist manchmal ganz schön frech, aber so, wie ich sie kenne, ist sie auf der Seite ihres Bruders. Sie weiß ja, dass du ihn glücklich machst und das rechnet sie dir hoch an. Wobei…”,  Imelda lugte vorsichtig zu Meta herüber, “...wenn es hart auf hart kommt und seine Familie ihn, ähm… verstoßen sollte, dann wird sie vermutlich versuchen, neutral zu bleiben.” Imelda zuckte mit den Achseln. “Ich bin mir sicher, sie wird bestimmt weiter den Kontakt zu euch beiden halten.”

„Gudekar ist sich der Freundschaft seiner Schwestern recht sicher. Etwas zu sicher, meiner Meinung nach. Ich kann die Familie kaum einschätzen. Er meinte, seit der Kindheit würden sie zusammenhalten.“ Sie schüttelte zögerlich den Kopf. „Ich glaube eher, dass, sollte er überhaupt wollen, wir fast alle gegen uns haben werden. Lass uns da morgen nochmal in Ruhe sprechen, wenn wir ausgeschlafen sind.“

~*~

Liana hatte den Anconiter weiter beobachtet, sah, dass dieser sich beim Aufbruch allein auf den Weg machte, und nutzte die Gelegenheit, sich zu ihm zu gesellen.

Sie neigte ihren Kopf kurz vor ihm und blickte ihm dann in die Augen.

“Erlaubt Ihr, dass ich mich zu Euch geselle? Ich möchte Euch um Verzeihung bitten, Herr von Weissenquell.”

„Um Verzeihung bitten? Wofür das?“ fragte Gudekar verwundert und deutete mit der Hand auf den Platz an seiner Seite.

Sie stellte sich neben ihn, bevor er losgehen konnte.

“Ich danke Euch.”

Sie schaute eine Weile in das Feuer, auf das Wasser, und dann auf den Mond.

“Wisst Ihr, manchmal, wenn ich dem Wind lausche, bringt sein Flüstern etwas mit sich, das ich verstehen kann. Und an diesem Abend, nachdem der Diener des Firun mir das weiße Reh gezeigt hatte und mein Blick auf Madaya die Träumende fiel - Ihr nennt sie Mada -, da spürte ich etwas … etwas Besonderes. Ich konnte mich dem nicht entziehen. Es war wunderbar.”

Sie hielt kurz inne - als erinnerte sie sich erneut an dieses Gefühl.

“Ich war so völlig erfüllt davon, es durchströmte mich … es war ein Gefühl, das ich nur schwer beschreiben kann. Das Mandra war sehr stark in diesem Augenblick.”

Sie schaute ihn nun wieder direkt in die Augen.

“Und deswegen, als ich Euch in diesem Augenblick angesehen hatte, habe ich Euch nicht bloß mit meinen Augen betrachtet. Es war nicht bewusst, es war … es geschah einfach instinktiv. Ich habe in Euer Innerstes geblickt. Mein Mandra gewirkt. Aber ich weiß, dass Menschen dies zumeist ablehnen. Es vielleicht als aufdringlich empfinden. Als … als eine Art Eindringen in ihren Geist. Das war nicht meine Absicht. Und daher bitte ich Euch um Verzeihung.”

Gudekar lächelte die Baronin freundlich an und lief dann los, den anderen folgend. “Ich weiß, ich habe es wahrgenommen. Doch kenne ich diese Art des Sehens, die in Eurem Volk so verbreitet ist, und die Ihr als eine ganz natürliche Art der Wahrnehmung empfindet. Ihr müsst wissen, ich habe in Donnerbach studiert, und dort an der Akademie haben unsere elfischen Lehrmeisterinnen des Öfteren in die Seelen der Eleven geblickt. Insofern war es ein Gefühl, das vertraute Erinnerungen an die Zeit meiner Ausbildung geweckt hat. Deshalb habe ich mich dem auch nicht verwehrt.” Gudekar machte einen Moment Pause, während er seinen Blick auf den Boden richtete und seine Augen an Freundlichkeit verloren. Sorgen breiteten sich stattdessen in seinem Gesicht aus. “Ich hoffe, was Ihr gesehen habt, hat Euch nicht zu sehr erschreckt.”

Zunächst war es Erleichterung, die aus ihrem Antlitz sprach, und auch Dankbarkeit.

“Ich lebe nun schon so lange hier unter den Menschen, dass ich bisweilen vergesse, dass manche von Ihnen mit meinem Volk vertraut sind und dessen Eigenheiten.

Und manchmal vergesse ich, dass ich Acht geben muss.”

Sie lächelte zaghaft.

“Dieser Moment am Weiher war … durchdringend. Und erfüllend zugleich. Es war, als würde ich von Mandra geradezu durchströmt. Es wäre sehr schwer für mich gewesen, mich dem zu entziehen. Und es wäre auch … es hätte sich falsch angefühlt. Als würde man unfreiwillig den Atem anhalten.”

Sie wurde sich bewusst, dass Gudekar ihr auch eine Frage gestellt hatte.

“Nein”, sagte sie dann. “Ihr habt mich nicht erschreckt. Ihr habt Euch … verändert, seit wir uns das letzte Mal sahen. Und es steht mir nicht zu, dies zu bewerten.”

Ihre schillernden Augen blickten ihn direkt an. Durchdringend, doch auch sanft zugleich.

“Doch Ihr vermutet, dass es etwas geben könnte, das mich erschreckt haben könnte …”

Es war keine Frage.

Hatte sich Gudekar anfangs noch über Lianas Worte gefreut, denn auch er empfand Madas Geschenk erfüllend, so spürte er nun einen Kloß in der Magengegend. Hatte er schon wieder mehr gesagt, als sinnvoll war? „Ja, ich habe mich seit damals verändert. Es ist zuviel geschehen, was all das, was für mich einst selbstverständlich war, in Frage gestellt hat. Mein Leben ist dabei, sich zu verändern, und ich bin mir noch nicht sicher, ob ich das möchte. Doch wie könnte ich mich dem verwehren?“

Liana dachte eine Weile über seine Worte nach, ehe sie ihm antwortete..

“Wenn es Dinge sind, auf die Ihr keinerlei Einfluss habt, dann wäre es vielleicht eine gute Wahl, sie zunächst hinzunehmen, wie sie sind, um sie zum Besseren zu wandeln. Oder zu überlegen, wie Ihr alles insgesamt für Euch zum Besseren wandeln könnt.”

Sie wägte ihre Worte sorgsam ab. Nichts lag ihr ferner, als ihn zu belehren oder dergleichen. Doch wollte sie ihn wissen lassen, dass sie darüber nachdachte, was es für ihn bedeuten könnte.

“Doch sagtet Ihr, dass Ihr nicht sicher seid, ob Ihr die Veränderung möchtet. Das klingt nicht ganz nach einem unumkehrbaren, endgültigen Schicksal, sondern eher danach, als hättet Ihr eine Wahl.”

Hatte er eine Wahl? Was bedeutete es überhaupt, eine Wahl zu haben. Ja, nüchtern betrachtet hatte er vielleicht eine Wahl. Für eine Außenstehende sah es vielleicht so aus, als könnte er wählen, zu gehen oder zu bleiben. Als könnte er wählen, dem Traviabund mit Merle zu folgen oder den Rahjabund mit Meta zu suchen. Ein Leben in Frieden und Geborgenheit als einfacher Heiler zu führen oder dem Pfad der Erkenntnis und des Wissens zu folgen, mit ungewissem Ausgang. Doch in Wahrheit hatte er keine wirkliche Wahl. “Sagen wir, ich habe Entscheidungen zu treffen, über deren langfristige Konsequenzen ich nicht im Bilde bin.”

Sie sagte zunächst nichts dazu, sondern sah ihn einfach nur an. Keine Frage. Kein Bohren. Kein Drängen.

Allein ihre Anwesenheit und der Ausdruck ihrer Augen sollte ihm verdeutlichen, dass sie gewillt war, zu teilen, was ihn beschäftigte. Und es war an ihm, zu entscheiden, ob er es teilen wollte.

Nach einer Weile brach Liana dann das Schweigen.

“Der Blick, der über das gewöhnliche Sehen hinausgeht, und dass ich um Verzeihung bat dafür, hat Eure Gedanken aufgewühlt. Das bedauere ich.”

“Oh nein”, lachte Gudekar. “Meine Gedanken sind schon lange vorher aufgewühlt gewesen. Aber das Wasser, das Madas Licht einfing, hat mir heute Klarheit verschafft. Ich werde den Weg gehen, den ich zu gehen beabsichtige. Es ist nicht der leichte Weg.”

“Dann wisst Ihr, was zu tun ist, und habt eine Entscheidung getroffen. Aber Ihr fragt Euch, ob sie die richtige war. Oder aber Ihr sorgt Euch vor dem, was vor Euch liegt, und was ihr zurück lasst.”

Der Magier blickte die Elfe an. “Ja” war seine knappe Antwort. Sie hatte es auf den Punkt gebracht.

Ja, hatte er gesagt. Das konnte nur bedeuten, dass sein Ja sich auf beide Aussagen bezog.

Sie nahm ihren Kopf ein wenig in den Nacken und blickte in den Himmel.

Er zweifelte an seiner Entscheidung. Und betrachtete den Weg, der vor ihm lag, mit Sorge.

Doch genauso hätte er wohl gezweifelt, hätte er sich anders entschieden.

Die Schwere, die auf dem Magier lastete, sie konnte sie nachfühlen.

Was sich dahinter verbarg, wusste sie nicht. Und ihn zu fragen, stand ihr nicht zu. Es wäre aufdringlich.

“Ich kann und ich will Euch nicht raten”, sagte sie dann. “Nur eines weiß ich wohl” …

Er war ein Abgänger des Seminars. Er war einst in Ihrer Heimat Donnerbach gewesen. Vielleicht hatte sie ihn sogar als Kind gesehen. Ihn beobachtet, wenn er den Worten Alwadirions gelauscht hatte, der - so, wie sie selbst auch - aus der Sippe Morgentauglanz kam. Oder wenn er den Liedern der Elfen zugehört hatte.

Sie konnte sich also sicher sein, dass er sie verstehen würde.

Und so sagte sie das Folgende in Isdira, der Sprache, in der sie manches klarer auszudrücken vermochte.

“Du hast deine Entscheidung getroffen, nicht wahr? Wenn du die andere Entscheidung getroffen hättest, so würdest du auch den Keim des Zweifels in dir tragen. Du hast dich für eines entschieden. Und dafür wird es gute Gründe geben.”

Der Anconiter fühlte sich verstanden. Ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr so empfunden hatte. Wieso waren die Angehörigen des Elfenvolkes so viel verständnisvoller, so viel einfühlsamer als die Menschen? Liana hatte ihn, vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein, bestärkt in seiner Entscheidung. Es war, als trug sie ebenfalls Madas Licht in sich, das nun erneut auf ihn schien. Er hatte eine Entscheidung getroffen, und nun war es an ihm, diesen Weg zu gehen.

„Nurd’dhao’o! Habt vielen Dank! Ihr habt mir sehr geholfen.“

Es bedurfte keiner weiteren Worte. Sie betrachte ihn - und freute sich darüber, dass seine Züge sich verändert hatten.

Sie nickte nur einmal.

Auch ihr hatte es gut getan, wieder einmal die Sprache ihres Volkes zu hören und sich durch diesen Magus an ihre alte Heimat erinnert zu wissen.

Eine Dankbarkeit, die er in ihren Augen lesen konnte.

Gudekar lächelte Liana an. Es war ein freundliches Lächeln voll innerer Zufriedenheit.

Nach einer Pause des Schweigens ergriff der Magier erneut das Wort. “Ich hätte noch eine Frage an Euch, Euer Hochgeboren. Sagt, Ihr habt das Mandra meines Sohnes erforscht?”

Sie schaute verwundert.

“Nein. Das würde ich nicht ohne Eure Zustimmung tun. Ich habe das Kind der Dame von Kalterbaum und des Herrn von Kargenstein angesehen.”

“Verzeiht”, entschuldigte sich Gudekar, “was die Mutter angeht, so habt ihr Recht. Doch der Vater des Kindes bin ich.”

“Oh … nun, das war mir nicht bekannt. ich wähnte den Herrn von Kargenstein als seinen Vater.”

Sie fragte nicht nach den Umständen.

“Da Ihr der Vater seid, will ich es Euch gerne sagen. Eurem Sohn wohnt das Mandra inne. Und so, wie ich es sah, eine … recht wilde Form, wie sie bei Menschenkindern selten vorkommt.”

Sie sah Gudekar fast ein wenig herausfordernd an, allerdings ohne jegliche Schärfe, sondern eher Neugier,

“Ich gebe zu, dass es mich ein wenig verwundert, dass Ihr dies nicht bereits selbst erkannt habt”.

‚Eine recht wilde Form‘? Der Magier fragte sich, was die Baronin damit gemeint haben könnte, hatte jedoch eine unangenehme Vorahnung. „Nun, die Dame von Kalterbaum legt Wert darauf, dass der Herr von Kargenstein offiziell als Vater des Kindes genannt wird. Ich habe meinen Sohn leider noch nicht sehen können.“ Gudekar schluckte. „Was meint Ihr mit ‘wilde Form‘“?

Sie neigte sich ein wenig zurück und schaute bekümmert, ja, ein wenig traurig.

“Ihr habt Euren Sohn noch nicht gesehen?”

In dem Moment, da sie ihn ausgesprochen hatte, bereute sie den Satz bereits. Das war eine Angelegenheit, die sie nichts anging.

Ein wenig betreten schaute sie kurz zu Boden.

Als Liana zu Boden schaute, schob Gudekar ihr Kinn mt dem Finger nach oben und schaute ihr in die Augen. “Grämt Euch nicht, Hochgeboren! Ich habe das Gefühl, Ihr habt Fragen in Euch und traut Euch nicht, nach den Antworten zu suchen. Ich nehme an, Ihr habt bei uns Menschen zu oft die Erfahrung gemacht, dass der Versuch, in die Gedanken und Gefühle einzudringen, auf Ablehnung stößt. Doch bei mir müsst Ihr keine Sorge haben. Ich habe Verständnis für Euren Drang.” Dann ließ er ihr Kinn los und lächelte freundschaftlich.  

“Ich habe den Eindruck, dass ein Hauch jenes Zaubers auf ihm liegt, den Kinder in sich tragen, die das Interesse der Anderwelt wecken. Ich bin  … ein wenig vertraut damit.”

Als sie diesen letzten Satz gesagt hatte, leuchtete der Stein in ihrem mondsilbernen Diadem auf …

Der Magier schluckte. Er hatte gehofft, dass seinem Sohn keine magischen Kräfte innewohnten. Doch was erwartete er? Er dachte an die Nacht zurück, in der das Kind gezeugt wurde. Auch die Ereignisse, bei denen Tsalinde von der Schwangerschaft erfuhr, kamen ihm in Erinnerung, und nicht zuletzt die Umstände, unter denen er sich mit Tsalinde verworfen hatte. Zu sehr, zu oft war Tsalinde magischen Kräften ausgesetzt. Er nickte mit dem Kopf. “Das war zu befürchten.” Nun war dem Anconiter klar, dass die Fähigkeiten des Kindes regelmäßig überwacht werden mussten.

Die Elfe deutete seine Besorgnis falsch.

“Ihr seid beunruhigt, weil Siegmunds erwachende Kräfte Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnten, die nicht menschlichen Ursprungs ist …”

“Oh”, der Anconiter wirkte überrascht und besorgt zugleich, “nein, an diese Möglichkeit habe ich noch gar nicht gedacht. Aber ja, auch dies ist nicht auszuschließen.” Er grübelte, während er weitersprach. “Eigentlich machte ich mir mehr Sorgen um seine Zukunft. Dies ist etwas, was Euch vielleicht nicht leicht fällt zu verstehen. Ihr seid einen natürlichen, intuitiven Umgang mit der Magie gewohnt und seht alle Spielarten von Madas Gabe als gleichberechtigt an. Doch in den Nordmarken ist die nicht gern gesehen, insbesondere jene, die naturnah und ungebändigt ist. Schon als ausgebildeter Gildenmagier hat man in diesem Land keinen leichten Stand. Die Folgen, die eine ungebändigte, wilde Form des Kraft für meinen Sohn haben konnte, hätte ich ihm lieber erspart.”

“Ihr irrt Euch”, sagte die Elfe sanft, doch mit einer gewissen Bestimmtheit.

“Dass  wir sämtliche “Gaben Madas”, wie Menschen es nennen, gleich betrachten, ist lange, lange vorbei. Und natürlich bin ich mir wohl bewusst, dass diese Lande dem Arkanen nicht zugetan sind.

“Aber Euer Sohn sollte nicht mit dem Gedanken aufwachsen, dass das, was er in sich trägt, eine Last ist, eine Bürde.” Es klang ein wenig traurig, und die Bitte, die dahinter lag, vermochte Gudekar nur zu gut zu erkennen, noch ehe Liana sie aussprach.

“Ich habe Schlimmes gehört über die Ausbildung, wie sie in Elenvina betrieben wird, und ich hoffe sehr, dass Ihr und die Mutter das Kind in kundigere Hand geben.”

Sie schaute ihn noch einmal intensiv an.

“ .. wenn Ihr nicht erwägt, ihn selbst auszubilden.”

Gudekar lachte kurz verzweifelt auf. “Hm, das würde ich gerne, doch wird Tsalinde dies wohl kaum zulassen. Ich verstehe was Ihr meint. Ich selbst hatte das Glück, noch rechtzeitig aus den Händen meines Lehrmeisters – und er war schlimmer als die Akademie in Elenvina – gerissen und von den Anconitern nach Donnerbach geschickt zu werden. Am besten wäre es wohl, mein Sohn würde die Nordmarken verlassen und in der Obhut geeigneter Zieheltern aufwachsen, bis seine Kräfte soweit gereift sind, dass sich eine Akademie wie das Seminar sich seiner annehmen kann.”

Als Gudekar davon sprach, dass sein Lehrmeister noch schlimmer gewesen war als die Akademie in Elenvina, sah Liana ihn traurig und mitfühlend zugleich an.

Es hieß, dass die jungen Elevinnen und Eleven dort sogar geschlagen wurden, wenn sie die Oberen der Akademie nicht zufriedenstellten. Liana schauderte.

“Das ist vermutlich das Beste”, sagte sie dann. “Und ich wünsche Euch und vor allem dem Jungen, dass Ihr und seine Mutter jemanden findet, der diese Aufgabe gerne übernimmt. Die Vorstellung, dass das Mandra in Elenvina mit der Rute in enge Bahnen gezwungen wird, möchte ich mir nicht ausmalen. Und Euer Lehrmeister war noch schlimmer?"

Sie winkte schnell ab.

“Nein. Nein. Ich möchte nicht, dass Ihr diese Gedanken wieder hervorholt. Verzeiht meine Frage.”

“Schon gut”, beschwichtigen der Anconiter. “Es war wahrlich keine Zeit, an die ich gerne zurückdenke. Aber dies ist Vergangenheit. Nun geht es um die Zukunft. Die Zukunft meines Sprösslings. Euch fällt nicht vielleicht jemand ein, die oder der sich des Kindes annehmen könnte und seine Gabe in, sagen wir, richtige Bahn lenken könnte?” Gudekar wurde schüchtern, es war offensichtlich, dass er sich kaum traute, die Frage zu stellen. “Vielleicht aus Eurer Sippe?”

“Aus meiner Sippe … ja, vielleicht. Und ich würde selbst nach ihm sehen, wann immer ich in den Norden reise.”

Ihr Blick war nun voller Ernst.

“Vielleicht habt Ihr aber auch schon jemanden im Sinn?”

Es fiel dem Magier nicht leicht seine wahren Gedanken zu äußern, vielleicht auch einfach, weil er sich über seine wahren Wünsche selbst nicht im Klaren war. Zu schnell, zu plötzlich war dieses Thema aufgekommen und Gudekar hatte keine Gelegenheit gehabt, über alle möglichen Optionen nachzudenken. „Mein erster Gedanke war, den Jungen möglichst bald nach Donnerbach zu geben, weg aus den Nordmarken.“ Weit weg von Tsalinde. “Doch ich fürchte, dafür würden wir keine Zustimmung seine Mutter erhalten.“ Gudekar blickte der Baronin eindringlich in die Augen. „Was wäre, wenn…“ Er brachte den Satz nicht zu Ende.

“ .. wenn der Junge in den Nordmarken bleiben könnte und sicher wäre?”, führte die Elfe den Satz zuende und lächelte. “So dass Vater und Mutter ihn sehen könnten und näher bei sich wüssten? Er aber trotzdem einen Mentor an seiner Seite hätte, der ihn vorbereiten könnte. Oder sollte ich vielmehr sagen… eine Mentorin?”

Nickend bestätigte Gudekar, dass Liana seine Gedanken richtig gedeutet hatte. „Das wäre vermutlich die beste Lösung.“ Der Magier ließ eine kurze Pause, um die Gedankengänge wirken zu lassen. Noch immer hatte er seinen Blick auf die Elfe gerichtet. „Wäret Ihr bereit, Euch meines Sohnen anzunehmen? Ich würde Euch zutiefst dankbar sein und tief in Eurer Schuld stehen.“

“Nein”, sagte sie dann voller Ernst.

“Ihr würdet nicht in meiner Schuld stehen! Es wäre wäre mir eine große Freude. Die Tochter des Barons von Rabenstein war schon zuvor mein Mündel, ehe auch sie entschied, in Donnerbach mehr zu lernen und zu erfahren. Sie ist längst eine junge Frau geworden. Ihr könnt Euch nicht ausmalen, welche Freude es mir bereiten würde, würde erneut ein Kinderlachen durch die Rodaschblick hallen.”

Sie griff nach seiner Hand.

“Und ich bin mir der Ehre wie gleichermaßen auch der Verantwortung bewusst und gelobe Euch wie auch der Mutter, dass ich ihn schützen und behüten werde, und dass ich darauf achte, dass seine Kräfte gefördert werden, auf dass sie erblühen mögen.”

Sie lächelte nun etwas keck.

“Und … ganz so schlimm sind die Nordmarken auch wieder nicht, denke ich, als dass Ihr Euren Sohn möglichst weit davon entfernen müsstet.”

Bei Lianas letzten Worten wurde Gudekars Blick ernst und sorgenvoll und er musste schlucken. Doch er verzichtete darauf, der Baronin zu widersprechen. Stattdessen mühte er sich, wieder ein freundliches Gesicht aufzusetzen. „Habt vielen Dank! Die Ehre wäre ganz auf meiner Seite. Nun müssen wir nur noch Tsalinde, ich meine die Dame von Kalterbaum, davon überzeugen, das dies für das Kind das Beste wäre.“ Er schaute nun wieder besorgt, fast schon enttäuscht.

“Dies zu tun obliegt in erster Linie Euch, fürchte ich. Und natürlich werde ich den Jungen nur dann in meine Obhut nehmen, wenn auch die Dame von Kalterbaum einverstanden ist. Aber gerne bin ich bereit, mit ihr zu sprechen und ihr Antworten auf all ihre Fragen zu geben.”

„Ich weiß, es ist an mir, Tsalinde zu überzeugen, doch fürchte ich, dass dies ein unmögliches Unterfangen sein wird. Leider vertraut mir die Edle nicht mehr im geringsten, so dass zu befürchten ist, wenn ich ihr diesen Vorschlag unterbreite, wird sie dies ein für alle mal ablehnen.“

“Ich verstehe.”

Die Frage stand natürlich in ihren Augen. Aber es stand ihr nicht zu, sie zu stellen.

“Was schlagt Ihr dann vor?”

Gudekar überlegte einen Moment. „Ihr hattet doch bereits mit Tsalinde über das Kind gesprochen. Was genau hattet Ihr ihr geraten?“

“Dass es gut für den Jungen wäre, wenn er früh an seine Gabe gewöhnt wird. Und die beiden sagten, sie würden mein Angebot erwägen.”

Der Anconiter entspannte sich. “Gut, das ist ein Anfang. Dann sollten wir warten, wie sie sich entscheiden.” Dann grinste er verschlagen mit einem Mundwinkel nach oben gezogen.

Sie blickte ihn fragend und zugleich freundlich an.

“Etwas amüsiert Euch daran?”

„Nun, Ihr werdet es wahrscheinlich nicht verstehen“, druckste er herum. “Der Geist Eures Volkes ist frei von Falschheit und Verschlagenheit, soweit ich weiß, doch das Gemüt der Menschen ist nicht immer geradlinig. Manchmal muss man Umwege beschreiten, um Menschen zu dem zu bewegen, was richtig ist. Dies ist schwer zu verstehen. So wie es manchmal hilft, einen Bannbaladin – bian bha la da’in – zu wirken, um seinem Gegenüber einen Wunsch mitzuteilen, so kann es manchmal helfen, einem Menschen das Gegenteil zu raten von dem, was eigentlich ratsam wäre.”

“Das Gegenteil raten von dem, was eigentlich ratsam wäre?”, fragte Liana ein wenig verwundert.

“In der Hoffnung, das Gegenüber lehnt ab und entscheidet sich für das andere, nur deshalb, um Widersprechen zu können, verstehe ich es richtig?”

Gudekar presste die Lippen zusammen und nickte mit dem Kopf.

So offen, wie sie es aussprach, war klar, dass Liana mit diesem Gebaren vertraut war.

Schließlich lebte sie nun schon zu lange unter den Menschen, als dass es sie vollauf überraschen könnte. Aber dennoch schien sie etwas bestürzt.

“Aber hier geht es doch darum, zu erwägen, was für den Jungen das Beste wäre, oder? Ihr seid der Vater, und Tsalinde von Kalterbaum die Mutter. Und sein Ziehvater ist der Herr von Kargenstein, richtig? Sollten nicht alle offen über die Möglichkeiten sprechen?”

Ist das Verhältnis etwa so zerrüttet, dass …

Sie sprach diesen letzten Gedanken nicht aus. Es stand ihr nicht zu, und es ging sie nichts an.

Aber der Ausdruck ihrer Augen konnte diesen Impuls nicht verhehlen. Es war nicht ihre Art, sich zu verstellen.

“Ich weiß, es ist verwirrend. Und ja, so sollte es sein, dass die Eltern eines Kindes gemeinsam entscheiden, was mit dem Kind geschieht. Doch da das Kind allein bei Tsalinde lebt und von ihrem Gatten wie das seine aufgezogen wird, glaubt sich Tsalinde leider im Recht, allein über sein Schicksal zu entscheiden.” Gudekar senkte das Haupt und sprach mit gedämpfter, trauriger Stimme. “Und leider, so hat es sich in der Vergangenheit gezeigt, vermutet sie in jeder meiner Taten und Worte unlautere Absichten, so dass sie sich mir gegenüber jeglichem vernünftigen Argument verschließt. Es ist zum Verzweifeln.”

“Ich bedauere diese verworrenen Umstände. Und ich hoffe, dass alle Beteiligten in erster Linie daran denken, was für das Kind das Beste wäre”, sagte Liana nachdenklich.

“Ich stehe Euch wie auch Frau von Kalterbaum sowie Herrn von Kargenstein mit meinem Rat zur Seite, wenn er erwünscht ist.”

Ihre Stimme klang nun sehr bestimmt, wenngleich sich auch eine Spur von Traurigkeit hineinmischte: “Doch ich möchte keinesfalls Teil eines solchen … Spiels … sein. Ich werde, wenn man mich um meinen Rat ersucht, in aller Offenheit sagen, was ich empfehlen würde.”

Sie wurde wieder etwas sanfter.

“Aber gerne will Euch und Frau von Kalterbaum gleichermaßen zur Seite stehen. Oft hilft es, wenn jemand schwierigen Gesprächen beiwohnt, der beiden Seiten zuhört, ohne vorab zu urteilen.”

Gudekar nickte und schwieg zu Lianas Worten. Eigentlich hätte er mit einer solchen Antwort rechnen müssen. Der Magier sorgte sich, dass er der Möglichkeit, dass sich Liana dem Kind annahm, nun weiter entfernt war. als vorher. Was hatte ihn nur dazu gebracht, der Elfe von seiner Idee zu erzählen, Tsalinde durch indirekte Beeinflussung dazu zu bewegen, das Kind in Lianas Obhut zu geben. Es war doch offensichtlich, dass dies bei der Baronin auf Ablehnung stoßen würde. Aber irgendetwas hatte Gudekar ein solches Vertrauen in Liana aufbringen lassen, dass er sich zu dieser Impulsivität hatte hinreißen lassen. Ja, er vertraute Liana auf eine Art, wie er vermutlich keiner menschlichen Seele vertraute. doch Gudekar wusste nicht, warum. “Er wäre vielleicht einen Versuch wert, unter Eurer…”, Gudekar fand, ‘Aufsicht’ wäre das falsche Wort, doch es fiel ihm kein besseres ein, “... in Eurem Beisein mit der Dame von Kalterbaum zu reden. Vielleicht schafft sie es so, Ihren Zorn gegen mich zu überwinden.”

Auch diesmal sagte Liana nicht sofort etwas. Es waren erneut ihre Augen, ihr Blick, die Bände sprachen.

Was habt Ihr nur getan, Euch solchen Zorn zuzuziehen?

“Ich werde Euch nicht danach fragen, seid beruhigt”, sagte Liana dann nach einer Weile.

“Und mein Angebot bleibt aufrecht. Es ist Eure und Tsalindes Entscheidung. Wenn Ihr es wünscht werde ich selbst Frau von Kalterbaum fragen, ob sie einem solchen Treffen zustimmt.”

“Dies wäre mir eine große Ehre”, bat der Anconiter.

Sie schaute ihn sanft und freundlich an.

“Es ist mir eine Freude, und ich tue es gern.”

~*~

Rajalind sah sich nach einem Gesprächspartner um, mit dem sie zurücklaufen konnte. Von den Badenden würde dies niemand sein, das stand für sie schon fest. Nivard hatte sie bereits gesprochen. Die Dame von Rodasch war zwar interessant, ihr jedoch eine Spur zu unnahbar und kühl. Distanziert schien auch Ardare mit ihrer Hündin geworden zu sein - aus einem Grund, den Rajalind nicht kannte. So fixierte sie das seltsame Paar:

Die junge Adlige hatte die kostbare Gewandung abgelegt und trug hohe, geschnürte Stiefel, eine dunkle Wildlederhose und einen blau gefärbten Wams. Ein gewachster Umhang mit Kapuze, welcher Lucillas lange Haare und zumeist auch ihre obere Gesichtshälfte verdeckte, rundeten den Aufzug ab, den die Galebfurtenerin für die Wanderung ausgewählt hatte.

Lûthardt Anselm, der junge Ritter, der der Junkerin von Galebfurten und vom Quellpass wie ein Schatten zu folgen schien, hatte die Kette abgelegt, trug aber weiterhin seinen Gambeson und den Wappenrock in den Farben seiner Familie. Auch er hatte darüber einen Kapuzenmantel angelegt, die Haube jedoch in den Nacken geschlagen. Und wie selbstverständlich trug er das Schwert an der Seite.

So trat die junge Albenhuser Rahjageweihte einfach an die beiden hin, als der Aufbruch anstand, und lud sich mit einem freundlichen „Eine kleine rahjanische Süßigkeit zur Stärkung für den Rückweg?“ bei den beiden Galebfurtenern ein.

“Sehr gerne”, entgegnete die junge Adlige mit hörbarer Freude in der Stimme und einem die Geweihte willkommen heißenden Lächeln, auf den dezent geschminkten Zügen. “Wir hatten noch gar nicht die Gelegenheit einander kennenzulernen euer Gnaden. Ich bin Lucilla von Galebfurten und mein Begleiter ist ein Vetter, dank der Fügung der gütigen Mutter- Lûthard von Galebfurten. Mit wem haben wir das Vergnügen?”

„Rajalind von Zweibruckenburg aus dem Rosentempel,“ antwortete junge Frau strahlend und hielt den beiden ein Körbchen unter die Nase, in dem kleine Kuchen und braune Würfelchen lagen - offenbar die angebotenen rahjanische Süßigkeiten. „Ah, euer Vetter! Ich dachte schon, ihr stündet in einem anderen Bund,“ gab sie charmant lächelnd zu. „Bitte, bedient euch.“ Ihr Blick fiel auf die Waffe, die am Gürtel des jungen Mannes baumelte. „Seid ihr Ritter?“ fragte sie interessiert.

Der so angesprochene nickte und beugte sich leicht vor, um sich mit spitzen Fingern eines der Küchlein zu nehmen. “Das bin ich eure Gnaden”, sprach der großgewachsene Mann, der noch keine dreißig Sommer gesehen haben mochte und dessen Gesicht Rajalind entfernt an einen Raubvogel erinnerte, dabei. Was ihr zudem auffiel war eine gewisse Reserviertheit in Haltung und Mimik des Rittersmannes, wohingegen die junge Adlige amüsiert und glockenhell auflachte:

“Oh nein, ich teile den Traviabund mit Aureus von Leihenhof, der Vetter des Barons von Galebquell. Lûthard ist meine Anstandsdame.” Eine Äußerung, die bei dem so betitelten ein Zucken seiner Augenlider verursachte, nicht mehr.

Bei dem genannten Namen erhellte sich die Miene der fröhlichen jungen Geweihten, die ihrerseits noch etwas näher an der 20 als an der 30 sein musste - sofern man das sagen konnte. „Ich kenne eine Leihenhof! Die liebe Ivetta! Wir gehören beide dem Orden der Vier Nordmärker Schwestern an. Sagt, wie ist euer Gemahl mit ihr verwandt?“ fragte sie neugierig, bevor sie hinzufügte: „Und dann muss ich sagen, dass eure Anstandsdame sehr gut auf euch aufpasst. Immerhin hat sie euch davon abgehalten, euch ebenfalls nackt in den Tümpel zu stürzen.“ Sie lachte.

Überrascht, ja fast ein wenig empört, legte die Galebfurtenerin die rechte Hand auf ihre Brust. “Oh nein, da bestand zu keiner Zeit Gefahr. Wie könnte ich mich vor all diesen Leuten ausziehen, um ein öffentliches Bad einzunehmen? Das würde sich nun wirklich nicht geziemen”, sprach Lucilla und zwinkerte Rahjalind kokett zu, nur um dann das Thema zu wechseln, um auf die Frage der Geweihten einzugehen.

“Die gute Ivetta ist Aureus‘ Großtante.”

„Ah verstehe. Darf ich fragen, was euch nach Lützeltal führt? Hat das Haus Weissenquell etwa auch familiäre Beziehungen nach Galebquell?“

“Noch nicht”, entgegnete die Adlige offenherzig. “Das Oberhaupt meines Hauses - Baron Wunnemar von Galebfurten - bat mich, mich ‘umzuhören’ und gewisse… ‘Erkundungen’ einzuholen, um die Möglichkeit eines Bündnisses mit dem Haus Weissenquell abzuwägen. Gudekar von Weissenquell jedenfalls wird bald als Hofmagus in Tälerort dienen und somit meinem Haus.” Lucilla lächelte, ihre Stimme jedoch war betont neutral, als der letzte Satz über ihre Lippen kam.

“Aber ich vertrete nicht nur mein Haus mit diesem Besuch”, fuhr sie nach kleiner Pause vor, in der sie ein Küchlein aß. “Ich bin ebenfalls auch als Erbvögtin von Galenquell hier und vertrete meinen Lehnsherren Roklan von Leihenhof.”

„Ahaaa,“ machte die Geweihte langsam nickend, aber sie sah leicht überfordert aus, ob der ihr unbekannten Herren, in deren Namen die Damen Lucilla hier war. Anschließend legte sie den Kopf schief, offenbar sehr überrascht: „Der Herr Magus verlässt Albenhus? Aber er ist doch Bruder im Kloster.“

“Bei den Anconitern, ja”, erwiderte die Galebfurtenerin nickend und fragte dann: “Schließt dies eine befristete Anstellung am Hofe eines Barons aus?”

“Ich weiß nicht, ich kenne mich im Orden des Heiligen Anconius nicht aus. Bislang war Meister Gudekar jedenfalls immer derjenige, der sich um die Waisen im Waisenhaus von Vater Reginbald und Mutter Liudbirg gekümmert hat, und um die kranken Leute im Siechenhaus. Er ist dort sehr beliebt, müsst ihr wissen. Die Kinder werden ihn sicher schmerzlich vermissen… Wo liegt denn diese Mhmhm-ort? Verzeiht, ich konnte mir den Namen nicht merken.”

“Tälerort ist eine Baronie in der Rabenmark und liegt ein Stück südöstlich von Altzoll”, gab Lucilla weiterhin lächelnd bereitwillig Auskunft. “Seid versichert, dass die Menschen dort seiner Fähigkeiten sicher mindestens ebenso bedürfen, wie sie es hier tun.”

Als die Galebfurtenerin diese Worte gesprochen hatte, blickte sie sich kurz um und neigte dann ihren Kopf leicht in Richtung der Geweihten. “Es gibt wohl aber noch einen anderen Grund, warum es Gudekar von Weissenquell in die Ferne zieht”, sprach sie dann mit deutlich gesenkter Stimme.

„Einen anderen Grund?“ Rajalind sah die Galebfurterin an. „Was meint ihr?“

“Gegenfrage”, schoss es frech aus Lucilla heraus. Sie grinste verschmitzt. “Wie gut kennt ihr Herrn Gudekar?”

„Wie gut, hm,“ Rajalind überlegte, kam aber recht schnell zu einem Punkt, da ihr die Vorsicht in den Worte der anderen nicht entgangen war: „Wenn ihr mich so fragt, kenne ich ihn sicherlich zu wenig.“ Sie grinste verschmitzt zurück, neugierig, ob die Ritterin etwas sagen würde.

“Ist er eures Wissens nach ‘liiert’?, fragte Lucilla wiederum mit gesenkter Stimme und einem frechen Augenzwinkern.

„Soweit ich weiß ist er verheiratet und hat eine kleine Tochter. Seine Frau ist eine Tochter des hohen Paares von Albenhus,“ antwortete die Geweihte nun mit leichtem Argwohn. „Warum fragt ihr das?“

“Eine Dreifelder, ja.” Lucilla nickte und überging die Frage Rajalinds. “Ich fragte bewusst nicht nach einem Traviabund”, sagte sie anstelle dessen und schenkte der Geweihten einen vielsagenden Blick mit bewusst weit geöffneten Augen.

Nun fiel der Groschen. “Oh, ihr meint also, ob er eine Geliebte hat? Das weiß ich nicht.”

Lucilla lächelte süffisant. “Ich halte das zumindest für den möglichen Grund des Fernwehs. Aber psssst”, die junge Rechtsgelehrte führte den Zeigefinger kurz an die Lippen. “Wir wollen doch Rahjas Wege nicht durchkreuzen.”

Dass die Galebfurtenerin ganz andere Pläne im Auge hatte, die nicht durchkreuzt werden sollten, verschwieg sie indes.

Ob es Rahjas Wege waren, die Rajalind nicht durchkreuzt sehen wollte, oder ob es etwas anders war, was der jungen Geweihten missfiel, war aus ihrem skeptischen Blick nicht zu lesen. „Könnte es nicht einfach sein, dass er dem Kampf gegen die Schwarzen Lande dienen möchte? In unseren Tempel kommen immer wieder Ritter und Waffenknechte, die dort waren und berichten, wie schrecklich es dort immer noch ist. Es wird doch immer noch gekämpft, nicht wahr? Nun, so macht es Sinn, wenn auch Heiler in den Osten ziehen, um den zwölfgöttlichen Streitern beizustehen. - Meint ihr nicht auch?“

“Ich will die hehren Absichten des hochgelehrten Herren nicht in Frage stellen”, beschwichtigte Lucilla mit milder Stimme. “Nein, ich denke vielmehr, dass seine Motivation schlicht vielschichtiger ist.”

„Eigentlich ist es doch ganz gleich, was ihn motiviert, dem Aufbau der Schwarzen Lande Dienste zu tun,“ sinnierte die junge Geweihte und fand Gefallen an dem Gedanken, dass der Anconiter sich den Gefahren stellte, um der guten Sache zu dienen. Einer Sache, die letztlich nur göttergefällig war.

Diesem Gedanken wollte die Erbvögtin nichts entgegenbringen und so schwieg sie. Lucilla nutzte vielmehr die sich ihr bietende Gelegenheit durch die Grübelei der Geweihten und stibitzte sich noch zwei kleine Küchlein, wobei sie eines mit einem Augenzwinkern nach hinten zu Lûthardt warf, der es reflexartig fing.

~*~

Rückkehr an der Hütte

Der Rückweg war ereignislos. Der Himmel hatte sich immer weiter mit Wolken zugezogen und irgendwann setzte ein leichter, aber dauerhafter Nieselregen ein. Vom vollen Madamal war nun nichts mehr zu sehen. Der Weg zog sich lange hin, durch die Nässe und Kälte kam es den Wanderern viel länger als auf dem Hinweg vor. Doch schließlich sahen sie ein Licht auf dem Weg vor sich, das von einer letzten Feuerstelle vor dem Forsthaus herrührte. Auf einer Bank unter dem Vordach der Hütte hatten sich Praitrud und Luzia Häsler unter Decken gekuschelt und erwarteten die Rückkehr ihrer Männer. Bei Ihnen saß auch Gwenn von Weissenquell, die Braut in spe. Alle drei wärmten ihre Finger an einem Becher heißem Kräutertee.

Nach einer kurzen Verabschiedung trennten sich diejenigen, die im Dorf übernachteten, von den wenigen, die in der Jagdhütte ihr Quartier bezogen hatten.

“Ich habe vorhin Mika hierher begleitet, um ein wenig mit ihr zu plaudern. Wir hatten uns ja schon so lange nicht mehr gesehen”, erklärte Gwenn auf Gudekars Frage, was sie hier denn treibe. “Doch Mika ist schon zu Bett gegangen, um morgen früh rechtzeitig für die Jagd auf zu sein.”

Dann mischte sich Bernhelm ein, der zusammen mit Leodegar inzwischen die Wandergruppe eingeholt hatte, deshalb jedoch ein wenig außer Atem war. “Und wo ist Eure Bedeckung, die Dame von Kranickau?” fragte er besorgt. “Sollte sie nicht bei Euch sein und für Euren Schutz sorgen, Hohe Dame Gwenn?”

Gwenn grinste schelmisch, ein Lächeln, dass Gudekar zu gut von ihr und Mika kannte und das bedeutete, dass eine von den beiden wieder einen Streich gespielt hatte. “Diese Herlinde? Die habe ich im Dorf ausgetrickst. Ich wollte einfach mal ohne meinen Wachhund unterwegs sein.”

Merle lief zu Gwenn und zog sie in eine schnelle, herzliche Umwarmung. "Na, meine Liebe, steigt die Aufregung so langsam?" fragte sie lächelnd. Als sie bemerkte, dass Gwenn ihr immer noch halbnasses Haar registrierte, lachte sie hell auf. "Du wirst es nicht glauben - ich bin im Weiher geschwommen!" gab sie halb stolz, halb verlegen zu.

Gwenn erschrak, als sie Merles feuchte Haare sah. Sie sprang auf und wickelte ihre eigene Decke sogleich um Merle. „Oh nein, du hast was? Komm lieber schnell rein und wärm dich am Kaminfeuer auf, bevor du noch krank wirst!“ Dann schaute sie sich um. „Haben noch mehr Leute gebadet? Die sollten auch mit rein kommen, ich koche euch dann auch noch einen Tee.“ Dann hielt sie kurz inne und lächelte. „War es denn schön?“

"Es war wundervoll! Doratrava und Gudekars Ritterin waren auch drin", berichtete Merle fröhlich und hielt nach den beiden Ausschau. "Aber mach dir keine Sorgen, Gwenn! Wir hatten direkt am Weiher ein großes Feuer und Glühbier zum Aufwärmen. Kälte macht mir ohnehin nicht allzuviel aus." Als sie sah, dass Gwenn nicht wirklich überzeugt schien, schüttelte sie abwinkend der Kopf. "Ich weiß ja, dass es eine Dummheit war! Und ich hab's trotzdem getan. Ich wollte es." Immer noch lächelnd schaute sie zu Doratrava und winkte die Gauklerin heran. "Hey, Doratrava, willst du dich noch mit ‘nem Tee am Kamin aufwärmen?"

Die Gauklerin nickte lächelnd und ein wenig hintersinnig und trat einen Schritt näher.

“Ach, Merle, meine Süße!” lächelte Gwenn sie an. “Tapfer wie immer! Ich glaube, du hättest auch eine gute Rondrianerin abgegeben.” Sie wies Doratrava und Merle die Richtung der Eingangstür und schaute dann zu Gudekar, der das Gespräch aus zweiter Reihe mitgehört hatte. Ein strenger, fragender Blick traf ihren Bruder.

Gudekar winkte jedoch sofort ab. “Ich werde die Dame Croy wohl besser gleich in ihr Quartier begleiten. Sie hat die Kälte nicht so gut vertragen und wir sollten keine Zeit verschwenden, sie zur Bettruhe zu geleiten. Ich werde wohl bei ihr bleiben und darüber wachen, dass sie über Nacht kein Fieber bekommt.”

Merle verdrehte leicht die Augen. “Deine forsche Ritterin scheint doch ein recht empfindliches Pflänzchen zu sein, Gudekar”, kommentierte sie sanft-ironisch, lächelte ihren Mann aber sogleich entschuldigend an. “Ne, kümmere dich mal um sie. Wir sehen uns dann morgen früh?”

Gudekar zog auf die Bemerkung über Meta mit leichter Verärgerung die Augenbrauen hoch, hielt aber diesbezüglich seinen Mund. “Danke! Ja, wir sehen uns sicherlich morgen im Dorf. Ich könnte euch am Gutshof einsammeln, dann können wir mit Lulu zusammen ein Floß für Gwenn basteln. Dann wünsche ich dir eine gute Nacht!”

Sie seufzte innerlich, als sie seine sauertöpfische Miene bemerkte. War Gudekar jeglicher Humor abhanden gekommen? “He, nur ein Scherz! Ich hoffe wirklich, dass es der hohen Dame morgen wieder gutgeht!” Sie trat an ihren Mann heran, blickte zu ihm auf und sah ihm lächelnd in die Augen. “Und ich freu’ mich auf die Bastelei. Lulu wird begeistert sein von den ganzen Bötchen!” Mit einer Hand umfasste sie seinen Nacken und küsste Gudekar schnell, aber zärtlich auf den Mund, drückte ihre weichen, samtigen Lippen sanft auf die seinen. Für einen Moment wurde der Kuss fester und sie sog leicht an seiner Unterlippe - so dass er kurz den Geschmack von Glühbier, Honig und Zimt wahrnahm - gab ihn jedoch nur einen Wimpernschlag später frei. “Auch dir eine gute Nacht”, rief sie ihm liebevoll zu und trat zurück an Gwenns Seite.

Gudekars Knie wurden plötzlich ganz weich und er schwankte einen Schritt zurück. Er leckte sich die Lippen und stammelte: “Ja, gut.. gute Nacht! Bis… bis morgen. Gute Nacht Gwenn.” Dann drehte er sich ganz langsam und verwirrt um und ging in Metas Richtung.

Gwenn schüttelte ganz langsam, kaum sichtbar den Kopf und schaute Gudekar strafend an, sagte aber nichts. Dann zuckte sie mit den Schultern und drehte sich zu Merle und Doratrava. Gwenn legte ihre Arme um die Schultern der beiden Frauen. “Kommt, wir gehen rein ins Warme und Trockene. Und dann erzählt ihr mir in Ruhe von der Wanderung. Ihr übernachtet eh hier in der Hütte, Doratrava. Ist Euer Gepäck inzwischen gut hier angekommen?”

“Ähm, soweit ich gesehen habe schon, ja”, antwortete die Gauklerin. Wirklich nachgesehen, ob alles da war hatte sie noch nicht, sie war ja vorher nur kurz hier gewesen, um sich nach dem Tanz am Nachmittag für die abendliche Wanderung umzuziehen, ohne sich groß Gedanken zu machen. Es würde schon alles seine Richtigkeit haben. “Ähm … wo ist eigentlich Chisan, also mein Pferd, untergebracht? Ich sollte wohl auch mal nach ihm sehen, später.”

“Macht Euch um Chisan keine Sorgen!” beruhigte Gwenn die Gauklerin. “Wir haben Euer Pferd im Stall unseres Vaters untergebracht. Marno kümmert sich gut um ihn. Und morgen können wir gemeinsam nach ihm schauen.”

“Das hört sich doch gut an”, gab sich Doratrava erleichtert. Sie hätte das Pferd fast vergessen, da auf dieser kleinen Nachtwanderung so viel passiert war, das sie an anderes hatte denken lassen. “Und ein Tee hört sich auch gut an. - Was die Nachtwanderung angeht, die war durchaus … interessant. Wir haben ein weißes Reh gesehen. Und das Madamal hat irgendwas mit dem Teich gemacht, ich … wir mussten einfach darin baden!” Sie schaute Merle wieder mit diesem seltsam intensiven Blick an.

“Das müsst ihr mir unbedingt erzählen. Ach, ich hätte vielleicht doch mitkommen sollen. Schade!” Gwenn war enttäuscht, etwas verpasst zu haben, freute sich aber, dass die anderen scheinbar einen schönen, aufregenden Abend hatten.

“Erzähl’ mal deine Sicht der Wanderung”, schubste Doratrava nun Merle freundschaftlich an. “Sonst werd’ ich noch heiser.” Sie zwinkerte der Freundin zu.

“Ja, die Wanderung…” Merle dachte kurz nach, um ihre Gedanken zu ordnen. Das Gespräch mit Nivard und ihre zwischenzeitlich so düsteren Gedanken versuchte sie zu verdrängen und sich auf die schönen Erlebnisse zu konzentrieren. “Also, am Anfang hat Doratrava versucht, mir und Vinja etwas Akrobatik beizubringen - ohne großen Erfolg, aber es war sehr, sehr lustig! Und das weiße Reh war wirklich bezaubernd - es hat uns direkt angeschaut! Ich glaube ja, dass es ein göttliches Zeichen ist… Bestimmt bringt es dir und Rhodan Glück! Und später am Weiher haben wir es dann noch mal gesehen… da hat es von dem Wasser getrunken. Der Felsen hat im LIcht des Madamals wunderschön gefunkelt und das Wasser hat plötzlich ganz weiß geleuchtet… Da sind wir, ähm… kurzerhand reingesprungen.” Sie grinste in Doratravas Richtung. “Wirklich entsetzlich kalt, aber absolut wunderschön!”

“Ach, das klingt ja wunderschön! Schade, dass ich das nicht gesehen habe.” Dann flüsterte Gwenn: “Ehrlich gesagt, ich hätte auch in dem Wasser gebadet!” Die Hofdame lächelte und sprach in normaler Lautstärke weiter, während sie die Stube erreichten und sich auf dem Boden auf einige gemütliche Wildschweinfelle vor dem wohlig warmen Kamin setzten. “Aber ich habe mich wirklich gut mit Mika unterhalten.”

"Ich hab sie vorhin kurz auf dem Fest getroffen. Die Kleine ist wirklich erwachsen geworden, was?" murmelte Merle gedankenvoll, dann hellte sich ihr Gesicht zu einem begeisterten Strahlen auf. "Oh, da hab ich übrigens auch Rhodan tanzen sehen - wirklich sehr elegant! Mit dem Mann hast du einen ausgezeichneten Fang gemacht, meine Liebe!"  

“Ja, auch die Kleine wird langsam erwachsen”, lächelte Gwenn. “Ach ja, Rhodan ist wirklich ein guter Mann. Ich habe so ein Glück. Schau doch nur das wunderschöne Fest hier. Es ist natürlich nicht vergleichbar mit den Festen am Albenhuser Hof. Diese sind elegant und pompös - und es geht dort manchmal hoch her.” Gwenn zwinkerte verschwörerisch mit einem Auge. “Aber schaut doch all die vielen Gäste, die gekommen sind! Sie sind alle nur meinetwegen gekommen! Meinetwegen! Ist das nicht unglaublich?”

"Nein, ist es nicht!" widersprach Merle grinsend. "Das ist völlig zu Recht! Du wirst die hinreißendste Braut sein, die man sich vorstellen kann und hast das schönste Hochzeitsfest verdient." Herzlich drückte sie ihre Schwägerin an sich. "Ach Gwenn, ich freu mich so für dich!"

Doratrava hatte es sich auf den Fellen bequem gemacht und sich ungeniert an Merle gelehnt. Sie ließ die beiden Frauen reden und merkte, wie sie schläfrig wurde, jetzt, im Warmen und in angenehmer Gesellschaft.  

Vermutlich rettete sie nur die Tatsache, dass Merle nun Gwenn an sich drückte, vor dem Einschlafen, da sie dadurch aus ihrer bequemen Position geschüttelt wurde. Sie blinzelte leicht verwirrt … offenbar war sie wirklich schon halb weg gewesen.

Merle merkte, wie Doratrava aufschreckte. "Ui, entschuldige", murmelte sie leise und änderte die Sitzposition, so dass die Gauklerin sich wieder bequem anlehnen konnte.

Das tat diese auch umgehend mit einem dankbaren und liebevollen Lächeln zu Merle, aber kaum hatte sie es sich wieder bequem gemacht, öffnete sich die Tür.

Gwenn schaute zu den beiden Frauen und lächelte zugetan. In ihren Augen lag aber auch eine Spur von Neid und Eifersucht.

Der Jagdkönig gesellt sich dazu

Ein bisschen später kam mit Nivard noch ein Nachzügler angestapft. Auf dem Rückweg hatte er sich bewusst etwas zurückfallen lassen, um ungestört die Geräusche und Düfte dieses Herbstwaldes auf sich wirken zu lassen, zu spüren, wie sich die große Mutter hier, in dieser Gegend, manifestierte, und auch, um etwas zur Ruhe zu kommen. Dabei waren ihm auch nochmals die Eindrücke dieser Wanderung und seine Gespräche, vor allem mit Gudekar und Merle durch den Kopf gegangen. An der Jagdhütte angekommen musste er überrascht feststellen, dass es offensichtlich immer noch nicht alle ins Bett zog. Merle, Doratrava und Gwenn hatten es sich gerade vor dem Kamin in der Stube gemütlich gemacht, als er die Jagdhütte betrat. Luzia Häsler brachte den dreien gerade Becher mit dampfendem Kräutertee.  Aber auch er fühlte sich kein bisschen müde. Obwohl er vermuten musste, dies morgen in aller Frühe zu bereuen, gesellte er sich kurz zu den dort Sitzenden. "Guten Abend die Damen. Welch illustre Runde zu so später Stunde!" Dabei lächelte er Merle an und zwinkerte Doratrava zu. "Gestatten, Nivard von Tannenfels." stellte der Krieger sich dann den anderen Damen im Kreise, sein Haupt neigend, vor.

"Herr von Tannenfels, wollt Ihr Euch als Hahn im Korb zu uns gesellen?" Merle, die gerade vorsichtig an ihrem heißen Tee nippte, wies einladend auf einen freien Platz auf den Fellen. "Der Kräutertee ist sehr wohltuend. Nicht nur für uns verrückte Badefreunde."

„Sehr erfreut, ich bin Gwenn von Weissenquell“, begrüßte ihn die zukünftige Braut. „Ja, setzt Euch doch zu uns!“

"Wenn er nicht nur wärmt, sondern auch hilft, die nötige Bettschwere herzustellen, ist der Kräutertee genau das, was ich brauche." ließ sich Nivard bereitwillig auf den Fellen nieder. "Und wer könnte das Angebot auf eine so nette späte Runde ausschlagen. Zumal ich mich freue, dass Ihr meine Gesellschaft akzeptiert, auch wenn meine Härte sich nicht mit der Euren messen kann - mir war das Seewasser ehrlich gesagt viel zu kalt, um des Travianächtens darin zu baden. Hoffentlich holt Ihr Euch keine Erkältung!"

"Wenn, dann ist’s unsere eigene Schuld." Merle zuckte abtuend mit den Achseln. "Und wozu hat man schließlich 'nen Anconiter als Mann."

Gwenn wandte sich an die Jägersfrau. „Luzia, könntest du bitte für den Herrn auch noch einen Tee aufbrühen?“

“Jagdköniginnen erkälten sich nicht so leicht”, sagte Doratrava und zwinkerte Nivard zu. “Ich weiß allerdings nicht, wie sich das mit Jagdkönigen verhält. - Du gehst morgen doch sicher jagen, und bist jetzt noch auf? Falls du morgen meine Hilfe brauchst, darfst du die gerne haben, wenn du mich wach kriegst.” Die Gauklerin grinste.

"Elfenprinzessin und Jagdkönigin - ich bin beeindruckt!" feixte Merle und knuffte Doratrava sanft in den Oberarm.

Doratrava konnte nicht anders, als sich nah zu Merles Ohr zu beugen und zu flüstern: “Da siehst du mal, was dir entgehen könnte.” Dann ging sie wieder auf ein wenig, aber nicht zu viel Abstand und knuffte spielerisch zurück.

Gwenn warf den beiden einen Blick zu.

Nivard nickte beipflichtend zu Merles Worten, ihr Argument grinsend in Doratravas Richtung aufgreifend: "Genau das ist es. Ich mag vielleicht wie Du von jagdköniglichem Range sein, Doratrava, doch fehlt mir eindeutig das Firnelfenblut in den Adern! Wahrscheinlich kommt daher nicht nur die Unempfindlichkeit gegenüber Kälte, sondern auch dein Jagdtalent! - Du darfst Dich deswegen tatsächlich darauf gefasst machen, dass ich Dein Angebot aufgreifen und Dich morgen zur Jagd wecken werde. Falls wir nicht ohnehin bis dahin zusammensitzen... - warum auch immer fühle ich mich, seit ich das Quellwasser getrunken habe, kein bisschen müde mehr - obwohl ich eigentlich mehr als rechtschaffen müde sein müsste. Naja, und was Dich angeht - heißt es nicht, Elfen bräuchten keinen Schlaf?"

"Tja, ich bin ja ganz offensichtlich keine ganze Elfe", erwiderte Doratrava im selben leichten Tonfall. "Deshalb brauche ich tatsächlich keinen Schlaf - zwischen der zehnten und der dritten Morgenstunde. Zwischen der dritten und der zehnten dagegen leider schon, und umso festeren. Aber du magst recht haben, vielleicht verzichte ich heute ganz auf Schlaf, dann haben wir das Problem mit dem Wecken nicht." Tatsächlich war die seltsame, wohlige Müdigkeit, welche sie gerade fast hatte einschlafen lassen, wie weggeblasen. Zudem fühlte sie ein Kribbeln im Bauch, hervorgerufen durch die Assoziationen, welche ihre eigene Bemerkung in ihr ausgelöst hatten und die rein gar nichts mit Zusammensitzen zu tun hatten, sondern vielmehr mit zusammen liegen ... wieder konnte sie nicht anders, als Merle anzuschauen.

Merle erwiderte Doratravas Blick mit einem unschuldigen Lächeln, in das sich ein winziger Funken Herausforderung mischte. 'Was dir entgehen könnte...' Doratrava hatte ja Nerven. Die Gauklerin schien ganz schön überzeugt zu sein, sie früher oder später rumzukriegen - eine verheiratete Frau! Demonstrativ nippte Merle an ihrem Tee und wandte sich Nivard zu. "Und erzählt, wie kam es zu Eurer Krönung? Sicherlich eine spannende Geschichte, oder?"

Als Merles Blick sie traf, hob Doratrava fast unmerklich entschuldigend die Schultern. Das Zurückhalten ihrer Gefühle war nun mal nicht ihre Stärke, aber sie wollte Merle nicht vor anderen Leuten in eine Situation bringen, die ihr unangenehm oder Schlimmeres war. Vielleicht war es gut, dass sie nun Nivard nach der Jagdkönig-Geschichte fragte, da konnte sie ihren Tee trinken und versuchen, an ihrer Selbstbeherrschung zu arbeiten. Vermutlich wie immer erfolglos.

"Das kann man so sagen." fing Nivard an zu erzählen. "Es war vor mehr als zwei Jahren in Nilsitz, der dortige Vogt hatte zur Jagd auf seine neu errichtete und damit einzuweihende Jagdhütte geladen. Wobei 'Jagdhütte' falsche Erwartungen weckt - Jagdpalast trifft es schon eher, die Zwerge machen eben keine halbe Sachen... aber ich schweife ab... Doratrava und ich - wir sind uns auf den damaligen Festlichkeiten zum ersten Mal überhaupt begegnet - bildeten gemeinsam mit Gelda von Altenberg und zwei Angroschim eine gemeinsame Jagdgruppe. Und in der Tat war uns Firun dank des Geschicks unserer Fährtensucherin Gelda hold - wir sind bald auf die Fährte eines leibhaftigen Riesenschröters gestoßen - wie der Name sagt, ein Riesenvieh, mindestens von hier bis da drüben, zu dem Pfosten…” der Krieger deutete auf einen gut drei Schritt entfernten Stützpfeiler der Hütte, “schwer gepanzert und verdammt humorlos mit seinen Mundwerkzeugen, wenn er sich angegriffen fühlt. Das Problem ist, dass Ihr den von oben kaum platt bekommt - außerdem wäre es schade um die schöne Trophäe -  und von unten erreicht ihr ihn kaum. Also haben wir ihn statt aus der Ferne im Nahkampf bearbeitet, wollten ihn mit Speeren auf den Rücken hebeln und dann zur Strecke bringen - ich hatte das Vergnügen, ihn direkt von vorne zu beschäftigen. Der Schröter hat uns dann aber selbst ganz schön Saures gegeben - und das obwohl wir gut gekämpft haben und sich Doratrava in diesem Gefecht tänzerisch selbst übertroffen hat, mit Sprüngen über das Monsterinsekt hinweg und waghalsigen Manövern. Wahrscheinlich war das Vieh einfach nur zu dumm, um sich davon irritieren zu lassen. Am Ende haben wir ihn kleingekriegt, mich mussten sie aber unter dem Brummer rausziehen und Doratrava hat es so schwer erwischt, dass sie die Jagd sogar abbrechen musste - Gelda hat sie zurück ins Lager begleitet." Nivard machte eine kurze Pause, in der er an seinem Tee nippte. Dann erzählte er noch zu Ende: "Die Herren Angroschim und ich haben die Beute danach noch um einige Wildschweine erhöht. Aber am Ende war es, glaube ich, nicht alleine unser Jagdgeschick, das uns zu Jagdkönigen gemacht hat, sondern auch unser Bericht von den Ereignissen, den wir zusammen mit den Trophäen vorgestellt haben. Ich hatte ein kleines Lied dazu gedichtet und vorgetragen, dessen Wirkung aber nur deswegen so gut war, weil Doratrava - dann schon wieder genesen - dazu das Jagdgeschehen nachgetanzt hatte, so dass jeder unsere Jagd nochmal miterleben konnte... so war es doch, nicht wahr, Doratrava?"

Völlig gefesselt, mit großen, staunenden Augen lauschte Merle der Geschichte, die Nivard so ungemein lebendig und spannend erzählte. Sie konnte sich alles lebhaft vor ihrem geistigen Auge vorstellen, auch wenn sie die abenteuerlichen Ereignisse kaum glauben mochte. Doratrava, wie sie tollkühn über einen wütenden Riesen-Schröter hinweg sprang! - hätte Merle Nivard nicht für einen der aufrichtigsten Menschen überhaupt gehalten, hätte sie das alles als Jägerbosperano abgetan. So aber schaute sie Doratrava sichtlich bewundernd an, gespannt, was ihre Freundin dem Bericht hinzuzufügen hatte.

Die Gauklerin lächelte fast schon ein wenig verlegen. “Ein wenig knapp, aber ja, so war es im Großen und Ganzen. Ich war vorher noch nie auf einer Jagd, und am Tag vorher hatte ich zum ersten Mal einen Speer in der Hand, Nivard hat mich da noch schnell auf eine sehr spezielle Weise unterrichtet, ich sage nur ‘Schubkeiler’.” Sie zwinkerte Nivard zu. “Und mein Übermut hatte dann ja auch seinen Preis, am Ende musste mich die Baronin Shanija von Rabenstein, eine Magierin, wieder zusammenflicken, damit ich später wieder auftreten konnte.”

Gwenn lachte herzhaft über Nivards Bericht. „Dann freuen wir uns schon auf morgen Abend, Herr von Tannenfels, wenn Ihr uns über eure neuen Jagderlebnisse ein Lied vortragt. Wenn Vater von der Jagd berichtet, klingt das eher so.“ Gwenn versuchte mit einer tiefen, beherzten Stimme zu sprechen. „Ja, da waren fünf Keiler. Hab sie mit der Armbrust erlegt. Freu’ mich schon darauf, wenn Leodegar Räucherschinken daraus macht.“

Bei der gelungenen Imitation musste Merle laut auflachen. "Ganz genauso klingt er!"

Doratrava schmunzelte, gleichzeitig fragte sie sich, ob Nivard sie morgen wirklich wecken würde - wenn sie denn schlafen gingen. Wenn sie wirklich an der Jagd teilnahm, sollte sie vielleicht ausgeruht sein. Andererseits kannte sie sich selbst gut genug, vor der zehnten Morgenstunde war sie nie richtig wach, außer man griff zu drastischen Mitteln wie Überschütten mit Eiswasser oder so etwas. Davon würde Nivard aber hoffentlich absehen, denn dann war sie vielleicht wach, aber schlecht gelaunt. Na ja, andererseits war sie sowieso schlecht gelaunt, wenn man sie morgens um fünf weckte …

Ohne ihr Zutun lag ihr Blick während des Sinnierens die meiste Zeit auf Merle, und ein anderer Teil ihres Geistes, der zu keiner wortreichen Artikulation fähig war, machte sich ganz andere Gedanken …

Merle merkte, wie ihr unter Doratravas Blicken die Röte ins Gesicht stieg und hoffe, dass man dies im warmen Licht des Kaminfeuers nicht sah. “Was ist denn nun der ‘Schubkeiler’?” fragte sie neugierig nach und blickte zwischen Doratrava und Nivard hin und her.

“Na ja”, grinste Doratrava und schenkte Merle nun wieder ihre bewusste Aufmerksamkeit, was die Intensität ihrer Blicke keinesfalls verringerte, “eigentlich war das zuerst ein Spaß für mich, so habe ich mich scherzeshalber entschlossen, bei der Jagd mitzumachen. Aber dann ist mir gekommen, dass ich vielleicht doch so etwas wie eine grundlegende Ahnung davon haben sollte, wie man ein Tier erlegt, speziell ein Wildschwein, denn das ist ja wohl oft die Hauptbeute. Und da ist Nivard, der sich bereiterklärt hat, mich in die Grundlagen einzuführen, eine Idee gekommen: wir beschafften uns einen großen Strohballen und einen Schubkarren, auf welchen wir diesen luden. Ich nahm also meinen Speer, den die Zwerge mir großzügig zur Verfügung gestellt hatten, und Nivard den Schubkarren, und damit rannte er auf mich zu, um einen Keiler zu simulieren, während ich versuchen musste, nicht überfahren zu werden und gleichzeitig den Speer in den Strohballen zu treiben - und nicht in Nivard, das ist einmal auch fast passiert, wie ich zugeben muss. Das also war dann der ‘Schubkeiler’, und trotz der realen Gefahr dieser Übung war es sehr, sehr lustig.” Sie blickte kurz Bestätigung heischend zu Nivard hinüber. Der nickte grinsend, und ihm war anzusehen, dass es auch für ihn sehr schöne Erinnerungen waren, die mit dem Schubkeiler und ihrer Jagd verbunden waren. “Wenn meine Kinder größer sind, werde ich auf jeden Fall wieder einen bauen!”

"Nivard, meinen Respekt!" kicherte Merle. "Unter Einsatz Eures eigenen Leib und Lebens einer jungen Dame Speerunterricht zu geben - das würden sicher nicht viele wagen!"

"Ach.. an der Kadettenschule kam irgendwann auch der Tag, an dem statt mit Holzschwertern mit echten geübt wurde. Das schärft nur die Aufmerksamkeit..." wiegelte Nivard ab. "Und was tut man nicht alles, um eine Dame auf eine Herausforderung vorzubereiten... allerdings war diese hier auch ein Naturtalent!"

„Luzia, wäre dass nicht etwas, was Wulfhelm und dein Schwiegervater bauen könnten, damit Vater die Jagd üben kann?“ fragte Gwenn amüsiert.

„Firun bewahre! Wer soll denn die Karre dann schieben? Ich möchte doch nicht, dass Wulfi sein Leben riskiert.“ Als Luzia bewusst wurde, wie man ihre Worte verstehen konnte, schlug sie sich schnell eine Hand vor den Mund und schaute zu Boden. „Verzeiht, hohe Dame! Das hätte ich nicht sagen dürfen. Ich wollte nicht andeuten, dass Euer Vater…“

Gwenn winkte lachend ab. „Schon gut, Luzia, ich weiß, was du meinst, und du hast recht. Ich würde mich lieber auch nicht an den Karren stellen.“

"Den Schubkeiler könnte man sicher noch verbessern, mit Front- und Seitenschilden zum Schutz des Schiebenden." begann Nivard laut zu sinnieren. Dabei war ihm nicht anzusehen, ob er dies ernst meinte oder scherzte.

“Sollte ich zufällig in der Gegend sein, stelle ich mich gerne wieder als Übungspartnerin zur Verfügung.” Auch aus Doratravas hintersinnigem Schmunzeln war nicht abzulesen, wie ernst sie das meinte.

"Ich nehm Dich beim Wort!" zeigte Nivard, dass ihn diese Vorstellung alles andere als schreckte.

"Vielleicht sollte ich mich auch mal dazu durchringen, mich etwas im Kämpfen zu üben", überlegte Merle ernsthaft, dann schmunzelte auch sie. “Also, ich meine jetzt nicht mit dem Sauspieß! Ich will an keiner Jagd teilnehmen! Aber vielleicht wäre es gut, wenn ich Lulu und mich besser verteidigen könnte."

Überrascht schaute Doratrava zurück zu Merle. “Also … Messerwerfen kann ich dir beibringen”, bot sie an, während sie sich noch fragte, ob ihre neue Freundin das ernst meinte.

“Wurfmesser, hm…” Merle stellte sich vor, wie sie ungebetene Eindringlinge in der Küche mit einem gezielten Wurf in die Flucht schlagen würde. “Vermutlich brauche ich dafür auch weniger Kraft, als wenn ich versuchen würde, ein Schwert zu schwingen.”

“Für das Schwert müsste ich dich auch an Nivard verweisen”, meinte die Gauklerin augenzwinkernd. “Außerdem habe ich mir sagen lassen, dass ein Schwert nicht jede tragen darf. Da hat man es mit Messern leichter, die lassen sich auch besser verstecken.”

Merle lachte herzlich und schüttelte den Kopf. “Tsalinde hatte vorhin auch schon vorgeschlagen, ich solle mich einer Abenteuergruppe anschließen! Aber ich will ja keine Questen bestreiten - nur im Ernstfall vorbereitet und nicht völlig hilflos sein.” Ihr Ausdruck wurde ernster. “Die Dame Herlinde wird nicht immer hierbleiben können.”

“Wer ist Herlinde?”, fragte Doratrava interessiert.

"Die Frau von Kranickau vom Geleitschutz Plötzbogen. Sie sorgt für unsere Sicherheit, also ganz besonders für Gwenns", erklärte Merle sachlich und zwinkerte der zukünftigen Braut, die sich der Aufpasserin so erfolgreich entledigt hatte, unauffällig zu.

Gwenn hob den Finger vor die Lippen, um anzudeuten, Merle solle sie nicht verraten.

Doratrava nickte, da ihre Neugier befriedigt war.

"Bei Herlinde seid Ihr auf jeden Fall in guten Händen. Aber Ihr habt Recht - sie kann nicht immer und überall sein - und das, obwohl sie eine Plötzbognerin ist. Sich verteidigen sollte ein jeder können! Nicht wie ein Krieger in der Schlacht natürlich, und sicherlich auch nicht gegen einen ausgebildeten und geübten Kämpfer in voller Bewaffnung, aber sich einen dahergelaufenen Dieb oder Einbrecher vom Leibe halten, das könnt gewiss auch Ihr, Merle, ja, ihr alle hier lernen." richtete Nivard das Wort an alle Frauen in der Runde. "Allerdings würde ich nicht auf Wurfmesser setzen. Wenn Ihr nicht gleich beim ersten Wurf trefft, seid Ihr allzu schnell waffenlos, und im Nahkampf sind sie nicht viel wert. Ein Langdolch dagegen ziert nicht nur jeden Gürtel, sondern verleiht Euch, falls Ihr ihn wenigstens grundlegend zu führen wisst, eine nicht zu unterschätzende Wehrhaftigkeit. Wenn Ihr dann noch Euer Knie zu nutzen wisst, werdet Ihr schon mit dem meisten Pack fertig. So Ihr möchtet und sich die nächsten Tage etwas Zeit findet, kann ich Euch gerne ein paar grundlegende Dinge zeigen. Und bei Interesse natürlich auch gerne mit dem Nordmärker Langschwert…"

“Was mich angeht, denke ich, mich ganz gut verteidigen zu können”, gab Doratrava leichthin zurück, die in spielerischer Stimmung war und auch dieses Gespräch eher wie eine Art Spiel auffasste. “Wenn ich auch bevorzuge, niemanden, der mir Böses will, so nah an mich heranzulassen, dass ich den Langdolch brauche. Aber gegen eine neuerliche Übungsrunde mit dir - und auch anderen Interessierten - hätte ich nichts einzuwenden.” Die Gauklerin grinste. “Übrigens hatte ich sogar schonmal Schwertunterricht, sogar von einem Rondrageweihten, aber es war nur eine halbe Stunde oder so.”

"Na, dann hattest du schon mal deutlich mehr Schwertunterricht als ich!" Merle nickte Doratrava und Nivard bestätigend zu. "Eine Übungsstunde mit dem Langdolch hört sich tatsächlich interessant an. Was meinst du, Gwenn, bist du auch dabei? Oder hast du morgen schon zu viel um die Ohren?"

"Auf eine halbe Übungsstunde bei Rondradin lässt sich auf jeden Fall aufbauen!" lobte Nivard seinen einstigen Rivalen in der Liebe und inzwischen Freund. "Dann freue ich mich schon auf ein paar Waffenlektionen mit euch, wenn wir von der Jagd zurück sind."

“Es war nicht Rondradin”, berichtigte Doratrava Nivard schmunzelnd, ohne das näher auszuführen.

“Oh ja, das wäre wunderbar”, stimmte auch Gwenn zu, “ein paar Tricks mit dem Dolch zu lernen, noch dazu von einem so erfahrenen Kämpfer. Man weiß ja nie, wann man das brauchen kann.”

"Dann sehen wir uns morgen zu viert..." Nivard setzte gerade an, laut zu überlegen, welche Übungen er vorsehen wollte, als leise Schritte ihrer alle Aufmerksamkeit, auch die seine, auf die Türe lenkten.

Die Hütte füllt sich

Spät war es, als die Tür ein weiteres Mal geöffnet wurde.

Der Wind war nun etwas eisiger, und die Gestalt beeilte sich, die Tür schnell wieder zu schließen, um den Regen und die Kälte draußen zu halten. Ihre zarte Gestalt war in einen weiten Mantel mit Kapuze gehüllt.

Liana nahm die Kapuze herunter und sah sich um. Mit einem freundlichen Lächeln blickte sie in die Runde. “Einen guten Abend wünsche ich euch”, sagte sie. “Ich hoffe, dass es noch etwas von dem angenehmen Kräutertee gibt, dessen Duft noch in der Luft liegt.”

Sich ein wenig aufzuwärmen, würde ihr gut tun.

Luzia lief sofort los, bevor Gwenn sie dazu auffordern musste, um einen weiteren Becher Tee aus der Küche zu holen. Sie freute sich so sehr, die Elfe noch einmal sehen zu können. Kurze Zeit später kam sie mit einem erfrischend und wohltuend nach den unterschiedlichsten Kräutern duftenden Aufguss zurück. Außerdem brachte sie eine Schale mit Äpfeln, Birnen und Nüssen mit. Aus einer Kommode holte sie einen kunstvoll gefertigten Nussknacker.

“Kommt nur rein und setzt Euch zu uns, Ihr seid uns herzlich willkommen!” begrüßte Gwenn die Baronin. “Es freut mich, auch im Namen meines Verlobten Rhodan Herrenfels, Euch zu unserer Vermählung in Lüzeltal begrüßen zu dürfen!”

Die Baronin nahm den Becher dankbar entgegen und hielt ihn mit beiden Händen.

“Habt Dank”, sagte sie - und blickte dann auch Gwenn an, um sie in den Dank mit einzubinden. “Es ist lange her, dass wir uns sahen. Ich freue mich, dass es nun unter solch schönen Umständen geschieht.”

Die Schale mit den Nüssen schien ihr durchaus verlockend. Sie nahm einige vorsichtige Schlücke aus dem Becher, dann stelle sie ihn zunächst ab und holte die Schale und den Nussknacker und machte sich daran, der ersten Haselnuss ihr Inneres zu entlocken, nachdem sie sich an einem freien Platz niedergelassen hatte.

Dann sah sie sich noch einmal genau um. Betrachtete die Hütte - und jene, die bereits in ihr saßen.

Es war eine rustikales Holzhaus, in dem sie sich befanden. Die Wände waren aus dichen, entrindeten Holzbrettern kunstvoll gebaut. Das Erdgeschoss war geprägt durch einen großen Raum, in dem eine längliche Eichenholztafel zu anderen Zeiten zum Speisen einlud. Vor dem Kamin, an dem sich die kleine Gesellschaft versammelt hatte, lagen verschiedene Felle von Wildschweinen, Schafen und Steinböcken, um den Boden zu wärmen. An den Wänden standen Kommoden und kleinere Serviertische, gegenüber dem Kamin ein größerer Schrank. An den freien Flächen der Wände waren einerseits ebenfalls Tierfelle gespannt, andererseits aber auch eine Vielzahl von kleineren Geweihen und Tierschädeln aufgehangen. Ein paar Türen führten in die Küche und kleinere Nebenzimmer, die die Wohnstatt der Jägerfamilie bildeten. Eine Treppe mit einem geschnitzten Geländer führte in das obere Stockwerk, wo sich die Schlafzimmer der Gäste befanden. So wie das Treppengeländer waren auch die vier Stützsäulen in der Mitte kunstvoll mit Schnitzereien verziert.

Merle war aus ihrer wohligen Entspannung aufgeschreckt und starrte die Elfenbaronin staunend an; dann, als diese den Blick erwiderte, senkte sie schnell schüchtern den Blick. "Sehr erfreut", murmelte sie leise. Obwohl sie schon Doratrava faszinierend und exotisch fand, dabei aber sehr zugänglich - vermutlich zu zugänglich - wirkte diese Elfe auf den ersten Blick so ätherisch und überderisch… vollkommen, dass Merle unwillkürlich leicht zurückwich und Gwenn das Reden überließ. Dann wurde ihr gewahr, dass die Dame sich selbst am Nussknacker zu schaffen machte und streckte zögerlich die Hand aus. “Euer Hochgeboren, lasst mich das doch machen mit den Nüssen. Ich bin… Merle, ähm… von Weissenquell.”

Auch Doratrava musste sich von der versonnen-verstohlenen Betrachtung Merles losreißen, als Liana den Raum betrat und der Personenkonstellation einen Schubs gab, so dass diese sich ein neues Gleichgewicht suchen musste. Sie schüttelte innerlich den Kopf über ihre verqueren Gedanken und nickte der Elfe lediglich kurz zu, da es keinen Grund gab, sich in den Vordergrund zu drängen.

Es gab Tage, da stellte die Baronin ihre Stellung insgeheim infrage. Damals, vor so vielen Jahren, als Kaiser Hal ihr die Baronswürde angedeihen ließ, sah sie dies als eine Möglichkeit, genau das zu tun, was am Seminar der Verständigung in Donnerbach geschah.

Aber an diesem Abend wurde ihr einmal mehr bewusst, wie sehr dieses Adelsleben entfremden konnte. Oder wie sehr diese Würde manchmal eher eine Bürde war.

Das Letzte, was sie wollte, war, die Gespräche im Keim zu ersticken durch ihre Präsenz. Oder junge Frauen dazu zu bringen, dass sie schüchtern und schweigsam ausharrten.

Es galt, ihrem Auftritt ein wenig Schärfe zu nehmen, dachte sie bei sich.

“Ihr wollt auch einige Nüsse?”, fragte sie Merle, und hielt ihr anstelle des Nussknackers mit ausgestreckter Hand, einige frisch geknackte Haselnüsse hin.

Das amüsierte, neckische Lächeln, das sie ihr schenkte, und das schon bald zu einem heiteren, perlenden Lachen werden sollte, machte von Anfang an deutlich, dass es der Baronin nicht ernst war. Dass sie Merles Intention durchaus richtig verstanden hatte und nur so tat, als wäre dem nicht so. Kurzum: Es machte deutlich, dass sie nicht gewillt war, die Standesdünkel zu pflegen, die vielen anderen Baroninnen und Baronen zu eigen war, und wie sie auch von Eduina ein ums andere Mal hervorgehoben wurden.

Nur zu gut, dass sie ihrer treuen Zofe heute “frei” gegeben hatte, indem sie sich unangemeldet und allein zur Nachtwanderung begeben hatte …

"Ähm... ja gern." Leicht irritiert streckte Merle die Hand aus und nahm vorsichtig eine Nuss aus der Hand der Baronin, nach kurzem Zögern eine zweite, die sie sich verlegen lächelnd in den Mund schob. "Habt Dank, Hochgeboren!"

Doratrava hatte es sowieso nicht so mit Förmlichkeiten, zudem erkannte sie intuitiv Lianas Absicht, und sie wollte Merle ein wenig helfen, ihre Befangenheit loszuwerden angesichts der elfischen Baronin. “Sag, was hast du denn gesehen, da, am Teich, im Schein des Madamals?”, fragte sie Liana daher ungeniert. Trotz aller Tändelei war ihr durchaus aufgefallen, dass Liana etwas … abwesend gewirkt hatte, dort. Das mochte eine Täuschung sein, aber Fragen kostete nichts, wie man so schön sagte. Wobei … eine andere Baronin oder ein anderer Baron bei so einer Frage ihr möglicherweise durchaus eine Rechnung präsentiert hätte. Unwillkürlich kam ihr der finstere Lucrann von Rabenstein in den Sinn, dessen Bild sie gleich wieder aus ihren Gedanken verbannte, um sich die Stimmung nicht zu vermiesen.

Während Doratrava ihre Frage an Liana stellte beugte sich Gwenn zu Merle hinüber und flüsterte ihr zu. „Du braucht keine Scheu zu haben vor der Dame Morgenrot. Sie ist eine sehr umgängliche Frau. Sieh sie wie eine gute Bekannte an. Ja?“

Merle sagte nichts, nickte Gwenn aber dankbar zu. Beherzt hob sie die Lider, um Liana bewusst anzusehen und zwang sich, den Blick nicht gleich wieder zu senken.

Einladend, aufmunternd - das waren vielleicht die geeignetsten Beschreibungen der Art, wie Liana ihren Blick erwiderte. “Nehmt gerne noch welche”, sagte sie. Einmal mehr streckte sie ihre Hand aus und reichte ein paar Nüsse. “Ich werde den Nussknacker noch eine Weile … behalten.” Es klang amüsiert, heiter. Und auch ein wenig neckisch.

Dann wandte sie sich der Gauklerin zu. Sie neigte ihr Haupt ein wenig hoch, wobei sie nichts Bestimmtes ansah. Es schien, als blicke sie durch etwas hindurch. Eine gewisse Eigenheit, die sie bisweilen zeigte, wenn sie in Gedanken war.

“Es war weniger, was ich sah, als vielmehr, was ich spürte.”

Sie blickte nun wieder Doratrava an, und ihre Augen schienen erneut ein wenig zu leuchten.

“Es ist schwer zu beschreiben. Nachdem ich das schöne weiße Reh sah, das Nivard mir zeigte, hörte ich den Wind in den Bäumen. Er flüsterte mir zu. Und als der Wind die Wolken einen Augenblick beiseite schob, sah ich das Glitzern der Mada auf dem Weiher. Und es erinnerte mich stark an den Neunaugensee im Norden. Und dann…”

… ein leicht verträumter Ausdruck und ein sanftes Lächeln umspielten ihr schönes Antlitz, und sie schloss ihre Augen. So, als wolle sie diesen seltsamen Moment am Weiher erneut auskosten.

“... und dann fühlte ich mich der träumenden Madaya sehr nahe, während ich sie anblickte. Und ihr silbernes Licht durchströmte mich. Es war ein wundervoller Moment.”

Silbern glänzte auch der Stein in ihrem Diadem.

“Hm”, sinnierte Doratrava, “ich war auch schon zweimal am Neunaugensee, aber mir ist keine Ähnlichkeit aufgefallen … vielleicht, weil ich nicht deine Sinne habe …”. Ihr Blick wanderte zurück zu Gwenn, dann zu Merle, wo er hängenblieb. Was diese wohl aus dieser Beschreibung machten? Was mochten sie gesehen haben? Doratrava musste lächeln, als sie an ihr und Merles Bad zurückdachte. Möglicherweise lag es nicht an ihren Sinnen, sondern an der Ablenkung derselben, dass ihr nichts aufgefallen war.

Deutlich entspannter und weniger vorsichtig griff Merle nach den angebotenen Nüssen. Mehr, als würde sie diese tatsächlich von einer Freundin nehmen und nicht von einer Baronin. Während sie abwesend kaute, bewunderte sie Lianas glitzerndes Diadem und lauschte andächtig deren Worten, die wunderschön klangen und eine Art Widerklang in ihr auslösten, wenn sie die Bedeutung auch nicht vollständig verstand. War es das 'silberne Licht der träumenden Madaya' gewesen, das sie dazu gebracht hatte, ins Wasser zu springen? Und mit Doratrava... Sie seufzte ganz leise, traute sich aber nicht, etwas zu der Unterhaltung beizutragen.

Als Doratrava Merles Seufzer hörte, nahm sie unwillkürlich ihre Hand und drückte sie kurz, um sie zu beruhigen. “Liana ist … irgendwie schwer zu durchschauen”, flüsterte sie ihr leise zu, “aber sehr, sehr nett.”

Es war, als wische sie ihre verträumten Gedanken beiseite.

“Aber genug von mir. Ich würde mich freuen, mehr über euch zu erfahren und was ihr am Weiher erlebt habt. Oder auf der Wanderung. Erzählt doch ein wenig mehr über euch.” Einmal mehr blickte die Dame von Rodaschquell aufmunternd in die Runde, zu Gwenn, Doratrava - und insbesondere zu Merle. Es machte ihr Freude, zu sehen, dass diese langsam ihre Scheu zu verlieren schien. Die Blicke und das gelegentliche Geflüster blieb ihr dabei in dieser kleinen Runde natürlich nicht verborgen.

“Es war ziemlich verwegen, in das kalte Wasser zu springen. Wenngleich ich zugeben muss” .. sie sprach etwas leiser “... dass ich für einen Augenblick selbst diesen Drang verspürte.”

Merle hob überrascht die Brauen. Wenn die Baronin selbst die Versuchung gespürt hatte, in das Wasser zu gehen, dann würde sie sie vielleicht nicht für völlig verrückt halten. "Das Madalicht war so wunderschön und das Wasser hat ganz weiß geleuchtet", sagte sie zögerlich, wie zur Erklärung, obwohl es eigentlich keine war. "Und ich hab gesehen, wie Doratrava rein ist... da wollte ich es auch. Alles war plötzlich so klar und... frei und ich fühlte mich... lebendig, wie schon lange nicht mehr." Nach dieser Offenbarung nahm Merle schnell einen weiteren Schluck von ihrem Tee und schaute unsicher in die Gesichter der anderen.

Doratrava war sowieso schon immer die Exotin und Außenseiterin gewesen, deshalb war es ihr völlig egal, ob man sie für verrückt hielt. Außerdem … “Ich … habe den Weiher gesehen in diesem Licht und gar nichts gedacht, aber mein Gefühl sagte mir, dass ich darin baden muss. Keine Ahnung, warum … aber es hat sich gelohnt.” Wieder griff sie nach Merles Hand, aber ein wenig verstohlen diesmal, und so locker, dass Merle merken musste, dass sie sich jederzeit lösen konnte.

“Ich glaube”, warf Gwenn ein, “wenn ich dabei gewesen wäre, ich wäre auch in das Wasser gegangen. Was hat eigentlich Gudekar zu Eurem Bad in dem Weiher gesagt?”

Merle zog ihre Hand nicht weg, sondern drückte Doratravas ganz leicht; die Geste gab ihr Sicherheit. Doratrava erwiderte den Druck in gleicher Stärke. Auf Gwenns Frage zuckte sie unschlüssig mit den Achseln. “Als das Wasser im Madalicht geleuchtet hat, da ist er gleich bis zu den Knien rein. Aber er hat nicht wirklich gehört, was ich zu ihm gesagt hab, sondern war in einer Art… Trance.” Fragend schaute sie zu Liana. “Muss so ein Magier-Ding sein, oder?”

Liana schmunzelte. Und bemerkte, dass Nirvard zu antworten anhob.

"Merkwürdig." murmelte Nivard, der zuletzt nur schweigend zugehört hatte. "Weiß nicht, ob das nur so ein Magier-Ding ist." hob er sodann die Stimme. "Ich habe zwar nur davon getrunken... mir waren das Wasser und die Nacht ehrlich gesagt zu kalt zum Baden” fügte er er für Liana erklärend hinzu “... aber es verlockte mich geradezu, einen Schluck davon zu kosten, obgleich am Feuer ganz andere Getränke warteten. Und dann ging es mir beinahe wie Euch, Merle. Auch ich hatte das Gefühl, alles, was mich beschäftigt, alle Fragen ohne eindeutige Antworten, seien auf einmal einfach und klar zu beantworten. Wenn nur ein Schluck zu so einer Wahrnehmung ausreicht, so verstehe ich, warum Gudekar im knietiefen Wasser in Trance geraten ist und ihr gar nicht mehr aus dem Wasser rauswolltet, trotz der Kälte."

"Aber so klar und unbeschwert sich im Wasser auch alles angefühlt hat - lange hat das nicht vorgehalten. Zumindest bei mir nicht", murmelte Merle grübelnd, mit dunkler, gedankenverlorener Stimme. Sie dachte an Gudekar und ihre schwankenden, widerstreitenden Emotionen von tiefer Liebe und Zuneigung, Hoffnung und Misstrauen, Sehnsucht, Enttäuschung und Angst. "Ich habe nicht das Gefühl, klüger geworden zu sein. Alle meine Fragen sind noch da." Nivard nickte bestätigend. Ja, so war es bei ihm auch, fast wenigstens…

Wieder drückte Doratrava still Merles Hand.

Gwenn schüttelte verwundert den Kopf. “Ich glaube, da muss man dabei gewesen sein, um das alles zu verstehen.” Die Hofdame blickte auf das Feuer, das langsam herunterbrannte. “Luzia, Schätzchen, würdest du noch einmal ein paar Holzscheite auf das Feuer legen?”

“Sehr gerne, hohe Dame. Aber dann würde ich gerne zu Bett gehen. Ich muss noch vor dem Morgen aufstehen, um das Frühstück für die Jagdgesellschaft zu richten”, bat Luzia, sich von der illustren Runde verabschieden zu dürfen.

“Ach je, du Arme, da habe ich ja gar nicht daran gedacht. Geh nur zu Bett, ich kümmere mich selbst um das Feuer! Ich werde noch mit den Gästen eine Weile hier gemütlich am Kamin verweilen. Mich vermisst morgen früh niemand. Außer Rhodan, natürlich.” Dann flüsterte Gwenn verschwörerisch und für alle gut hörbar mit einem Augenzwinkern: “Und diese Wachfrau, die Dame von Kranickau.” Mit normalem Ton sprach sie weiter. “Hab’ eine gute Nacht, Luzia!”

“Schon gut, Frau von Weissenquell, das kann ich gerne noch erledigen.” Luzia ging zum Kamin und legte noch drei große Scheite nach. Wenn diese abgebrannt waren, sollte die Glut noch ausreichen, die Stube über Nacht warm zu halten und am Morgen ein neues Feuer zu entfachen, selbst wenn die hohen Herrschaften selbst keine Scheite mehr nachlegten. “Kann ich den Herrschaften sonst noch etwas bringen, bevor ich mich zurück ziehe?”

“Danke, nein, Luzia”, wiegelte Gwenn ab. “Ich kümmere mich selbst um alles andere. Geh’ nur zu Bett.”

“Vielen Dank, hohe Dame. Ich wünsche den Herrschaften noch einen schönen Abend!” Mit diesen Worten verneigte sich Luzia und verließ den Saal durch eine der Seitentüren.

“Na gut, meine Lieben, möchte noch jemand etwas zu trinken. Ich meine etwas anderes als Tee?” fragte Gwenn voller Tatendrang.

Merle schüttelte den Kopf. "Nein, danke, meine Liebe, für mich nicht. Ich hatte schon ein bisschen viel Glühbier und Lulu wär' nicht erfreut, wenn ihre Mutter morgen mit 'nem Brummschädel nicht aus den Federn kommt. Ich bleib bei Tee." Mit einem schiefen Lächeln zwinkerte sie ihrer Schwägerin zu. "Aber Gwenn, du gönn' dir mal, worauf du Lust hast! Du heiratest schließlich nur einmal im Leben."

Liana blickte dankbar lächelnd auf, hob aber abwehrend ihre Hand.

“Ich fürchte, ich muss das Angebot ablehnen, freue mich aber über noch etwas Tee.”

“Ich bleibe auch beim Tee”, ließ sich Doratrava vernehmen. “Wir wollen es Nivard nicht zu schwer machen, mich zu wecken, falls er es denn wirklich darauf anlegt.” Sie grinste den Krieger an, bewahrte aber einen kleinen Funken Hoffnung, dass noch etwas anderes diese Nacht ihre volle Aufmerksamkeit erfordern würde, auch wenn Merles Erwähnung ihrer kleinen Tochter, um die sie sich wahrscheinlich bald kümmern musste, diesen Funken eher wie den Abklatsch eines schwachen Glimmens erscheinen ließ …

“Für mich heute Abend bitte ebenfalls nur Tee.” vermerkte Nivard knapp.

“Gut, dann kochen wir noch einen Tee.” Gwenn stand von ihrem Fell auf und ging in den Küchenraum. Bald darauf kehrte sie mit einem leicht dampfenden Kessel in den Händen und einem kleinen Leinensäckchen zwischen die Zähne geklemmt zurück. Sie hob den Kessel in eine Haltevorrichtung über dem Kaminfeuer. Dann nahm sie das Säckchen aus dem Mund und während sie es öffnete und daran schnupperte, kommentierte sie: “Wir sollten das Wasser noch einmal erhitzen, es ist nur noch lauwarm. Hm, die Kräuter riechen gut! Kennt sich von euch jemand mit Kräutern aus? Was sind das für welche?”

Doratrava schnupperte, zuckte aber nur die Achseln.

"Lass mal sehen", meinte Merle zuversichtlich und roch an dem Säckchen. "Ich glaube, ich weiß, was das ist… Ilmenblatt, Gulmond und Erdbeeren sind drin, denke ich…", sie nahm prüfend ein bisschen von dem Tee zwischen die Fingerspitzen und lächelte, “...und Mohn. Das ist ein Gute-Nacht-Tee, würde ich sagen. Wird sicherlich entspannen und süße Träume bescheren… Aber vielleicht doch ein bisschen stark, wenn der Herr Nivard sich schon bald wieder hellwach und reaktionsschnell den wilden Keilern entgegenstellen muss, oder?” Sie blickte fragend zu Gwenn. “Sind da noch mehr Teemischungen?”

“Oh, wie gut, dass du dich da so gut auskennst, Merle. Ich hätte euch jetzt alle einfach eingeschläfert, was? Warte, ja, da waren noch ein paar andere Säckchen. Ich hab einfach irgendeines gegriffen.” Gwenn ging noch einmal in die Küche und kam kurze Zeit später mit fünf weiteren Kräutermischungen zurück. Sie warf die Säckchen Merle zu. "Hier, dann schau mal, ob du was gutes darunter findest.” Dann ging sie an einen der Schränke und holte eine verkorkte Tonflasche und fünf kleine Becher heraus. “Na, mag nicht vielleicht doch jemand von euch noch einen kleinen Trunk?”

Doratrava schüttelte den Kopf. “Aber bitte auch kein Schlafmittel. Ja, wirklich gut, dass du uns gerettet hast, Merle.” Sie lächelte diese warm an, dann lehnte sie kurzerhand wieder ihren Kopf an Merles Schulter.

Zwar kannte sie sich recht gut mit Kräutern aus - ihr Vater hatte sie einst, vor so vielen Jahren, einiges gelehrt. Doch sie überließ dieses Feld gern Merle.

Die Elfe musterte die junge Frau und die vertraut an ihrer Seite sitzende Gauklerin eine Weile und schien dabei ein wenig abwesend.Ihre amethystfarbenen Augen wechselten mal zu der einen, dann zu der anderen Gestalt.

Der Stein in ihrem leuchtenden Haar wechselte seine Farbe in ein dunkles Violett. Wie der Flieder im Sommer.

Merle lächelte mit einem gewissen Stolz. Es tat sehr gut, Doratrava, der Baronin und den anderen zu zeigen, dass sie als einfache Magd auch Dinge wusste und konnte. Kurz drückte sie Doratrava an sich, dann nahm sie sich das nächste Teesäckchen vor, um daran zu schnuppern. Sogleich verzog sie angewidert das Gesicht. "Hui, das war mal ein Heiltee... Wirselkraut und Einbeere, glaub' ich, dazu wieder Gulmond und... vielleicht Traschbart oder Donf. Scheint aber überlagert zu sein und riecht wirklich nicht mehr gut. Den sollten wir lieber wegtun!" Sie legte den Beutel zur Seite und roch nacheinander an den nächsten Säckchen. Ihre Miene hellte sich auf. "Den hier hatten wir eben. Brombeerblätter, Apfel, Hollbeere, Lulanie und Saturienbusch... auch beruhigend, aber nicht so einschläfernd wie der andere." Beim nächsten Beutel zog sie kritisch die Augenbrauen hoch. "Das ist Roter Fingerhut. Kann man zur Stärkung des Herzens geben, aber mit äußerster Vorsicht bei der Dosis. Eigentlich sollte das hier nicht einfach so rumliegen." Auch diesen Beutel legte sie schnell beiseite. "Beim nächsten hab ich wirklich keine Ahnung. Getrocknete Rosenblätter und Erdbeeren sind mit drin, aber noch was anderes.... Wollt Ihr vielleicht mal schnuppern, Hochgeboren?" Sie hielt Liana das Säckchen anbietend hin und nahm derweil das letzte zur Hand. "Und das hier ist ein schöner Früchtetee mit Äpfeln, Kirschen, Beeren und Rosenblättern. Also, ich würde vorschlagen, entweder diesen oder den von eben?" Fragend blickte sie in die Runde.

“Nimm den, der dir besser schmeckt”, schlug Doratrava vor. “Ich vertraue deinem Urteil.”

Aus einem der Säckchen spürte Liana einen Geruch, der ihr eine innere Unruhe verlieh, einen inneren Drang, ein Gefühl wie eine Gier, das sonst nicht in ihrer Art lag und das sie einerseits beunruhigte, andererseits aber auch ein gutes Gefühl war. Sie konnte in dem Gemisch der vielen Gerüche von ihrer Position aus nicht ausmachen, aus welchem Säckchen diese Verlockung, dieser Zwang kam, aber sie hatte das unbändige Bedürfnis, dem nachzugehen.

Die Elfe biss sich sanft auf die Lippe. Ihr Blick schien verträumt, ja, mehr noch, regelrecht … verführerisch. Sie schloss ihre Augen kurz und sog den angenehmen Duft ein, der sie gleichermaßen irritierte wie auch gefangen nahm. Wie der Wind, der über die Sommerwiese streicht und tausend verlockende Versprechen mit sich führt, denen nachzugehen sich lohnt.

Sie öffnete wieder ihre Augen und blickte sehnsüchtig in Richtung Merle, wobei ihre Augen klar auf die Säckchen fokussiert waren.

Dann sah sie sich kurz um. Schaute den Anwesenden in die Augen. Ein  Blick voller Zuneigung, Sehnsucht, Freude. Ihr Atem ging ein klein wenig schwerer.

Ein … einladendes Lächeln umspielte ihre schönen Züge, und sie führte ihre Hand zu ihrem Hals und strich langsam mit ihrem Finger über ihre helle, makellose Haut.

Sie wandte sich kurz zur Seite, als spüre sie selbst, dass sie etwas … sonderbar reagierte.

Doch Neugier und das Verlangen, sich den schönen, angenehmen Dingen nicht zu verwehren, sondern sie hinzunehmen, sie willkommen zu heißen, erfassten sie, und sie wandte sich wieder zu.

Merle schaute die Elfe intensiv an, errötete leicht und erwiderte deren Blick mit einem leicht irritierten, verlegenen, aber freundlichen Lächeln. Als sie sah, dass Lianas Aufmerksamkeit auf das Teesäckchen gerichtet war, streckte sie ihr dieses erneut anbietend hin. “Ähm, ich würde vielleicht gern was neues ausprobieren… Den Früchtetee mit Rosenblüten vielleicht?” fragte sie in die Runde. “Oder dürstet es Euch nach etwas anderem, Hochgeboren?”

Doratrava hatte die Blicke Lianas erst verwirrt, dann irritiert wahrgenommen, vor allem, weil diese so intensiv Merle anstarrte. Überhaupt kam ihr das Verhalten der Elfe seltsam vor. Zwar kannte sie diese nicht wirklich gut, aber bisher war sie ihr zwar immer freundlich und nett, aber auch mysteriös und unnahbar vorgekommen … und jetzt das genaue Gegenteil? Das passte irgendwie nicht zusammen … auch wenn sie sich bei einer anderen, vergangenen Gelegenheit durchaus darüber gefreut hätte. Sie biss sich auf die Zunge, um jetzt nicht eine unpassende Bemerkung zu machen, und wartete erst einmal Lianas Antwort auf Merles Frage ab.

Die Elfe sog erneut scharf die Luft ein. Ihre Augen leuchteten geradezu auf …

Ihre Augen, diese strahlenden Amethyste, wanderten langsam umher. Merle, Gwen, Nivard, Doratrava …

Sie alle …

Blicke voller Tiefe. Verheißung. Ihr Lächeln wurde breiter. Einladender. Wie ein Versprechen der ewigen Freundschaft. Ihre Finger fuhren noch immer lasziv ihren Hals entlang.

Anmutig hob sie ihr Haupt, und ihre vollen Lippen spitzten sich ein wenig. Sie wusste um ihre Präsenz. Sie wusste nur zu gut, wie sie wirkte. Und was sprach dagegen, es zu akzeptieren? Noch einmal sog sie freudig den Duft des süßen Krauts ein, das so voller angenehmer Gedanken war. Schloss ihre Augen, bereit, sich zu ergeben.

Ihr Lächeln wurde noch intensiver … schöner denn je. Der Schein der Flammen im Raum warf einen goldenen Glanz auf ihr kastanienfarbenes Haar. Sie dachte an den Kreis der Hexen in Weiden, der sie einst, vor langer Zeit, in ihre Mitte eingeladen hatte …

Dachte an Wolfhard von der Wiesen, den König der Barden, der ihr einst die schönsten Komplimente gesungen und sie mit Augen voller Hingabe und Verehrung angeblickt hatte. Dachte an … Ornaval, und den leidenschaftlichen Blick, mit dem er sie angesehen hatte, als sie einst in seinem Land war. Jenem Land, das vielen so fern, ihr jedoch so nahe war. All diese wundervollen Erinnerungen ...

Der Stein in ihrem Diadem, er schien nun wie ein leuchtender Opal, der ein faszinierendes Spiel der Farben zeigte. Ihr Atem war schwer. Als sie ihre Augen wieder öffnete, nahm sie abwechselnd sowohl Merle als auch Doratrava in ihren Blick. Und nun sprach auch ihr Mandra. Sie war bereit, Zauber in ihre Augen und ihre Stimme zu legen. Bereit, sich vollends einzulassen und ihre Erscheinung in Einklang zu bringen mit ihrem Mandra. Bereit, die anderen vollauf teilhaben zu lassen.

Zaghaft hob sie ihre andere Hand, jene, die nicht ihren marmornen Hals umspielte. Wie einen Schild. „Nehmt … es ...“.

Die Stimme der Nachtigall war kaum mehr als ein Flüstern. So verheißungsvoll wie ein Kristallpokal voll kühlen Wassers an einem Mittag im Mitsommer, der einem Dürstenden dargeboten wird. Ihr Mund öffnete sich einmal mehr. Bereit, jene Worte der innigen Freundschaft auszusprechen. Jenes Band zu knüpfen, das jedem, der sie vernahm und der sie ansah, das Glück zuteil werden lassen sollte, zu spüren, was es bedeutete, um ihre Freundschaft und Hingabe zu wissen …

Als Liana sie plötzlich so ansah, mit ihren strahlend amethystfarbenen Augen, zerbrach Doratravas Realität. Sie sah nichts mehr anderes, spürte nichts mehr anderes ... doch, eines spürte sie noch: Merles Hand in der ihren, Merles Schulter an ihrem Kopf. Das zarte Band, welches sie mir Merle bereits geknüpft hatte, wurde plötzlich durchwoben von einem anderen, genauso amethystfarben wie die Augen, welches von Liana ausging und sie umfing, umschlang, liebkoste, verlockte - und sich verknotete mit dem ersten Band. Die Gauklerin schluckte, fühlte sich plötzlich, als sei ein alter Traum wahr geworden, den sie bei einem anderen Fest und nach einem anderen Tanz geträumt hatte, sie müsste es nur zulassen, dem Drängen, der Verheißung nachgeben, doch da war dieses andere Band, das sie festhielt, das von Vertrauen und Verrat flüsterte, von einem gegebenen Versprechen, welches man nicht leichtfertig dahin geben durfte. Doratrava erstarrte, hin und her gerissen, zu keiner Bewegung mehr fähig, ihre Hand um Merles verkrampfte.

Nivard wurde nicht schlau daraus, was hier gerade vor sich ging, aber er spürte deutlich, wie die Luft zwischen den Frauen dieser Runde geradezu zu knistern begann. War hier Magie im Spiel, oder etwas anderes, weit gefährlicheres? Hatte es mit den Kräutern zu tun, die gerade herumgereicht wurden? Er beschloss, zunächst nicht daran zu riechen, zumal sich seine Kräuterkunde ohnehin in Grenzen hielt - stattdessen klammerte er sich vorsichtshalber an seinem Becher fest und beobachtete, was weiter geschah.

Merle starrte fasziniert und völlig hingerissen die wunderschöne, liebreizende Elfe an, die sie vorhin noch für kühl und unnahbar gehalten hatte und die sie nun anblickte, als würde sie von Wärme und Liebe von innen heraus strahlen. Sie fühlte in ihrem Inneren ein Kribbeln, ein Gefühl von tiefer Freude, Zuneigung und Aufregung, nein Erregtheit - ähnlich zu den Emotionen, die sie in dem vom Madalicht beschienenen Weiher empfunden hatte, als Doratrava sie geküsst hatte. Dies war etwas Gutes, etwas Schönes, etwas, das sie ohne Reue genießen konnte, genießen musste... Abwesend ließ sie das Beutelchen mit dem Tee, das sie immer noch in der Hand hielt, auf den Boden sinken und registrierte, wie Doratravas Handdruck krampfartiger wurde. Fast widerstrebend riss sie ihren Blick von Liana los und starrte Doratrava an. “Was?” fragte sie verwirrt. “Was ist das?”

Mühsam löste Doratrava ihren Blick von Lianas Augen und sah stattdessen Merle an, aber irgendwie sah sie ihre Freundin nur verschwommen. Tatsächlich waren Tränen in ihre Augen getreten. “Was … ist was?”, brachte sie mühsam hervor, während ihr Inneres zerrissen wurde von widerstreitenden Gefühlen. Ihr Blick kehrte zurück zu den unergründlichen Seen aus Amethyst, und ohne ihr Zutun hob sich ihre andere Hand, um Lianas Fingerspitzen zu berühren. Gleichzeitig behielt sie ihren Griff um Merles Hand bei.

Gwenn schaute sich um und war etwas irritiert, was sich plötzlich in der Hütte abspielte. War vielleicht irgendetwas geschehen, als sie kurz in die Küche gegangen war? Etwas, von dem sie nichts mitbekommen hatte? Verwirrt fragte sie in die Runde: “Ähm, und welchen Tee soll ich nun aufbrühen?”

Mehr interessiert als verwirrt beobachtete Merle, wie Doratrava die Hand ausstreckte und Lianas berührte. Es erschien ihr völlig natürlich, dass die Gauklerin das tat und sie spürte das Bedürfnis, es ihr gleichzutun, da lenkte Gwenns Frage sie ein winziges Stückchen von der entrückten Betrachtung der Elfe ab. "Ähm, Tee?" Sie zwang sich, sich auf Gwenn zu konzentrieren und ihr das Säckchen mit dem Früchtetee zu reichen. "Ja... natürlich. Äh, vielleicht den hier?" Nun erst bemerkte sie die Tränen in Doratravas Augen und streckte die Hand nicht nach Liana aus, sondern strich stattdessen Doratrava eine Strähne des weißglänzenden Haars hinters Ohr. Sie rückte ein Stück näher, um ihre Freundin sanft anzusprechen: "Was hast du, Liebes? Stimmt etwas nicht?"

Nivard rätselte. Was meinte Liana mit "nehmt es"? Wieso verhielt sie sich so merkwürdig? Gerade noch war sie die gewesen, als die er sie bislang zu kennen glaubte, und jetzt? Einen kurzen Moment dämmerte es ihm... beinahe wenigstens: hatte es tatsächlich etwas mit den Kräutern zu tun, die hier herumgereicht wurden? Doratrava und Merle schienen auch so verändert... Aber welches der Kräuter konnte eine solche Wirkung entfalten? Er versuchte sich zu erinnern, was in dem Beutel gewesen war, den Merle der Baronin hingehalten hatte. Waren das nicht... Rosenblätter und Erdbeeren? Nein... an den Kräutern konnte es doch nicht liegen. Und am Tee sowieso nicht, den hatte er ja die ganze Zeit ebenfalls getrunken. Also, was geschah hier gerade…? Nivard versuchte nach Kräften, seine innere Standfestigkeit zu wahren und zu stärken und beobachtete dabei weiter fieberhaft grübelnd das Geschehen.

Gwenn nahm das Säckchen von Merle und schnupperte daran. „Ja, das riecht auch lecker. Schön nach Früchten.“ Sie nahm eine gute Hand voll des Früchtetees und gab die getrockneten Fruchtstückchen in den kleinen dampfenden Wasserkessel. Sogleich durchzog den Raum ein blumiger Duft nach Äpfeln, Beeren und Rosen.

Liana hätte sich jedoch einen anderen Duft gewünscht, der noch immer in einem der anderen Beutel versteckt sein musste.

Noch immer schwirrten die Gedanken in ihr herum. Und noch immer nahm sie das Kraut wahr. Und noch immer wollte ein Teil von ihr mehr davon.

Sie spürte die Berührung.

Sie wusste nicht sofort, von wem. War das wichtig? Alle um sie herum waren ihr teuer.

"Bian'...." hauchte und sang sie zugleich, und schaute mit nun mit helleren und strahlenderen Augen Doratrava an. Bereit, ihr Mandra zu wirken, um ihre Zuneigung zu teilen.

Zuversicht. Freude. Verbundenheit.

Das Leben, es war schön! Und Glück zu teilen, war wunderbar.

Sie war bereit, den Blick ebenso auf Merle zu richten, um auch sie ins Rund der Geborgenheit einzuladen und sie willkommen zu heißen.

Ihre sanfte Stimme war reine Musik.

"Bha la ..."

Nur kaum vernahm sie die Gespräche. Die Frage Merles. Wie aus weiter Ferne.

Der Duft der im Wasser aufgebrühten Früchte durchzog den Raum.

Ein weiterer Impuls, ein weiterer Gedanke nahm Gestalt an.

Reiß dich zusammen, kleine Nachtigall!

Wenn sie ihrem Mandra erlauben würde, zu fließen, weil ihre Sinne umnebelt waren ...

Das darf nicht geschehen! Willst du wirklich zulassen, dass dieses gefährliche Kraut ....

Das Strahlen in ihren Augen erstarb.

Sie schloss langsam ihre Lieder, und langsam krümmten sich die Finger ihrer Hand, die noch immer die Berührung spürte. Ihre Hand schloss sich, und sie zog sie sachte zurück.

Es war, als hätte ein helles Feuer plötzlich an Kraft verloren.

Als wäre eine frische Windböe weitergezogen.

Als hätte sich eine Wolkendecke vor die strahlende Mada geschoben.

Sie war noch immer die, die vorher hier gesessen hatte.

Doch sie wirkte nun irgendwie kleiner. Schwächer.

Erschöpft.

Müde.

Und: Ohne den Glanz, der noch vor wenigen Augenblicken von ihr auszugehen schien für jene, die bereit waren, ihn anzunehmen.

Der Stein in ihrem Diadem, er wirkte plötzlich seltsam fahl.

Ein Kribbeln durchfuhr Doratrava, als die Fingerspitzen der Elfe sie berührten ... doch dann zog diese ihre Hand plötzlich fort. Das amethystfarbene Band, welches sie so verlockend und gleichzeitig so verwirrend um sich gespürt hatte, zerfiel von einem Moment auf den anderen zu Staub, gleichzeitig trat das andere Band umso deutlicher hervor, nachdem es von seinen Fesseln befreit war. Der Raum schien dunkler zu werden, als die Präsenz Lianas dahinwelkte. Das Gefühl der Zerrissenheit in Doratrava verschwand, machte dafür aber grenzenloser Enttäuschung und abgrundtiefer Erleichterung Platz, zwei Gefühlen, welche sich zu maßloser Verwirrung verwirbelten. Die Gauklerin schwankte, als habe man ihr eine Stütze entzogen, auf welche sie angewiesen gewesen war, und auf der Suche nach einem Halt umklammerte sie nun Merle ganz fest mit beiden Armen, Merle, zu der das andere Band führte, ihre Rettungsleine, welche sie davor bewahrte, im Ozean des Chaos aus verlorener Verheißung und ungebeten wahr gewordener, zerrinnender Träume zu versinken. Doratrava schloss die Augen und holte tief und zitternd Luft, während sie das Gesicht in Merles Haar drückte und sie festhielt.

Merle hielt Doratrava in ihren Armen und drückte sie instinktiv ganz eng an sich, strich ihr immer wieder tröstend über das feine, weiche Haar. "Es ist ja gut… alles gut, Liebes", flüsterte sie ihrer Freundin zusammenhanglos ins Ohr, "...ich bin ja da…" Sie verstand nicht, was los war und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, Doratravas Schmerz und Verwirrung nicht nur zu verstehen, sondern in ihrem tiefsten Inneren mitzufühlen. Nach - wie es ihr schien - sehr langer Zeit, in der sie Doratravas schmalen Körper an sich drückte, ohne loszulassen, blickte sie schließlich zögerlich auf und schaute Liana an, sah so viel Erschöpfung und etwas wie… Enttäuschung oder… Verlust in den wunderschönen Augen der Elfe. Ohne recht zu wissen warum, fühlte sie sich schuldig, als hätte sie selbst Lianas Herz gebrochen, als wäre es ihre Schuld, dass der Stein an ihrem Diadem und ihre Augen nicht mehr strahlten. Und in diesem Moment wünschte sie sich nichts so sehr, als dass dieses Funkeln zurückkehren möge. In dem Versuch, sich zu fassen, kniff Merle leicht die Augen zusammen und straffte sie sich spürbar, auch wenn sie Doratrava weiterhin fest in den Armen hielt. "Liana", wisperte sie mit schwacher Stimme, ohne länger auf die korrekte Anrede einer Baronin zu achten, "Liana, geht es Euch gut? Was… was soll ich tun? Was braucht Ihr?"

Doratrava verstand selbst nicht so recht, was über sie gekommen war, was mit Liana los war, was diese in ihr ausgelöst hatte, warum die Elfe plötzlich ... zurückgeschreckt war. Aber etwas sagte ihr, dass es besser so war, und sie hoffte, das war nicht wieder nur die böse kleine Stimme ihres Verstandes, die ihr keinen Spaß gönnte. Aber für den Moment war sie dankbar, in Merles Umarmung zu liegen und ihr Streicheln und ihren Körper zu spüren und versuchte, sich irgendwie wieder zu fassen, auch wenn sie sich fühlte, als sei sie von einem hohen Seil gefallen und versuchte, etwas zu greifen, um den Sturz aufzuhalten, doch es war nichts da ... doch, es war etwas da: Merle.

“Nehmt es …. nehmt es fort”, sagte die Elfe, es war mehr ein erschöpftes Flüstern.

So recht hatte sie ihre Sinne noch nicht wieder beieinander und wurde daher auch nicht vollumfänglich gewahr, was um sie herum geschah.

“Diese Kraut … es ist gefährlich. Sehr … gefährlich.”

Gwenn schaute erschrocken. „Welches Kraut ist gefährlich? Ich dachte, ich hätte Früchtetees aufgebrüht. Merle, was hast du mir da gegeben?“

Liana fasste sich wieder ein wenig. Langsam. Behutsam.

“In einem der Beutel befindet sich eine Pflanze, die ihr Menschen Katzenkraut nennt. Elfen haben dafür ganz … andere … Bezeichnungen. Es ist ..” Sie massierte sich ein wenig ihre Schläfen…. “es ist nicht giftig. Aber dennoch … gefährlich. Nicht für Menschen. Aber für Elfen.”

Die Hofdame schaute ihre Schwägerin besorgt an. „Merle, hast du solch ein Kraut in einem Beutel gefunden?“

Kraut? Katzenkraut? Doratrava war immer noch nur halb bei sich, sie verstand nicht, was das sollte, ging es deshalb Liana jetzt schlecht? Aber vorher … machte sie nicht den Eindruck, dass es ihr schlecht ginge, eher im Gegenteil. Gefährlich? SIe schüttelte kaum merklich den Kopf und schmiegte sich lieber weiter an Merle.

"Katzenkraut?" Merle schaute erst verwirrt, dann hob sie ihre Augenbrauen. "Ähm, Baldrian? Kann das da irgendwo drin sein? Man nennt es auch Katzenkraut, glaube ich. Bei Menschen wird ihm eine beruhigende Wirkung zugeschrieben, keine so... beunruhigende..." Merle löste langsam und vorsichtig Doratravas Umarmung, die unwillig knurrte, sammelte alle Kräuterbeutel auf und erhob sich, um die Tees schnell in die Küche zu bringen. "Besser so?" fragte sie mit besorgtem Blick zu Liana, als sie zurück in das Kaminzimmer trat. Dann nahm sie abermals neben Doratrava Platz, verzichtete auf eine erneute Umarmung, ergriff aber wieder die Hand ihrer Freundin. Fragend schaute sie die Elfenbaronin an. “Möchtet Ihr einen Becher Wasser? Oder etwas von dem Früchtetee?”

“Ihr seid sehr freundlich”, antwortete sie leise. “Der Früchtetee wäre sehr gut, danke.”

Als Merle die übrigen Beutelchen zurück in die Küche brachte, spürte Liana sehr schnell, wie die Wirkung des Baldrians auf ihr Gemüt (und auf so manche anderen Organe ihres Körpers) nachließ. Sie wurde wieder deutlich ruhiger, auch wenn der Geruch noch nicht gänzlich aus der Luft verflogen war.

Auch Doratrava schüttelte langsam die Nachwirkungen dieses seltsamen Erlebnisses ab. Sie vermisste zwar nun die Geborgenheit der Umarmung Merles, nahm aber gern deren Hand und legte wieder ihren Kopf auf deren Schulter. Sie war nun wieder klar genug, um ihre Umgebung richtig wahrzunehmen und um Merle nicht weiter zu bedrängen. Gespannt sah sie Liana an, suchte in ihrem Gesicht nach … ja, was?

Nivard atmete sichtlich erleichtert durch - diese merkwürdige Stimmung war gewichen - weitgehend wenigstens, wenn man von Merle und Doratrava einmal absah, bei denen er sich nicht sicher war -, und eine - noch dazu sehr profane - Erklärung dafür gefunden. Wenn nur alles sich immer in solche Klarheit und Wohlgefallen auflösen könnte... Die kurze Aufregung hatte  allerdings zur Folge, dass das ohnehin verschwindend geringe Restchen an Müdigkeit, das sich seit dem Trunk des Quellwassers erst mühsam wieder aufgebaut hatte, mit einem mal wie weggeblasen war. Wie sollte er so nur Schlaf finden, wo es doch in wenigen Stunden wieder aufstehen hieß? "Habt Ihr vielleicht etwas zur Herstellung der nötigen Bettschwere, in dem kein Baldrian ist, und das keine Umstände für Euch bereitet?" Direkt nach einer warmen Milch fragen wollte er aus Höflichkeit nicht. Während der Frage war er aufgestanden und deutete auf die Türe: “Sollen wir einmal kurz durchlüften?” wandte er sich dabei an Liana. “Ich weiß, dass es dann kurz kalt und ungemütlich wird, aber es wird auch den Baldrian-Duft austreiben.”

Liana nickte kurz. “Ja, das wäre sehr hilfreich. Ich kann den Geruch noch immer deutlich wahrnehmen.” Etwas verlegen lächelnd fügte sie hinzu: “Und bitte verbergt den Beutel mit dem Katzenkraut in der tiefsten Schublade, die ihr in diesem Haus findet.”

Merle nickte. "Ein bisschen Frischluft wird uns allen den Geist beleben." In der Hoffnung, die Atmosphäre weiter zu lösen, zeigte sie auf die kleine Tonflasche, die Gwenn vor der ganzen... Verwirrung geholt hatte. "Was ist das eigentlich Schönes, was du da hast?"

Tatsächlich hatte auch Gwenn die Flasche vergessen, die sie noch immer in der Hand hielt. Sie hob die Hand hoch und blickte kurz überrascht. “Oh, das ist Lützeltaler Albenbluth vom Rodenbach.” Merle kannte diese Spezialität nur zu gut. “Aber Merle, Liebes, da war doch der Schlaftee, den ich zuerst kochen wollte, vielleicht wäre dies das richtige für den Herrn von Tannenfels?”

“Schlaftee? Das klingt gut!” war aus dem Hintergrund Nivards Stimme zu vernehmen. Er hatte derweil Merles vorangegangene Antwort als Zustimmung aller Anwesenden genommen und bereits die Tür sperrangelweit geöffnet. Obgleich die Nacht schon begann, mit kalten und vom Regen klammen Klauen in den Raum zu dringen, steuerte der Krieger derweil eines der gegenüberliegenden Fenster an, um einen richtigen Durchzug zu erzielen.

Als ein kalter Luftzug durch den Raum fuhr, fröstelte Doratrava trotz aller ihrer sonstigen Unempfindlichkeit gegen Kälte und kuschelte sich enger an Merle.

“Merle, du weißt wohl am besten, welcher der Beutel den Schlaftee enthält und wo du ihn hingeräumt hast. Könntest du ihn noch einmal holen?” Gwenn schaute Merle bittend und entschuldigend an.

"Lass' uns mal die Finger vom Tee lassen, Gwenn." Merle schüttelte energisch den Kopf. "Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich vorhin alle Bestandteile in dem Schlaftee erkannt hatte. Nachher war das noch der Tee, wo der Baldrian drin war!" Sie blickte prüfend zu Liana und biss sich mit sichtlichen Schuldgefühlen auf die Unterlippe. Es tat ihr so leid, dass das unbedachte Hantieren mit den Teesäckchen der schönen Elfe Unbehagen bereitet hatte. Obwohl sie für einen Moment unglaublich verführerisch gewirkt hatte... Merle räusperte sich. "Für meinen Teil hab ich erstmal genug von Kräutern. Aber ein Schlückchen Albenbluth würd' ich mir jetzt durchaus gönnen. Und ich glaube, der warme Früchtetee mag auch beruhigen, vor allem, wenn wir ein Löffelchen Honig hineintun."

“Ich könnte ja auch in der Küche etwas Tee für den Herrn aufbrühen, dann besteht für Ihre Hochgeboren keine Gefahr…” Gwenn sah in Merles Blick, dass diese den Vorschlag nicht für eine gute Idee hielt und zuckte mit den Schultern. “Na gut. Hier!”, sie drückte Doratrava die Schnapsflasche in die Hand. “Gießt doch bitte schon mal von dem Schnaps ein für alle, die wollen. Für mich bitte auch. Ich hole inzwischen etwas Honig.” Die Braut in spe stand auf und ging zur Küche.

"Ohja, sehr gerne, habt Dank! Honigtee klingt danach, als sei er einen Versuch wert!" ließ Nivard zu der Sache vernehmen. Inzwischen stand er wieder neben der Runde. "Ich mach gleich wieder zu..." bemerkte er entschuldigend für Kälte und sein ungemütliches Herumstehen, dann schaute er skeptisch nach draußen, ins Dunkel jenseits der Tür.  "Hoffentlich regnet es sich nicht ein..."

Doratrava blickte ein wenig verwundert auf die Schnapsflasche in ihrer Hand, dann seufzte sie tief. “Soll ich das Zeug jetzt in die Teebecher gießen?”, fragte sie in die Runde. “Wer will?” Sie selbst wollte jedenfalls nicht. Ungeachtet des gerade Erlebten blieb sie bei ihrem Entschluss, gegebenenfalls klar bei Sinnen zu bleiben, falls doch noch eine Jagd ihrer harrte.

Merle schüttelte lächelnd den Kopf. "Na, wir wollen es mal nicht übertreiben." Sie reichte Doratrava die kleinen Becherchen, die Merle vorhin aus dem Schrank geholt hatte. "Wenn du nur probieren willst, kannst du mal an meinem nippen. Lützeltaler Albenbluth ist wirklich lecker." Dann blickte sie zu Nivard auf. “Man kann aber auch bei Regen jagen, oder nicht?”

Doratrava zuckte die Schultern und goss den Likör oder was das war in die kleinen Becherchen. “Na ja, nippen kann ich ja mal”, gab sie Merle dann nach. “Aber mehr nicht.” Viel lieber würde sie den Likör von Merles Lippen kosten, aber das traute sie sich jetzt nicht vorzuschlagen, bei so vielen Zeugen.

"Und Ihr, Nivard?" fragte Merle. "Mögt Ihr zum Honigtee doch noch einen Absacker?'' Immer wieder warf Merle Liana schnelle Blicke zu, in der Hoffnung, dass es der Elfe wieder besser ging.

"Danke - locken würde er mich schon, aber morgen... oder eher nachher geht es zeitig auf die Jagd, da gilt es, die Sinne beisammen zu haben." lehnte Nivard das Angebot mit bedauerndem Gesichtsausdruck ab. "Zumal der Regen die Sache nicht einfacher macht - wenn er zu stark ist, verwäscht er die Spuren, und ein allzulautes Prasseln übertönt die Geräusche des Wildes. Da könnt Ihr im schlimmsten Fall mitten in einer Wildschweinrotte stehen, ehe Ihr sie hört. Ich heb mir daher das Schlückchen lieber auf, bis mir irgendwann die Nässe durch Mark und Bein kriecht, oder wir Firuns Herausforderungen, zu denen gewiss auch das Sauwetter da draußen zu rechnen ist, gemeistert haben und eine erfolgreiche Jagd zu begießen ist."

"Ja gern, wir füllen Euch ein Schlückchen ab", bot Merle an. "Braucht Ihr ansonsten noch Proviant? Sollen wir Euch ein paar Brote mit Wildschweinschinken vorbereiten?"

"Das klingt zu verlockend!" freute sich Nivard erkennbar über das Angebot. "Aber nur, wenn es keine Umstände bereitet, zu so später Stunde!"

“Nein, wirklich nicht! Ich mache Euch gleich ein Paket fertig”, versprach Merle. “Wir wollen doch nicht, dass Ihr auf Firuns Pfaden allzu sehr darben müsst.”

"Ihr seid zu gut zu mir!" strahlte Nivard. "So ist gesichert, dass es nicht mein knurrender Magen sein wird, der die Beute verscheucht."

Die frische Luft, und das aus ihren Augen - oder vielmehr: ihrer Nase - verbannte Katzenkraut sorgten dafür, dass die Elfe sich wieder gefasst hatte.

Sie sah sich kurz um und entnahm den munteren Gesprächen, dass dies wohl auch bei den anderen der Fall und nichts geschehen war.

Sie wirkte nun erleichtert.

Wie schnell sie vom einen ins andere übergehen können, dachte sie bei sich und beobachtete das Geschehen halb überrascht und verwundert, und halb mit einer gewissen Heiterkeit.

Innerlich schalt sie sich noch ein wenig selbst, weil sie sich so schnell der besonderen Wirkung dieser seltsamen Pflanze ergeben hatte, um deren Gefahr sie doch nur zu gut wusste.

"Tut mir sehr leid mit dem Katzenkraut, Hochgeboren", sagte Merle mit immer noch leicht besorgtem Blick zu Liana. "Wir werden damit in Zukunft besser aufpassen, das verspreche ich. Aber bisher hatten wir hier in Lützeltal noch nicht viel mit Elfen zu tun…" Neugierig schaute sie zu Doratrava. "Du hast aber keine direkte Wirkung des Krautes… ähm… verspürt? Hätte vermutet, dass es Halbelfen vielleicht auch beeinflusst."

“Ich … habe schon etwas gespürt”, antwortete Doratrava vorsichtig, mit einem scheuen Blick zu Liana. “Aber ich weiß nicht, ob das an einem Kraut lag …”

Diese lächelte nun aufmunternd.

“Sagen wir es so: Das Kraut verstärkt in gewisser Weise bestimmte Empfindungen.

Wäre ich ein Schwarzpelz mit struppigem Fell, wäre vermutlich auch das Katzenkraut machtlos bei jenen Elfen oder auch Halbelfen, die mich ansehen und bei denen das Kraut sonst wirkt wie bei mir und vielleicht auch dir. Manchmal geben die Angehörigen meines Volkes ein paar Krumen davon ins Quellwasser, wenn sie sich einander besonders nahe sind … und nahe sein wollen. Dass ich plötzlich einen Beutel voll davon unter meiner Nase hatte, war … eine sehr … besondere Erfahrung.”

Sie blickte kurz verlegen und doch irgendwie auch keck-amüsiert zur Seite. Fast so wie ein Kind, das beim Griff in die Keksdose erwischt wurde.

Doratrava blickte nun von Liana zu Merle. “Das heißt … das Kraut verstärkt nur … was schon da ist?”

“Nun ja, Ihr seid ja auch sehr liebenswert und… anziehend", gab Merle zu, ohne sich dafür irgendwie schuldig zu fühlen. Ihr Herz war immer noch von Wärme und Zuneigung für die Personen in diesem Raum erfüllt, auch wenn die überspannte, hitzige Erregung verflogen war. Mit einem offenen, munteren Blick schaute sie zwischen Liana und Doratrava hin und her. "Also setzen Elfen das Kraut in ähm… passenden Situationen gezielt zum, ähm… Vergnügen ein?" fragte sie grinsend nach und biss sich schnell auf die Unterlippe, in der Hoffnung, der Baronin nicht zu nahe getreten zu sein. “Entschuldigt, ich will nicht so neugierig sein. Ich interessiere mich nur sehr für, ähm… Kräuter.”

Quietschend öffnete sich die Küchentür, und Gwenn kam mit einem Honigtopf und einem der Kräuterbeutelchen zurück. “Hier ist der Honig, und das müsste der Schlaftee sein, für den Herrn von Tannenfels. Habt ihr den Schnaps schon eingegossen?”

Doratrava nickte halb abwesend zu Gwenns Frage, da sie sich gespannt auf Liana konzentrierte, um deren Antwort zu hören.

“Es ist … Menschen nennen so etwas “Rahjanikum”, glaube ich. Es steigert den Wunsch, sich nahe zu sein. Und natürlich richtet sich dieser Wunsch dann in erster Linie an diejenigen, deren Anwesenheit, deren Wesen, deren Aussehen als besonders angenehm oder anziehend empfunden werden.”

Da war es wieder für einen Augenblick. Dieses Lächeln, das Steine erweichen kann.

Aber schnell fügte Liana hinzu:

“Aber genau deswegen ist dieses Kraut  auch so gefährlich - vor allem in dieser Menge. Denn wir Elfen zeigen unsere Zuneigung auch auf andere Weise als durch Umarmungen oder Küsse. Wir tun es auch .. auf sehr innige, magische Weise. Und ich war kurz davor, ebendies zu tun. Aber die meisten Menschen kennen oder schätzen diese Art der … Zuneigungsbekundung nicht. Daher musste ich mich dann wirklich sehr zusammenreißen. Nur zu gut, dass Gwenn den Früchtetee parat hatte. Diese Art, das Mandra fließen zu lassen, sollte nicht auf einer Überdosis Katzenkraut beruhen.”

"Dann sind wir ja gerade noch mal davongekommen", kommentierte Merle leichthin, scheinbar nicht mehr allzu beunruhigt vom gerade Geschehenen. Dennoch blickte sie kurz skeptisch zu Gwenn, dann wieder zu Liana. "Dieser Schlaftee ist es aber nicht, hoffe ich? Wenn ja, sagt schnell Bescheid, Hochgeboren… Sehr schnell."

Die Elfe nickte dankbar, als ihr der – neue – Tee gereicht wurde. Er war bekömmlich für sie.

Bei Lianas Ausführungen war Doratrava heiß und kalt geworden, da ihre Worte an gewisse, ungebetene Erinnerungen gerührt hatten. Sie musste diese Erinnerungen erst wieder in den tiefsten Keller ihres Geistes sperren, was ein wenig dauerte. Dann wurde sie sich aber der anderen Bedeutung von Lianas Worten bewusst, jenen, die sie zuerst gesprochen hatte, über den Schwarzpelz. "Das heißt, du ... magst mich? Uns?", platzte es aus ihr heraus, ein schneller Blick traf Merle. "Unter anderen Umständen könntest du dir vorstellen, mit mir ... uns ..." Doratrava lief hellrosarot an, was so ziemlich die intensivste Farbe war, die ihre sonst so weiße Haut überhaupt annehmen konnte. Sie gab ein Geräusch von sich, als wären ihre letzten Worte Stahlnägel gewesen, die sie eben gewaltsam verschluckt hatte, und ihre Augen wurden groß, vielleicht, weil sie vor ihrer eigenen Tollkühnheit erschrak, vielleicht aus einem anderen Grund. Hilfesuchend tastete ihre Hand nach Merle.

Merle erwiderte Doratravas Händedruck und strich ihr beruhigend über den Rücken, blieb jedoch selbst eher ruhig und beherrscht. Vielleicht, weil ihr die Möglichkeit einer Liebesnacht mit Liana und/oder Doratrava zwar wie ein verlockender, schöner Gedanke erschien - jedoch wie einer, der weit, sehr weit, im Reich der Phantasie anzusiedeln war. Durchaus, die Aufmerksamkeit zwei so schöner Frauen war reizvoll und mehr als schmeichelhaft, aber letztendlich war sie auch verheiratet und würde morgen versuchen, die Hand nach ihrem Mann auszustrecken. Hoffentlich hatte sie in der verspielten Stimmung, in der sie schon vor dem Baldrian-Zwischenfall gewesen war, Doratrava nicht allzu sehr ermutigt... Abwesend hob Merle den Becher mit dem Albenbluth und prostete Gwenn zu; nach einem kleinen Schluck des Kräuterschnapses hielt sie Doratrava das Becherchen stumm anbietend zum Kosten hin.

"Ah, da ist ja..." kam in diesem Moment Nivard vom Fensterschließen zurück. Rasch senkte er seine recht beschwingt klingende Stimme und beendete kaum vernehmbar, mit einem zu Gwenn gerichteten Lächeln fast schon flüsternd seinen Satz. "...mein Tee! Habt Dank!" Ihm war aus Doratravas Gesichtsausdruck gewahr geworden, dass das Gespräch offensichtlich eine erneute, hochemotionale Wendung genommen haben musste, in die er recht trampelig hereinplatzte. Angestrengt verrührte er erst einmal den Honig in der gereichten Tasse. Obwohl er sich beste Mühe gab, besonders leise zu rühren, hatte er das Gefühl, weiterhin zu lärmen.

Doratrava nahm den Becher und trank abwesend einen Schluck, doch wirklich schmecken tat sie nichts, während sie mit brennenden Augen Liana anstarrte. Auch Nivard hatte sie im Moment komplett ausgeblendet, wie auch Gwenn. Nicht zum ersten Mal schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es einfacher war, Dämonen zu bekämpfen, als sich seinen eigenen Gefühlen zu stellen oder die ihrer Mitmenschen, in diesem Falle auch Mitelfen, mit den ihren irgendwie in Einklang zu bringen. Sie war noch kaum jemals einer Tänzerin begegnet, welche es mit ihr aufnehmen konnte, doch über den Tanzboden der Liebe, der Freundschaft und der Zuneigung stolperte sie dahin, als hätte sie zwei linke Füße, an denen schwere Kugeln hingen.

Wäre Eduina, ihre treue Zofe, anwesend gewesen, sie hätte der Gauklerin eine geharnischte Antwort gegeben, was dieser denn wohl einfiel! Aber Eduina war nicht da.

Und Liana, die einst, vor Jahren, mit ihrem Mandra in sie geblickt hatte, wusste nur zu gut um einen Teil von Doratravas Wesen. Und sie selbst hatte den Boden offenbar genährt – wenn auch höchst unfreiwillig. Ach, dieses verflixte Katzenkraut!

Die Dame von Rodaschquell blickte kurz zu Merle, dann wieder zu der Gauklerin, die sich noch vor wenigen Minuten eng und sehr vertraut an die junge Frau geschmiegt hatte – wie schon einige Stunden zuvor am Weiher. Für eine Zeitlang hatte sie geglaubt, die Gauklerin hätte endlich eine Gefährtin gefunden und sei glücklich. Und ihr fragender Blick brachte genau dies zum Ausdruck.

Seid ihr beide euch einander nicht genug?

Aber Schmetterlinge flogen mal hierhin, mal dorthin. Nirgends hielt es sie. Das war beim Fest des Vogtes so gewesen, dann bei der Hochzeit zu Schweinsfold, und nun hier. Und Doratravas Sehnsucht nach körperlicher Zuneigung schien groß. So groß, dass sie ein ums andere Mal auf der Suche nach immer wieder neuen ... Abenteuern war. Lianas schillernde Augen schauten nachdenklich, ja ein wenig bekümmert.

Sie wollte die junge Gauklerin, deren heiteres, unverfängliches Wesen sie mochte, nicht verletzen. In den Augen der Elfe verletzte sie sich selbst – ein ums andere Mal.

Nein, das weißt du nicht mit Gewissheit!, korrigierte sie sich innerlich. Denn das Leben als umherziehende Gauklerin war jenes, welches Doratrava gewählt hatte. Und Schmetterlinge machten sich nichts daraus, es gefiel ihnen.

Sie aber war kein Schmetterling. Sie war die Nachtigall. Und ihre Lieder waren voller Tiefe. Doratrava schien ihr wie ein schneller, rauschender, junger Fluss, der wild und jauchzend durchs Gebirge jagt. Sie dagegen war wie ein klarer, stiller, tiefer See zwischen den Bergen.

Dieses vermaledeite Kraut, es hatte bereits für genug Unruhe gesorgt.

„Natürlich mag ich euch", sagte Liana heiter, ehrlich und mit einem warmen Lächeln. Dann blickte sie dankbar in die Runde. „Der Abend ist weit vorangeschritten, und vielleicht sollte mich nun besser auf den Weg zurück ins Dorf machen."

"Danke. Ich fühle mich geehrt", antwortete Merle ernst und gelassen und erwiderte mit ihren großen braunen Augen Lianas Blick. Betont langsam atmete sie die frische Nachtluft ein und aus, die Nivard hereingelassen hatte. Auch Lianas knappe, aber freundliche Worte hatten eine beruhigende Wirkung auf die junge Frau. So aufregend dies alles gewesen war und so gut sich Doratravas Nähe anfühlte, sehr gut sogar, musste sie am Ende einen kühlen Kopf bewahren. Für ihre Ehe. Für Gudekar. "Und ich... ich bin dankbar für eure... Freundschaft und dafür, hier bei euch zu sein." Ihr liebevoller, warmer, dankbarer Blick streifte jeden in der Runde, auch Nivard und Gwenn. "Ähm... ich mag euch alle wirklich sehr." In ihr Lächeln mischte sich ein entschuldigender Zug. "Aber ich werd’ mich auch so langsam auf den Weg machen, denke ich."

Stumm blickte Doratrava die Elfe an. Sie suchte, aber sie fand nicht. Die jäh aufflackernden Flammen in ihrem Inneren fielen mangels Nahrung wieder in sich zusammen. Liana zog sich wieder hinter den Schleier der Geheimnisvollen zurück, den sie so gerne um sich trug und aus dem sie für einen kurzen Moment nur hervorgetreten war. Ihre Antwort war bestimmt ehrlich, aber genauso vage, als hätte sie die Elfe gefragt, welche Farbe das Meer habe, und die Antwort wäre "blau" gewesen. Dabei gab es große, größte Unterschiede zwischen dem sanften Hellblau des Wassers in einer ruhigen Bucht an einem Sandstrand im Süden und dem brausenden Dunkelgrau der Wellen im Sturm, welche ein Blau nur noch erahnen ließen. Was sollte sie nun davon halten? Welches Blau war die wahre Farbe des Meeres in Lianas Seele? Doratrava konnte sich nicht vorstellen, dass es in jener ähnlich stürmisch zuging wie in ihrer eigenen ...

Doch Doratrava spürte auch, dass sie jetzt nicht weiter in Liana zu dringen brauchte. Sie traute ihrer Stimme nicht, deshalb nickte sie nur kurz auf ihre Verabschiedung hin und wandte den Blick ab. Wie durch Zufall traf er Merle, doch als sie deren Worte hörte, die ebenfalls von Abschied kündeten, fühlte sie sich plötzlich hohl und leer. Ihre Miene erstarrte erst, dann sanken ihre Mundwinkel nach unten und ihr Gesicht, das gerade noch in sanftem Rosa erstrahlt war, nahm eine aschfahle Färbung an. Gwenn und Nivard würden nun sicher auch zu Bett gehen, und überhaupt wären sie auch gar nicht in der Lage, ihre innere Leere zu füllen. Vielleicht war es gut so, denn nach seichter Plauderei war ihr nun nicht mehr zumute. Wenigstens schaffte sie es, nicht schon wieder in Tränen auszubrechen.

„Was wollt Ihr? Das ist doch nicht euer Ernst?“ Gwenn schaute die beiden Frauen entsetzt an. „Es ist schon spät und dunkel und alle anderen sind schon längst weg. Ihr wollt doch nicht bei der Kälte und Dunkelheit allein durch den Wald bis zum Dorf laufen? Das ist doch viel zu gefährlich. Was, wenn euch die Wildschweinrotte begegnet?“

"Ach, wenn man keine hektischen Bewegungen macht und die nicht provoziert, dann geh’n die Schweine auch wieder ihres Weges", winkte Merle leichthin ab. Sie schaute zu Doratrava, sah deren Gesichtsausdruck und fühlte, wie sich ihr das Herz schmerzhaft zusammenzog. Nur zu gern hatte sie die Nähe und Zuneigung ihrer neuen Freundin genossen, doch anscheinend schon damit angefangen, ihr wehzutun. Und das konnte sie nur verhindern, wenn sie mit den Neckereien und Zweideutigkeiten endlich aufhörte und auf mehr Distanz ging. Unwillkürlich rückte sie noch ein Stück von Doratrava ab und schickte sich an, sich von den Fellen zu erheben. "Es ist nur ein kleines Stückchen bis zum Dorf. Und wir können Fackeln mitnehmen."

Obwohl ihr Gesichtsausdruck sich nicht änderte, stand Doratrava auf. "Ich bringe euch hin, ich passe auf euch auf", bot sie mit fast ausdrucksloser Stimme an, dann wandte sie sich an Nivard: "Und du gehst ins Bett, sonst wird das nichts mit der Jagd morgen." Schließlich sprach sie noch Gwenn an: "Ich komme dann zurück, ich glaube, so ein Nachtspaziergang im Regen wird mir guttun." Nichts an Doratrava ließ erkennen, wie genau sie das meinte.

“Ihr seid ja verrückt!” beschwerte sich Gwenn. “Ihr braucht mindestens eine halbe Stunde zu Fuß ins Dorf, und du müsstest dann alleine zurück hierher, Doratrava. Das kann ich nicht zulassen. Merle, du könntest doch auch bei Mika im Bett schlafen und ich mache es mir hier am Kamin in den Fellen gemütlich. Und für Euch, Euer Hochgeboren finden wir auch noch eine freie Bettstatt.”

"Nein, nein, das geht doch nicht an, dass du als Braut auf dem Boden kampierst, Gwenn", schüttelte Merle energisch den Kopf. "Wenn, dann schlafe ich vor dem Kamin."

“Das sehe ich ganz genauso”, sagte Liana sanft. “Dass die künftige Braut auf dem Boden schläft, käme auch für mich kaum infrage. Wir haben also einen Patt …”

Sie ging einen Schritt auf Gwenn zu und nahm sie kurz freundschaftlich in die Arme und lächelte breit.

“ … denn ich will mich dem Urteil der Gastgeberin beugen und gerne bleiben. Aber nur unter der Bedingung, dass sie nicht auf dem Boden ruht. Es ist auch nicht zwangsläufig nötig, dass ich schlafe.” Der letzte Satz war zwar richtig. Elfen konnten bei Bedarf den Schlaf deutlich hinauszögern. Aber vollends überzeugend klang die Elfe nicht. Die Wanderung, das Erlebnis am Weiher, der Schreck mit dem Katzenkraut… Etwas Ruhe hätte wohl auch ihr gut zu Gesicht gestanden.

“Ach, papperlapapp, das macht mir doch gar nichts aus.” Man spürte, dass sich Gwenn in dieser Umgebung wohl und geborgen fühlte. Sie fühlte sich zu Hause. Deshalb legte sie auch immer mehr die gehobene Sprache ab, die sie am albenhuser Hof zu sprechen gewohnt war, und redete, wie es ihr gerade in den Mund kam. “Früher haben Gudekar, Mika und ich oft einfach am Ufer des Weihers geschlafen. Das war auch gemütlich. Und dagegen ist das Lager hier am Kamin wie ein Zimmer im Admiral Sanin. Macht euch mal um mich keine Sorgen.” Dann zählte sie nach. “Hm, nur, wenn wir Merle zu Mika stecken, seine Gnaden Firumar hat ein Zimmer, einer der Herr von Tannenfels, zwei sind durch die Galebfurten und ihren Ritter belegt. Und das letzte hast du, Doratrava.” Sie schaute verzweifelt und entschuldigend zur Baronin. “Was machen wir mit Euch?”

Doratravas betäubte Gedanken flossen zu langsam, um der schnellen Wendung der Lage richtig folgen zu können. Vielleicht sollte sie trotzdem einen Regenspaziergang machen? Vielleicht kühlte das ihre erhitzten Gedanken ab? Oder wärmte ihre unterkühlten auf? Dann drang endlich zu ihr durch, was Gwenn eben gesagt hatte. "Liana kann bei mir schlafen. Oder Merle, dann kann Liana bei Mika schlafen. Oder ich schlafe vor dem Kamin." Ihre Stimme klang immer noch nahezu ausdruckslos, sie erlaubte sich keine Hoffnung, doch damit blieb ihr Inneres auch weiterhin leer.

"Keine der Damen hier wird auf dem Boden schlafen oder sich gar des Nachts durch den Wald in Richtung Dorf schlagen müssen - beides kommt gar nicht in Frage.” mischte sich Nivard nun ein. “Euer Hochgeboren - darf ich Euch für diese Nacht meine Kammer anbieten? - Ich habe von meiner Anreise Ausrüstung dabei, die mir auch in der Küche eine erholsame Nacht ermöglichen wird - und bei solchem Wetter sogar luxuriöser als während manchen ebenfalls verregneten Reisetages. Wenn die Küche einen eigenen Ausgang hätte, könnte ich in der Frühe sogar das Haus verlassen, ohne mir Sorgen machen zu müssen, eine der Damen durch ein der Unvorsicht geschuldetes Geräusch aus ihrem verdienten Schlaf zu reißen oder - die Götter bewahren - sogar über oder auf eine aus Eurem Kreise zu stolpern."

“Aber Mika wird doch auch durch die Jagdhütte poltern, wenn sie aufsteht”, warf Merle ein. “Und Ihr müsst ja nun wohl am ausgeruhtesten von uns allen sein.”

“Nein, nein.” widersprach Nivard sofort. “Es wäre doch geradezu Verschwendung, wenn der, der am kürzesten darinnen liegen kann, in dieser Nacht das luxuriöseste Bett okkupierte. Und glaubt mir, ich habe schon wesentlich unbequemer genächtigt als ich es heute Nacht in der Küche tun werde.”

“Aber Ihr müsst morgen früh raus und ausgeschlafen sein”, warf Gwenn noch einmal ein.

“Von ausgeschlafen kann bei der kurzen Nacht ohnehin keine Rede mehr sein.” wandte Nivard direkt ein. “Und am Ende verschlafe ich sogar nur deshalb, weil ich viel zu weich gebettet für meine Müdigkeit bin. Nein, ich bestehe darauf - nehmt Ihr diese Nacht die Betten und schlaft morgen früh für mich mit aus.”

Merle nickte zustimmend. “Wir können den Gästen nicht zumuten, in der Küche zu schlafen oder schlimmeres! Wie wäre es, wenn ich hier unten mit Gwenn auf den Fellen schlafe - dann können wir vor dem Einschlafen noch etwas quatschen… über die Hochzeitsvorbereitungen und so”, sie nickte Gwenn zu, “dann brauchen wir Mika nicht zu stören, der Herr Nivard behält sein eigenes Zimmer und Ihre Hochgeboren”, sie überlegte kurz, “...könnte vielleicht bei Doratrava unterkommen?” Noch während sie dies vorschlug, wurde sich Merle unsicher und biss sich verlegen auf die Unterlippe.

Gwenn winkte auch gleich ab. “Nein, nein, nein. wir machen es anders, wenn alle einverstanden sind.” Sie hatte einen Plan. Als scheidende Haushofmeisterin des Grafenhofs war das Organisieren und Planen ihr Ding. Darin fühlte sie sich sicher und wohl. “Passt mal alle auf. Der Herr Nivard bekommt ein warmes Lager hier am Kamin, wie er als Kavalier vorgeschlagen hat. Aber sein Zimmer ist eigentlich ein Zweibettzimmer.  Da holen wir ihm eine weiche Matratze heraus. Dann kann Ihre Hochgeboren das andere Bett nutzen und hat ihre Ruhe. Merle, du und Doratrava, ihr versteht euch doch so gut. Was haltet ihr davon, wenn ihr einfach zusammen in Doratravas Zimmer schlaft. Ist zwar vielleicht ein wenig eng, aber für eine Nacht wird das gehen. Und ich gehe zu Mika, wie geplant, sonst ist sie morgen früh erschrocken. Was meint Ihr? Und wenn dann die Häslers und die beiden Firunsleute aufstehen, können Sie den Herrn Nivard gleich wecken, wenn er hier schläft.”

“Auch wenn für mich weit schlimmeres als eine Nacht in der Küche vorstellbar wäre - dort würde ich sicher keinen Hunger leiden und warm ist es auch ” rückte Nivard noch einmal das Bild von der vermeintlichen Zumutung zurecht, “so klingt Euer Plan nach einer guten Lösung für mich - so die Damen ebenfalls damit einverstanden wären.”

Merle errötete. Sie und Doratrava in einem engen Zimmer? Auch wenn sie sich sicher war, Doratrava soweit vertrauen zu können, dass diese nichts gegen ihren Willen versuchen würde... Wenn es erst einmal dazu kam, dass sie miteinander allein waren und sich vertraut aneinander kuschelten... Dann wusste sie nicht, ob sie sich selbst vertrauen konnte. "Entschuldige Doratrava... vielleicht wäre das nicht die allerbeste Idee…" wandte sie mit schwacher Stimme ein und merkte, wie ihr noch mehr heißes Blut in die Wangen schoss. Inzwischen musste ihr Gesicht puterrot leuchten. “Ähm, ich würde dann eher bei Liana, äh… Ihrer Hochgeboren im Zimmer schlafen.” Verlegen senkte sie den Blick und starrte auf den Boden. “Oder doch lieber hier unten am Kamin. Das wäre wirklich kein Problem und ich will ja keine Umstände machen. Wir… ähm, brauchen ja alle… Ruhe…” Sie brach ab und traute sich nicht, den anderen in die Augen zu sehen.

Doratrava streckte die Hand aus und hob behutsam Merles Kinn an, so dass diese ihr in die eisblauen Augen sehen musste. Ihre Miene zeigte nicht an, was sie fühlte, aber in ihre Stimme kehrte ein kleines bisschen Wärme zurück: "Freundinnen, schon vergessen?"

„Na, also“, freute sich Gwenn, „dann passt das doch so, wie ich vorgeschlagen habe. Dann hat die Baronin ihr eigenes Zimmer und du, Merle, kannst in Ruhe weiterschlafen, wenn die Jagdgesellschaft aufbricht. Überlasst die Planung mal ruhig der Fachfrau. Ich habe schon weitaus diffizilere Situationen gelöst.“

Merle zwang sich, der Gauklerin fest in die Augen zu sehen. “Nur wenn’s für dich auch in Ordnung ist, Doratrava…”, sie nickte matt; ein leises, resigniertes Seufzen entwich ihrer Kehle. Wenn sie jetzt widersprach, würde es bloß noch peinlicher werden, für alle. Dennoch suchte sie kurz Nivards, Lianas und Gwenns Blick, in der wohl vergebenen Hoffnung, dass diese zumindest eine kleine Ahnung hatten, was ihr Problem war und mit einem anderen Vorschlag zur Zimmerverteilung kommen würden. Erneut zog sie tief den Atem ein. Nun, vielleicht war es besser, sich dem 'Problem' gleich zu stellen, als es länger zu verdrängen. Sie wollte mit Doratrava befreundet sein - also musste sie diese Freundschaft selbst in Bahnen lenken, die sich für beide gut und richtig anfühlten und mit Travias Geboten vereinbar waren. “Ich werde ohnehin in aller Frühe aufbrechen, also hast du das Zimmer bald wieder für dich. Lulu vermisst mich ja und ich hab morgen eine Menge vor…” Sie zögerte, hatte aber das Gefühl, die Verhältnisse noch klarer stellen zu müssen: “Gudekar und ich hatten uns so lange nicht gesehen… Morgen können wir endlich mal Zeit miteinander verbringen und in Ruhe reden.”

Zu ihren letzten Worten nickte Nivard unmerklich und schenkte Merle dabei ein kurzes, umso aufmunternder gemeintes Lächeln. Er wünschte ihr von Herzen alles Gute bei ihrer Wiederannäherung an Gudekar..

Doratrava nickte nur, ohne sich anmerken zu lassen, was sie von dieser Ansprache dachte. Dann nahm sie Merle sanft bei der Hand und zog sie mit sich. Etwas verspätet drehte sie sich nochmal herum, um den anderen zuzuwinken. “Gute Nacht”, murmelte sie mehr, um dann mit Merle ihrem Zimmer zuzustreben.

“Gute Nacht, ihr beiden! Schlaft gut!” rief Gwenn Doratrava und Merle hinterher. Dann wandte sie sich an Liana und Nivard: “So, dann holen wir mal schnell die eine Matratze aus dem Zimmer. Herr Nivard, helft Ihr mir beim Tragen?”

"Selbstverständlich!" bejahte Nivard. "Wenn es nicht schon tief nachts wäre, würde ich sie auch alleine holen, aber so schaffen wir sie gewiss leiser hierher." Schließlich wollte er die weniger nachtaktiven Gäste nicht um ihren verdienten Schlaf bringen.

Liana erwiderte den Abschiedsgruß mit einem freundlichen Nicken voller Wärme.

Die gewisse Sorge oder besser: Unruhe in Merles Blick war ihr nicht entgangen. Sie sah Merle einen Moment an, ebenso fiel ihr Blick einmal mehr auf die nun sehr stille Gauklerin.

Aber es gab nichts, was sie hier tun konnte oder wollte. Dies war eine Angelegenheit, die die beiden selbst zu regeln hatten. So, wie auch sie selbst der jungen Gauklerin Dinge sagen könnte, die nur für ihre Ohren bestimmt waren und nicht für eine Runde. Wenn sie denn gewillt war, es zu hören. Das musste sie selbst entscheiden.

Dennoch konnte Liana nicht anders, als das schnelle Hin und Her um sie herum mit einer gewissen Amüsiertheit zu beobachten. Sie mochte Gwenn - nicht zuletzt, weil diese sie sehr an ihre Zofe Eduina erinnerte: zupackend, geistesgegenwärtig und … mit einer Art beharrlichen, freundlichen Charmes, der keinen Widerspruch duldet. Und Eduina wäre entsetzt gewesen (ohne es deutlich zu zeigen) und hätte es entschieden abgelehnt, dass eine (ihre!) Baronin auf dem Boden vor dem Kamin schläft. Selbst dann, wenn es Liana völlig egal gewesen wäre.

“Ich füge mich vollauf Eurem Urteil und danke Euch”, sagte die Elfe mit sichtlicher Heiterkeit.

Dann schritt sie zu Nivard und neigte anmutig ihr Haupt vor ihm. “Und auch Euch, Herr Nivard.”

Nivard errötete angesichts der Geste - einer Baronin! - ihm gegenüber - gewiss war Liana alles andere als eine 'gewöhnliche Baronin' - aber immerhin war sie eine, und daher im Rang weit über ihm. Sofort verneigte er sich vor ihr: "Ich habe zu danken. Es ist mir eine Ehre und Freude, mit Euch die Eindrücke im nächtlichen Walde und auch diese gesellige Runde geteilt zu haben." Schnell waren die Worte gesagt, doch war zu spüren, dass diese dennoch aufrichtig waren und von Herzen kamen.

"Eine gute Nacht!" Merle lächelte sanft in die Runde, verneigte sich vor Liana und nickte Gwenn und Nivard kurz zu. Dann ließ sich ohne weiteren Widerstand an Doratravas Hand nach oben ins Zimmer ziehen. Verstohlen betrachtete sie die Gauklerin von der Seite. Warum hatte sie nur das Gefühl, immer alles falsch zu machen, wo sie sich doch stets solche Mühe gab, das Richtige zu tun?

Nachdem Doratrava und Merle die Treppe zu den Schlafgemächern hochgegangen waren, schlug auch Gwenn vor: “So, dann zeige ich Euch das andere Zimmer und wir können die Matratze für Herrn Nivard holen.” Die Braut in spe ging ebenfalls zur Treppe.

Ein kurzes, zustimmendes Nicken war die Antwort der Elfe, und sie folgte Gwenn.

“Ich hoffe, die beiden werden sich gut arrangieren können.”

Dass die beiden vielleicht das größere Zimmer hätten nehmen können, behielt sie für sich. Gwenn würde es schon recht durchdacht haben.

"Gute Nacht!" wünschte auch Nivard allen und beeilte sich dann, direkt hinter Gwenn zu bleiben. Gewiss würde diese zuallererst Liana das Zimmer zeigen, und so konnte er dieses schnellstmöglich nicht nur von seiner Matratze, sondern auch von denjenigen Gegenständen befreien, die er morgen früh brauchen würde - auf dass die Baronin rasch und ungestört zu ihrer wohlverdieneten Bettruhe gelangen möge.

Bevor sich alle auf die Zimmer verteilten, fragte er noch Doratrava: “Soll ich Dich jetzt morgen früh wecken?” So recht glaubte er nicht an ein ‘Ja’, und so wollte er bereits heute Nacht Klarheit schaffen - zumal Doratrava nicht alleine nächtigte und er auf keinen Fall Merle wecken wollte, nur um eine bereits zu erwartende Absage der Gauklerin einzuholen.

Die Gauklerin hatte gerade andere Dinge im Kopf als die morgige - oder war es bereits die heutige? - Jagd, und wollte schon abwinken, dann entfleuchte ihrem Mund aber einem plötzlichen Impuls folgend ein “Trau’ dich!” Ihre Form war nicht mehr die beste heute, aber ein schwacher herausfordernder Unterton mochte dennoch in ihrer Stimme liegen.

“Mach ich.” nahm er die Herausforderung wie ein Krieger mit einem Grinsen an. “Aber beschwer Dich morgen früh nicht - Du riefst die Geister, die da kommen! Und lass ja Merle schlafen!”

Doratrava winkte halbherzig ab und widmete sich wieder Merle.

Doratrava führte Merle stumm in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter ihnen. Das Zimmer war nicht groß, und Doratrava hatte nicht wenig Gepäck, musste sie doch all ihre Besitztümer stets mit sich führen mangels festem Wohnsitz, es war also neben der Bettstatt nicht viel Platz. Die Gauklerin hatte immerhin daran gedacht, ihren Mantel mit hoch zu nehmen und warf ihn nun auf den Haufen zu ihren Taschen, dann setzte sie sich auf das Bett und wollte sich die Stiefel ausziehen, als ihr auffiel, dass ja nur Decken für sie selbst bereit gelegt waren. Das Bett selbst wirkte breit genug, dass zwei Personen darin bequem nebeneinander liegen konnten, jedoch nicht breit genug, um Abstand voneinander zu halten. Sie blickte zu Merle, aber wieder verriet ihr Blick nichts. "Wir haben wenig Decken und wenig Platz. Traust du dich, dich an mich zu kuscheln?" Auch die Stimme der Gauklerin blieb sorgfältig neutral.

"Ach Doratrava, natürlich trau ich mich, mit dir zu kuscheln", seufzte Merle und legte ihre Umhängetasche und ihren Mantel neben Doratravas Gepäck. Dann setzte sich sich ebenfalls auf die Bettstatt und schaute ihre Freundin ernsthaft an. Sie dachte kurz nach, wie sie ihre Gedanken so formulieren könnte, dass ihre Worte Doratrava möglichst wenig verletzten... aber vermutlich würden sie das ohnehin. "Ich würde mich sogar noch ein paar mehr Dinge trauen...", sie lächelte vielsagend, aber traurig, "...soviel, wie ich brauche, um meine momentane Sehnsucht nach Nähe und Vergnügen und Zärtlichkeit zu befriedigen, um mich schön und begehrt zu fühlen. Aber recht schnell würdest du an einen Punkt kommen, wo du mehr willst als das, oder? Und ich an einen Punkt, wo ich dich wegstoßen muss, um nicht meine Ehe und meinen Schwur vor der Gütigen Mutter zu verraten. Und damit würde ich dir viel mehr wehtun, als wenn wir jetzt versuchen, etwas mehr Distanz zu wahren." Sie rollte ironisch mit den Augen. "Auch in diesem für eine Künstlerin deines Rangs und Namens lächerlich kleinen Zimmer..." Merle machte sich daran, ihre Stiefel auszuziehen und warf einen fragenden Seitenblick zu Doratrava. "Ergibt das alles Sinn für dich? Also, kannst du verstehen, dass ich vorsichtig sein muss?"

Einen Moment lang schaute Doratrava Merle noch stumm an, aber dann brach ihre dünne Schutzhülle, die sie in der letzten Stunde um sich aufgebaut hatte. Sie strich Merle sanft über das Haar und fragte leise: "Was brauchst du denn, welche Art von Nähe und Zärtlichkeit? Schön bist du schon, begehrenswert bist du auch schon, in meinen Augen auf jeden Fall. Aber ich ... verstehe dich nicht so richtig. Ich ... hatte das Gefühl, du hättest schon mehr zulassen wollen zwischen uns ... aber jetzt bist du dir nicht mehr sicher? Sag, was du möchtest, ich werde versuchen, dich nicht mit Haut und Haaren zu fressen!" Ein ganz kleines Lächeln kehrte in Doratravas Mundwinkel zurück.

Auch Merle lächelte leicht, wurde aber schnell wieder ernst. "Ja, ich gebe es zu... ich war für einen Moment... interessiert, mehr zuzulassen. Aber das war unter dem Eindruck dieses zauberhaften Madalichts - ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist - und ich hab mir eingeredet, dass alles ganz spielerisch und unbeschwert wäre, ohne Fragen und ohne Folgen. Wie ein wunderschöner Traum." Sie streifte die Stiefel ab und stellte diese ordentlich auf den Fußboden, dann machte sie sich daran, ihre zerzausten Zöpfe zu entwirren. "Aber jetzt, wo wir miteinander gesprochen haben, jetzt weiß ich, dass es kein Spiel sein kann. Weder für dich, noch für mich. Deshalb kann und will ich diesen Weg nicht weitergehen. Und es tut mir sehr, sehr leid, wenn ich dir bereits zu viele Hoffnungen gemacht habe.”

“Hm, Folgen … Kinder würden wir auf jeden Fall nicht kriegen …”, murmelte Doratrava nur halb im Scherz, wusste aber nicht, was sie sonst sagen sollte, und begann sich auszuziehen. Aber sie hatte sich noch nicht mal richtig das Hemd aufgeschnürt, da konnte sie es nicht mehr länger mit ansehen und griff nach Merles Haaren, um ihr beim Entwirren der Zöpfe zu helfen.

"Danke dir..." murmelte Merle sanft und ließ sich geduldig von Doratrava in den Haaren herumfummeln. "Du weißt, was ich mit 'Folgen' meine. Dass einer von uns beiden - oder uns beiden - am Ende das Herz gebrochen wird. Dass wir uns gegenseitig weh tun und am Ende nicht mehr in die Augen sehen können. Oder dass ich meinem Mann nicht mehr in die Augen schauen kann." Sie drehte den Kopf und blickte die Tänzerin eindringlich an. "Ich hab Gudekar die Treue geschworen, für immer und ewig. Und auch wenn ich denke, dass ein bisschen Getändel den Bund nicht bricht, werde ich das nicht übermäßig herausfordern.” Liebevoll strich sie Doratrava eine Strähne des hellen Haares hinters Ohr. “Ich will niemandem wehtun. Und schon gar nicht dir."

"Ist nicht einfach ..." Doratrava blickte Merle traurig an. "Ich meine, mir nicht wehzutun. Wenn jemand wirklich und ehrlich nett zu mir ist, dann ... verliebe ich mich schnell. Vermutlich zu schnell. Und dann ist es schwer, mich zu beherrschen, das ist ja sowieso nicht meine Stärke. Aber ich will dir doch auch nicht weh tun und du sollst nichts tun, was du hinterher bereust. Das ist zumindest meine ehrliche Meinung, wenn ich klar bei Verstand bin. Bin ich bloß nicht immer, wenn ich mich verliebt habe. Oder glaube, es getan zu haben." Sie zuckte hilflos mit den Schultern.

Merle seufzte; in ihrer Miene lag ehrliches Bedauern und Ratlosigkeit. "Tja, wenn wir befreundet sein wollen, dann kann ich schlecht aufhören, nett zu dir zu sein. Das wäre nicht... nett." Sie lachte leise, während sie weiter versuchte, ihr langes Haar zu entflechten. "Aber verlieben solltest du dich auf keinen Fall in mich! Ich bin auch nicht besonders interessant, glaub mir!" Merle grinste, doch in ihren Augen war zu sehen, dass sie dies zumindest teilweise glaubte. "Und ich verspreche, dass ich aufhören werde, aus purem Leichtsinn irgendwas zu provozieren. Also, was über Kuscheln hinausgeht. Kommen wir so klar, was denkst du?"

Nun war es an Doratrava zu seufzen. "Ich verspreche zu versuchen, meinen Verstand zusammenzuhalten, dann sollten wir die Nacht 'unbeschadet' überstehen ... die könnte eh kurz werden, falls Nivard sich wirklich traut, mich zu wecken." Und falls er sich traute, könnte das Merle vermutlich auch wecken, denn wenn sie tatsächlich einschlief, würde es mehr als ein Schulterrütteln brauchen, um sie wach zu bekommen. "Kuscheln hört sich zumindest vielversprechend an." Sie lächelte schwach.

"Kurz auf jeden Fall..." Merle zog ihre Hose und Tunika aus, so dass sie nur noch in Unterwäsche da saß; dann flocht sie das nunmehr entwirrte Haar zu einem neuen, hüftlangen Zopf auf dem Rücken zusammen. "Tut mir jedenfalls leid. Ich wollte dich weder in Verwirrung stürzen noch dir Schmerz oder schlaflose Nächte bereiten. Aber wenn du diese Nacht irgendwelche unerwünschten Annäherungsversuche versuchst, dann muss ich entweder sehr grob werden oder zu Nivard an den Kamin flüchten. Weiß nicht, was da zu bevorzugen wäre." Merle rollte leicht ironisch mit den Augen, ließ sich erschöpft nach hinten auf das Bett fallen und starrte abwesend auf die Holzvertäfelung der Decke. "Sehen wir zu, dass wir etwas Schlaf kriegen, oder?"

"Dir braucht nichts leid zu tun", gab Doratrava leise zurück, während sie sich nun selbst vollends auszog. In einem ordentlichen Bett schlief sie normalerweise immer nackt, und sie sah keinen Grund, das jetzt zu ändern, zumal Merle ja schon alles von ihr gesehen hatte. "Im Übrigen bevorzuge ich es, erwünschte Annäherungsversuche zu unternehmen, oder überraschende." Sie lächelte leicht. "Das fällt hier ja schon mal flach. Ansonsten werden wir uns ja sowieso nahe sein, da muss ich mich nicht erst annähern. Obwohl es mal interessant wäre zu sehen, was du unter 'grob' verstehst. Den armen Nivard solltest du aber nicht belästigen und in Versuchung führen." Ein schelmischer Funke glomm in Doratravs Augen auf, verging aber schnell wieder. Dann löschte sie die Laterne, zog die Decken unter Merle hervor, legte sich neben sie und breitete die Decken über sie beide aus, um sich dann zu ihrer Freundin hin zu drehen. Sie hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, schlang den rechten Arm um sie und drückte sie an sich. "Gute Nacht", flüsterte sie schließlich.

"Gute Nacht dir", wisperte Merle zurück und kuschelte sich einvernehmlich in die Umarmung ihrer Freundin. Sie schloss die Augen und versuchte nicht an Doratravas wunderschönen nackten Körper zu denken, an die zarte Haut, die ihrer trotz des trennenden Stoffs ihres dünnen Leibhemdes so nahe war... Leise seufzend konzentrierte sie sich einzig und allein auf das Gefühl tröstlicher Wärme und Nähe eines anderen Körpers, ohne den Gedanken zuzulassen, was sie unter anderen Vorzeichen, in einem anderen Leben, miteinander teilen könnten. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Gudekar sie genauso im Arm gehalten, hatte ihr im Halbschlaf leise, liebe Worte ins Ohr geflüstert und sein Gesicht zwischen ihrem Haar in ihrer Halsbeuge vergraben. Er hatte sie fest an sich gedrückt und ihr versprochen, dass er sie nie, niemals loslassen würde. Sie schluckte, um ein Schluchzen zu unterdrücken und zwang sich, ruhig zu atmen, damit Doratrava nichts merkte. In Gedanken begann sie ein stummes, eindringliches Gebet an Rahja und Travia zu sprechen, bat die guten Göttinnen, ihren Bund mit Gudekar zu segnen, zu heilen und zu stärken. Und sie merkte, wie das Beten sie mit Ruhe und Zuversicht erfüllte, mit dem geborgenen Gefühl, nicht allein zu sein. Bald... ja bald... würde zwischen Gudekar und ihr alles wieder gut. Schon bald…

Doratrava hatte die Augen geschlossen und freute sich, dass Merle sich offenbar gerne umarmen ließ. Aber eigentlich wollte sie gar nicht schlafen. Trotz aller Worte des Verstandes verlangten ihre Gefühle nach mehr, und sie musste an sich halten, um Merle nicht zu küssen und zu streicheln. Aber sie konnte sie wenigstens spüren und träumen. Aber nicht, wenn sie einschlief. Daher lag sie wach und starrte mit offenen Augen ins Dunkel, lauschte auf Merles Herzschlag und ihre Atemzüge. Und merkte, dass diese auch nicht so ruhig war, wie sie tat. Da sie keine Gedanken lesen konnte, wusste Doratrava nicht, was Merle umtrieb, aber dass ihre Ehe mit Gudekar nicht so lief, wie sie sich das vorstellte, hatte die Gauklerin schon mehrfach zwischen den Zeilen gelesen, allerdings bisher sorgfältig vermieden, ihre Freundin darauf anzusprechen. Sie wollte Merle nicht noch mehr in Verlegenheit bringen, und sie wollte ihren Schmerz nicht ausnutzen. Dennoch konnte sie nun nicht anders, als Merle doch ein wenig zu streicheln und beruhigend ein Schlaflied zu summen, dessen Text sie vergessen hatte.

Im dämmrigen Zustand zwischen Wachen und Schlafen nahm Merle Doratravas gesummtes Lied und das beruhigende Streicheln nur unbewusst, unterschwellig wahr - es vermischte sich mit den Erinnerungen an vergangene, schöne Zeiten mit Gudekar und diffusen Vorstellungen von Familienglück und behüteter Kindheit, mit den Eindrücken des heutigen Tages und ihrem festen Glauben, dass Rahja und Travia sie sahen und über sie wachten... Das leise Schlaflied war wie ein kleines, helles Licht, das ihren Geist zu guten, freundlichen Träumen geleitete; das in ihrem schmerzenden, pochenden Herzen ein tröstliches Gefühl von Wärme, Hoffnung und Geborgenheit aufflammen und sich ausbreiten ließ. Ja, jetzt würde alles gut werden, dachte sie vage, während sie endlich einschlief.

Als Merle ruhig wurde und schließlich einschlief, freute sich Doratrava, dass sie sie hatte beruhigen können. Aber nun, da sie sich nicht mehr beherrschen musste, ihre Gefühle zu unterdrücken, begannen Tränen zu fließen. Leise schluchzte sie vor sich hin, doch auch Doratrava konnte sich nicht ewig der Natur verweigern, und irgendwann schlief auch sie ein.

~*~

Morgenstund’ hat ein Geschmäckle im Mund

Als Nivard am nächsten Morgen zur Mitte der Hesindestunde die Kammer von Doratrava betrat, um diese für die anstehende Jagd zu wecken, fand er sie und Merle eng umschlungen und verknotet in Doratravas Bett liegend vor, und aufgrund der verkuddelten Decke entging ihm nicht, dass Doratrava nackt war.

Wie vom Donner gerührt stand Nivard vor dem Bett. Wäre er nicht ohnehin schon erstaunlich wach gewesen für den Umstand, fast nicht geschlafen zu haben, wäre er es spätestens jetzt. So schliefen nicht zwei Freundinnen nebeneinander. So lag ein Liebespaar beieinander! Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen - die Tändelei, die Berührungen, das Getuschel am gestrigen Abend! Aber hatte Merle ihm nicht kurz davor glaubhaft erzählt, wie sehr sie sich Gudekar zurückwünschte? War das alles nur gespielt gewesen? Und welche Rolle nahm Doratrava in diesem Stück ein? Die Gedanken rasten in ihm, wie er so auf Merle und Doratrava blickte, nur erhellt von der flackernden Kerze in seinen Händen. Wie konnte Gudekar nur ernsthaft glauben, dieser Ort, dieses Tal seien sicher vom verderblichen Einfluss des Gegenspielers Travias? Wo doch sein Gift schon überall wirkte?

Nivards erster Reflex war, umzudrehen und diese Stätte so rasch wie möglich zur Jagd zu verlassen. Andererseits hatte er fest zugesagt, dass er Doratrava wecken würde... und war es nicht ganz im Sinne der gütigen Mutter, zu seinem Wort zu stehen... noch dazu, wenn er dabei dieses alles andere als traviagefällig wirkende Miteinander beendete? Gewiss würde ihm die Göttin nicht zürnen..

Nach einer schier ewiglich anmutenden Weile löste er sich aus seiner Schockstarre und schlich mit angehaltenem Atem weiter auf Doratrava zu. Vorsichtig griff er nach ihrem Oberarm, tunlichst darauf bedacht, weder Merle zu wecken noch Doratrava unsittlich zu berühren, und rüttelte behutsam an ihr. "Doratrava!” raunte er ihr dabei zu. “Aufwachen! Doratrava! Hörst Du mich! Aufstehen! Wir müssen zur Jagd."

Diese rührte sich kein Stück, ihr Arm war völlig schlaff. Lediglich die Andeutung eines unwilligen Murmelns drang aus ihrem Mund.

"Ist schon Aufstehzeit?" murmelte Merle abwesend. Sie räkelte sich, schob instinktiv Doratravas Arme zur Seite und setzte sich langsam in ihrem Leinenhemd im Bett auf. Für einen Moment blickte sie verwirrt um sich, dann erhellte sich ihr Gesicht. "Oh, guten Morgen, Herr Nivard!” flüsterte sie lächelnd. “Habt Ihr trotz der Kürze der Zeit gut schlafen können?" Sie schaute skeptisch zur schlaftrunken vor sich hin murmelnden Doratrava, deren Nacktheit ihr nicht groß aufzufallen schien, und hob in Nivards Richtung entschuldigend die Schultern. “Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich zur Jagd möchte”, wisperte sie ihm zu.

"Oh, verzeiht bitte!" entschuldigte sich Nivard, sichtlich erschrocken, dass es nun ausgerechnet doch Merle war, die von seinen Bemühungen erwachte, während Doratrava weiterhin selig zu schlummern schien. Wäre es nicht so dunkel gewesen, wäre Merle sofort sein deutlich rot gefärbter Kopf ins Auge gestochen, "Ich... ich wollte Euch nicht wecken. Ich habe nur nicht damit gerechnet... Euch… Euch so eng nebeneinander vorzufinden."

“Ähm, was? Wie… eng?” murmelte sie und strich sich verwirrt eine Haarsträhne aus der Stirn, dann zog sie plötzlich verstehend die Brauen hoch. “Wirklich?! Das überrascht Euch? Habt Ihr mich nicht, genau wie alle anderen, gestern geradezu gedrängt, das schmale Bett mit Doratrava zu teilen?” zischte sie ihm mit leichtem Vorwurf in der Stimme zu. “Nun schaut mich nicht so entsetzt an! Was denkt Ihr denn, was hier vorgefallen ist?” Sie blickte ihn mit unschuldigen, fast verletzten Augen an, die in dem schummrigen Licht sehr groß und dunkel wirkten.

"Oh, nein nein nein nein! Ich habe mehrfach angeboten, in der Küche zu nächtigen! Ihr erinnert Euch? Hätte ich gewusst, dass dieses Bett so eng ist und dass Doratrava kein Nachthemd besitzt, hätte ich sogar darauf bestanden!"

Merles Vorwurf entfaltete dennoch Wirkung, denn er begann, sein schlechtes Gewissen zu fühlen.

"Aber Ihr habt Recht!" wisperte er weiter. "Ich wusste, wie sehr Eure Probleme mit Gudekar Euch beschäftigen und hätte gestern Abend auch sehen müssen, wie stark sie Eure Gefühle verwirren… Es tut mir leid, dass ich Euch in diese Lage gebracht habe... dass ich das hier zugelassen habe. Bitte verzeiht!" Nivard wirkte aufrichtig zerknirscht.

Das Getuschel führte lediglich dazu, dass sich Doratrava im Schlaf herumdrehte und ihr Arm, als hätte er ein Eigenleben, nach Merle tastete, allein, er konnte sie nicht finden, da sie sich aufgesetzt hatte. Erneut murmelte die Gauklerin etwas Unverständliches unter ihrem weißen Haarschopf hervor, der wie ein Schleier über ihrem Gesicht lag. Mit ein wenig Phantasie könnte man es auch für ein ungnädiges Knurren halten. Allerdings rutschte die Decke nun fast vollends von ihr herunter, so dass Nivard nun durchaus detaillierte anatomische Studien betreiben konnte, wenn er denn wollte.

Der Wille hierzu schien bei diesem jedoch nicht vorhanden, wie an seinem erschrockenen Zucken zu bemerken war. Instinktiv riss Nivard seinen Kopf zur Seite und versuchte, sich anschließend so zu drehen, dass er halb schielend ausschließlich Merle sehen konnte. Wenn sich jemand beim Schwimmen im Fluss  oder im Badehaus entkleidete, war es eines. Aber jemanden nackt schlafend im Bette zu sehen außer der eigenen Gemahlin, das gehörte sich nicht!

“Doratrava darf ja wohl schlafen, wie sie will!” zischte Merle mit immer noch scharfem Unterton zurück. Als ob es ein Verbrechen wäre, kein Nachthemd zu tragen! Sie nahm jedoch die Decke und zog diese fürsorglich über ihre murmelnde und knurrende Freundin, damit Nivard nicht noch die Augen herausfielen. Doch als sie sah, wie geknickt er plötzlich wirkte, wurde ihre geflüsterte Stimme schnell wieder sanft und beruhigend: “Nivard! Es ist alles in Ordnung!” beschwor sie ihn. “Macht Ihr Euch keine Vorwürfe. Wir zwei sind gute Freundinnen und es ist nichts passiert. Natürlich nicht. Kein Grund, die Gänseritter zu alarmieren.” Sie schaute ihm intensiv in die Augen, in der Hoffnung, dass das Thema damit erledigt wäre. Dann blickte sie fragend auf Doratravas weißen Haarschopf. “Sollen wir jetzt noch mal versuchen, sie zu wecken? Was meint Ihr?”

Merle konnte sehen, dass Nivard alles andere als überzeugt von ihren Beschwichtigungen war, doch ließ er es dabei bewenden.  "Ja, lasst sie uns wecken! Ist sie wirklich wieder zugedeckt?” vergewisserte er sich noch abschließend. Vorsichtshalber hatte er den Blick in Doratravas Richtung bis jetzt noch immer vermieden. “Dann helfe ich mit, sie wach zu bekommen.."

"Ja, sie ist zugedeckt. Bis zum Hals. Ich schwöre." Merle konnte ein leises, albernes Kichern nicht unterdrücken, auch wenn dies Nivards Eindruck von ihr vermutlich nicht verbesserte. Aber irgendwie war die ganze Situation so absurd, dass es schon wieder recht lustig war. Sie fasste Doratrava an der Schulter und versuchte sie wachzuschütteln, während sie ihr mit kräftigerer Stimme ins Ohr sprach: "He, Doratrava. Aufwachen! Die Jagd!" Etwas ratlos schaute sie zu Nivard. "Andere Ideen? Sollen wir einen nassen Lappen zu Hilfe nehmen? Oder sie kitzeln?" Sie merkte, dass er das alles immer noch nicht besonders witzig fand und rollte leicht mit den Augen. "Nur ein Scherz!"

"Jetzt, da Ihr ja leider auch viel zu früh aus dem Schlaf gerissen seid, können wir es ja erstmal mit herzhaftem Rütteln und einer lauten Ansprache versuchen... wartet, ich schließe kurz die Tür, damit am Ende nicht das ganze Haus wach ist." Nivard huschte rasch dorthin und schloss die Türe sorgfältig. "So, jetzt können wir. Und wenn beides nicht fruchtet, hol ich kaltes Wasser. Es kann dann nur sein, dass Ihr anschließend für den Rest der Nacht nach unten umziehen müsst."

"Ihr müsst ja nicht gleich das ganze Bett unter Wasser setzen", erwiderte Merle altklug, "...ich hätte an ein paar Tropfen oder einen nassen Lappen in ihrem Gesicht gedacht. Und normalerweise würde ich ihr die Bettdecke wegziehen… aber lassen wir das lieber." Nachdem die Tür jetzt zu war, packte Merle die Gauklerin noch einmal mit beiden Händen an den Schultern, rüttelte kräftig und rief ihr lautstark ins Gesicht: "Jagdkönigin Doratrava, aufstehen! Es geht los!! DORATRAVA!!!"

Zunächst blieb Doratravas Körper schlaff und ihr Kopf rollte haltlos auf ihren Schultern umher, als Merle sie so rüde schüttelte. Dann flatterten ihre Augenlider und öffneten sich einen Spalt weit. “W… was?”, nuschelte die Gauklerin. “Binnichtaub, weißwieichheiß”, fügte sie noch nuscheliger hinzu, drohte aber wieder in den Schlaf abzugleiten, wie Merle bemerkte. Nivard hatte sie offenbar noch gar nicht wahrgenommen.

“Doratrava!” wiederholte Merle nur unwesentlich leiser. “Nivard ist hier! Du wolltest doch zur Jagd, oder nicht?!” Sie rüttelte noch einmal an Doratravas Schulter. “Wenn du mitwillst, musst du jetzt aufstehen! Jetzt sofort!” “Komm schon! Wir müssen uns sputen.” stimmte Nivard mit ein.

Wieder fühlte sich Doratrava durchgeschüttelt wie ein Kartoffelsack, dessen Inhalt man entleeren wollte. Jagd? Da war etwas gewesen, stimmt, irgendein Blödsinn mit Nivard, aber es war ihr nicht möglich, diesen Gedanken zu fassen, wieder drängte der Nebel von allen Seiten auf sie ein und wollte sie zurück in Borons Gefilde ziehen. Damit das Geschüttel aufhörte, musste sie sich aber festhalten … und da war nur Merle! Instinktiv schloss sie die Arme um ihre Freundin, drückte sich an sie und schnurrte wohlig, als sie Merles weiche Haut spürte und ihr Duft ihren halb schlafenden Verstand flutete. Nivard gingen die Augen beinahe über, als er Doratravas Bestrebungen sah. Er hatte also doch recht gehabt.

Merle ächzte leise, als Doratrava sie plötzlich in eine Umarmung zog. "Achjemime", murmelte sie seufzend, verzichtete aber darauf, sich gleich wieder mit Gewalt zu befreien, sondern schob stattdessen mit der Hand einen Schwall weißblonden Haars zu Seite, um ein paar Mal direkt in Doratravas Ohr zu pusten.

Jetzt zuckte Doratrava doch zurück, diese hinterhältige, da durchaus unangenehme Art des Weckens hatte noch niemand bei ihr angewandt. Ihre Augen öffneten sich immerhin halb, auch die Umarmung hatte sie aufgegeben, und jetzt nahm sie auch Nivard endlich wahr.

“He!”, protestierte sie lautstark, wenn auch immer noch von Müdigkeit umnebelt. “Was … ?” Aber langsam dämmerte ihr, was die Stunde geschlagen hatte. “Ja … Jagd … Nivard … Aufstehen”, murmelte sie und rieb sich ausgiebig die Augen. Sie seufzte schwer. “Bin schon so gut wie fertig”, murmelte sie weiter, auch wenn sie noch keine Anstalten machte, etwas anderes zu tun, als die Augen zu reiben. “Wie ist das Wetter?” “Erfrischend!” antwortete Nivard nur knapp und recht leise. Nicht, dass Doratrava es sich noch anders überlegte.

"Du wolltest geweckt werden." Merle schenkte Doratrava ein liebreizendes, unschuldiges Lächeln und zuckte mit den Achseln. "Der Herr Nivard war drauf und dran, einen Eimer kaltes Wasser zu holen."

Doratrava, die mittlerweile in tsagegebener Pracht auf dem Bett saß, hielt inne beim Reiben ihrer Augen und schaute erst Nivard, dann Merle verschlafen an. “Das bin ich schon gewohnt”, murmelte sie nun wieder deutlich weniger wach, “aber gib’s zu: du wolltest nicht nass werden!” Sie wuschelte Merle halbherzig über den Kopf.

"Nein, ich für meinen Teil freu' mich tatsächlich noch auf etwas Schlaf im Trockenen", feixte Merle grinsend, als sie Doratravas Hand durch eine Drehung ihres Kopfes abschüttelte. "Du bist die tapfere Jägerin." Mit einer wedelnden Handbewegung und gespielt entrüsteter Miene bedeutete sie Nivard, sich endlich abzuwenden. "Herr Nivard! Nun starrt doch nicht so! Die junge Dame möchte sich ankleiden." Sie hoffte, den jungen Krieger mit einem Zwinkern und einem entwaffnenden, verschmitzten Lächeln soweit zu beruhigen, dass sein sittenstrenges Gemüt die Szenerie ohne langfristige Schäden verarbeiten konnte.

"Ja, äh, natürlich." Wie ein voll getroffener, aber schlecht geölter eiserner Alrik wandte Nivard sich auf der Stelle um, durchaus erleichtert, sich so aus dieser durchaus peinlichen Situation lösen zu können. "Zieh Dich rasch an, und zwar wetterfest. Es ist recht,... herbstlich draußen. Bestes Sauenwetter!" Und hervorragendes Wetter, um das Gemüt herabzukühlen und jedwede fehlgerichteten Frühlingsgefühle auszutreiben, wie er insgeheim hoffte.

“Sauenwetter! Na prächtig!”, gähnte Doratrava, dann schaffte sie es, Merle anzulächeln. “Also gut, ich ziehe mich jetzt an, aber nur wegen dir. Du sollst ja nicht mehr unter unseren Spinnereien leiden, als nötig.” Am liebsten würde sie Merle auch noch einen Kuss auf die Wange geben - na ja, eigentlich nicht nur auf die Wange - aber sie wollte weder Merle noch Nivard noch mehr in Verlegenheit bringen und begann daher, sich anzuziehen, das warme Zeug und den Lodenmantel. Und ihre volle Bewaffnung anzulegen: zwei Langdolche und sechs Wurfdolche steckte sie in ihren breiten Gürtel, dann noch je einen Wurfdolch in jeden Stiefel. “Fertig”, erklärte sie schließlich und gähnte nochmals herzhaft.

"Es war mir eine Ehre, dich zu wecken!" lächelte Merle liebevoll zurück. Sie richtete sich aus dem Bett auf, winkte Doratrava heran und drückte ihr ein schnelles Küsschen auf die Wange. "Viel Glück auf der Jagd, Waidmannsheil und... lass' dich nicht umbringen." In Nivards Richtung neigte sie den Kopf und rief ihm schwungvoll hinterher: "Herr Nivard, auch Euch viel Erfolg und Firuns Segen! Auf die Jagdberichte bin ich schon gespannt!"

"Habt Dank! Wir werden getreulich berichten! Und Euch eine gute verbleibende Nacht!" wünschte Nivard Merle. "Und wir packen es jetzt! Auf geht's, Doratrava! Auf zu Jagd!"

Als Merle sie nochmal an sich drückte und küsste, wurde Doratrava nochmal ganz anders. Einen winzigen Augenblick überlegte sie, alles sausen zu lassen und sich wieder an Merle zu kuscheln, aber die Hoffnung, dass das funktionieren würde, war schon so weit verdrängt worden, dass ihr Verstand trotz seines benebelten Zustands schnell wieder die Oberhand gewann. So winkte sie Merle lediglich noch einmal mit einem schmerzlichen Lächeln zum Abschied und gab dann Nivard zu verstehen, dass sie los konnten.

Merle ließ sich zurück ins warme Bett sinken und kuschelte sich in die Decke ein. Wohlig streckte sie sich auf der Seite liegend aus, immer noch einen Hauch von Doratravas Duft in der Nase, in Gedanken aber bei Gudekar. Oh, sie vermisste ihn so sehr. Was hätte sie dafür gegeben, ihn jetzt in den Armen zu halten, seinen Körper wie früher mit tausenden zarten Küssen zu bedecken... Wann war alles so schwer, so kompliziert geworden? Merle tastete nach der Kette um ihren Hals, mit der irgendwie alles Unglück angefangen hatte und die sie trotzdem weiter trug, aus Trotz oder Treue - nein, weil Gudekar ihr das Amulett damals mit diesem Blick überreicht hatte, voller Liebe und Verehrung, voller Wärme in seinen Augen… diesen Moment wollte sie trotz allem für immer in ihrem Herzen bewahren und festhalten. Wieder begann sie leise murmelnd zu beten, gab ihr die Nähe von Rahja und Travia ein Gefühl von Frieden und Geborgenheit. Ohne Doratravas angenehme, aber auch aufregende Präsenz kamen ihr Körper und ihr Geist nun vollends zur Ruhe und sie sackte kurz vor der Firunstunde endlich in gnädigen, traumlosen Tiefschlaf hinab, der sie fast zwei Stunden gefangen hielt.

~*~

Rückkehr ins Dorf

Bernhelm führte die restliche Gruppe zurück ins Dorf. Die Feuerschalen entlang des Weges waren inzwischen erloschen und der kalte Regen wurde nach und nach immer penetranter. Schließlich erreichten sie die Brücke über den Lützelbach. Das bunte Treiben auf dem Dorfplatz war inzwischen einer dunklen, feuchten Nachtruhe gewichen. Bernhelm führte die Gäste nach und nach zu ihren jeweiligen Quartieren.

[ping, wer ins Dorf geführt wird]

~*~

Meta hätte gerne mit Gwenn gesprochen. Da sie aber nach sehr interessantem Geplauder eher als eine der Letzten mit Imelda zur Hütte kam, sah sie, dass diese schon von Merle und Doratrava belegt war. Sie seufze und zuckte zu Imelda gewandt mit den Schultern. Vielleicht verdrehte sie auch etwas die Augen. „Geh ruhig, ich warte, ob ich mit Gwenn noch reden kann. Dann frage ich Gudekar, wie es weitergeht.” Den Kuss, den er mit Merle teilte, sah sie gerade. Es schmerzte nicht mehr. „Also bis morgen, mein Schatz, ruh dich aus für die Jagd. Da bist du doch dabei.“

“Nein, natürlich nicht!” widersprach Imelda. “Ich schlaf lieber aus! Das ist gesünder.”

Plötzlich tauchte Gudekar vor den beiden Freundinnen auf und sah verwirrt aus. “Komm Merle, lass uns schnell ins Dorf zurück gehen. Du solltest schnell unter die Decke und dich richtig aufwärmen.” Er nahm sie an die Hand und zog sie in Richtung des Wegs, ohne auf Imelda zu achten.

„Ach Hoher Herr, ich weiß, Ihr seid noch ganz benommen und wollt Euch von eurer Frau nicht trennen. Meta heiße ich aber.“ Sie lächelte unergründlich und leicht abschätzig. „Willst du wirklich mit mir mit? Es scheint dir schwer zu fallen.“

Gudekar schaute verwirrt. “Aber Meta, ich weiß doch, wie du heißt!” Dann fiel ihm auf, was er gerade gesagt hatte und er lief rot an und biss sich auf die Unterlippe. “Tut mir leid, Mika, dass ich dich mit Gwenn verwechselt habe”, scherzte er, schaffte es aber nicht, sein schelmisches Lächeln aufzusetzen. ‘Oh Rahja, lass sie mir den Versprecher bitte nicht übel nehmen! Bitte! Ich werde mich erkenntlich zeigen!’ sprach er innerlich ein Stoßgebet. “Komm, meine arme, kleine Ritterin, lass uns schnell verschwinden!”

Meta zog ernst die Augenbrauen hoch. „Weder den Versprecher, noch den Kuss, der dich so durcheinander gebracht hat.“ Nun zuckten ihre Mundwinkel und sie zwinkerte ihm zu. „Eigentlich wollte ich mit Gwenn reden, aber ich glaube, sie ist beschäftigt genug. Morgen wird sich Gelegenheit finden. Nun komm.“ Sie ging links von ihm und beide verließen den Platz vor der Hütte. In der Dunkelheit draußen nahm sie seine linke Hand „Ich weiß, wie schwer es für dich ist. Merles Reaktion ist natürlich. Ich hoffe, du hast ihr nicht mehr Mut gemacht, aber das musst du wissen. Folge dem, was du für richtig hältst.“ Flüsternd fügte sie noch etwas hinzu. „Es freut mich, dass du mit mir kommst. Wir sehen uns ja auch sehr selten und so können wir auch ungestört reden.“

Gudekar wunderte sich. Es klang fast so, als hätte Meta seine Gedanken gehört. „Du kannst bestimmt morgen mit Gwenn sprechen. Jetzt brauche ich dich. Komm, lass uns beeilen.” Erst jetzt wurde Gudekar bewusst, dass Imelda die beiden die ganze Zeit stumm beobachtet hatte. “Wollt Ihr auch ins Dorf, Euer Gnaden? Dann schließt Euch uns doch einfach an.”

"Also nur, wenn ihr nicht ständig vor meinen Augen rumfummelt", entgegnete Imelda mit einem verschmitzten Grinsen.

Gudekar schaute Meta ernst an. “Hm, was meinst du, Meta, schaffen wir es, bis zum Dorf, ohne Ihre Gnaden zu sehr zu irritieren?”

„Also wirklich. Hast du uns hier schon Fummeln gesehen, Imelda?“ Keck wandte sie sich der Geweihten zu. „Das ist immer nur Merle, die er küsst.“ Belehrend fuhr sie fort: „Sie ist ja auch seine Frau und hat sein Kind. Ich bewache ihn nur und ähmm… ehrlich gesagt konnten wir kaum offen reden, ohne dass irgendwer in der Nähe war.“

Gudekar griff nach Metas Hand und zog sie zu sich. Er blickte in ihre Augen. “Ich möchte nur dich küssen. Vergiss Merle einfach! Heute Nacht gibt es nur uns beide.”

„Das soll so sein. Wir brauchen endlich länger Zeit alleine.“ Sie machte eine kurze Pause und drehte sich kichernd etwas zu Imelda. „Auf dem Weg passiert nix. Danach, wer weiß. Ich kann schon viel vergessen, aber manches braucht eine Erklärung.“ Im Dunkeln sah sie wieder zu Gudekar, ließ seine Hand aber nicht los. „Warten wir einfach mal ab. Morgen ist der letzte Tag, oder?“

„Ja, es ist mir jetzt noch klarer als vorher. Es gibt kein Zurück mehr.“ Gudekar lächelte Meta an. In seinem Gesicht konnte Meta einen Ausdruck von Entschlossenheit lesen, den sie so deutlich bei ihm noch nie gesehen hatte. All seine Zweifel schienen wie weggespült.

Die leicht schwerhörige Ingrageweihte gab sich größte Mühe, das Getuschel zwischen Meta und Gudekar zu verstehen. "Erklärung? Was denn für eine Erklärung? Sind die bezaubernden Augen deines Traummanns dir denn nicht genug?", versuchte sie, die Wogen weiter zu glätten, ohne wirklich zu wissen, worum es ging.

“Schon gut, Imelda, Meta hat ja recht, wir beide sollten dringend mit einander sprechen.” Gudekar boxte Imelda freundschaftlich auf den Oberarm.

Schmunzelnd erwiderte Imelda den Faustknuff. Sie hielt sich dabei nicht groß zurück. Da sie in Sachen Nahkampf von ihrem Bruder viel gelernt hatte, wusste sie, wieviel Kraft sie aufwenden musste, um den Magier nicht zu verletzen, jedoch einen deutlich spürbaren Treffer zu landen. "Sehr schön! Dann redet mal zur Abwechslung, bevor ihr beiden gleich hemmungslos übereinander herfallt." Freudig marschierte sie ein wenig schneller an den beiden vorbei. "Und lass dich von der Ritterin nicht unterkriegen, Gudi! Zur Not kauf' ihr etwas schönen Schmuck."

Gudekar rieb sich den Oberarm, wo Imeldas Hieb ihn getroffen hatte. Das gab vermutlich einen blauen Fleck. Dennoch schmunzelte er, als er ihr kopfschüttelnd hinterher blickte. Diese Geweihte hatte etwas herzerfrischendes an sich. So stellte sich Gudekar einen echten Freund - eine Freundin - vor. Schade, dass er nicht viele davon hatte, dachte er.

„He, Imelda! Wir fallen überhaupt nicht übereinander her. Wir reden nur, ja, nur reden.“ Sie beschleunigte etwas. „Aber das mit dem Schmuck ist eine gute Idee. Wir treffen uns morgen zum Bad, ja?“

"Klar, da reden wir dann!", feixte Imelda frech. "Außer, du kommst mir blöd, dann bespritze ich dich mit Schaum!"

„Hoffentlich traust du dich überhaupt ins Wasser.“ Meta streckte Imelda kurz die Zunge heraus, dann verabschiedete sie sich lieb. „Schlaf gut, ich bin schon auf morgen gespannt. Wer badet gleich wieder mit uns? Mika, oder?“

"Ich glaube, Mika ist zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich noch auf der Jagd.”

“Ja”, bestätigte Gudekar, “die wird noch unterwegs sein.”

“Vermutlich also nur wir zwei. Aber das ist vielleicht ganz gut. Dann können wir in Ruhe einen Plan ausarbeiten und alles besprechen." Imelda drückte ihre Freundin kurz an sich. "Ja, dann gute Nacht und schlafe schön. Hoffe, du kommst dazu - nicht, dass du mit dunklen Augenringen zu deinem Rahjabund erscheinst..." Sie dachte kurz nach. "Soll ich dir dafür eigentlich mit dem Schminken und Frisieren helfen?" bot sie in der Hoffnung an, nicht allzu früh aufstehen zu müssen.

Selbstbewusst straffte sich Meta und lächelte süffisant. “Auf gar keinen Fall. Schlaf ist wichtig und der Hohe Herr Gudekar...”, sie strich ihm über die Schulter, “...der wird mich so lieben, wie ich bin. Außerdem verwischt das beim Baden doch eh gleich wieder.” Etwas würde Meta sich trotzdem darum kümmern, dezent ihr Gesicht zu verschönern. Schon seit einiger Zeit schminkte sie sich dezent. Morgen durfte es ein wenig mehr sein.

“Aber soll ich dir nicht wenigstens die Haare hübsch flechten oder teilweise hochstecken, die Locken richten und oben noch einen frischen Blumenkranz hineinarbeiten?” schlug Imelda vor und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. “Ich meine, es ist ja schon sowas wie eine Hochzeit, oder? Da musst du doch eine schöne Brautfrisur haben!”

Meta errötete sofort und fuhr sich durch ihre Haare. „Oh. Ja, so gesehen natürlich schon. Aber das fällt doch allen Leuten auf. So gebändigte, hochgesteckte Zöpfe, das wäre hübsch. Auch für den Rest des Tages. Wann und wo treffen wir uns? Nach dem Frühstück soll ich zum Tempel… nicht viel Zeit.“

"Ja, das kriegen wir schon hin... Wart' mal ab, du wirst wunderschön aussehen!", rief sie freudig und schlug begeistert die Hände zusammen. "Also, dann gerne nach dem Frühstück; das sollte ganz gut passen, denke ich. Komm' mich einfach in der Schmiede besuchen."

“Ich stehe aber relativ früh auf, sicher bin ich arg aufgeregt. Also zur Schmiede. Dort machst du das dann auch gleich, dann laufe ich danach zum Tempel.” Meta fasste ihren Plan des Vormittags schnell zusammen. “Hoffentlich klappt es dann mit dem Bund und wir treffen uns später in warmem Wasser.”

“Ja, ja, das wird schon. Mache dir keine Sorgen, Süße!”, winkte Imelda gutmütig ab.

Gudekar lauschte den beiden Freundinnen, ohne das Gespräch zu kommentieren. Bei der Bemerkung Imeldas, es sei morgen doch eine Art Hochzeit für Meta und Gudekar, musste er freudig lächeln. Gleichzeitig stellte er sich vor, wie Meta wohl mit hochgesteckten Zöpfen aussehen würde. Er war sich sicher, dies würde ein bezauberndes Bild abgeben..

~*~

Ankunft im Brauhaus

Das letzte Stück des Weges beeilten die beiden sich, bei dem gruseligen Wetter in das Brauhaus und dann schnell in Metas Zimmer zu kommen. Stiefel, Mantel und Wams zog sie gleich aus, in der hellblauen Bluse und der schwarzen Hose fühlte sie sich deutlich wohler. Meta setzte sich an den Tisch und füllte zwei Becher mit Wasser. „So, Herr Magus. Setz dich, wir müssen Tacheles reden.“

Der Magier legte seinen durchnässten Umhang ab schaute die Ritterin überrascht an. Er nahm einen der Becher und trank ihn halb leer. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er solch einen Durst hatte. “Bist du warm genug? Geht es dir gut?” fragte er, doch er merkte sofort, dass Meta dies im Moment einerlei war. Erst jetzt setzte er sich auf den Stuhl, der neben dem kleinen Tischchen stand. “Was gibt es? Was musst du so dringend mit mir bereden?”

Meta kam gleich zur Sache. „Es war gut, dass ich beim See dabei war. Dem wohnt irgendeine Macht inne, oder.“ Ohne abzuwarten sprach sie weiter, lehnte sich dann zurück und wartete gespannt. „Es geht um uns. Jetzt. Im See war hatte ich sowas wie eine Erleuchtung plötzlich war mir klar, was ich tun muss, um dieses Dilemma zu lösen zwischen uns dreien. Du kannst dich doch nicht entscheiden, nicht wahr?. Wie ging es dir?“

Gudekars Augen leuchteten vor Begeisterung auf. Vollkommen aufgeregt sprach er: „Es war unglaublich,oder? Einfach so schön! Wie lange habe ich darauf gewartet? Wie viele Vollmondnächte habe ich dort schon verbracht? Bei Nässe und Kälte. Und niemals auch nur eine Spur von Madas Kraft.“ Er freute sich wie ein Kind, dass ein Honigkuchenpferd geschenkt bekommen hatte.“Es ist jetzt so klar wie nie zuvor. Wir beide müssen zusammen nach Tälerort und nichts wird mich jetzt noch davon abhalten. Am liebsten würde ich gleich morgen mit dir aufbrechen.“

„Ja, es war unglaublich.“ flüsterte Meta. Dann bekam sie rote Backen und lächelte so glücklich, wie noch nie auf dieser Feier. Die Grübchen, die er doch niedlich fand, zeigten sich endlich wieder. „Du wirst zu mir halten, ach Gudi, was glaubst du, was mir so real im See gekommen ist? Ich will dich als meinen Mann. Nur dich. Egal, wie verschieden wir sind, wir ergänzen uns perfekt.“ Meta räusperte sich und trank einen Schlauch Wasser. „Es ist mir egal, wenn ich böse Frau bin, da alle Merle so lieb und sympathisch finden. Ohne dich gibt’s keine Glück für mich. Sollen sie mich verächten und hassen. Du stehst zu mir. Ich wollt’s am liebsten beim See sagen, aber ich respektiere das mit Gwenn. Und Gudi. Das ist jetzt wichtig.“ Sie nahm seine Hände und er merkte, wie ihre leicht zitterten. „Ich vertraue dir. Aber ab jetzt musst du stark und streng sein. Sie wird sich sonst zu viel Hoffnung machen. Sei direkter. Sag ihr, dass du Küsse und diese Berührung nicht willst. So ist es doch? Jetzt musst du dich entschuldigen. Natürlich bleibt sie wegen Lulu. Das akzeptiere ich. Gudi. Jetzt ist der Zeitpunkt, es zwischen uns klar zu machen.“

Der Anconiter hielt Metas Hände fest umschlossen und streichelte ihre Handrücken mit den Daumen. „Mir ist es egal, was Merle bei mir versucht. Ich weiß, sie versucht, mich zu verführen, um mich zurück zu gewinnen. Doch wird sie damit keinen Erfolg haben. Mein Herz gehört dir. Das ist mir vorhin im Wasser nochmals deutlicher geworden als je zuvor. Merle wird das lernen, sie ist ja nicht dumm. Sie wird es irgendwann einsehen, und dann wird sie ihren Weg gehen. Ich hoffe, sie wird dabei glücklich, aber das liegt in ihrer eigenen Verantwortung. Ich bin Dein! Und du bist mein. Was die anderen denken, ist mir egal. Sind wir erst in Tälerort, spielt es keine Rolle mehr. Und wann unter welchen Umständen wir uns offenbaren, spielt für mich eigentlich keine Rolle. Doch ich sehe ein, dass es für dich wichtig ist. Und deshalb werde ich allen sagen, was ich für dich empfinde. Bleib tapfer, kleine Ritterin!“

Meta gab Gudekar einen dicken Schmatz auf den Mund und klopfte ihm auf die Schulter. „Ja he. Gelehrter Herr, verzeiht, ich hatte euch nicht für so stark gehalten.“ Sie lachte verschmitzt und glücklich. „Das bleibt bis übermorgen unter uns. Aber mir fällt ein Stein vom Herzen. Auch, wenn ich alleine bin oder man mich ächtet bist du trotzdem bei mir. Ich weiß es jetzt einfach. —-Dieses Wasser, das ist wundersam. Als wäre es in dem Moment von Hesinde gesegnet. Wie oft hast du das schon erlebt?“

“Noch nie!” rief Gudekar überrascht, fast empört. Dann sprach er mit ruhiger, fast träumerischer Stimme weiter. “Ich habe schon so viele Nächte bei vollem Madamal dort verbracht. Als Kind nur im Sommer. Wir haben mit Gwenn, später auch mit Mika, dort im Rahja- oder Praiosmond übernachtet. Als ich älter wurde und die seltenen Male in Lützeltal verweilte, habe ich selbst im Hesindemond dort gesessen und auf ein Zeichen Hesindes gewartet. Doch nie ist etwas derartiges geschehen. Ich dachte schon, es sei halt nur eine alte Sage, ein Ammenmärchen. Doch habe ich die Hoffnung nie aufgegeben, dass Hesinde unserem Haus wohlgesonnen sein könnte. Und nun, heute Nacht haben wir es gesehen. Hesinde hat uns geehrt. Hesinde wacht über Lützeltal und das Haus Weissenquell. Und so viele Zeugen haben es gesehen!” Gudekar strahlte vor Begeisterung über das ganze Gesicht. Derart fröhlich und glücklich hatte Meta ihn noch nie gesehen. Gut, vielleicht schon ein oder zweimal,  doch da war sie selbst die Ursache dafür.

Sie freute sich, ihn so zu sehen. Richtig glücklich. Das war Gudekar leider viel zu selten. Meta kam es auch so vor, dass er sich bei ihr emotional besser oder anders gehen lassen konnte. Es steckte an und auch sie lachte fröhlich. „Das muss doch etwas bedeuten. War es immer der falsche Mond, in dem du es versucht hast? Oder wollte Hesinde uns wirklich etwas schenken? Es hat mir jedenfalls den Zweifel genommen.“ Meta stand auf und begann, sich etwas zu waschen. Außerdem legte sie alle Kleidung ab und schlüpfte in ein einfaches Hemdchen. „Komm, mein Held. Wärme mich und erzähl mir, wie du darüber denkst. Ich höre dir gerne zu.“

Gudekar lächelte Meta an. Dann zog auch er seine Wanderkleidung aus, bis auf das Hemd, das er unter der Tunika trug. Er hatte noch immer kein Gepäck in ihrem Zimmer, doch das störte ihn nicht. Er legte sich zu Meta, kuschelte seine Brust und seinen Bauch an ihren Rücken und legte seinen Arm um sie. “Ich weiß nicht, welches der richtige Mond ist. In den Legenden hieß es im ersten Frühjahrsmond oder im Hesinde Mond. Ich war schon so oft da. Und nun war es der Traviamond. Das passt nicht zusammen. Das muss etwas bedeuten. Warum gerade dann, wenn wir beide dort sind? Ich denke, nein, ich bin mir sicher, Mada – oder Hesinde – wollte uns zeigen, dass wir zusammengehören und dass sie über uns wacht. Was soll uns nun noch passieren?” Er küsste Metas Haarschof am Hinterkopf.

„Das ist die einzig logische Erklärung.“ Und die Romantischste. Natürlich hätte es genauso gut bedeuten können, dass Hesinde Merle und Gudekar meinte. Meta hatte nach dem Tag aber keine Lust auf zu viel Logik. „Das tut gut, kratz etwas am Nacken. So ganz sanft….ja, etwas weiter runter. Aaah.., so ist es gut.“ Wohlige Schauer erfassten sie und Meta bekam eine Gänsehaut. „Schaffst du das? Es ist aber nicht einfach. Eine Kugel aus Licht und dann erzählst du mir, wie und wann es übermorgen passiert. Wenn die Gäste weg sind?“ Sie wisperte „Sie wird auf mich losgehen, ich will ihr aber nicht weh tun.“ Kurz lachte sie aber er spürte ihre Anspannung. „Sollen wir die Pferde schon satteln, damit wir schnell flüchten können?“

Auch Gudekar lachte etwas verzweifelt. „Wir sollten vielleicht am besten schon auf den Pferden sitzen!“ Er drückte Meta ganz fest an sich und schwieg eine Weile. „Ich habe Angst davor, es ihr zu sagen. Ich habe aber noch keinen Plan. Ich denke wir sollten gepackt haben und danach gleich losreiten, wenigstens bis nach Schlatt. Also, ich denke, am besten sagen wir es direkt nach der Zeremonie. Die Gäste sind übermorgen eh noch da, die werden ja nicht noch am Tag der Trauung abreisen, wenn bis abends gefeiert wird. Aber wir sollten dann gleich weg.“

„Du hast keinen Plan. Das dachte ich mir.“ Meta kicherte trotz des ernsten Themas. „Ich glaube, viele ahnen oder wissen es bereits. Merle sicher auch, aber sie will es nicht wahr haben und hält an dem Traviabund fest. Hm. Meinst du, sie wird versuchen, mir etwas anzutun oder jemanden dazu anstiften?“

„Was? Nein, das ist nicht ihre Art. Sie hat ein sanftes, friedliches Wesen, sie würde dir nichts tun. Das könnte ich mir nicht vorstellen.“ Gudekar spielte an einer Haarsträhne, die sich hinter Metas Ohr leicht kräuselte. „Du meinst, sie weiß es? Warum hat sie denn nichts gesagt?“

Meta zögerte und drehte sich im Bett zu Gudekar um. „Es ist nur so ein Gefühl. Mir gegenüber ist sie kühl, bei den anderen versucht sie erfolgreich mit ihrem Charme, die Gäste für sich zu gewinnen. Deine Schwester eingeschlossen. Ich habe ja nicht übermäßig viel zu tun und mich ab und zu etwas umgehört. Anscheinend verbringt sie - der Kinder wegen, wird sie sagen - viel Zeit mit Tsalinde und sie scheinen sich gut zu verstehen. Nach dem, wie sich Tsalinde dir gegenüber verhält, finde ich das seltsam. Da sollte sie zu dir stehen. Auf der anderen Seite umgarnt sie dich. Fast mit Erfolg. Und mein Erscheinen, dein Verhalten und was auch immer sie von Tsalinde oder den anderen Gästen, die es wissen oder ahnen, so mitbekommt, wird sie sich ein Bild machen können.“

Schweigend dachte Gudekar über Metas Worte nach. Dabei streichelte er sanft ihr Haar. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er antwortete. “Vielleicht hast du Recht. Denkbar wäre es. Aber warum stellt sie mich dann nicht einfach zur Rede?” Erneut machte er eine Pause. “Aber ändert das irgendetwas? Morgen früh, gleich nach dem Frühstück werden wir zu Rahjel gehen und unseren Bund erneuern. Und wenn Merle etwas sagt, dann werde ich unsere Liebe halt schon morgen offenbaren. Warum noch einen Tag warten?”

Aus einem der Nebenzimmer war immer wieder ein fröhliches Lachen, abgewechselt mit sinnlichem Stöhnen zu hören.

Gudekar schmunzelte.

Meta zog die Augenbrauen zusammen. „Wer ist denn noch hier einquartiert? Da machen wir keinen Wettbewerb daraus. Heute wärmst mich nur etwas. Morgen steht ja der Bund an.“ Und da sollte es nicht peinlich oder unangenehm werden.

“Hm, die Rahjanis wohnen hier, und Alana, Rahjels Schwester. Ansonsten weiß ich das auch nicht." Langsam übermannte Gudekar die Müdigkeit und er wurde schläfrig. “Gute Nacht, mein Schatz! Hab’ gute Träume.”

„Wünsche ich dir auch. Morgen begleite ich dich wieder, aber ich habe sogar was mit Imelda ausgemacht. Weck mich zum Frühstück.“

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Auf dem Bauernhof

Lys von Kargenstein und Tsalinde von Kalterbaum hatten sich gerade ihrer nassen Kleider entledigt und waren in ihr trockenes Nachtzeug geschlüpft, als es leise an ihrer Tür klopfte. Die beiden schauten sich kurz an, dann ging Lys an die Tür und Tsalinde begann damit, ihre Haare zu bürsten. Vor der stand Traviana Wohlgedei. In der einen Hand trug sie zwei dampfende Becher, aus denen es köstlich duftete und ein Bündel mit Tüchern. Sie flüsterte: “Verzeiht bitte die Störung. Ich bringe euch warmen Kräutertee und heiße Backsteine für euer Bett.” Lys bat sie mit einer Bewegung seines Kopfes in den Raum und nahm ihr die schweren Steine ab. “Ihr seid wirklich ein Schatz.” Dann ging er zu dem Bett und verteilte die Wärmequellen in der freien Hälfte. Isavena schaute kurz auf, kuschelte sich dann aber vor sich hin murmelnd wieder neben Siegmund unter die Decke. Unterdessen brachte die Bäuerin Tsalinde eine der Tassen und deutete dann auf die Bürste. “Darf ich?” Tsalinde lächelte. “Gerne.” Während Tsalinde ihren Tee trank, kämmte Taviana ihr das Haar und hörte ihren Gästen zu, die von ihrem Erlebnis auf der Wanderung erzählten. So ließen sie den Abend ausklingen und als Lys und Tsalinde später zwischen den warmen Steinen im Bett lagen flüsterte Tsalinde: “Ich liebe dich.” Er flüsterte zurück: “Ich liebe dich auch.”